Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel «al-Maut ‘amal šāqq» bei Dar Naufal, Hachette Antoine, Beirut.
Die Übersetzung aus dem Arabischen wurde mit Mitteln des Auswärtigen Amts unterstützt durch Litprom e.V. – Literaturen der Welt.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Mai 2018
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«al-Maut ‘amal šāqq» Copyright © 2015 by Khaled Khalifa
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ISBN Printausgabe 978-3-498-04702-3 (1. Auflage 2018)
ISBN E-Book 978-3-644-00153-4
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-00153-4
Zwei Stunden bevor er starb, blickte Abdallatîf mit der letzten ihm verbliebenen Kraft seinem Sohn Bulbul tief in die Augen. Er schien ihm ein hochheiliges Versprechen entlocken zu wollen und wiederholte seine Bitte, auf dem Friedhof seines Heimatdorfes Anabîja begraben zu werden. Nach langer Zeit sollten seine Knochen nun neben den sterblichen Überresten seiner Schwester Laila ruhen, wie er sich ausdrückte. Neben ihrem Duft, wollte er eigentlich noch hinzufügen, doch dann war er nicht sicher, ob die Toten nach vierzig Jahren noch gleich riechen. Diese wenigen Worte, das war sein Testament. Er fügte ihnen nichts hinzu, was Unklarheiten hätte schaffen können. In seinen letzten Stunden wollte er schweigen. Also schloss er die Augen, ignorierte die Personen, die ihn umstanden, und versank lächelnd in seiner Einsamkeit. Nur Nevin holte er sich zurück: ihr Aussehen, ihr Lächeln, ihren Duft, ihren nackten Körper, umhüllt einzig mit einem schwarzen Tuch, ihren Versuch, zu fliegen wie ein Schmetterling. Damals, ihre Augen strahlten, er erinnerte sich genau. Sein Herz schlug heftig, seine Knie zitterten. Er nahm sie auf und trug sie zum Bett, wo er sie mit seinen Küssen verschlang. Doch bevor er sich jeden einzelnen Augenblick dieser «Nacht der ewigen Geheimnisse», wie sie sie nannten, vergegenwärtigen konnte, starb er.
Bulbul verhielt sich, in einem seltenen Anflug von Mut und unter dem Eindruck der Abschiedsworte und der traurig umflorten Augen des Sterbenden, fest und furchtlos. Er versprach seinem Vater, seinen letzten Willen zu erfüllen, was, obwohl es klar und einfach klang, doch ein recht schwieriges Unterfangen zu werden drohte. Es ist natürlich für einen Mann, in dem alles nach Klage ruft und der weiß, dass er innerhalb weniger Stunden gestorben sein wird, dass er schwach wird und schwer zu erfüllende Dinge verlangt. Und es ist auch natürlich für einen zerbrechlichen Mann wie Bulbul, ihn in dieser Stunde nicht im Stich zu lassen. Der letzte Augenblick ist immer emotional beladen und eignet sich im Allgemeinen nicht zum Nachdenken. In der gedrängten Zeit haben rationale Prozesse keinen Platz. Der Rückblick auf die Vergangenheit und die Begleichung von Rechnungen erfordern viel Ruhe und lange Betrachtung, die diejenigen sich nicht leisten können, die wissen, dass es gleich zu Ende geht. Rasch werfen sie ihre Lasten ab und ziehen los, um ans andere Ufer überzusetzen, wo die Zeit keinen Wert hat.
Bulbul bereute, nicht energisch gewesen zu sein, seinem Vater nicht klipp und klar erklärt zu haben, wie schwierig die Umsetzung seines letzten Willens in Tagen wie diesen wäre. Überall gab es Tote, die man in Massengräbern entsorgte, ohne auch nur ihre Identität festzustellen. Die Kondolenzfeiern beschränkten sich sogar für reiche Familien auf wenige Stunden. Der Tod war kein Karneval mehr, um Status zu markieren. Ein paar Blumen, ein paar Trauergäste, die zwei Stunden lang in einem fast leeren Raum gähnen, ein Koranrezitator, der mit gedämpfter Stimme ein paar Suren aus dem Heiligen Buch spricht. Und das war’s dann.
Die stille Trauerfeier, dachte Bulbul, macht den Toten weniger einschüchternd. Zum ersten Mal sind im Tod alle gleich. Die Rituale bedeuten nichts mehr. Arme und Reiche, hohe Offiziere und niedrige Soldaten in der Regierungsarmee, Führer bewaffneter Brigaden, Kämpfer und einfache Tote, deren Identität niemand kennt, sie alle werden in mitleiderregend dürftigen Prozessionen zu Grabe getragen. Der Tod ruft wirklich keine Emotionen mehr wach, er ist eher eine Erlösung, die den Neid der Lebenden weckt.
