Cover

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juni 2018

Copyright © 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Slade House» Copyright © 2015 by David Mitchell

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München,

nach der Originalausgabe von Hachette UK

Coverabbildung Jeff Nishinaka

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-05551-3

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-05551-3

1979

«Es heißt nicht was, sondern wie bitte.»

«Okay», sage ich. Das klappt fast immer.

Heute nicht. «Hast du gehört, was ich gesagt habe?»

«Es heißt nicht was, sondern wie bitte.»

«Davor! Ich habe gesagt, wenn dich bei Lady Grayer jemand fragt, wie wir hergekommen sind, antwortest du, mit dem Taxi.»

«Ich dachte, man darf nicht lügen.»

Ich folge ihr, ohne auf die Ritzen zu treten. Manchmal muss ich raten, wo welche sind, weil matschiges Laub auf dem Pflaster liegt. Vorhin musste ich einem Jogger mit riesigen Fäusten in einem schwarz-orangen Trainingsanzug ausweichen. Die Wolverhampton Wanderers spielen in Schwarz-Orange. An einer Eberesche leuchten Beeren. Ich würde sie gerne zählen, aber das klippklapp-klippklapp von Mums Absätzen zieht mich weiter. Die Schuhe hat sie im Schlussverkauf bei John Lewis gekauft, mit dem restlichen Geld vom Royal College of Music, obwohl die British Telecom eine letzte Mahnung wegen der Telefonrechnung geschickt hat. Sie trägt die dunkelblauen Konzertklamotten und hat sich die Haare mit der silbernen Fuchskopfnadel hochgesteckt. Die hat ihr Vater nach dem Zweiten Weltkrieg aus Hongkong mitgebracht. Wenn Mum einen Schüler hat und ich mich verziehen muss, setze ich mich manchmal an ihre Frisierkommode und hole den Fuchs heraus. Die Augen sind aus Jade, und an manchen Tagen lächelt er. Ich bin nicht gut drauf heute, aber das Valium müsste bald wirken. Valium ist spitze. Ich habe zwei genommen. Nächste Woche muss ich ein paar Tabletten weglassen, sonst merkt Mum, dass ihr Vorrat schrumpft. Mein Tweedjackett kratzt. Mum hat es extra für heute bei Oxfam gekauft, und die Fliege ist auch von Oxfam. Sie arbeitet dort

«Nathan!» Mum packt mich am Handgelenk. «Was habe ich eben über das Trödeln gesagt?»

Ich denke zurück. «Hopp, hopp!; nicht trödeln.»

«Und was tust du gerade?»

«Über Godzillas Daumen nachdenken.»

Mum schließt die Augen. «Lady Grayer hat mich – uns – zu einem Musiknachmittag eingeladen. Zu einer Soirée. Da kommen Leute, denen die Musik am Herzen liegt. Leute aus der Kulturförderung, die Stellen und Stipendien vergeben.» Winzige rote Äderchen schlängeln sich durch Mums Augen

Sich NORMAL VERHALTEN ist wie sich ANPASSEN. «Ich versuch’s. Aber es heißt nicht Burenschlacht, sondern Burenkrieg. Und dein Ring tut mir am Handgelenk weh.»

Sie lässt los. Besser.

Ich weiß nicht, was ihr Gesicht sagt.

 

Die Slade Alley ist die schmalste Gasse, die ich je gesehen habe. Sie schneidet sich zwischen zwei Häusern hindurch und verschwindet nach dreißig Schritten oder so nach links. Ich kann mir vorstellen, dass ein Penner in einem Pappkarton hier wohnt, aber nicht ein Lord mit Lady.

«Der Haupteingang ist sicher auf der anderen Seite», sagt Mum. «Das Slade House ist nur das Stadtdomizil der Grayers. Eigentlich leben sie in Cambridgeshire.»

Wenn ich jedes Mal, wenn Mum mir das erzählt, fünfzig Pence bekäme, hätte ich jetzt drei Pfund fünfzig. In der Gasse ist es kalt und klamm wie in der White Scar Cave in den Yorkshire Dales. Dad ist mit mir dorthin gefahren, als ich zehn war. An der Ecke liegt eine tote Katze. Sie ist grau wie Staub auf dem Mond. Ich weiß, dass sie tot ist, weil sie still daliegt wie ein verlorener Beutel und weil dicke Fliegen auf ihren Augen sitzen. Wie sie wohl gestorben ist? Es gibt weder Einschusslöcher noch Bissspuren, aber ihr Kopf ist irgendwie verdreht, also wurde sie vielleicht von einem Katzenmörder erwürgt. Sie schießt in meiner Hitparade der schönsten Dinge, die ich je

Ich frage: «Muss sie nicht richtig beerdigt werden? So wie Gran?»

