
Für Suzy, wie immer
Und auch für meinen Freund James McFarlane,
der von Anfang an da war und half,
die Worte zu formen
Nach dreiundzwanzig Kriegsjahren hat König Edward III. in einen Vertrag eingewilligt und den französischen Monarchen aus der englischen Gefangenschaft entlassen. In Frankreich herrscht Chaos, Söldnerbanden treiben ihr Unwesen – eine Situation, die Edward zunächst ganz gelegen kommt, da sie den französischen König hindert, seine Macht wiederzuerlangen. Königstreue französische Städte und Ortschaften unterwerfen sich eine nach der anderen widerstrebend der englischen Herrschaft. Doch einzelne kriegerische Edelmänner und eigennützige Söldnerführer widersetzen sich. Thomas Blackstone und der Unterhändler des Königs, der berühmte Ritter Sir John Chandos, haben die Aufgabe, die Orte, die Widerstand leisten, für England in Besitz zu nehmen.
Zahlenmäßig unterlegen und noch immer von den Franzosen gejagt, sehen Thomas Blackstone und seine Männer sich verraten und müssen schließlich ein Himmelfahrtskommando auf sich nehmen.
*Sir Thomas Blackstone
*Henry, Blackstones Sohn
*Sir Gilbert Killbere
*Meulon: normannischer Hauptmann
*John Jacob: Hauptmann
*Perinne: Baumeister und Soldat
*Renfred: deutscher Waffenknecht und Hauptmann
*Will Longdon: altgedienter Bogenschütze und Centenar
*Jack Halfpenny: Bogenschütze und Ventenar
*Ralph Tait: Waffenknecht
*Quenell: Bogenschütze und Ventenar
*Beyard: Gascogner Hauptmann
*Haskyn: Bogenschütze
*Fowler: Bogenschütze
*Peter Garland: Bogenschütze
*Othon: Waffenknecht
Graf Jean de Tancarville: Großkammerherr von Frankreich und General der nördlichen Armee
Jacques de Bourbon, Graf de la Marche: Connétable von Frankreich
Jean de Montfort
Jean de Boucicaut: Marschall von Frankreich
Arnoul d’Audrehem: Marschall von Frankreich
Graf de Vaudémont: Statthalter der Champagne
Charles de Blois
Louis d’Harcourt: Statthalter der Normandie
Jean de Grailly, Captal de Buch: Gascogner Edelmann
*Alain de la Grave
*Mouton de la Grave: Herr von Sainte-Bernice
*Guillouic: bretonischer Söldner
*Robert de Rabastens
*Seigneur Godefroy d’Albinet
*Bernard de Charité
*Gräfin Catherine de Val
Henry of Grosmont, Duke of Lancaster
Sir John Chandos
Sir William Felton: Seneschall des Poitou
Sir Henry le Scrope: Gouverneur von Calais und Guînes
*William Cade
James Pipe
Robert Knolles
John Amory
John Cresswell
*Gruffydd ap Madoc
König Edward III. von England
Edward of Woodstock, Prince of Wales
König Johann II. (der Gute) von Frankreich
Der Dauphin Karl: Sohn und Erbe des französischen Königs
Karl, König von Navarra: Anwärter auf den französischen Thron, König Johanns Schwiegersohn
Johanna, Gräfin der Provence, Königin von Neapel
Marquis de Montferrat: Piemonteser Edelmann
Graf Amadeus VI. von Savoyen
*Niccolò Torellini: Florentiner Priester
*Fra Pietro Foresti: Tau-Ritter
Filippo Bascoli
Papst Innozenz VI.
Jean de la Roquetaillade: Franziskanermönch
*Prior Albert: Prior von Saint-André-de-Babineaux
*Bruder Pibrac: Mönch
*Bruder Dizier: Mönch
*Bruder Gregor: Mönch
Simon Bucy: Berater
Hélie Meschin: Gascogner Söldner
Fiktive Personen sind mit * gekennzeichnet.
Leicester, England März 1361
König Edward III. stand an der Tür des Zimmers, in dem Henry of Grosmont Duke of Lancaster, sein lebenslanger Freund und Berater, im Sterben lag. Lancaster hob abwehrend die Hand – der König sollte sein Schlafgemach nicht betreten, denn er fürchtete, die Pest, die wieder einmal in Europa grassierte, habe nun auch ihn ereilt.
Edward zögerte. Der Herr hatte ihn durch Sieg und Frieden gesegnet; sollte er jetzt sein gottgegebenes Glück herausfordern? Doch dann betrat er entschlossen den Raum und zog sich einen Schemel mit besticktem Polster ans Krankenlager seines Freundes. Die Diener waren fortgeschickt worden – was jetzt zwischen diesen beiden alten Kriegern gesprochen wurde, war so vertraulich wie eine Beichte.