Für Bulbul lagen die Dinge anders. Der Leichnam seines Vaters war eine schwere Last. In einem Augenblick falscher Emotionen hatte er ihm versprochen, ihn im Grab seiner Tante Laila, die er nie kennengelernt hatte, zur letzten Ruhe zu betten. Er hatte geglaubt, er werde ihn bitten, sich für die Rechte Nevins, seiner neuen Ehefrau, am Haus der Familie einzusetzen, diesem Haus, das einem Luftangriff zum Opfer gefallen war – bis auf das Schlafzimmer, wo sein Vater die letzten Tage in Liebe zu Nevin verbrachte, bevor er mit Hilfe oppositioneller Kämpfer seinen Wohnort S. verließ.
Ein eindrucksvoller Anblick, den Bulbul sein Leben lang nicht vergessen wird. Sie brachten ihn, sauber. Ganz offensichtlich kümmerten sie sich um ihren Genossen, der sich entschieden hatte, trotz der drei Jahre dauernden Belagerung in S. zu bleiben. Sie verabschiedeten sich von ihm mit großer Sympathie, sie küssten ihn heiß, ein Adieu für einen Kameraden. Sie legten Bulbul ans Herz, sich gut um ihn zu kümmern, er habe es verdient. Dann verzogen sie sich rasch, mit hastigen Blicken, über eine gut bewachte Seitenstraße mit Gärten, die zum Ort führte. Seine Augen folgten ihnen zum Abschied. Er versuchte, die Hand zu heben und ihnen zuzuwinken, aber er schaffte es nicht. Er war erschöpft und hungrig, hatte mehr als die Hälfte seines Gewichts verloren. Seit Monaten hatte er sich, wie alle Belagerten im Ort, nicht mehr richtig satt gegessen.
Sein Körper lag rosig auf eine Metallbahre gebettet im öffentlichen Krankenhaus.
«Jeden Tag sterben viele», sagte der Arzt zu Bulbul. «Sie sollten sich glücklich schätzen, dass er so alt geworden ist.»
Bulbul schätzte sich zwar nicht glücklich, wie der Arzt sich das gewünscht hatte, aber er verstand, was er meinte. Er fühlte sich sehr unwohl in seiner Haut. Die Straßen der Stadt waren nach acht Uhr abends verlassen, und bis zum nächsten Mittag musste der Tote abtransportiert sein. Die Pathologie war möglichst rasch zu entlasten. Am frühen Morgen würden aus den Randregionen von Damaskus, wo die Kämpfe nicht enden wollten, viele tote Soldaten gebracht.
Kurz vor zwei Uhr nachts verließ Bulbul das Krankenhaus. Sein Vater gehörte einer ganzen Familie, dachte er, und alle Mitglieder dieser Familie sind für die Umsetzung seines letzten Willens in gleicher Weise verantwortlich. Er suchte ein Taxi, das ihn zur Wohnung seines Bruders Hussain brachte, nachdem er am Vortag mehrfach vergeblich versucht hatte, ihn anzurufen. Er dachte sogar daran, ihm eine SMS zu schicken, aber die Nachricht vom Tod des Vaters per SMS wäre nun doch sehr pietätlos. So etwas war von Angesicht zu Angesicht zu erledigen, um Trauer und Schmerz zu teilen.
Einer der Krankenhauswächter wies ihm den Weg zum nahegelegenen Daraa-Taxistand. Dort werde er einen Wagen finden. Er beschloss, nicht auf den Schießlärm in der Nähe zu achten, und schritt rasch dahin, die Hände in die Taschen geschoben und die Furcht abgelegt. In einer solchen Winternacht herumzulaufen war höchst gefährlich. Unablässig fuhren Patrouillen umher. Die Straßen waren voller nicht zu identifizierender Bewaffneter. Der Strom war in den meisten Vierteln unterbrochen. Große Betonblöcke, aufgetürmt vor den Sicherheitsposten, versperrten viele Straßen. Wer nicht aus der Gegend stammte, wusste nicht, wo ein Durchkommen möglich war und wo nicht. In einiger Entfernung sah Bulbul ein paar Männer um ein Blechfass herumstehen, in dem ein paar Scheite Holz brannten. Das mussten Fahrer sein, deren Weg blockiert war und die auf den Morgen warteten, um nach Hause zu kommen. Er war drauf und dran aufzugeben, als er einen Taxifahrer fand, der völlig entspannt Liedern von Umm Kulthûm lauschte. Rasch einigte er sich mit ihm, ohne auch nur über den Fahrpreis zu diskutieren.
Anfangs schwieg er. Doch nach einigen Minuten ließ ihn seine Furcht nicht mehr stillhalten. Sein Vater sei vor einer Stunde im Krankenhaus gestorben, erzählte er ihm. Der Fahrer lachte. Im vergangenen Monat seien drei seiner Brüder und deren Söhne bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen, erwiderte er. Dann schwiegen sie beide. Das Gespräch war nicht mehr auf gleicher Höhe. Er hatte von dem Fahrer, der ihm gegenüber sehr anständig war, etwas Sympathie erwartet. Immerhin fuhr er erst wieder ab, als er sich überzeugt hatte, dass Bulbul angekommen war. Hussain öffnete die Tür. Als er seinen Bruder um diese Zeit da stehen sah, verstand er sofort. Er umarmte ihn inniglich, bat ihn herein, bot ihm Tee an und forderte ihn auf, sich frisch zu machen. Dann versprach er ihm, sich um alles Weitere zu kümmern: das Leichentuch zu beschaffen, die Grablegung zu organisieren und ihre Schwester Fatima abzuholen.
