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Impressum

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel «al-Maut ‘amal šāqq» bei Dar Naufal, Hachette Antoine, Beirut.

 

Die Übersetzung aus dem Arabischen wurde mit Mitteln des Auswärtigen Amts unterstützt durch Litprom e.V. – Literaturen der Welt.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Mai 2018

Copyright © 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«al-Maut ‘amal šāqq» Copyright © 2015 by Khaled Khalifa

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Umschlaggestaltung Anzinger und Rasp, München

Umschlagabbildung: Millennium/Joe de Kadt/plainpicture

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Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen

ISBN Printausgabe 978-3-498-04702-3 (1. Auflage 2018)

ISBN E-Book 978-3-644-00153-4

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-00153-4

Wärst du doch ein Kümmelsack!

Bulbul verhielt sich, in einem seltenen Anflug von Mut und unter dem Eindruck der Abschiedsworte und der traurig umflorten Augen des Sterbenden, fest und furchtlos. Er versprach seinem Vater, seinen letzten Willen zu erfüllen, was, obwohl es klar und einfach klang, doch ein recht schwieriges Unterfangen zu werden drohte. Es ist natürlich für einen Mann, in dem alles nach Klage ruft und der weiß, dass er innerhalb weniger Stunden gestorben sein wird, dass er schwach wird und schwer zu erfüllende Dinge verlangt. Und es ist auch natürlich für einen zerbrechlichen Mann wie Bulbul, ihn in dieser Stunde nicht im Stich zu lassen. Der letzte Augenblick ist immer emotional beladen und eignet sich im Allgemeinen nicht zum Nachdenken. In der gedrängten Zeit haben rationale Prozesse keinen Platz. Der Rückblick auf die Vergangenheit und die Begleichung von Rechnungen erfordern viel Ruhe und lange Betrachtung, die diejenigen sich nicht leisten können, die wissen, dass es gleich zu Ende geht. Rasch werfen sie ihre Lasten ab und ziehen los, um ans andere Ufer überzusetzen, wo die Zeit keinen Wert hat.

Bulbul bereute, nicht energisch gewesen zu sein, seinem Vater nicht klipp und klar erklärt zu haben, wie schwierig die Umsetzung seines letzten Willens in Tagen wie diesen wäre. Überall gab es Tote, die man in Massengräbern entsorgte, ohne auch nur ihre Identität festzustellen. Die Kondolenzfeiern beschränkten sich sogar für reiche Familien auf wenige Stunden. Der Tod war kein Karneval mehr, um

Die stille Trauerfeier, dachte Bulbul, macht den Toten weniger einschüchternd. Zum ersten Mal sind im Tod alle gleich. Die Rituale bedeuten nichts mehr. Arme und Reiche, hohe Offiziere und niedrige Soldaten in der Regierungsarmee, Führer bewaffneter Brigaden, Kämpfer und einfache Tote, deren Identität niemand kennt, sie alle werden in mitleiderregend dürftigen Prozessionen zu Grabe getragen. Der Tod ruft wirklich keine Emotionen mehr wach, er ist eher eine Erlösung, die den Neid der Lebenden weckt.

Für Bulbul lagen die Dinge anders. Der Leichnam seines Vaters war eine schwere Last. In einem Augenblick falscher Emotionen hatte er ihm versprochen, ihn im Grab seiner Tante Laila, die er nie kennengelernt hatte, zur letzten Ruhe zu betten. Er hatte geglaubt, er werde ihn bitten, sich für die Rechte Nevins, seiner neuen Ehefrau, am Haus der Familie einzusetzen, diesem Haus, das einem Luftangriff zum Opfer gefallen war – bis auf das Schlafzimmer, wo sein Vater die letzten Tage in Liebe zu Nevin verbrachte, bevor er mit Hilfe oppositioneller Kämpfer seinen Wohnort S. verließ.

Ein eindrucksvoller Anblick, den Bulbul sein Leben lang nicht vergessen wird. Sie brachten ihn, sauber. Ganz offensichtlich kümmerten sie sich um ihren Genossen, der sich entschieden hatte, trotz der drei Jahre dauernden Belagerung in S. zu bleiben. Sie verabschiedeten sich von ihm mit großer Sympathie, sie küssten ihn heiß, ein Adieu für

Sein Körper lag rosig auf eine Metallbahre gebettet im öffentlichen Krankenhaus.