«Nein, mein Herr. Ich bitte Euch. Ich weiß nicht, welches Leiden mich befallen hat, aber es wird mich dahinraffen. Haltet Abstand.»
Edward ergriff die Hand seines Freundes. «Das Alter wird uns alle dahinraffen, wenn unsere Zeit gekommen ist, Henry. Es liegt alles in Gottes Hand.»
Der Sterbende tat einen keuchenden Atemzug. «Ich bin froh, dass es mich vor Euch trifft, Sire. Wäre es umgekehrt gekommen, dann hätte ich die Trauer nicht ertragen können.»
Edward drückte die kalten Finger seines Freundes. «So viele Schlachten, so viele Siege, und so viele von uns hinterlassen weniger als unseren Schatten auf dem Land», sagte er.
«Ihr irrt.»
«Wir irren niemals. Wir sind der König», entgegnete Edward lächelnd.
«Ach, wäre es doch nur so, wie? Kein Kampf mit dem eigenen Gewissen oder mit jenen, die uns mit lauteren oder unlauteren Mitteln zu schlagen suchen.» Lancaster gab den Widerstand auf und fasste seinerseits den König am Arm. «Ihr segnet das Reich mit strahlendem Sonnenschein, der Euren Schatten auf Generationen hinaus über dieses großartige Land werfen wird.»
Edwards Blick ruhte voller Mitgefühl auf seinem siechenden Freund. Wie viel Zeit blieb ihnen noch, einem jeden von ihnen? Der Frieden mit Frankreich war gerade erst geschlossen; weitere Prüfungen und Herausforderungen standen bevor. Aber von denen, die an Edwards Seite waren, seit er als Jüngling den Thron bestiegen hatte, blieben immer weniger übrig. Der Herzog war einer dieser wenigen.
«Was können wir für Euch tun?»
Lancaster schüttelte den Kopf. «Nicht für mich, Edward. Für England.» Noch auf dem Sterbebett galt die Sorge des großen Herzogs einzig der Nation, die Edward mit seiner Unterstützung aufgebaut hatte. «Vor einem Monat sahen wir die Vorzeichen, die Lichterscheinungen am Himmel, die Sonnenfinsternis. Man sagt, in Boulogne habe sich der Regen in Blut verwandelt. Das deutet darauf hin, dass erneut harte Zeiten bevorstehen, Edward. Die Pest kommt schneller als die Morgendämmerung. Ihr müsst Euch Gedanken darum machen, wer die hart erkämpften Territorien für Euch halten kann.»
«Unser Erstgeborener, Edward, wird Aquitanien regieren. Lionel wird nach Irland gehen. Die Schotten sind bereits auf unserer Seite.»
«Und Eure Söhne und die Männer, die sie befehligen, werden Euch gute Dienste leisten, aber unsere alte Bruderschaft ist dahin. Der tapfere Northampton ist tot; Thomas Holland und Reginald Cobham sind siechend und viele andere schwach. Einen nach dem anderen rafft es dahin, wie die Nacht den Tag dahinrafft. Und auch ich werde bald nicht mehr sein. Ihr habt Eure Ziele stets hochgesteckt, Edward. Ihr habt diesem Königreich zur Größe verholfen, und ein solches Vermächtnis muss bewahrt werden. Wenn die Zeit gekommen ist, wer unter den vielen wäre dann ein Anführer, hinter dem alle stehen? Ein treuer Mann, der ausspricht, was er denkt, selbst wenn er damit große Risiken auf sich nimmt?»
Lancaster sah Edward fragend an. Der König wusste wohl, von wem sein Freund sprach.
«Blackstone», sagte der König leise.
Lancaster lächelte. «Wie Ihr eben sagtet, mein lieber Freund: Ihr irrt niemals.»
Limousin, Frankreich Dezember 1361
Thomas Blackstones Männer ritten in den Tod.
Während sie ihre Pferde durch die engen Straßen der Stadt lenkten, beobachtete Sir Gilbert Killbere die Bewohner, die sie eben noch mit Jubel empfangen hatten. Jetzt trat Panik in ihre Gesichter, manche wandten sich rasch ab; andere zogen sich hinter Säulen zurück. Killbere begriff schlagartig, dass er und seine Leute in eine Falle des bretonischen Edelmannes gegangen waren, der ironischerweise Bernard de Charité hieß und die Festung von Saint-Aubin-la-Fère beherrschte. Bevor Killbere eine Warnung rufen konnte, erschienen Armbrustschützen auf den Mauern, und die ersten Bolzen schlugen ein. Pferde stiegen; Männer gingen zu Boden. Die Bürger brachen in animalisches Geschrei aus, sie dürsteten nach dem Blut der Engländer. Manche wagten sich aus ihrer Deckung, um rasch die Waffen der Gefallenen an sich zu bringen. Aus Seitenstraßen und Ladeneingängen strömten Soldaten herbei, die die Stadtbewohner grob beiseitestießen, um ihre Schwerter und Messer in die Verwundeten zu senken.