«Nein. Katzen sind keine Menschen. Jetzt komm endlich.»

«Müssen wir nicht dem Besitzer Bescheid sagen, dass sie nicht mehr nach Hause kommt?»

«Wie denn? Sollen wir sie aufheben, die ganze Westwood Road abklappern und an jeder Haustür fragen: ‹Entschuldigen Sie, ist das Ihre Katze?›»

Manchmal hat Mum richtig gute Ideen. «Das würde eine Weile dauern, aber –»

«Vergiss es, Nathan – wir sollen genau jetzt bei Lady Grayer sein.»

«Aber wenn wir sie nicht beerdigen, hacken die Krähen ihr die Augen aus.»

«Ich sehe weder einen Spaten noch einen Garten.»

«Lady Grayer hat bestimmt einen Spaten und einen Garten.»

Mum schließt wieder die Augen. Vielleicht hat sie Kopfweh. «Schluss jetzt.» Sie zieht mich weiter, und wir gehen den Mittelteil der Slade Alley hinunter. Er ist ungefähr fünf Häuser lang, schätze ich, aber die Backsteinmauern an den Seiten sind so hoch, dass man nichts sehen kann. Nur Himmel. «Halt die Augen nach einer kleinen schwarzen Eisentür offen», sagt Mum, «auf der rechten Seite.» Wir gehen weiter bis zur nächsten Ecke, genau sechsundneunzig Schritte, Disteln und Löwenzähne wuchern aus den Ritzen, aber da ist keine Tür. Wir biegen rechts um die Ecke, und nach zwanzig Schritten

«Ich versteh das nicht.» Mum starrt auf den Umschlag.

«Außer du bist ein Sikh mit Turban. Dann macht die Polizei –»

«Hier steht: Eine kleine schwarze Eisentür. Ich meine … wie können wir die übersehen haben?»

Ich weiß. Für mich ist Valium wie Asterix’ Zaubertrank, aber Mum ist davon immer ganz benebelt. Gestern hat sie mich Frank genannt – Dad heißt so – und es nicht mal gemerkt. Sie kriegt das Valium von zwei verschiedenen Ärzten verschrieben, weil ein Rezept zu wenig ist, aber –

– ein Hund bellt, direkt neben mir, und ich bin mit einem Schrei zurückgesprungen und habe mir vor Angst in die Hose gemacht, aber alles gut, alles ist gut, da ist ein Zaun, und der Hund ist bloß ein kleiner Kläffer, kein Bullmastiff, nicht der Bullmastiff, und es waren auch nur ein paar Tropfen. Trotzdem, mein Herz klopft wie verrückt, und ich glaube, ich muss mich übergeben. Mum geht die Cranbury Avenue hinunter und sucht nach einem großen Haus mit einem großen Tor. Sie hat den Hund gar nicht bemerkt. Ein glatzköpfiger Mann im Overall kommt auf uns zu, mit einem Eimer und einer Leiter über der Schulter. Er pfeift «I’d Like to Teach the World to Sing (in Perfect Harmony)».

Mum spricht ihn an. «Entschuldigen Sie, kennen Sie das Slade House?»

«Slade House. Das Haus von Lady Norah Grayer?»

«Nie gehört, aber wenn Sie Ihre Ladyschaft finden, richten Sie ihr aus, ich steh auf vornehm, falls sie auf einfach steht.» Zu mir sagt er: «Schicke Fliege, mein Junge», dann biegt er in die Slade Alley und pfeift das Lied an der Stelle weiter, wo er aufgehört hat. Mum stiert ihm nach und murmelt: «Scheiße.»

«Ich dachte, Scheiße sagt man nicht –»

«Lass es sein, Nathan. Lass – es – einfach – sein.»

Ich glaube, das ist Mums saures Gesicht. «Okay.»