Bulbul fühlte sich erleichtert und schöpfte Mut. Eine schwere Last war von seinen Schultern genommen. Er vergaß sogar, dass Hussain sich kein bisschen für seinen Vater interessiert hatte, als dieser im Krankenhaus lag. Wichtig war, dass er sich jetzt nicht zurückzog und ihn im Stich ließ. Auf die Fähigkeit seines Bruders, in Situationen wie dieser zuzupacken, konnte er sich verlassen. Hussain war schon verschiedenen Tätigkeiten nachgegangen und besaß Erfahrung im Umgang mit den Behörden. Er hatte an zahlreichen Stellen Bekannte. Ohne zu zögern, löste Hussain die Sitze des Minibusses und arrangierte sie in Form einer offenen Kiste.
«Wir werden den Leichnam auf den Beifahrersitz legen. Der Platz reicht bequem für alle.»
Er meinte Bulbul und ihre gemeinsame Schwester. Selbst wenn ihr Schwager sie begleiten wollte, würde seine Anwesenheit sie nicht stören. Doch diesen Gedanken verwarfen sie rasch. Einem Mann gegenüber, dessen Leichnam ein paar hundert Kilometer zu seiner letzten Ruhestätte reisen muss, spüren Menschen sich nicht mehr sehr verpflichtet.
Am Morgen um sieben Uhr hatte Hussain alle Reisevorbereitungen getroffen und holte seine Schwester ab. Er hatte die Schilder des Minibusses, mit dem er auf der Strecke nach Dscharamâna als Service-Taxi fuhr, entfernt. Mit Hilfe eines Freundes, eines Autoelektrikers, hatte er eine provisorische Ambulanzsirene mit der Hupe verbunden. Er kaufte eine Dose mit Luftspray, das, so schätzte er, während der langen Reise nötig werden könnte, und vergaß auch nicht, einen Kollegen zu kontaktieren, damit er ihm vier Eisblöcke beschaffte. Trotz der nicht ganz einfachen Wünsche standen seine Freunde noch vor dem Morgengrauen auf, sprachen ihm ihr Beileid aus und halfen ihm bei den Reisevorbereitungen. Schließlich war, damit sie sich auf den Weg machen konnten, nur noch die Unterschrift des Krankenhausdirektors nötig, der jedoch nie vor neun Uhr morgens erschien. Sie wollten vor dem Krankenhaus warten, aber der Chef der Pathologie forderte sie auf, den Leichnam ihres Vaters umgehend ins Auto zu schaffen. Eine neue Ladung Leichen warte auf den Kühlraum und die Kühlschränke seien überfüllt.
Bulbul hatte nicht den Mut, seinen Bruder Hussain in die Pathologie zu begleiten. Die Gänge waren voll finsterer Gesichter. Traurige Männer und Frauen, die darauf warteten, ihre lieben Toten in Empfang zu nehmen. Ein Krankenpfleger machte ihm ein Zeichen, im Südtrakt der Pathologie zu suchen. Während er die zum Bersten gefüllten Schränke öffnete, musste er gegen den Brechreiz ankämpfen, und erst als er schon fast die Hoffnung aufgegeben hatte, stieß er schließlich auf die noch frische Leiche seines Vaters. Hunderte von Toten lagen vergessen und verloren in diesem Chaos herum. Seinem Vater war anzusehen, dass sein Tod noch nicht allzu lange Zeit zurücklag. Gegen eine «Gebühr» von dreitausend Lira erlaubte der Pathologiechef Hussain und dem Pfleger, den Toten im Totenbad zu waschen, einem völlig verdreckten Raum, für dessen Reinigung offenbar niemand zuständig war. Danach hüllten sie ihn in das Leichentuch. Die Pathologie bot einen grauenhaften Anblick. Auf den Fluren unterhielten sich wütende Offiziere. Sie schimpften unflätig auf den bewaffneten Widerstand. Soldaten in voller Kriegsmontur saßen herum; sie rochen nach Kampf. Ihre verwundeten oder gefallenen Kameraden hierherzubegleiten gab ihnen die Gelegenheit, zu fliehen oder die Rückkehr in den Kampf zu verzögern, wo sie der Tod erwartete. In diesem Chaos schien alles todesnah.