«Jeden Tag sterben viele», sagte der Arzt zu Bulbul. «Sie sollten sich glücklich schätzen, dass er so alt geworden ist.»

Bulbul schätzte sich zwar nicht glücklich, wie der Arzt sich das gewünscht hatte, aber er verstand, was er meinte. Er fühlte sich sehr unwohl in seiner Haut. Die Straßen der Stadt waren nach acht Uhr abends verlassen, und bis zum nächsten Mittag musste der Tote abtransportiert sein. Die Pathologie war möglichst rasch zu entlasten. Am frühen Morgen würden aus den Randregionen von Damaskus, wo die Kämpfe nicht enden wollten, viele tote Soldaten gebracht.

Kurz vor zwei Uhr nachts verließ Bulbul das Krankenhaus. Sein Vater gehörte einer ganzen Familie, dachte er, und alle Mitglieder dieser Familie sind für die Umsetzung seines letzten Willens in gleicher Weise verantwortlich. Er suchte ein Taxi, das ihn zur Wohnung seines Bruders Hussain brachte, nachdem er am Vortag mehrfach vergeblich versucht hatte, ihn anzurufen. Er dachte sogar daran, ihm eine SMS zu schicken, aber die Nachricht vom Tod des Vaters per SMS wäre nun doch sehr pietätlos. So etwas war

Einer der Krankenhauswächter wies ihm den Weg zum nahegelegenen Daraa-Taxistand. Dort werde er einen Wagen finden. Er beschloss, nicht auf den Schießlärm in der Nähe zu achten, und schritt rasch dahin, die Hände in die Taschen geschoben und die Furcht abgelegt. In einer solchen Winternacht herumzulaufen war höchst gefährlich. Unablässig fuhren Patrouillen umher. Die Straßen waren voller nicht zu identifizierender Bewaffneter. Der Strom war in den meisten Vierteln unterbrochen. Große Betonblöcke, aufgetürmt vor den Sicherheitsposten, versperrten viele Straßen. Wer nicht aus der Gegend stammte, wusste nicht, wo ein Durchkommen möglich war und wo nicht. In einiger Entfernung sah Bulbul ein paar Männer um ein Blechfass herumstehen, in dem ein paar Scheite Holz brannten. Das mussten Fahrer sein, deren Weg blockiert war und die auf den Morgen warteten, um nach Hause zu kommen. Er war drauf und dran aufzugeben, als er einen Taxifahrer fand, der völlig entspannt Liedern von Umm Kulthûm lauschte. Rasch einigte er sich mit ihm, ohne auch nur über den Fahrpreis zu diskutieren.

Anfangs schwieg er. Doch nach einigen Minuten ließ ihn seine Furcht nicht mehr stillhalten. Sein Vater sei vor einer Stunde im Krankenhaus gestorben, erzählte er ihm. Der Fahrer lachte. Im vergangenen Monat seien drei seiner Brüder und deren Söhne bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen, erwiderte er. Dann schwiegen sie beide. Das Gespräch war nicht mehr auf gleicher Höhe. Er hatte von dem Fahrer, der ihm gegenüber sehr anständig war, etwas Sympathie erwartet. Immerhin fuhr er erst wieder ab,

Bulbul fühlte sich erleichtert und schöpfte Mut. Eine schwere Last war von seinen Schultern genommen. Er vergaß sogar, dass Hussain sich kein bisschen für seinen Vater interessiert hatte, als dieser im Krankenhaus lag. Wichtig war, dass er sich jetzt nicht zurückzog und ihn im Stich ließ. Auf die Fähigkeit seines Bruders, in Situationen wie dieser zuzupacken, konnte er sich verlassen. Hussain war schon verschiedenen Tätigkeiten nachgegangen und besaß Erfahrung im Umgang mit den Behörden. Er hatte an zahlreichen Stellen Bekannte. Ohne zu zögern, löste Hussain die Sitze des Minibusses und arrangierte sie in Form einer offenen Kiste.

«Wir werden den Leichnam auf den Beifahrersitz legen. Der Platz reicht bequem für alle.»

Er meinte Bulbul und ihre gemeinsame Schwester. Selbst wenn ihr Schwager sie begleiten wollte, würde seine Anwesenheit sie nicht stören. Doch diesen Gedanken verwarfen sie rasch. Einem Mann gegenüber, dessen Leichnam ein paar hundert Kilometer zu seiner letzten Ruhestätte reisen muss, spüren Menschen sich nicht mehr sehr verpflichtet.