Killbere trieb sein Pferd an und wehrte mit dem Schwert zwei Soldaten ab, die ihn bedrängten. Mit geübtem Schwung seiner Klinge erledigte er drei weitere, während er sein Schlachtross ausschlagen ließ und wendete. Killbere war mit dem Tumult des Krieges vertraut. Er hatte an Blackstones Seite gekämpft, seit der Junge zum Mann geworden war, und gemeinsam hatten sie an allen großen Schlachten und Siegen der Engländer in Frankreich wie in Italien teilgehabt. Jetzt würde er in einer nach Pisse stinkenden Gasse sterben.
Schwertkämpfer führten tiefe Stiche in Flanken und Brust des Pferdes. Das Tier riss die Augen auf und wieherte laut vor Schmerz, und Killbere stürzte fluchend in den Schlamm. In dem verzweifelten Versuch, sich der Angreifer zu erwehren, die sich auf ihn stürzten, riss er seinen Schild vom Sattel los und stieß sein Schwert aufwärts in den Unterleib eines Gegners, der in seiner Qual rücklings gegen die anderen prallte. Indessen gelang es Killbere, den Schild über seinen Körper zu ziehen. Er fühlte den heftigen Aufprall eines Streitkolbens, dann warf er sich zur Seite, um einem Schwerthieb auszuweichen. Er schlug mit seiner Klinge nach den Fußknöcheln des Mannes und fühlte, wie der Stahl tief in das ungeschützte Fleisch schnitt. Der Mann stürzte und wand sich am Boden, ein Hindernis für weitere Angreifer, und seine Schreie mischten sich in die Kakophonie, die von den Mauern der Stadt widerhallte.
Einer der Gegner warf sich über Killberes Schild und drückte ihn mit seinem Gewicht nieder, andere packten ihn an den Armen und rissen ihn hoch. Jetzt hatten sie ihn. Schweiß und Blut brannten ihm in den Augen. Er sah, wie Blackstones Männer der gewaltigen Übermacht erlagen. Jack Halfpennys Bogenschützen hatten keine Möglichkeit, ihre Kriegsbogen einzusetzen, und so kämpften die schlachtenerprobten Männer, das Rückgrat von König Edwards Armee, mit Messer, Schwert und schierem Mut. Ein englischer Langbogen war in der Enge dieser Gassen nutzlos. Armbrustschützen waren besser geeignet, um auf kurze Distanz aus dem Hinterhalt zu schießen, und de Charité hatte sie geschickt eingesetzt. Killbere sah, wie der junge Ventenar behände mal nach dieser, mal nach jener Seite auswich und den zwanzig Bogenschützen, die unter seinem Kommando standen, den Rückzug befahl, aber die meisten waren bereits tot oder tödlich verwundet, und so unternahm Halfpenny einen letzten verzweifelten Angriff auf die zwei Männer, die ihn in die Enge getrieben hatten. Mit der Kraft eines Bogenschützen hieb er dem einen Gegner seine linke Faust ins Gesicht und zog gleich darauf aus einer halben Drehung heraus dem anderen sein Messer über die Kehle. Killbere kämpfte gegen die Umklammerung seiner Widersacher an, und es gelang ihm, einem den Ellenbogen ins Gesicht zu rammen. Er fühlte, wie Knochen splitterte. Im selben Sekundenbruchteil sah er, dass Halfpenny einen Schritt auf ihn zu machte. Der Junge hatte bereits eine Verletzung an der Seite, wollte aber Killbere zu Hilfe kommen.
«Nein!», brüllte Killbere. «Lauf zu Thomas!» Die Worte waren kaum heraus, da schlugen ihn die Männer, die ihn hielten, zu Boden. Das Letzte, was Killbere sah, ehe Dunkelheit ihn umfing, war Jack Halfpenny, der um sein Leben rannte. Wenn irgendjemand eine Chance hatte, zu entkommen, war es der flinke Bogenschütze. Dieser Gedanke verschaffte dem alten Krieger zumindest ein wenig Befriedigung.