Der Hund hat sich beruhigt und leckt sich sein Ding. «Wir kehren um», entscheidet Mum. «Vielleicht hat Lady Grayer die nächste Gasse gemeint.» Sie geht zurück in die Slade Alley, und ich folge ihr. Als wir in den mittleren Abschnitt biegen, verschwindet der Leitermann am anderen Ende um die Ecke, wo die tote mondgraue Katze liegt. «Jemand könnte dich hier umbringen», sage ich, «und keiner würde es merken.» Mum antwortet nicht. Vielleicht war das nicht besonders NORMAL. Mitten auf dem Mittelteil bleibt Mum plötzlich stehen. «Das kann doch nicht wahr sein!» In der Mauer befindet sich eine kleine schwarze Eisentür. Sie ist wirklich klein. Ich bin einen Meter fünfzig, und die Tür geht mir nicht mal bis zur Stirn. Dicke Leute hätten große Mühe, sich hindurchquetschen. Sie hat weder Griff noch Schlüsselloch und nicht mal Türritzen. Sie ist schwarz, schwarz-schwarz, wie das Nichts zwischen Sternen. «Wie konnten wir die bloß übersehen?», sagt Mum. «Du bist mir vielleicht ein Pfadfinder.»

«Ich bin nicht mehr bei den Pfadfindern», erinnere ich sie. Unser Gruppenleiter Mr. Moody hatte gesagt, ich soll abhauen, also bin ich abgehauen, und es dauerte zwei Tage, bis die

Mum drückt gegen die Tür. Es passiert nichts. «Verflixt, wie geht das blöde Ding denn auf? Vielleicht müssen wir klopfen.»

Die Tür zieht meine Hand zu sich. Sie ist ganz warm.

Und dann schwingt sie quietschend auf …

 

… und wir blicken in einen Garten, einen summenden, noch sommerlichen Garten. Rosen blühen darin, grinsende Sonnenblumen, hingekleckster Mohn, büschelweise Fingerhut und jede Menge Blumen, die ich nicht kenne. Es gibt einen Steingarten, einen Teich, grasende Bienen und Schmetterlinge. Irre. «Ich werd verrückt!», sagt Mum. Oben auf dem Hang steht das Slade House, alt, streng, ein grauer Kasten, halb mit feuerrotem Efeu zugewachsen und völlig anders als die Häuser auf der Westwood Road und der Cranbury Avenue. Würde es dem National Trust gehören, müsste man zwei Pfund Eintritt bezahlen und Kinder unter sechzehn fünfundsiebzig Pence. Mum und ich sind schon hinter der kleinen schwarzen Eisentür, der Wind hat sie geschlossen wie ein unsichtbarer Butler, und der Luftstrom zieht uns hinein in den Garten. «Die Grayers beschäftigen sicher einen Vollzeitgärtner», sagt Mum, «oder sogar mehrere.» Endlich wirkt das Valium. Alles Rote ist leuchtender, alles Blaue gläserner, alles Grüne dampfiger, und alles Weiße ist durchscheinend wie dünnes Klopapier. Ich will Mum fragen, wie ein so großes Haus mit Garten zwischen die Slade Alley und die Cranbury Avenue passen soll, aber meine Frage fällt in einen Brunnen ohne Boden, und ich vergesse, was ich vergessen habe.

 

«Schön, dich kennenzulernen, Nathan», sagt der Junge.

«Wieso?», frage ich seine Turnschuhsohlen.

Mum zischt irgendwas von Benimm, und der Junge sagt: «Nur so. Ich bin übrigens Jonah. Das Empfangskomitee.»

Ich kenne keine Jonahs. Jonah ist ein bordeauxroter Name.

Mum fragt: «Ist Lady Norah deine Mutter, Jonah?»

Jonah denkt darüber nach. «Könnte man so sagen, ja.»