Hussain arrangierte seinen toten Vater so auf dem Seitensitz, dass er ihn nicht im Rückspiegel sehen musste und von ihm abgelenkt wurde. Er rüffelte Fatima, sie solle den Mund halten, obwohl sie gar nichts gesagt hatte. Ihr Schluchzen wurde daraufhin noch lauter. Seit ihrer Kindheit kommandierte Hussain seine Schwester gern herum, und sie gehorchte ihm ohne Widerrede. Die Wünsche ihres Bruders zu erfüllen gab ihr das Gefühl, die Welt sei noch in Ordnung. Auch auf Bulbul wurde er wütend, als er ihn ein paar Meter entfernt an eine Mauer gelehnt schweigend rauchen sah. Er schlug die Tür des Minibusses zu und nahm die Warterei vor dem Büro des Krankenhausdirektors wieder auf. Erst mit der Unterschrift auf dem Totenschein waren alle Formalitäten erledigt. Seine schlechte Laune hinderte Hussain sogar daran, mit den anderen Wartenden Geschichten auszutauschen. Aber dann drängte es ihn doch, eine Frau zu fragen, wann der Herr Direktor wohl zu erscheinen gedenke, worauf sie ihm mit einer Handbewegung zu verstehen gab, sie habe keine Ahnung, und sich dann umdrehte. Da unternahm Hussain keinen weiteren Versuch, mit jemandem ins Gespräch zu kommen, obwohl er es hasste, schweigend warten zu müssen, weil er davon überzeugt war, dass Reden den Schmerz lindert. Anspannung und verhaltener Zorn lagen in den Augen der Menschen, die sich mit ihren Anliegen auf dem Flur drängten.
Um Punkt neun Uhr unterschrieb der Direktor das Papier. Hussain hieß seinen Bruder Bulbul schnell einsteigen. Fatima befahl er, die Decken, die er von zu Hause mitgebracht hatte, über den Leichnam zu breiten und den Mund zu halten.
Zehntausend Lira habe es gekostet, den toten Vater herauszubekommen. Er habe es in seinem Abrechnungsbüchlein notiert, fügte er noch hinzu. Er erwartete keinen Kommentar von seinen Geschwistern und überlegte nur, wie er am schnellsten aus Damaskus hinauskäme. Morgens um diese Zeit sind alle Straßen verstopft. Auch an den zahlreichen Straßensperren staut sich der Verkehr. Es könnte Stunden dauern, sagte ihm seine Erfahrung als Minibusfahrer, der den ganzen Tag im Gedränge unterwegs war. Am besten wäre es wohl, den Weg über den Abbassiden-Platz zu nehmen, trotz des üblen Rufs der Checkpoints in jener Gegend. Über den Sabaa-Bachrât-Platz im Herzen der Stadt zu fahren – darüber durfte man nicht einmal nachdenken.
Hussain beschloss, Damaskus via Abbassiden-Platz zu verlassen. Er versuchte, sich an ein Ambulanzfahrzeug zu hängen, doch schon am ersten Checkpoint erlaubte man ihm nicht weiterzufahren. Ein paar Meter hatte er immerhin gewonnen. Die Ambulanzsirene half nichts, niemand gab ihm den Weg frei, und mitten in diesem chaotischen Gedränge erinnerte sich Hussain, wie in Friedenszeiten ein Leichenwagen das Mitgefühl aller geweckt hatte: Die Autos gaben den Weg frei, und die Passanten blieben stehen, echte Anteilnahme in den Augen. Im Krieg ist ein Leichentransport ein normales Ereignis, das nur den Neid der Menschen weckt, deren Leben nichts anderes ist als quälende Todeserwartung.
Plötzlich eine Kolonne von Ambulanzfahrzeugen, die aus der Stadt hinausfuhren. Darin saßen Soldaten, die die Särge begleiteten. Man konnte sie durch die kleinen Fenster sehen. Hussain versuchte, sich in die Kolonne einzufädeln, doch einer dieser Soldaten schrie ihn wütend an und entsicherte sein Gewehr, was Hussain zurück in die normale Fahrzeugschlange brachte. Als das letzte Fahrzeug in der Kolonne auf gleicher Höhe mit ihm war, verlangsamte es die Fahrt. Ein Soldat streckte den Kopf aus dem Fenster, spuckte Hussain an und beschimpfte ihn. Hussain betrachtete die Speichelladung auf seinem Arm und schluckte seine Wut hinunter. Er hätte gerne losgeheult. Bulbul schwieg und schaute weg, um die Sache für seinen gedemütigten Bruder nicht noch peinlicher zu machen. Fatima hatte nicht mehr den Wunsch zu weinen. Ihre Tränen waren versiegt. Ihre Trauer über die Trennung vom Vater zum Ausdruck zu bringen, verschob sie bis zur Bestattung – dem intensivsten Augenblick beim Abschied von einem Toten.