Bei Einbruch der Dunkelheit baumelten die leblosen Körper von Thomas Blackstones Männern am Galgen auf dem Platz, gezeichnet von den Wunden, die sie durch den Verrat und Hinterhalt des Herrn der Stadt davongetragen hatten. Der Fackelschein warf tanzende Schatten, während die Männer und Frauen von Saint-Aubin, von der abendlichen Ausgangssperre befreit, die Toten mit Messern und Stöcken schändeten. Weitere neunzehn von Blackstones Kriegern hingen außen an den hohen Stadtmauern als Warnung von Bernard de Charité.
Halfpenny war auf dem Höhepunkt des Gemetzels entkommen. Eine Hand auf die Wunde in seiner Seite gepresst, hatte er den Schmerz unterdrückt und war durch das Labyrinth der Gassen gerannt, so schnell er konnte, bis er eine Mauernische fand, in die er sich mit Mühe hineinzwängen konnte. Als es dunkelte, versteckte er seinen Bogen in einer schmalen Spalte zwischen Säule und Türsturz. Der Kriegsbogen seines Vaters bedeutete Jack Halfpenny ebenso viel wie das Andenken des Mannes, der ihn den Umgang damit gelehrt hatte. Der Bogenschütze schob sein Bedauern beiseite und schlich durch die Schatten, bis er die hohe Stadtmauer erreichte. Als die Wachen ihm den Rücken kehrten, um sich daran zu ergötzen, wie unten auf dem Platz die Leichen geschändet wurden, schwang Halfpenny sich über die Brüstung. Er packte das Hanfseil, an dem der Leichnam einer seiner Männer draußen an der Mauer hing, und ließ sich daran zwanzig Fuß hinunter. Die Leiche gab nach, als Halfpenny sich an die Kleidung klammerte. Der aufgerissene Mund und die geschwollene Zunge waren blutverkrustet – der Gehenkte hatte sich die Zunge halb durchgebissen, als die Schlinge sich zugezogen hatte. Halfpenny wandte den Blick von dem Mann ab, den er einmal befehligt hatte, und hoffte nur, durch sein Gewicht möge dem Toten nicht der Kopf abreißen, während er sich an dem Körper weiter hinunterließ. An den Füßen angekommen, ließ er schließlich los und fiel dreißig Fuß tief in dichtes Brombeergestrüpp, wobei er betete, unter den mondbeschienenen Ranken mögen sich keine Felsen verbergen.
Die schwache Sonne des folgenden Tages vermochte den Nebel über dem von Reif überzogenen Land nicht aufzulösen. Doch weder die morgendliche Kälte noch die rauen Steine, die ihnen die Hände aufrissen, konnten Perinne und Meulon etwas anhaben, die mit ihren Männern an der Befestigungsmauer vor einem verfallenen Gebäude arbeiteten. Die heruntergekommene Scheune stand auf einer Anhöhe, von der aus man die Umgebung gut überblicken konnte. Sie waren zwölf Meilen von Saint-Aubin-la-Fère entfernt, dem Ort des Hinterhalts, und auch wenn dies nur eine vorübergehende Zuflucht war, hatte Blackstone verlangt, dass eine niedrige Befestigungsmauer errichtet wurde. Er und seine Männer waren vom Unterhändler des Königs, Sir John Chandos, beauftragt, Orte zu sichern, die König Edward gemäß dem Friedensvertrag zustanden. In jedem Dorf und jeder Stadt wurden die Bewohner aufgefordert, dem englischen König die Treue zu schwören. Manche sträubten sich, gaben jedoch nach, wenn sie von ihren Mauern aus die schlachtenerprobten Krieger sahen, die die Forderung vorbrachten. Andere erkannten rasch den Vorteil, unter dem Schutz eines starken Kriegerkönigs zu stehen, während ihr eigener kürzlich aus der Gefangenschaft entlassener Monarch sich nach Paris zurückgezogen hatte, geschwächt, bankrott und kaum in der Lage, das, was von seinem Königreich noch übrig war, zu beherrschen. Frankreich schmeckte die Bitterkeit seiner Niederlage – Ernten waren vernichtet, Brunnen vergiftet, und Söldnerbanden von beiden Seiten plünderten das wenige, was noch zu holen war. Manche französischen Edelmänner weigerten sich, Blackstone und Chandos ihre Städte zu übergeben, bis Zahlungen geleistet wurden, woraufhin die Franzosen bemerkenswert bereitwillig die Seiten wechselten. Am erbittertsten widersetzten sich die Söldner im Dienst der bretonischen Edelmänner. In der Bretagne selbst tobte ein Bürgerkrieg, und auch weiter südlich gelegene Gebiete, bis ins Limousin und das Poitou, wurden von der einen oder anderen Kriegspartei besetzt gehalten, darunter die Stadt Saint-Aubin-la-Fère. Mit dem bretonischen Herrn war eine Summe ausgehandelt worden, gegen die er die Stadt ausliefern würde und die Bürger der englischen Krone die Treue schwören sollten. Sir Gilbert Killbere war mit zwanzig Bogenschützen und ebenso vielen leichten Reitern in die befestigte Stadt gezogen, um das Geld zu überbringen und den unterzeichneten Vertrag entgegenzunehmen.