Am Morgen um sieben Uhr hatte Hussain alle Reisevorbereitungen getroffen und holte seine Schwester ab. Er

Bulbul hatte nicht den Mut, seinen Bruder Hussain in die Pathologie zu begleiten. Die Gänge waren voll finsterer Gesichter. Traurige Männer und Frauen, die darauf warteten, ihre lieben Toten in Empfang zu nehmen. Ein Krankenpfleger machte ihm ein Zeichen, im Südtrakt der Pathologie zu suchen. Während er die zum Bersten gefüllten Schränke öffnete, musste er gegen den Brechreiz ankämpfen, und erst als er schon fast die Hoffnung aufgegeben hatte, stieß er schließlich auf die noch frische Leiche seines Vaters. Hunderte von Toten lagen vergessen und verloren in diesem Chaos herum. Seinem Vater war anzusehen, dass sein Tod noch nicht allzu lange Zeit zurücklag. Gegen eine «Gebühr» von dreitausend Lira

Hussain arrangierte seinen toten Vater so auf dem Seitensitz, dass er ihn nicht im Rückspiegel sehen musste und von ihm abgelenkt wurde. Er rüffelte Fatima, sie solle den Mund halten, obwohl sie gar nichts gesagt hatte. Ihr Schluchzen wurde daraufhin noch lauter. Seit ihrer Kindheit kommandierte Hussain seine Schwester gern herum, und sie gehorchte ihm ohne Widerrede. Die Wünsche ihres Bruders zu erfüllen gab ihr das Gefühl, die Welt sei noch in Ordnung. Auch auf Bulbul wurde er wütend, als er ihn ein paar Meter entfernt an eine Mauer gelehnt schweigend rauchen sah. Er schlug die Tür des Minibusses zu und nahm die Warterei vor dem Büro des Krankenhausdirektors wieder auf. Erst mit der Unterschrift auf dem Totenschein waren alle Formalitäten erledigt. Seine schlechte Laune hinderte Hussain sogar daran, mit den anderen Wartenden Geschichten auszutauschen. Aber dann drängte es ihn doch, eine Frau zu fragen, wann der Herr Direktor wohl zu erscheinen gedenke, worauf sie ihm mit einer Handbewegung zu verstehen gab, sie habe keine Ahnung, und

Um Punkt neun Uhr unterschrieb der Direktor das Papier. Hussain hieß seinen Bruder Bulbul schnell einsteigen. Fatima befahl er, die Decken, die er von zu Hause mitgebracht hatte, über den Leichnam zu breiten und den Mund zu halten.

Zehntausend Lira habe es gekostet, den toten Vater herauszubekommen. Er habe es in seinem Abrechnungsbüchlein notiert, fügte er noch hinzu. Er erwartete keinen Kommentar von seinen Geschwistern und überlegte nur, wie er am schnellsten aus Damaskus hinauskäme. Morgens um diese Zeit sind alle Straßen verstopft. Auch an den zahlreichen Straßensperren staut sich der Verkehr. Es könnte Stunden dauern, sagte ihm seine Erfahrung als Minibusfahrer, der den ganzen Tag im Gedränge unterwegs war. Am besten wäre es wohl, den Weg über den Abbassiden-Platz zu nehmen, trotz des üblen Rufs der Checkpoints in jener Gegend. Über den Sabaa-Bachrât-Platz im Herzen der Stadt zu fahren – darüber durfte man nicht einmal nachdenken.

Hussain beschloss, Damaskus via Abbassiden-Platz zu verlassen. Er versuchte, sich an ein Ambulanzfahrzeug zu hängen, doch schon am ersten Checkpoint erlaubte man ihm nicht weiterzufahren. Ein paar Meter hatte er immerhin gewonnen. Die Ambulanzsirene half nichts, niemand