Seit seiner Kindheit hatte Hussain unzählige der Zitate, Weisheitssprüche, Koranverse und Prophetenaussagen auswendig gelernt, mit denen islamische Wohlfahrtsorganisationen die Seiten ihrer billigen Kalender füllen. Er verwendete sie gern im täglichen Leben, um bei seinen Gesprächspartnern mit seiner umfassenden Bildung Eindruck zu schinden. Er war nicht dafür geschaffen, am Rande zu stehen und nur zuzuhören. Aber als er nun den von der Autoflut völlig überspülten Abbassiden-Platz betrachtete, fiel ihm keine dieser Weisheiten ein, um das Schweigen zu brechen, das schwer auf seinen Geschwistern lastete. Er fühlte sich schrecklich schwach. Er hätte sie gern den Zwischenfall mit dem Anspucken vergessen lassen und versuchte krampfhaft, sich an Sprichwörter über den Tod zu erinnern. Es fiel ihm aber nur eines ein: Der Lebendige lebt länger als der Tote, ein Spruch, der ihm nicht gefiel, weil er meist von Feiglingen bemüht wird. Diesmal war es eher andersherum: Der Tote «lebt länger» als der Lebendige. Sie würden sowieso bald sterben. Dieser Gedanke hatte ihm während der vergangenen vier Jahre immer wieder geholfen, für seine Arbeit neuen Mut zu schöpfen und die Demütigungen der Soldaten und der Geheimdienstleute an den Checkpoints zu ertragen. Er sah in ihnen Personen, die heute, übermorgen oder spätestens während der kommenden Monate sterben und nicht mehr zu ihren Lieben zurückkehren würden. Ein böser, aber realer Albtraum, der auf allen lastete. Alle Bewohner der Stadt betrachteten einander als künftige Tote. Gefühle und Blicke, die die Emotionen und die allgemeine Wut dämpften.
Umbrandet von einer Flut von Hunderten von Autos näherte sich der Minibus langsam dem Abbassiden-Platz. In einiger Entfernung erschienen drei Suzukis, die versuchten, sich einen Weg zu bahnen. Fahnen flatterten an ihnen, und auf der Ladefläche saßen alte Männer. Einer schrie dröhnend in ein Megaphon:
«Märtyrer! Märtyrer! Märtyrer!» Und dann noch zornig: «Platz da für die Märtyrer! Platz da für die Märtyrer!»
Aber niemand kümmerte sich darum. Die Suzukis näherten sich Hussains Minibus. Sie versuchten, aus dem Gedränge auszubrechen. Sie kämen aus dem Tischrîn-Militärspital, erklärte Hussain. Arme Leute fänden nicht einmal eine Ambulanz, um ihre Toten zum Friedhof zu transportieren. Bulbuls Augen hingen an dem Mann mit dem Megaphon in der Hand, bis er seinem Blick entschwunden war.
Der Tod war wie eine gewaltige Flut, die alle umgab, dachte Bulbul und räsonierte über seine Unfähigkeit, diesem Tod zu entrinnen. Er erinnerte sich an die übertrieben pompösen Leichenzüge, die das Regime seinen Toten einst gewährt hatte und im Fernsehen übertragen ließ. Es gab ein Musikkorps, das die Märtyrerhymne spielte; auf jedem Sarg lag ein großes Blumenbouquet mit dem Namen des Führers der Streitkräfte, der gleichzeitig der Präsident des Landes war: ein weiteres Bouquet trug den Namen des Verteidigungsministers, ein drittes diejenigen der Kameraden bei der Truppe oder in der Verwaltung. Die Sprecherin verkündete mit vernehmlicher Stimme den Namen des Dahingegangenen und fügte diesem den Titel «Märtyrer» und seinen Rang hinzu. Auch die Familie wurde gezeigt, die sich geehrt und stolz gab, dass ihr Sohn den Märtyrertod sterben und sein Leben dem Vaterland und dem Führer als Opfer bringen durfte. Vaterland und Führer gehörten im Fernsehen untrennbar zusammen. Nach einigen Monaten verschwand das Musikkorps ebenso wie die Blumen und das Banner. Auch die Sprecherin verschwand, die stolz den Märtyrertod der Söhne aus armen Familie verkündet hatte, die sich für das Vaterland und den Führer geopfert hätten. Der Glanz des Wortes «Märtyrer» verblasste.
Bulbul betrachtete die Stadt, die allmählich verschwand. Er erinnerte sich an die vielen Geschichten, die seine Kollegen mit großer Leidenschaft erzählten. Geschichten von der Suche nach Toten und deren Bestattung. Voller Zorn berichteten sie über völlig mit Toten überfüllte Krankenhäuser. Die Suche nach einem Toten war ein mühseliges Geschäft, und nicht selten war die Familie gezwungen, nachdem sie die Mitteilung vom Tod ihrer Söhne erhalten hatte, selbst zum Kampfplatz zu gehen und nach den Leichen zu suchen, die in irgendeinem Massengrab verscharrt, unter den Trümmern von Häusern verschüttet oder im Eisen verbrannter Panzer oder Kanonen verschmort waren. Sogar Geschichten dieser Art hatten inzwischen ihren Glanz verloren, und niemand erzählte sie mehr. Das Schlimmste im Krieg ist das Wuchern abnormaler Handlungen und die Verwandlung von tragischen Vorgängen in Normalität. Solche Gedanken gingen Bulbul durch den Kopf, während er mit dem Gefühl, privilegiert zu sein, den Vater anschaute. Wenigstens wurde ihm nun, da er tot war, die Aufmerksamkeit seiner drei Kinder zuteil, und er lag nicht irgendwo herum. Er hätte seinen Geschwistern gern von den letzten Stunden des Vaters berichtet – Warum hatte er es eigentlich noch nicht getan? –, doch er entspannte sich. Ein langer Weg lag vor ihnen, und sie würden noch genug Zeit haben, über die positiven Seiten des Verstorbenen zu reden und sich die Vergangenheit zu vergegenwärtigen, jedenfalls diejenigen Momente, die nicht elend waren.