«Seht da!» Perinne spähte mit zusammengekniffenen Augen in die Morgensonne und zeigte auf eine einzelne Gestalt, die eine halbe Meile entfernt aus dem Dunst auftauchte und über das offene Gelände stolperte. Die Männer an der Mauer hielten in ihrer Arbeit inne und beobachteten, wie der Mann taumelte, einen Arm hob und dann zusammenbrach. Argwohn ließ sie zögern. In dem Wald dreihundert Schritt seitlich des Mannes konnten sich Feinde verstecken. Womöglich war das Ganze eine Falle. Dann übersprang ein Schlachtross die niedrige Mauer, sodass die Männer hastig zur Seite wichen. Sein schwarz geschecktes Fell sah aus, als wäre es von Feuer angesengt – ein Grund mehr, dass dem Tier nachgesagt wurde, es sei eine Ausgeburt der Hölle.
«Das ist Jack!», rief Blackstone und trieb das Bastardpferd an. Meulon und Perinne nahmen ihre Waffen und liefen ihm nach. Plötzlich sah Perinne einen Raubvogel aus dem Wald aufflattern. Lautlos stieg er höher, bis ein Aufwind ihn erfasste und über dem schnell dahinreitenden Blackstone in den Himmel hinauftrug. Perinne schauderte – der Aberglaube besagte, dass der Schrei eines Bussards den Tod herbeirief. Und jetzt kreiste der Vogel über Blackstone.
Während die beiden Männer rannten, versammelte Will Longdon die Übrigen hinter der Mauer. «In Stellung!», befahl der Centenar. Bogenschützen und Waffenknechte bereiteten sich hastig auf einen möglichen Angriff aus dem Wald vor.
Ihre Schritte knirschten auf dem gefrorenen Boden, ihr Atem bildete Dampfwolken in der kalten Luft, als Meulon und Perinne den am Boden liegenden Mann gleichzeitig mit Blackstones Hauptmann John Jacob erreichten. Er hatte eines der Packpferde mitgebracht – Blackstones streitbares Ross duldete niemand anderen auf seinem Rücken, und wenn Jack Halfpenny noch am Leben war, würde er ein Pferd brauchen, das ihn in den Schutz der alten Scheune trug.
«Er lebt», stellte Blackstone fest und hob den bewusstlosen Mann auf wie ein Kind. John Jacob hielt das Packpferd am Zügel fest, damit Blackstone den Verwundeten über den Widerrist legen konnte. Meulon und Perinne waren zwanzig Schritt weitergelaufen, bereit, etwaige Verfolger ihres Kameraden abzuwehren. Wenn der auffliegende Bussard ein Todesomen für Thomas Blackstone war, verbarg sich im Wald möglicherweise der Feind.
Blackstone ging mit seinem Pferd neben John Jacob, der das Packpferd mit Halfpenny im Schritt führte. Nachdem Perinne und Meulon sich vergewissert hatten, dass es keinen Hinterhalt gab, schlossen sie sich ihnen an. Perinne warf immer wieder Blicke zum Himmel, doch der Raubvogel war so schnell wieder verschwunden, wie er erschienen war. Während die fünf Männer an ihren sicheren Zufluchtsort zurückkehrten, wechselte John Jacob einen Blick mit Blackstone.
«Wenn Jack zurückgekehrt ist, was ist dann mit Sir Gilbert?»
Blackstone überblickte das sanfte Hügelland. In der Gegend wimmelte es von Söldnerbanden. «Meulon, du und Perinne, ihr lauft voraus, nehmt zehn Mann und geht ein paar Meilen weit kundschaften», befahl er. «Erkundet die Waldwege. Wenn ihr keine Spur von Killbere und den anderen findet, kehrt schnell hierher zurück. Und sagt Will, er soll ein Lager für Jack bereit machen. Seine Wunden müssen versorgt werden.»
Der hünenhafte normannische Speerkämpfer rannte los, Perinne an seiner Seite. Der Dampf seines Atems schlug sich als Reif im Bart des großen Mannes nieder.
