Die Originale dieser Geschichten erschienen erstmals vollständig 2002 bei New Directions, New York.
Die deutsche Fassung wurde in Teilen in den Bänden «Das rote Notizbuch» (Rowohlt 1996), «Die Kunst des Hungers» (Rowohlt Paperback 1997) und einer erweiterten Neuausgabe des «Roten Notizbuchs» (Rowohlt Taschenbuch Verlag 2001) publiziert. Die vorliegende Fassung enthält zum ersten Mal sämtliche wahren Geschichten.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, April 2018
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«The Red Notebook. True Stories» Copyright © 2002 by Paul Auster.
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ISBN Printausgabe 978-3-498-07402-9 (1. Auflage 2018)
ISBN E-Book 978-3-644-00162-6
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ISBN 978-3-644-00162-6
1972 geriet eine gute Freundin von mir in Schwierigkeiten mit dem Gesetz. Sie lebte damals in Irland, in einem Dorf unweit der Kleinstadt Sligo. Zufällig fuhr an dem Tag, als ich sie dort besuchte, ein Polizist in Zivil bei ihrem Häuschen vor und überbrachte ihr eine Vorladung. Die Beschuldigungen waren so schwerwiegend, dass es ratsam schien, einen Anwalt zu nehmen. Meine Freundin erkundigte sich und bekam einen Namen genannt, und am nächsten Morgen radelten wir in die Stadt, um den Fall mit diesem Mann zu besprechen. Zu meiner Verblüffung arbeitete er für eine Kanzlei namens Argue & Phibbs, zu Deutsch: «Streiten & Flunkern».
Dies ist eine wahre Geschichte. Wer daran zweifelt, den fordere ich auf, nach Sligo zu fahren und sich selbst davon zu überzeugen, ob ich das erfunden habe oder nicht. Ich habe mich in den vergangenen zwanzig Jahren oft an diesen Namen ergötzt, doch obwohl ich beweisen kann, dass Argue und Phibbs leibhaftige Menschen waren, fällt es mir immer noch schwer zu glauben, dass sie tatsächlich in dieser Paarung (und zu einem noch köstlicheren Witz, einer ausgemachten Parodie auf den Anwaltsstand) zusammengekommen sein sollen.
Meinen jüngsten Informationen zufolge (drei bis vier Jahre alt) ist die Kanzlei noch immer gut im Geschäft.
Ein Jahr später (1973) wurde mir ein Job als Verwalter eines Bauernhauses in Südfrankreich angeboten. Die juristischen Probleme meiner Freundin hatten sich längst erledigt, und da unsere sporadisch aufflackernde Beziehung gerade mal wieder sehr gut zu laufen schien, beschlossen wir, den Job gemeinsam anzunehmen. Wir waren damals beide knapp bei Kasse, und ohne dieses Angebot wären wir gezwungen gewesen, nach Amerika zurückzukehren – wozu wir beide noch nicht bereit waren.
Es sollte ein sonderbares Jahr werden. Einerseits war das Anwesen einfach wundervoll: ein großes steinernes Gebäude aus dem achtzehnten Jahrhundert zwischen Weingärten auf der einen Seite und einem Staatsforst auf der anderen. Das nächste Dorf war zwei Kilometer entfernt, aber dort lebten nicht mehr als vierzig Menschen, keiner davon unter sechzig oder siebzig. Also ein ideales Fleckchen für zwei junge Schriftsteller, und L. und ich arbeiteten hart dort und schafften in diesem einen Jahr mehr, als wir je für möglich gehalten hätten.
Andererseits lebten wir ständig am Rand einer Katastrophe. Von unseren Brötchengebern, einem amerikanischen Ehepaar, das in Paris wohnte, bekamen wir monatlich ein kleines Gehalt (fünfzig Dollar), Benzingeld fürs Auto sowie einen Betrag, von dem wir das Futter für die beiden zum Haus gehörenden Labradorhunde kauften. Alles in allem eine großzügige Regelung. Wir mussten keine Miete zahlen, und wenngleich das Gehalt zur Bestreitung unserer monatlichen Ausgaben nicht ausreichte, deckte es doch immerhin einen Teil davon. Den Rest wollten wir mit Übersetzungen hinzuverdienen. Bevor wir von Paris aufs Land zogen, hatten wir uns eine Reihe von Aufträgen besorgt, die uns über das Jahr hinweghelfen sollten. Dabei hatten wir allerdings nicht bedacht, dass Verlage oftmals säumige Zahler sind. Ebenso wenig hatten wir berücksichtigt, dass Wochen vergehen können, bis ein Scheck, der von einem Land ins andere geschickt wird, eingelöst werden kann, und dass, wenn es dann so weit ist, Bank- und Wechselgebühren den Auszahlungsbetrag erheblich verkleinern. Da L. und ich in unserer Planung keinen Spielraum für Irrtümer oder Rechenfehler gelassen hatten, gerieten wir häufig in ziemliche Bedrängnis.
Ich erinnere mich, wie ich bei Anfällen von Nikotinsucht mit vor Gier betäubten Gliedern unter Sofakissen und Schränken nach Kleingeld suchte. Für achtzehn Centime (etwa dreieinhalb Cent) bekam man ein Viererpäckchen Zigaretten der Marke Parisiennes. Ich erinnere mich, wie ich beim Füttern der Hunde dachte, sie hätten besser zu essen als ich. Ich erinnere mich an Gespräche mit L., in denen wir ernsthaft überlegten, ob wir uns zum Abendessen eine Dose Hundefutter aufmachen sollten.