Plötzlich eine Kolonne von Ambulanzfahrzeugen, die aus der Stadt hinausfuhren. Darin saßen Soldaten, die die Särge begleiteten. Man konnte sie durch die kleinen Fenster sehen. Hussain versuchte, sich in die Kolonne einzufädeln, doch einer dieser Soldaten schrie ihn wütend an und entsicherte sein Gewehr, was Hussain zurück in die normale Fahrzeugschlange brachte. Als das letzte Fahrzeug in der Kolonne auf gleicher Höhe mit ihm war, verlangsamte es die Fahrt. Ein Soldat streckte den Kopf aus dem Fenster, spuckte Hussain an und beschimpfte ihn. Hussain betrachtete die Speichelladung auf seinem Arm und schluckte seine Wut hinunter. Er hätte gerne losgeheult. Bulbul schwieg und schaute weg, um die Sache für seinen gedemütigten Bruder nicht noch peinlicher zu machen. Fatima hatte nicht mehr den Wunsch zu weinen. Ihre Tränen waren versiegt. Ihre Trauer über die Trennung vom Vater zum Ausdruck zu bringen, verschob sie bis zur Bestattung – dem intensivsten Augenblick beim Abschied von einem Toten.

Seit seiner Kindheit hatte Hussain unzählige der Zitate, Weisheitssprüche, Koranverse und Prophetenaussagen auswendig gelernt, mit denen islamische Wohlfahrtsorganisationen die Seiten ihrer billigen Kalender füllen. Er

Umbrandet von einer Flut von Hunderten von Autos näherte sich der Minibus langsam dem Abbassiden-Platz. In einiger Entfernung erschienen drei Suzukis, die versuchten, sich einen Weg zu bahnen. Fahnen flatterten an ihnen, und auf der Ladefläche saßen alte Männer. Einer schrie dröhnend in ein Megaphon:

Aber niemand kümmerte sich darum. Die Suzukis näherten sich Hussains Minibus. Sie versuchten, aus dem Gedränge auszubrechen. Sie kämen aus dem Tischrîn-Militärspital, erklärte Hussain. Arme Leute fänden nicht einmal eine Ambulanz, um ihre Toten zum Friedhof zu transportieren. Bulbuls Augen hingen an dem Mann mit dem Megaphon in der Hand, bis er seinem Blick entschwunden war.

Der Tod war wie eine gewaltige Flut, die alle umgab, dachte Bulbul und räsonierte über seine Unfähigkeit, diesem Tod zu entrinnen. Er erinnerte sich an die übertrieben pompösen Leichenzüge, die das Regime seinen Toten einst gewährt hatte und im Fernsehen übertragen ließ. Es gab ein Musikkorps, das die Märtyrerhymne spielte; auf jedem Sarg lag ein großes Blumenbouquet mit dem Namen des Führers der Streitkräfte, der gleichzeitig der Präsident des Landes war: ein weiteres Bouquet trug den Namen des Verteidigungsministers, ein drittes diejenigen der Kameraden bei der Truppe oder in der Verwaltung. Die Sprecherin verkündete mit vernehmlicher Stimme den Namen des Dahingegangenen und fügte diesem den Titel «Märtyrer» und seinen Rang hinzu. Auch die Familie wurde gezeigt, die sich geehrt und stolz gab, dass ihr Sohn den Märtyrertod sterben und sein Leben dem Vaterland und dem Führer als Opfer bringen durfte. Vaterland und Führer gehörten im Fernsehen untrennbar zusammen. Nach einigen Monaten verschwand das Musikkorps ebenso wie die Blumen und das Banner. Auch die Sprecherin verschwand, die stolz den Märtyrertod der Söhne aus armen Familie verkündet hatte,

Bulbul betrachtete die Stadt, die allmählich verschwand. Er erinnerte sich an die vielen Geschichten, die seine Kollegen mit großer Leidenschaft erzählten. Geschichten von der Suche nach Toten und deren Bestattung. Voller Zorn berichteten sie über völlig mit Toten überfüllte Krankenhäuser. Die Suche nach einem Toten war ein mühseliges Geschäft, und nicht selten war die Familie gezwungen, nachdem sie die Mitteilung vom Tod ihrer Söhne erhalten hatte, selbst zum Kampfplatz zu gehen und nach den Leichen zu suchen, die in irgendeinem Massengrab verscharrt, unter den Trümmern von Häusern verschüttet oder im Eisen verbrannter Panzer oder Kanonen verschmort waren. Sogar Geschichten dieser Art hatten inzwischen ihren Glanz verloren, und niemand erzählte sie mehr. Das Schlimmste im Krieg ist das Wuchern abnormaler Handlungen und die Verwandlung von tragischen Vorgängen in Normalität. Solche Gedanken gingen Bulbul durch den Kopf, während er mit dem Gefühl, privilegiert zu sein, den Vater anschaute. Wenigstens wurde ihm nun, da er tot war, die Aufmerksamkeit seiner drei Kinder zuteil, und er lag nicht irgendwo herum. Er hätte seinen Geschwistern gern von den letzten Stunden des Vaters berichtet – Warum hatte er es eigentlich noch nicht getan? –, doch er entspannte sich. Ein langer Weg lag vor ihnen, und sie würden noch genug Zeit haben, über die positiven Seiten des Verstorbenen zu reden und sich die Vergangenheit zu vergegenwärtigen, jedenfalls diejenigen Momente, die nicht elend waren.