Blackstone hielt den Bewusstlosen mit einer Hand auf dem Packpferd fest. «Vielleicht sind sie auf Räuber gestoßen», sagte er. Manche Söldnerbanden waren Hunderte Mann stark, und ein kleiner Trupp wie der, den Killbere angeführt hatte, konnte leicht überwältigt werden. In Frankreich war es jetzt gefährlicher als zu der Zeit, da die Engländer gegen französische Armeen gekämpft hatten. Immer wieder wurden ungeschützte Städte und Dörfer überfallen, und das Blutvergießen würde weitergehen, bis König Edward in Besitz genommen hatte, was rechtmäßig ihm gehörte, und der französische König eine Einigung mit jenen erzielt hatte, die Gemetzel anrichteten, ohne sich vor Vergeltung zu fürchten. Oder die töricht genug waren, zu glauben, sie könnten ungestraft Thomas Blackstones Männer überfallen. «Aber wenn diese Hurensöhne in Saint-Aubin uns verraten haben, dann werde ich die Stadt bis auf die Grundmauern niederbrennen und jeden Einzelnen von ihnen töten, das schwöre ich.»
Jack Halfpenny war rasch wieder zu sich gekommen, hatte sich mit Will Longdons Brühe gestärkt, und die Wunde an seiner Seite war behandelt und verbunden worden. Blackstones Männer versorgten ihre Wunden nicht mehr mit Kuhdung und Gras, denn sie hatten von einer kräuterkundigen Frau, die einst der Hexerei beschuldigt worden war, bessere Methoden gelernt. Die Heilerin hatte Blackstone begleitet, als er im Jahr zuvor nach Mailand gezogen war, um den Mann zu töten, der seine Frau und Tochter ermordet hatte. Die sogenannte Hexe von Balon hatte die Männer gelehrt, Kräuter zu sammeln und anzuwenden. Da sie ihr Leben geopfert hatte, um Blackstone zu retten, ehrten die Männer ihr Andenken. Halfpenny hatte darauf bestanden, dass seine Wunde fest verbunden wurde, damit er trotz der Schmerzen weiter mit Blackstone reiten konnte. Als er von dem Verrat berichtete, machte sich Zorn im Lager breit. Die Männer dürsteten nach Rache. Sie wollten Saint-Aubin dem Erdboden gleichmachen. Wachsam und angespannt trafen sie im Lager Vorbereitungen für die bevorstehende Schlacht, während Blackstone mit seinen Hauptleuten loszog, um die Verteidigungsanlagen der Stadt auszukundschaften.
Jetzt lagen sie am Waldrand auf dem kalten Boden und betrachteten die Mauern von Saint-Aubin, an denen noch die Leichen ihrer Kameraden hingen, ein grausiges Zeugnis des Widerstands gegen den englischen König. Halfpenny duckte sich neben seinem Befehlshaber Will Longdon und seinem Anführer Blackstone.
Thomas Blackstone hatte ihn eingehend darüber befragt, was aus Killbere geworden war, doch der Bogenschütze konnte nur berichten, was er gesehen hatte: Killbere war niedergeschlagen worden. «Wir sind durch das Osttor hinein. Bernard de Charité stand auf der Mauer des Torhauses und begrüßte uns, erklärte, er nehme die Zahlung für die Übergabe der Stadt an und werde den Vertrag selbst unterzeichnen.»
Will Longdon spuckte aus. «Und dann hat der Hurensohn das Geld genommen und meine Bogenschützen getötet.»
«Und die Waffenknechte», ergänzte Blackstone ruhig, ohne Tadel, den Blick fest auf die hohen Mauern gerichtet, hinter denen die Hälfte seiner Truppe verraten und abgeschlachtet worden war.
«Die nicht zu vergessen», räumte sein Centenar ein, der trotz seines Rangs nur sechzig Bogenschützen befehligte – nach diesem Vorfall nur mehr vierzig. Jeder der zwanzig Mann hatte in schneller Folge ein Dutzend und mehr ellenlange Pfeile mit Ahlspitze lösen können, und so bedeutete ihr Tod einen schweren Verlust für die Truppe. Die Waffenknechte, nach Schweiß und Pisse stinkend, rückten dem Feind im Nahkampf zu Leibe, aber ein Bogenschütze – gnädiger Gott, Will Longdon bekreuzigte sich –, ein Bogenschütze war mit Gold aufzuwiegen, und sein Gestank war der lieblichste Duft. «Aber unsere Bogenschützen, Thomas, die sind nicht so leicht zu ersetzen wie Waffenknechte.»
Blackstone wandte sich nach ihm um. Longdon zuckte die Schultern – es war nun einmal die Wahrheit. «Ein Mann wie Sir Gilbert war zehn andere Waffenknechte wert, Will, lass uns das nicht vergessen», entgegnete Blackstone, dann kroch er zurück in den Wald, um die Berichte von Perinnes und Meulons Kundschaftern anzuhören.