Unsere einzige andere Einkommensquelle in diesem Jahr war ein Mann namens James Sugar. (Ich mache mir nichts aus symbolischen Namen, aber Tatsachen sind Tatsachen, ich kann es nun einmal nicht ändern.) Sugar war fest angestellter Fotograf bei National Geographic und trat in unser Leben, weil er für einen unserer Auftraggeber an einem Artikel über die Region arbeitete. Er fuhr monatelang mit einem von der Zeitschrift zur Verfügung gestellten Mietwagen durch die Provence und machte seine Fotos, und wann immer er in unsere Gegend kam, pflegte er bei uns zu übernachten. Da ihm die Zeitschrift auch ein Spesenkonto eingeräumt hatte, steckte er uns in seiner Freundlichkeit jedes Mal das Geld zu, mit dem seine Hotelkosten abgegolten wurden. Wenn ich mich recht erinnere, war es ein Betrag von fünfzig Franc pro Nacht. L. und ich wurden praktisch seine privaten Gastwirte, und da Sugar obendrein ein liebenswerter Mensch war, freuten wir uns immer, ihn zu sehen. Problematisch dabei war nur, dass wir nie wussten, wann er auftauchen würde. Er rief niemals vorher an, und oft genug vergingen etliche Wochen zwischen zwei Besuchen, weshalb wir lernten, nicht mit Mr. Sugar zu rechnen. Er kam aus dem Nichts, fuhr in seinem leuchtend blauen Wagen bei uns vor, blieb ein oder zwei Nächte und verschwand dann wieder. Und jedes Mal nahmen wir an, wir hätten ihn zum letzten Mal gesehen.
Am schlimmsten wurde es für uns im Spätwinter und zu Frühjahrsbeginn. Es kamen keine Schecks, einer der Hunde wurde gestohlen, und unsere Essensvorräte in der Küche schwanden nach und nach dahin. Am Ende hatten wir nur noch eine Tüte Zwiebeln, eine Flasche Speiseöl und eine Packung Pastetenteig, den jemand gekauft hatte, noch bevor wir in das Haus eingezogen waren – ein muffiges Überbleibsel aus dem vorigen Sommer. L. und ich hielten den ganzen Vormittag und noch etwas länger aus, aber um halb drei obsiegte der Hunger, und so gingen wir in die Küche, um unsere letzte Mahlzeit zuzubereiten. In Anbetracht der wenigen vorhandenen Zutaten war ein Zwiebelkuchen das Einzige, was sich machen ließ.
Als wir glaubten, unsere Kreation sei lange genug im Backofen gewesen, holten wir sie heraus, stellten sie auf den Tisch und machten uns darüber her. Wider Erwarten fanden wir sie beide köstlich. Ich glaube, wir gingen sogar so weit, sie als das Schmackhafteste zu bezeichnen, was wir je gegessen hatten; aber das war zweifellos nur ein Trick, ein halbherziger Versuch, uns bei Laune zu halten. Aber nach einigen weiteren Bissen stellte sich Enttäuschung ein. Schweren, sehr schweren Herzens mussten wir uns eingestehen, dass der Kuchen noch nicht ganz durchgebacken, dass er in der Mitte noch viel zu kalt war. Es blieb uns nichts anderes übrig, als ihn noch einmal für zehn oder fünfzehn Minuten in den Ofen zu tun. Angesichts unseres Hungers und der Tatsache, dass unsere Speicheldrüsen gerade erst aktiviert worden waren, fiel es nicht leicht, mit dem Essen aufzuhören.
Um unsere Ungeduld zu zügeln, unternahmen wir einen kurzen Spaziergang, denn wir meinten, draußen, weg von dem köstlichen Duft in der Küche, würde die Zeit schneller vergehen. Wie ich es in Erinnerung habe, gingen wir einmal ums Haus, vielleicht auch zweimal. Vielleicht kamen wir auf irgendein interessantes Thema zu sprechen (ich kann mich nicht erinnern), aber wie es auch geschah, wie lange wir auch weg waren, als wir ins Haus zurückkehrten, war die Küche voller Rauch. Wir stürzten zum Backofen und holten den Kuchen heraus, aber zu spät. Unser Essen war hinüber. Es war zu einer schwarz verkohlten Masse verbrannt, von der kein Bissen mehr zu retten war.
Heute klingt das wie eine komische Geschichte, aber damals war es alles andere als komisch. Wir waren in ein dunkles Loch gefallen, und keiner von uns konnte sich vorstellen, wie wir wieder herauskommen sollten. In all den Jahren, die ich darum kämpfte, ein Mensch zu sein, dürfte es keinen Augenblick gegeben haben, in dem mir weniger nach Lachen oder Scherzen zumute war. Wir waren wirklich am Ende, in einer furchtbaren, beängstigenden Situation.
Das war um vier Uhr nachmittags. Keine Stunde später hielt, eine Staubwolke aufwirbelnd, Sand und Kies unter den Reifen zermalmend, der nomadische Mr. Sugar vor unserem Haus. Wenn ich mich stark genug konzentriere, sehe ich noch immer das naive, alberne Lächeln auf seinem Gesicht, mit dem er aus dem Wagen sprang und hallo sagte. Es war ein Wunder. Es war ein echtes Wunder, und ich habe es mit eigenen Augen gesehen und am eigenen Leib erlebt. Bis dahin hatte ich immer gedacht, so etwas passiere nur in Büchern.