«Ah», sagt Mum, «das ist, äh, ach so. Weißt du –»

«Wunderbar, Sie haben uns gefunden, Rita!» Eine Frau tritt aus einem tunnelartigen Gitterdings. Es ist mit weißen und lila Hängeblumen bewachsen. Die Frau ist ungefähr so alt wie Mum, aber schlank und nicht so abgespannt, und sie ist angezogen, wie ihr Garten aussieht. «Nach unserem Gespräch gestern Abend hatte ich richtig Herzklopfen vor Sorge, ich hätte mit meiner Wegbeschreibung Verwirrung gestiftet – ich

«Lady Grayer!» Mum klingt, als würde sie eine vornehme Person spielen. «Guten Tag. O nein, Ihre Beschreibung war –»

«Bitte, Rita, nennen Sie mich Norah: Die Lady-Anrede ist furchtbar lästig, wenn ich außer Dienst bin. Wie ich sehe, haben Sie Jonah schon kennengelernt: unser hauseigener Spiderman.» Lady Grayer hat Jonahs schwarze Haare und denselben Röntgenblick, dem ich lieber ausweiche. «Und dieser junge Mann hier muss Nathan sein.» Sie gibt mir die Hand. Sie ist klein und dick, aber ihr Druck ist kräftig. «Deine Mutter hat mir alles über dich erzählt.»

«Freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Norah», sage ich wie ein Erwachsener in einem Film.

«Nathan!», sagt Mum zu laut. «Lady Grayer hat nicht gemeint, dass du sie beim Vornamen nennen darfst –»

«Nein, nein!», sagt Norah Grayer. «Das darf er gerne, wirklich.»

Der sonnige Nachmittag schwankt ein bisschen. «Ihr Kleid passt zum Garten», sage ich.

«Was für ein elegantes Kompliment», sagt Lady Grayer. «Danke schön. Du bist aber auch sehr schick. Fliegen sind sehr distinguiert.»

Ich löse meine Hand. «Hatten Sie eine mondgraue Katze, Norah?»

«Ob ich eine Katze hatte? Meinst du kürzlich oder als Mädchen?»

«Heute. Sie liegt in der Gasse.» Ich zeige in die richtige Richtung. «An der nächsten Ecke. Sie ist tot.»

«Nathan ist manchmal sehr direkt.» Mums Stimme klingt

«Keine Sorge. Das Slade House ist seit einigen Jahren katzenfrei. Ich rufe nachher unseren Mann für alle Fälle an und bitte ihn, das arme Tier fix unter die Erde zu bringen. Das war sehr aufmerksam von dir, Nathan. Ganz die Mutter. Hast du auch ihre musikalische Begabung geerbt?»

«Nathan übt zu wenig», sagt Mum.

«Ich übe jeden Tag eine Stunde», sage ich.

«Es müssten zwei sein», sagt Mum knapp.

«Ich hab auch noch Hausaufgaben», halte ich dagegen.

«Tja, Genie besteht nun mal zu neunzig Prozent aus Schweiß», sagt Jonah – direkt hinter uns, auf dem Boden. Mum schnappt erschrocken nach Luft, aber ich bin beeindruckt. Ich frage: «Wie bist du so schnell hier runtergekommen?»

Er tippt sich an die Schläfe. «Hirnimplantierte Teleportationsschaltung.»

Ich weiß, er ist gesprungen, aber seine Antwort gefällt mir besser. Jonah ist größer als ich, aber das sind fast alle in meinem Alter. Letzte Woche hat mich Gaz Ingram offiziell von schwule Speckfresse in Giftzwerg umgetauft.

«Ein unverbesserlicher Angeber», seufzt Norah Grayer. «Ach, Rita, ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, aber Yehudi Menuhin ist eben hereingeschneit, und ich habe ihm von Ihrem Debussy-Konzert erzählt. Er brennt förmlich darauf, Sie kennenzulernen.»

Mum guckt wie ein erstauntes Kind bei den Peanuts: «Der Yehudi Menuhin? Er ist hier? Heute Nachmittag?»

Lady Grayer nickt, als ob das nichts Besonderes wäre. «Ja, er hatte gestern Abend ein Konzert in der Royal Festival Hall, und Slade House ist sozusagen sein Mauseloch, wenn er in London weilt. Sie haben doch nichts dagegen, oder?»

«Bravissima.» Lady Grayer nimmt Mum beim Arm und führt sie zu dem großen Haus. «Nur keine Hemmungen – Yehudi ist zum Knuddeln. Was haltet ihr davon, Jungs –», sie dreht sich zu Jonah und mir um, «– wenn ihr euch bei diesem herrlichen Wetter ein bisschen im Garten beschäftigt? Mrs. Polanski macht Mokka-Eclairs, also tut etwas für euren Hunger.»

 

«Iss eine Pflaume, Nathan», sagt Jonah und pflückt mir eine. Er setzt sich unter den Baum, also setze ich mich unter den Nachbarbaum.