Einer der Hauptleute, der deutsche Waffenknecht Renfred, schüttelte den Kopf. «Diese Mauern sind unüberwindbar, Sir Thomas. Wenigstens fünfzig Fuß hoch, und dort drüben» – er deutete in die Richtung, aus der er eben gekommen war – «haben sie am Waldrand gerodet, da ist über wenigstens vierhundert Schritt offenes Gelände. Auf der anderen Seite grenzt die Stadt an einen See. Keine Zugbrücke, keine Poterne.»
John Jacob nahm den Zweig aus dem Mund, auf dem er gekaut hatte, und zeigte auf die unregelmäßig geformten Verteidigungsanlagen. «Selbst wenn wir Leitern bis an den Fuß der Mauern bringen könnten, würden ihre Armbrustschützen uns einen nach dem anderen abschießen, noch ehe wir hinaufgeklettert wären.»
«Und wir kommen nicht nah genug ran, um die Mauern zu untergraben», ergänzte Meulon.
«Darum lag Chandos so viel daran, die Stadt für den König in Besitz zu nehmen: Diese Festung ist es wert, dass wir sie dem Feind abringen», stellte Blackstone fest.
Mit dem kundigen Blick eines Steinmetzen musterte er die Mauern. Die Steine stammten von einem alten, abgerissenen Gebäude in der Nähe, wahrscheinlich von einem Herrenhaus oder einem Kloster, und waren wiederverwendet worden – ein übliches Verfahren, denn so brauchte man keine Steinmetze, die die Steine passend zurechthauten, sondern nur ausreichend erfahrene Männer, die sie mit Mörtel neu zusammenfügten. Es waren gute Mauern, aber Blackstone wusste, wie er sie zum Einsturz bringen würde, wenn er einmal hineingelangt wäre – auch wenn John Chandos und der König wollten, dass die Festung erhalten blieb.
«Jack?» Er wandte sich zu dem Bogenschützen um, der an einen Baum gelehnt saß, eine Hand auf seine Wunde gedrückt. Durch den Verband sickerte noch immer Blut. «Kannst du dich erinnern, wie die Stadt angelegt ist? Wie gelangen wir zu de Charités Wohnturm?»
Halfpenny runzelte die Stirn, dann schüttelte er den Kopf. «Der ist wie das Herz einer Hure, Sir Thomas – unmöglich zu erreichen. Hinter dem Haupttor ist ein Fallgatter, dann kommen gewundene Straßen. Gassen und kleine Arkadengänge entlang der Straße. Darin bieten Händler und Handwerker ihre Waren feil. In einem wurde Brot verkauft – das Letzte, woran ich mich erinnere, ehe das Blutvergießen begann, ist der Geruch von frischem Brot.»
«Sie haben also genügend Getreide und Brennmaterial für die Öfen», bemerkte Will Longdon. «Sie könnten einer Belagerung standhalten.»
«Niemand spricht von einer Belagerung», entgegnete Blackstone. «Ich will ins Herz der Hure eindringen und es herausschneiden. Jack?»
Halfpenny nickte. Jede Einzelheit, an die er sich erinnerte, konnte ihre Chancen verbessern, die Stadt einzunehmen. Und er wusste aus Erfahrung, dass das Auge eines Bogenschützen stets mehr wahrnahm, als ihm auf Anhieb bewusst war. «Zu einer Seite der Straße, durch die sie uns geführt haben, stehen die Häuser dicht an dicht. Da haben sie uns in den Hinterhalt gelockt», erklärte er. «Wir konnten die Pferde nicht wenden. Wir hatten keine Chance, und Sir Gilbert wurde von vielen Männern zugleich überwältigt. Als ich mich zu ihm durchkämpfen wollte, befahl er mir zu fliehen. Ich habe mich in einer Nische versteckt, dort habe ich auch meinen Bogen zurückgelassen.» Er warf einen Blick zu Will Longdon. «Ich will nicht irgendeinen Ersatz aus dem Fass», sagte er verächtlich – Nachschub an Bogen für die Armee wurde fässerweise geliefert. «Meiner hat früher meinem Vater gehört, und ich will ihn zurückholen.»
Blackstone legte ihm eine Hand auf die Schulter. «Das sollst du, aber erst müssen wir mehr erfahren.» Er wandte sich ab und ging ein paar Schritte in den Wald hinein. «Renfred, führe mich zu den nördlichen Mauern. Ich will mir selbst ein Bild machen.»