Hussain ärgerte sich. Die Tausende von Weisheitssprüchen und Redensarten, die er während zwanzig Jahren auswendig gelernt hatte, halfen ihm nicht, seinen Unwillen über diesen Riesenstau in Worte zu fassen. Aber er gab nicht auf. Er sagte sich einige Zitate zu verschiedenen Themen auf, zum Beispiel über den Mangel an Loyalität, die Hoffnung, die Treulosigkeit. Er hielt das für ein gutes Gedächtnistraining. Wer weiß, in wenigen Stunden schon könnte er sie nötig haben, dann müssten sie griffbereit sein. Zeilen von Achmad Schauki, dem ägyptischen Dichter, fielen ihm ein, und er deklamierte sie laut und getragen: Die rote Freiheit hat ein Tor, an dem jede blutbefleckte Hand anklopft. Bei der folgenden Zeile hatte er schon Mühe: … wird immer leben in Gräben. Er brachte Achmad Schaukis Gedicht mit demjenigen des tunesischen Dichters Abu l-Kâssim al-Schâbbi durcheinander: Wollte das Volk einmal wirklich leben, muss sich das Schicksal dem Wunsche ergeben. Die Vermischung gefiel ihm, der Fehler interessierte ihn nicht, er hatte den Wunsch, die beiden Gedichte zu verschmelzen, auch wenn der Reim darunter litt. Dutzende von Malen hatte er diese Zeilen auf Kalenderblättern gelesen, und sie hatten ihm sehr zugesagt. Er benutzte sie, um Feiglinge bloßzustellen. Er wiederholte gedämpft die beiden fehlerhaften Zeilen, als wollte er ein Klagelied auf seinen revolutionären Vater anstimmen. Bulbul kümmerte sich nicht darum. Ihm reichten die drei letzten Monate, in denen er mit seinem Vater über alles gesprochen hatte. Fatima verstand das Ganze als eine späte Versöhnung zwischen Hussain und seinem Vater, der sie gern ihren Segen gegeben hätte, doch Bulbuls schweres Schweigen ließ sie zögern. Es käme sicher noch eine passende Gelegenheit für sie, ihre Meinung über den Bruch zwischen Vater und Sohn zu äußern, der sich durch verschiedene Etappen gezogen hatte. Ein paarmal hatten sie sich zwar einander angenähert und versucht, eine neue Seite aufzuschlagen, doch ihre Beziehung wurde nie mehr so unbeschwert wie damals, als Hussain noch der Liebling der Familie war.
Der Soldat am letzten Checkpoint vor dem endgültigen Verlassen der Region Damaskus begnügte sich damit, einen raschen Blick auf die Papiere zu werfen und sie durchzuwinken. An diesem Tag verließen viele Tote die Stadt, und viele Tote betraten sie. Für die Soldaten, die da im Schlamm versanken, war der Anblick abstoßend geworden. Die Toten erinnerten sie an ihren eigenen baldigen Tod, den sie in diesem Inferno zu vergessen versuchten. Hussain sah nicht auf die Uhr. Er seufzte erleichtert auf. Nun hatte er sich vom Gedränge des Abbassiden-Platzes befreit und Damaskus lag hinter ihnen. Eigentlich sollten sie vor Mitternacht in Anabîja ankommen. Fatima und Bulbul gewannen ihren Optimismus zurück. Sie überprüften das Notwendige: die Flaschen mit Mineralwasser, die Zigaretten, die Personalausweise und ihr restliches Bargeld.
Er wird noch innerhalb eines angemessenen Zeitraums bestattet, dachte Bulbul, und bei diesen winterlichen Temperaturen würde die Verwesung auch nicht so rasch einsetzen. Glücklicherweise war der Vater nicht im August gestorben, wenn die Fliegen sich sofort über die Toten hermachen. Der Tod ist zu allen Zeiten gleich, aber manchmal ist er für die Zurückgebliebenen schwerer zu ertragen. Es ist eben ein großer Unterschied, ob ein alter Mann in seinem Dorf im Kreise seiner Lieben und unweit des Friedhofs die Augen schließt oder ob er Hunderte von Kilometern entfernt von seinem Dorf stirbt. Das Elend der Lebenden unterscheidet sich vom Elend der Toten. Niemand schätzt die Verwesung einer geliebten Person. Jeder möchte sich ein schönes Bild des Toten bewahren, das letzte Bild, das unauslöschlich im Gedächtnis bleibt. Es ist Ausdruck des Wesens der Menschen. Der Traurige bleibt traurig, auch wenn seine Muskeln erschlaffen. Wer deprimiert war, behält diese Miene auch über den Tod hinaus. Und sehr oft gleicht das letzte Bild dem ersten, demjenigen bei der Geburt.