«Danke.» Das warme, matschige Fruchtfleisch schmeckt nach einem Sommermorgen Anfang August. «Ist Yehudi Menuhin wirklich zu Besuch?»

Jonah wirft mir einen Blick zu, den ich nicht verstehe. «Warum um Himmels willen sollte Norah lügen?»

Ich bin noch nie einem Jungen begegnet, der seine Mutter beim Vornamen nennt. Dad würde das «neumodisch» nennen. «Ich habe nicht gesagt, dass sie lügt. Aber er ist schließlich ein unglaublich berühmter Geiger.»

Jonah spuckt seinen Pflaumenkern in die hohen rosa Gänseblümchen. «Sogar unglaublich berühmte Geiger brauchen Freunde. Sag, wie alt bist du, Nathan? Dreizehn?»

«Richtig geraten.» Ich spucke meinen Stein aus. «Und  du?»

«Auch», sagt er. «Ich habe im Oktober Geburtstag.»

«Februar.» Ich bin älter, wenn auch kleiner. «Auf welche Schule gehst du?»

«Die Schule und ich haben nie am selben Strang gezogen. Sozusagen.»

«Das Gesetz und ich sind auch nie miteinander klargekommen. Noch ’ne Pflaume?»

«Danke. Und was sagt die Schulbehörde dazu?»

Jonahs Gesicht könnte bedeuten, dass er verblüfft ist. Mrs. Marconi und ich arbeiten gerade an «verblüfft». «Die Schul-was?»

Ich kapiere das nicht. Die muss er doch kennen. «Nimmst du mich auf den Arm?»

Jonah sagt: «Wieso, willst du getragen werden? Dazu bist du mir zu schwer.» Das ist irgendwie witzig, aber wenn ich das je zu Gaz Ingram sage, nagelt er mich ans Rugbytor. «Spaß beiseite, ich bekomme Hausunterricht.»

«Boah. Wer unterrichtet dich? Deine Mutter?»

Jonah sagt: «Unser Meister», und sieht mich an.

Sein Blick tut weh, und ich gucke weg. Ob Meister ein Reichen-Wort für Lehrer ist? «Wie ist der so?»

«Ein echtes Genie», sagt Jonah überhaupt nicht angebermäßig.

«Ich beneide dich», gebe ich zu. «Ich hasse meine Schule. Ich hasse sie.»

«Wenn du nicht ins System hineinpasst, macht das System dir das Leben zur Hölle. Ist dein Vater auch Pianist?»

Über Dad rede ich so gerne, wie ich es hasse, über die Schule zu reden. «Nein. Mein Vater lebt in Salisbury, nicht das in Wiltshire, sondern Salisbury in Rhodesien. Er kommt von dort, aus Rhodesien, und er ist Ausbilder bei der rhodesischen Armee. Viele schwindeln über ihre Väter, aber ich nicht. Mein Vater ist ein spitzenmäßiger Schütze. Er kann einem Mann aus hundert Metern Entfernung zwischen die Augen schießen. Ich durfte ihm mal dabei zusehen.»

«Das war nur eine Schaufensterpuppe, auf einem Schießstand bei Alderscot. Mit Regenbogenperücke und Adolf-Hitler-Bart.»

Tauben gurren in den Pflaumenbäumen. Die meisten Leute glauben, Taube ist gleich Taube, aber es gibt über dreihundert verschiedene Arten.

«Muss hart sein», sagt Jonah, «dass dein Vater so weit weg ist.»

Ich zucke mit den Achseln. Mum hat mir verboten, über die Scheidung zu reden.

«Bist du schon mal in Afrika gewesen?», fragt Jonah.

«Nein, aber Dad hat versprochen, dass ich ihn an Weihnachten besuchen darf. Ich sollte schon letzte Weihnachten fahren, aber dann musste Dad plötzlich ganz viele Soldaten ausbilden. Wenn hier Winter ist, ist bei ihm Sommer.» Ich bin drauf und dran, Jonah von der Safari zu erzählen, auf die Dad mich mitnehmen will, aber Mrs. Marconi sagt, sich unterhalten ist wie Tischtennis spielen: Es geht hin und her. «Wo arbeitet dein Vater?»

Bestimmt sagt Jonah jetzt, sein Vater ist Admiral oder Richter oder irgendwas Vornehmes, aber nein. «Mein Vater ist tot. Erschossen. Ein Unfall bei der Fasanenjagd. Das ist schon sehr, sehr lange her.»