Hussain ärgerte sich. Die Tausende von Weisheitssprüchen und Redensarten, die er während zwanzig Jahren

Der Soldat am letzten Checkpoint vor dem endgültigen Verlassen der Region Damaskus begnügte sich damit, einen raschen Blick auf die Papiere zu werfen und sie durchzuwinken. An diesem Tag verließen viele Tote die Stadt, und viele Tote betraten sie. Für die Soldaten, die da im Schlamm versanken, war der Anblick abstoßend geworden. Die Toten erinnerten sie an ihren eigenen baldigen Tod, den sie in diesem Inferno zu vergessen versuchten. Hussain sah nicht auf die Uhr. Er seufzte erleichtert auf. Nun hatte er sich vom Gedränge des Abbassiden-Platzes befreit und Damaskus lag hinter ihnen. Eigentlich sollten sie vor Mitternacht in Anabîja ankommen. Fatima und Bulbul gewannen ihren Optimismus zurück. Sie überprüften das Notwendige: die Flaschen mit Mineralwasser, die Zigaretten, die Personalausweise und ihr restliches Bargeld.

Er wird noch innerhalb eines angemessenen Zeitraums bestattet, dachte Bulbul, und bei diesen winterlichen Temperaturen würde die Verwesung auch nicht so rasch einsetzen. Glücklicherweise war der Vater nicht im August gestorben, wenn die Fliegen sich sofort über die Toten hermachen. Der Tod ist zu allen Zeiten gleich, aber manchmal ist er für die Zurückgebliebenen schwerer zu ertragen. Es ist eben ein großer Unterschied, ob ein alter Mann in seinem Dorf im Kreise seiner Lieben und unweit des Friedhofs die Augen schließt oder ob er Hunderte von Kilometern entfernt von seinem Dorf stirbt. Das Elend der Lebenden unterscheidet sich vom Elend der Toten. Niemand schätzt

 

Am ersten Checkpoint hinter Damaskus, kurz vor der Auffahrt zur Autobahn, fragte der Soldat mit Fingerzeig aufs Innere des Autos, was das da in Decken eingewickelt sei.

«Das ist mein toter Vater», erklärte Bulbul ruhig.

Die Frage und der Fingerzeig wurden mit Nachdruck wiederholt, ebenso die Antwort. Daraufhin machte der Soldat Hussain ein Zeichen, auf den Streifen für die Warenabfertigung zu fahren. Dort kreiste ein etwa zwanzigjähriger Soldat mit einem Sprengstoffdetektor um die vielen LKWs. Der Soldat ging in ein Fertigteil-Häuschen, das dem Wachpersonal als Büro und als Schlafraum diente. Einige Minuten später kam ein Offizier auf den Minibus zu und riss unwirsch die Tür auf.

«Den Leichnam aufdecken!», herrschte er die Insassen an.

Bulbul hob die Decke vom Gesicht seines Vaters. Es wirkte noch recht frisch, sein Ableben war ja noch nicht allzu lange her. Der Offizier verlangte mit barscher Ermittlerstimme die Papiere des Toten. Fatima reichte ihm die vom Generaldirektor des Krankenhauses und dem Pathologiechef unterschriebene Todesurkunde; außerdem die Personalausweise der drei Geschwister. Nachdem er diese

Hussain saß am Steuer und blickte wütend auf die Uhr. Er murmelte ein paar unverständliche Worte. Der Fahrer eines Kleinlasters kam und erklärte laut und deutlich, um hier Waren durchzukriegen, müsse man «Gebühren» zahlen. Hussain verließ rasch den Minibus und folgte dem Offizier in sein Kabuff. Er zahlte die Bestechung, die man «Passiergebühr» nannte, kehrte mit den Personalausweisen zum Auto zurück und verließ mit einer Art Triumphgefühl rasch den Checkpoint. Bulbul sinnierte darüber, dass sein Vater jetzt eine Ware war, wie Holzkohle für Wasserpfeifen, Kisten voller Tomaten oder Säcke voller Zwiebeln. Sein Schweigen passte Hussain nicht. Er betonte, er habe zweitausend Lira bezahlt, und nun müssten sie unbedingt vor Mitternacht in Anabîja ankommen.