Die Männer umrundeten Saint-Aubin auf Waldpfaden. Was sie sahen, überzeugte Blackstone davon, dass ein direkter Angriff nur mit einer größeren Truppe und unter erheblichen Verlusten möglich wäre. Der See bot zusätzlichen Schutz. Wie Renfred berichtet hatte, lag zwischen dem Waldrand und den Stadtmauern über vierhundert Schritt offenes Gelände, und der gefrorene See war etwa ebenso breit.
Halfpenny deutete auf die imposanten Mauern. «In der Nähe der Stelle, wo ich mich versteckt hielt, führten Stufen auf die Mauer. Ich habe auf meiner Flucht hinuntergeschaut, aber wenn ich mich dort hätte fallen lassen, wäre ich in den zugefrorenen See eingebrochen und unter dem Eis ertrunken. Darum bin ich über die Südmauer geflohen.» Er schaute zu den Leichen der Gehängten hinüber, die noch immer an der Mauer hingen. «In der nördlichen Mauer gibt es in zwanzig Fuß Höhe ein Küchenfenster. Die Küche ist groß, und nach der anderen Seite führt von einer angrenzenden Vorratskammer ein Verbindungsgang über die Straße zum Haupthaus. Dort gelangt man durch einen Nebenraum in die große Halle.»
«Woher weißt du das alles?», fragte John Jacob.
«Ich habe mich in einem Hohlraum unter diesem Verbindungsgang versteckt und alles mit angehört, was die Diener redeten. Ich konnte das Essen riechen und mithören, was wohin gebracht werden sollte. Sie haben gelacht und sich darüber unterhalten, wie de Charité uns hereingelegt hat. Sie haben ihre Arbeit unterbrochen, um mit Küchenmessern und Hackbeilen auf den Platz hinunterzugehen. Sir Thomas, ich habe gesehen, was sie mit den Gefangenen gemacht haben, die sie gehängt haben. Der Herr der Stadt hat dem Volk erlaubt, sie zu schlagen und zu verstümmeln. Zwei meiner Männer, die verwundet waren, Haskyn und Fowler, haben sie rund um den Platz gejagt, bis sie schließlich zu Tode gehackt wurden. Der Pöbel hat auf sie gepisst, ehe sie starben. Diese Hurensöhne in Saint-Aubin hassen die Engländer.»
«Und ich werde ihnen desto mehr Grund dazu geben», erwiderte Blackstone. «Aber Sir Gilberts Leichnam hast du nicht gesehen?»
«Nein, ich habe nur gesehen, wie er niedergeschlagen wurde.»
«Der König will diese Stadt, Sir Thomas», gab Meulon zu bedenken. «Sie ist für ihn und Sir John von großer Bedeutung.»
«Nun, der König kann nicht immer seinen Willen bekommen», warf Will Longdon ein. «Und Sir John Chandos mag ein Ritter des Hosenbandordens und Unterhändler des Königs sein, aber wenn er sich einbildet, wir könnten diese Mauern mit Leitern überwinden, ohne dass die Armbrustschützen uns abschießen, dann kann er mich mal am Arsch lecken. Und dieses Eis würde nicht mal einen Feenfurz tragen, von Männern mit Leitern ganz zu schweigen.»
«Wir könnten ihnen deinen Arsch als Zielscheibe anbieten, während wir die Südmauer angreifen. Wie wär’s, Sir Thomas?», schlug Meulon vor.
«Sir Gilbert hat Will schon reichlich Arschtritte verpasst, und ich nehme an, er täte es gern wieder. Sofern er noch am Leben ist. Also lassen wir Wills Arsch lieber in seiner Hose.»
Blackstone und seine Hauptleute zogen sich leise zu der Stelle zurück, wo sie ihre Pferde angebunden hatten. «Wir müssen die Stadt einnehmen. Sir John wird morgen zu uns stoßen – wir brauchen seine Männer.»
Blackstone empfand eine Eiseskälte in der Brust, die nichts mit der frostigen Luft zu tun hatte. Die Vorstellung, wie seine Männer abgeschlachtet worden waren, erfüllte ihn mit einer Bitterkeit, die nur das Verlangen nach Rache mildern konnte. Aber der Gedanke, auch Killbere könnte auf diese Weise umgekommen sein, bohrte sich wie eine Klinge in sein Herz. Im Geiste sah er die Oriflamme vor sich, die große Kriegsfahne der Franzosen, die sie in den Schlachten gegen die Engländer hochgehalten hatten. Er wünschte, er hätte sie erbeutet, als er in Poitiers versucht hatte, den französischen König zu töten. Dann würde er sie jetzt zeigen. Sie stand dafür, dass es keinen Pardon gab.