So lange her kann es nicht sein, denke ich, aber ich sage nur: «Ach so.»

Die lila Fingerhüte wiegen sich, als wäre da irgendwas …

 

… aber da ist nichts, und Jonah sagt: «Erzähl mir von dem Albtraum, der immer wiederkommt, Nathan.» Wir sitzen auf warmen Gehwegplatten am Teich. Der Teich ist ein langes

«Keine Ahnung», sagt Jonah. «Du hast diesen gehetzten Blick.»

Ich werfe einen Kieselstein hoch über das Wasser. Der Bogen, den er beschreibt, ist Mathematik.

«Hat der Albtraum mit deinen Narben zu tun?»

Sofort hat mir meine Hand eine Haarsträhne über die rosa-weiß gestreifte Stelle unter dem rechten Ohr gewischt, wo die Verletzungen am sichtbarsten sind. Der Stein macht platsch!, aber es gibt keine Spritzer. Ich werde nicht daran denken, wie der Mastiff auf mich losging und mir mit seinen Reißzähnen die Haut von der Wange riss wie einem Brathähnchen, an seine Augen, als er sich in meinem Kiefer verbiss und mich schüttelte wie eine Puppe, oder an die vielen Wochen im Krankenhaus, die Spritzen, die Medikamente, die Operation, die Gesichter der Leute, und auch nicht daran, dass der Mastiff beim Einschlafen immer noch auf mich wartet.

Eine Libelle setzt sich neben meiner Nase auf ein Schilfrohr. Ihre Flügel sind wie Zellophan, und Jonah sagt: «Ihre Flügel sind wie Zellophan», und ich sage: «Dasselbe habe ich auch gerade gedacht», aber Jonah sagt: «Was hast du gedacht?», also habe ich vielleicht nur gedacht, dass er das gesagt hat. Valium radiert Gänsefüßchen weg und zaubert Denkblasen. Das ist mir schon öfter aufgefallen.

Im Haus spielt Mum sich mit Arpeggios ein.

Die Libelle ist fort. «Hast du Albträume?», frage ich.

«Nimm eine Packung Kekse mit ins Bett», schlage ich vor.

Jonah hat perfekte Zähne, wie das lächelnde Kind ohne Plomben in der Colgate-Werbung. «Nicht solches Essen, Nathan.»

«Was für Essen meinst du denn?», frage ich.

Eine Lerche morst von einem fernen, sehr fernen Stern.

«Eins, das dich hungriger macht, je mehr du davon isst», sagt er.

Büsche zittern verschwommen, als würden sie in diesem Augenblick in den Garten gezeichnet.

«Kein Wunder, dass du nicht auf eine normale Schule gehst», sage ich.

Jonah wickelt einen Grasstängel um seinen Daumen …

 

… und knackst ihn durch. Der Teich ist verschwunden, und wir sitzen unter einem Baum, also muss es ein anderer Grasstängel sein, ein späteres Knacksen. Das Valium pocht mir in den Fingerspitzen, und das Sonnenlicht spielt Harfe. Gefallene Blätter auf dem gestutzten Rasen haben die Form von winzigen Fächern. «Der Baum hier ist ein Ginkgobaum», sagt Jonah. «Die Leute, die vor einem halben Jahrhundert im Slade House wohnten, haben ihn gepflanzt.» Ich lege aus Ginkgoblättern ein großes Afrika, ungefähr dreißig Zentimeter von Kairo bis Johannesburg. Jonah liegt jetzt auf dem Rücken, entweder ist er eingeschlafen, oder er hat nur die Augen zu. Er hat mich nicht ein Mal nach Fußball gefragt oder gesagt, ich sei schwul, weil ich klassische Musik mag. Vielleicht ist das so, wenn man einen Freund hat. Es muss Zeit vergangen sein, denn Afrika ist fertig. Ich weiß nicht genau, wie spät es ist, weil ich letzten Sonntag meine Uhr auseinandergenommen habe, damit

«Wow», sagt Jonah und stützt den Kopf in die Hand.