Kurz blitzte bei Bulbul der Gedanke auf, nach Damaskus zurückzukehren und den Vater auf irgendeinem Friedhof

Den Toten sind die Plätze im allgemeinen egal. Allein dieser Gedanke erfüllte Bulbul mit großer Frustration. Inzwischen war Mittag vorüber. Er fühlte sich erschöpft und hatte nicht mehr den Wunsch, etwas zu unternehmen. Fatima hob die Decke vom Gesicht ihres Vaters und öffnete das Fenster. Sie versuchte sich einzureden, die kalte Luft, die durch das Fenster des Minibusses hereinwehte, werde ihm guttun, obwohl die Toten nicht atmen und sich nicht dafür interessieren, ob die Luft frisch oder abgestanden ist. Bulbul hieß sie den Vater wieder zuzudecken, damit die Eisklötze, die sie um ihn herum aufgeschichtet hatten, nicht so rasch schmolzen. Sie fügte sich ohne Widerrede. Bulbul wollte nichts anderes als schweigend dasitzen, bis sie nach Anabîja kamen. Dort würden die Verwandten die Bestattung durchführen. Danach könnte er erneut vor der Familie fliehen, in seinen Kokon zurückkehren und in seinem Zimmer leben wie eine Ratte, bis zu dem Augenblick, in dem er seinen Traum verwirklichen und in ein fernes Land emigrieren würde. Dort wollte er sich vom Schnee

Inmitten seiner schweigenden Geschwister fühlte Hussain sich unwohl. Da ihm sein Gedächtnis keine Kalenderblattweisheit lieferte, befahl er seiner Schwester gereizt, das Fenster zu schließen, und erklärte den beiden mit einer gewissen Häme, sie kämen sicher nicht vor Mitternacht in Anabîja an. Vielleicht nicht einmal vor Tagesanbruch, fügte er noch hinzu und sah die beiden im Rückspiegel an. In allen dreien wuchs die Furcht. Alle ihre Einschätzungen waren hinfällig. Sie lagen weit hinter ihrem Zeitplan zurück. Die nur vereinzelt vorbeifahrenden Autos, die Leere und die weite Steppe – alles hier verstärkte ihre Furcht.

Bei der Autobahnauffahrt bogen die Autos auf eine Nebenstraße ab. Ob die Autobahn denn gesperrt sei, fragte Hussain einen Taxifahrer. Nein, aber es gebe Heckenschützen, die die Durchfahrt unmöglich machten, erklärte er. Diese vier Passanten seien vor drei Stunden erschossen worden. Er wies auf vier Leichen: einen Mann, eine Frau, einen Burschen und ein junges Mädchen. Sie sind umgekommen, wie sie gelebt hatten, als Familie, dachte Bulbul. Hussain bog auf ein schmales Sträßchen ab. Irgendwo in der Nähe waren Detonationen zu hören. Sie konnten das Flugzeug sehen, das aus geringer Höhe Granaten abschoss. Splitter flogen herum. Hussain richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf die Straße, damit sie nicht plötzlich auf allen Seiten von brennenden Olivenhainen eingeschlossen waren.

Fatima sagte nichts mehr und verstaute die Brote wieder in der Plastiktüte. Bulbul vermied es, nach rechts zu schauen. Schon drei Stunden lang hörte man jetzt die Flugzeuge im Tiefflug, die Kanonen und die heulenden Geschosse. Der Beschuss von Kabûn und Dschûbar war in vollem Gang. Die von der Autobahn aus sichtbaren Gebäude zeigten deutliche Spuren. Bulbul blieb entspannt und gleichgültig. Hussain kündigte an, man nähere sich nun dem Checkpoint von Kutaifa und er werde sich, um Zeit zu gewinnen, sofort bei den LKWs einreihen. Bulbul hatte nichts dagegen einzuwenden. Er reichte ihm einen

Die Schlange der LKW