Am ersten Checkpoint hinter Damaskus, kurz vor der Auffahrt zur Autobahn, fragte der Soldat mit Fingerzeig aufs Innere des Autos, was das da in Decken eingewickelt sei.
«Das ist mein toter Vater», erklärte Bulbul ruhig.
Die Frage und der Fingerzeig wurden mit Nachdruck wiederholt, ebenso die Antwort. Daraufhin machte der Soldat Hussain ein Zeichen, auf den Streifen für die Warenabfertigung zu fahren. Dort kreiste ein etwa zwanzigjähriger Soldat mit einem Sprengstoffdetektor um die vielen LKWs. Der Soldat ging in ein Fertigteil-Häuschen, das dem Wachpersonal als Büro und als Schlafraum diente. Einige Minuten später kam ein Offizier auf den Minibus zu und riss unwirsch die Tür auf.
«Den Leichnam aufdecken!», herrschte er die Insassen an.
Bulbul hob die Decke vom Gesicht seines Vaters. Es wirkte noch recht frisch, sein Ableben war ja noch nicht allzu lange her. Der Offizier verlangte mit barscher Ermittlerstimme die Papiere des Toten. Fatima reichte ihm die vom Generaldirektor des Krankenhauses und dem Pathologiechef unterschriebene Todesurkunde; außerdem die Personalausweise der drei Geschwister. Nachdem er diese gründlich studiert hatte, wollte er zu ihrer Überraschung den Personalausweis des toten Vaters sehen. Bulbul hätte ihm gern erklärt, dass alle Toten den gleichen Namen besitzen, dass sie sich aus ihrer Geschichte und ihrer Vergangenheit verabschiedet haben, um Mitglied einer einzigen Familie zu werden, der Familie der Toten. Der Personalausweis eines Toten sei einzig die Todesurkunde. Doch Fatima zog aus ihrer Tasche den verlangten Personalausweis und reichte auch diesen dem Offizier, der das Gesicht des Toten mit dem inzwischen zwanzig Jahre alten Foto auf dem Ausweis verglich. Damals hatte der Vater noch gern gelacht, und sein Gesicht war das eines kräftigen und ernsten Mannes. Der Offizier nahm alle Personalausweise mit in sein Büro. Die drei Geschwister sahen sich an und beschlossen, im Auto zu warten.
Hussain saß am Steuer und blickte wütend auf die Uhr. Er murmelte ein paar unverständliche Worte. Der Fahrer eines Kleinlasters kam und erklärte laut und deutlich, um hier Waren durchzukriegen, müsse man «Gebühren» zahlen. Hussain verließ rasch den Minibus und folgte dem Offizier in sein Kabuff. Er zahlte die Bestechung, die man «Passiergebühr» nannte, kehrte mit den Personalausweisen zum Auto zurück und verließ mit einer Art Triumphgefühl rasch den Checkpoint. Bulbul sinnierte darüber, dass sein Vater jetzt eine Ware war, wie Holzkohle für Wasserpfeifen, Kisten voller Tomaten oder Säcke voller Zwiebeln. Sein Schweigen passte Hussain nicht. Er betonte, er habe zweitausend Lira bezahlt, und nun müssten sie unbedingt vor Mitternacht in Anabîja ankommen.
Kurz blitzte bei Bulbul der Gedanke auf, nach Damaskus zurückzukehren und den Vater auf irgendeinem Friedhof der Stadt zu bestatten. Ein unmögliches Unterfangen, er wusste es. Die Gräber in Damaskus waren sehr teuer. Seit einigen Jahren wurden in Zeitungsannoncen Gräber zum Verkauf angeboten. Sie besaßen von ihren gemeinsamen ursprünglichen fünfzigtausend Lira inzwischen nur noch fünfunddreißig. Eine Rückkehr war praktisch unmöglich geworden. Und wie sollten sie überhaupt zu einer Begräbnisbewilligung kommen? Und wie sollten sie den Soldaten an den Checkpoints erklären, sie hätten sich entschlossen, den Vater doch in Damaskus zu bestatten? Dort sei er ja auch gestorben und nicht in einer der aufrührerischen Städte in der Umgebung.
Den Toten sind die Plätze im allgemeinen egal. Allein dieser Gedanke erfüllte Bulbul mit großer Frustration. Inzwischen war Mittag vorüber. Er fühlte sich erschöpft und hatte nicht mehr den Wunsch, etwas zu unternehmen. Fatima hob die Decke vom Gesicht ihres Vaters und öffnete das Fenster. Sie versuchte sich einzureden, die kalte Luft, die durch das Fenster des Minibusses hereinwehte, werde ihm guttun, obwohl die Toten nicht atmen und sich nicht dafür interessieren, ob die Luft frisch oder abgestanden ist. Bulbul hieß sie den Vater wieder zuzudecken, damit die Eisklötze, die sie um ihn herum aufgeschichtet hatten, nicht so rasch schmolzen. Sie fügte sich ohne Widerrede. Bulbul wollte nichts anderes als schweigend dasitzen, bis sie nach Anabîja kamen. Dort würden die Verwandten die Bestattung durchführen. Danach könnte er erneut vor der Familie fliehen, in seinen Kokon zurückkehren und in seinem Zimmer leben wie eine Ratte, bis zu dem Augenblick, in dem er seinen Traum verwirklichen und in ein fernes Land emigrieren würde. Dort wollte er sich vom Schnee bedecken lassen und über nichts mehr klagen. Jetzt spürte er nur, wie eng es war, und dachte an die Überraschungen, die er zu erwarten hatte. Seit drei Jahren hatte niemand mehr einen Toten diese weite Strecke transportiert, um ihn in Anabîja zu begraben.