Sagt man «danke», wenn jemand «wow» sagt? Ich weiß es nicht, also gehe ich auf Nummer sicher und frage: «Glaubst du manchmal, du gehörst zu einer anderen menschlichen Spezies, die in einem Labor aus reiner DNA zusammengesetzt wurde wie in Die Insel des Dr. Moreau? Und dass man dich anschließend freigelassen hat, um zu testen, ob du es schaffst, als normal durchzugehen?»

Sanfter Applaus flattert aus dem Zimmer im ersten Stock.

«Meine Schwester und ich sind eine andere Spezies», sagt Jonah, «aber das Testen ist überflüssig. Wir gehen als normal durch, als alles, was wir wollen. Hast du Lust, Fuchs und Hunde zu spielen?»

«Wir sind an einem Pub vorbeigekommen, der The Fox and Hounds heißt.»

«Der steht dort seit den Dreißigern. So riecht es da auch, falls du je hineingehst. Meine Schwester und ich haben uns den Namen für ein Spiel geborgt. Hast du Lust? Es ist mehr oder weniger ein Jagdspiel.»

«Ich wusste gar nicht, dass du eine Schwester hast.»

«Keine Sorge, du lernst sie nachher kennen. Fuchs und Hunde ist ein Jagdspiel. Wir stellen uns diagonal an den Hausecken auf. Dann rufen wir Fuchs und Hunde, eins, zwei, drei!, und auf drei laufen wir links ums Haus herum, bis einer den

Wenn ich nein sage, nennt er mich vielleicht Memme oder Spasti. «Okay. Aber muss das Spiel nicht Fuchs und Hund heißen, wenn es nur einen Hund gibt?»

Jonahs Gesicht nimmt nacheinander zwei, drei Ausdrücke an, die ich nicht entziffern kann. «Ab heute, Nathan, heißt das Spiel Fuchs und Hund.»

 

Das Slade House ragt drohend auf. Der rote Efeu ist röter, als roter Efeu normalerweise ist. Die Fenster im Erdgeschoss liegen so hoch, dass man nicht hineingucken kann, und außerdem spiegeln sich darin sowieso nur Himmel und Wolken. «Du bleibst hier», sagt Jonah an der Ecke vorne rechts. «Ich gehe hinters Haus. Bei drei läufst du gegen den Uhrzeigersinn – hier lang.» Jonah trabt den Weg hinunter, an dem eine Weißdornhecke wächst. Während ich warte, entdecke ich am nächsten Fenster eine Gestalt. Ich gehe näher ran und spähe hinauf. Es ist eine Frau. Bestimmt ein Gast bei Lady Norah Grayers Soirée oder vielleicht eine Hausangestellte. Sie hat eine Bienenkorbfrisur wie die Frauen auf Dads alten LPs; ihre Stirn ist gefurcht, und ihr Mund geht langsam auf und zu wie bei einem Goldfisch. Als ob sie pausenlos dasselbe Wort wiederholt. Ich kann sie nicht verstehen, weil das Fenster zu ist, also sage ich: «Ich kann Sie nicht verstehen.» Ich mache einen Schritt vor, aber die Frau verschwindet, und ich sehe nur gespiegelten Himmel. Also trete ich wieder zurück, und da ist sie wieder. Es ist wie mit den Bildern in den Cornflakes-Packungen, die das Motiv wechseln, wenn man sie schräg hält. Was die Bienenkorbfrau sagt, könnte «oh, oh, oh» heißen oder «so, so, so», aber auch «Tod, Tod, Tod». Bevor ich dahinterkomme, ruft Jonah hinterm Haus: «Bereit, Nathan?»

«Fuchs und Hund!», ruft Jonah, und ich rufe dasselbe. «Eins, zwei –»

 

«Drei!», rufe ich und laufe den Weißdornweg runter – pomm, pomm, pomm machen meine Sohlen, und das Echo macht bumm, bumm, bumm. Jonah ist größer als ich, und im Hundertmeterlauf würde er mich vielleicht schlagen, aber ich kann trotzdem der Hund sein und gewinnen, denn auf längeren Strecken zählt Ausdauer, und schon bin ich um die erste Ecke, eigentlich müsste ich jetzt die Cranbury Avenue sehen, aber da sind nur Tannen und eine lange Backsteinmauer, und ein schmaler Rasenstreifen rauscht verschwommen vorbei. Ich renne weiter, fege hinter einem Fallrohr um die nächste Ecke und zische einen anderen kühlen Seitenweg hinunter, Lichtschwerter zerschneiden den Schatten, sie kommen aus einem hohen Zaun, aus dessen Ritzen Dornenzweige ragen, und dann bin ich wieder auf der Vorderseite und renne voll in einen Schmetterlingsstrauch, Schmetterlinge wirbeln auf, orange, schwarz, weiß, rot, einer fliegt mir in den Mund, also spucke ich ihn aus, springe über den Steingarten und lande fast, aber nur fast, auf dem Hintern. Ich düse weiter, vorbei an der Eingangstreppe, am Fenster mit der Bienenkorbfrau, aber sie ist weg, und um die Ecke, und schwupp bin ich wieder im hallenden Weißdornweg, ich habe Seitenstiche, aber egal, der Weißdorn kratzt an meiner Hand, als wäre er gewachsen, und ich überlege, ob Jonah mich einholt oder ich ihn, weil ich schon wieder auf der Rückseite vom Slade House bin, die Tannen sind größer und dicker geworden, und die Mauer ist

Ich bin stehen geblieben, weil das Ende des Gartens, die Mauer mit der kleinen schwarzen Tür – alles ist unscharf und schummrig. Nicht, weil es dunkel wird. Es kann noch nicht einmal vier sein. Auch nicht, weil es neblig ist. Ich blicke nach oben – der Himmel hat noch dieselbe Farbe wie vorhin. Es ist der Garten selbst. Der Garten verschwindet.

Ich drehe mich um, um Jonah zu sagen, dass wir das Spiel abbrechen müssen, irgendetwas stimmt hier nicht, wir brauchen einen Erwachsenen. Sicher kommt er gleich um die Ecke gestürmt. Die Dornenranken wiegen sich wie Unterwassertentakel. Ich blicke in den Garten. Da war eine Sonnenuhr, aber sie ist verschwunden und die Pflaumenbäume auch. Werde ich etwa blind? Ich will zu Dad, er soll mir sagen, dass alles gut ist, dass ich nicht blind werde, aber Dad ist in Rhodesien, also will ich zu Mum. Wo ist Jonah? Was, wenn er sich mit aufgelöst hat? Jetzt wird der Gittertunnel wegradiert. Was tut man, wenn man bei Leuten zu Besuch ist, und ihr Garten verschwindet? Das Nichts rückt näher wie eine Gewitterfront. Da, am Ende des Dornenwegs taucht Jonah auf, zum Glück, er wird schon wissen, was zu tun ist, aber der rennende Umriss verwischt, er verwandelt sich in formlose grollende Dunkelheit mit noch dunkleren Augen, Augen, die mich kennen, und Reißzähnen, die ihr Werk beenden wollen, und das dunkle

 

«Meine Güte, Nathan, was hast du denn?» Ich sitze auf meinen aufgeschlagenen Knien auf einem Teppich in der Diele, mein Herz macht bummbummbumm, aber es beruhigt sich, es beruhigt sich, ich bin in Sicherheit, und vor mir steht Lady Grayer mit einem Tablett und einer kleinen eisernen Teekanne. Dampf schlängelt sich aus der Tülle. «Ist dir nicht wohl? Soll ich deine Mutter holen?»

Ich stehe benommen auf. «Da draußen ist etwas, Norah.»

«Ich weiß nicht, was du meinst. Was ist da draußen?»

«Ich meine, so was … so was Ähnliches wie …» So was Ähnliches wie was? «Ein Hund.»

«Ach, das ist bloß Izzy von nebenan. Dumm wie Bohnenstroh, und sie lässt sich nicht davon abbringen, ihr Geschäft im Kräutergarten zu erledigen. Sehr lästig, aber sie ist einfach zu süß.»

«Nein, er war … größer … und der Garten hat sich aufgelöst.»

Die Fliesen in der Diele sind schwarz-weiß wie ein Schachbrett. Es riecht nach Kaffee, Möbelpolitur, Zigarrenrauch und Lilien. Ich spähe durch das kleine rautenförmige Fenster in der Tür und sehe den Garten. Er hat sich kein bisschen aufgelöst. Ganz hinten erkenne ich die kleine schwarze Eisentür zur Slade Alley. Meine Phantasie muss mir ein Bein gestellt haben. Tschaikowskys «Lied der Lerche» kommt die Treppe runter. Das ist Mum.

Norah Grayer fragt: «Fehlt dir wirklich nichts, Nathan?»