Inmitten seiner schweigenden Geschwister fühlte Hussain sich unwohl. Da ihm sein Gedächtnis keine Kalenderblattweisheit lieferte, befahl er seiner Schwester gereizt, das Fenster zu schließen, und erklärte den beiden mit einer gewissen Häme, sie kämen sicher nicht vor Mitternacht in Anabîja an. Vielleicht nicht einmal vor Tagesanbruch, fügte er noch hinzu und sah die beiden im Rückspiegel an. In allen dreien wuchs die Furcht. Alle ihre Einschätzungen waren hinfällig. Sie lagen weit hinter ihrem Zeitplan zurück. Die nur vereinzelt vorbeifahrenden Autos, die Leere und die weite Steppe – alles hier verstärkte ihre Furcht.
Bei der Autobahnauffahrt bogen die Autos auf eine Nebenstraße ab. Ob die Autobahn denn gesperrt sei, fragte Hussain einen Taxifahrer. Nein, aber es gebe Heckenschützen, die die Durchfahrt unmöglich machten, erklärte er. Diese vier Passanten seien vor drei Stunden erschossen worden. Er wies auf vier Leichen: einen Mann, eine Frau, einen Burschen und ein junges Mädchen. Sie sind umgekommen, wie sie gelebt hatten, als Familie, dachte Bulbul. Hussain bog auf ein schmales Sträßchen ab. Irgendwo in der Nähe waren Detonationen zu hören. Sie konnten das Flugzeug sehen, das aus geringer Höhe Granaten abschoss. Splitter flogen herum. Hussain richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf die Straße, damit sie nicht plötzlich auf allen Seiten von brennenden Olivenhainen eingeschlossen waren.
Unzählige Autos in einer langen Schlange. Offenbar kannte jemand den Weg und führte die Kolonne an. Und wenn sie eingeschlossen würden und in eine Falle gerieten? Bulbul machte sich Sorgen, und erst die Rückkehr der Autos auf die Autobahn stimmte ihn wieder hoffnungsvoll. Er wünschte sich, sein Bruder Hussain würde schweigen, damit er seinen Gedanken über den Tod seines Vaters nachhängen konnte. Doch Hussain pries ein weiteres Mal seine Fähigkeit, sie aus allen Kalamitäten zu befreien. Bulbul versuchte, den Leichnam zu stabilisieren, der das Gleichgewicht zu verlieren drohte. Sinnvollerweise hätte man ihn festgebunden, doch ein solcher Vorschlag hätte eine Debatte ausgelöst, der er nicht gewachsen war. Fatima erinnerte an die Sandwiches, die sie für die lange Reise vorbereitet hatte. Sie könnten beim nächsten Parkstreifen, schon in der Nähe von Homs, einen Halt machen, schlug Hussain vor. Seit dem Abend zuvor hatte Bulbul nichts zu sich genommen, da es seiner Meinung nach unziemlich war, nur wenige Stunden nach dem Hinscheiden des Vaters zu essen.
Fatima sagte nichts mehr und verstaute die Brote wieder in der Plastiktüte. Bulbul vermied es, nach rechts zu schauen. Schon drei Stunden lang hörte man jetzt die Flugzeuge im Tiefflug, die Kanonen und die heulenden Geschosse. Der Beschuss von Kabûn und Dschûbar war in vollem Gang. Die von der Autobahn aus sichtbaren Gebäude zeigten deutliche Spuren. Bulbul blieb entspannt und gleichgültig. Hussain kündigte an, man nähere sich nun dem Checkpoint von Kutaifa und er werde sich, um Zeit zu gewinnen, sofort bei den LKWs einreihen. Bulbul hatte nichts dagegen einzuwenden. Er reichte ihm einen Teil des noch verbliebenen Geldes. Eigentlich akzeptierte er es nicht, dass der Leichnam seines Vaters auf diese unwürdige Art behandelt wurde. Doch dann erinnerte er sich an die Tausenden von Toten, die auf dem freien Feld herumlagen, den Raubvögeln und den hungrigen Hunden zum Fraß, und er fand, sie seien vergleichsweise gut dran. Er versuchte, die vier Leichen mitten auf der Autobahn zu vergessen, denen sich niemand zu nähern wagte. Sein Körper schwächelte. Er hätte sich gern neben seinem Vater ausgestreckt, wie früher, als er noch klein war. Doch neben einem toten Menschen zu liegen verbot ihm die Furcht.
Die Schlange der LKW