Robert Pfaller
Erwachsenensprache
Über ihr Verschwinden
aus Politik und Kultur
FISCHER E-Books
Robert Pfaller, geboren 1962, studierte Philosophie in Wien und Berlin und war nach Gastprofessuren in Chicago, Berlin, Zürich und Straßburg Professor für Kulturwissenschaft und Kulturtheorie an der Kunstuniversität Linz. Seit 2009 ist er Professor für Philosophie an der Universität für angewandte Kunst Wien. Im S. Fischer Verlag ist von ihm ›Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft. Symptome der Gegenwartskultur‹ erschienen, die vielbeachtete Studie ›Wofür es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie‹, sowie zuletzt ›Zweite Welten. Und andere Lebenselixiere‹.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Überall wird im öffentlichen Diskurs heute auf Befindlichkeiten Rücksicht genommen: Es wird vor Gefahren wie »expliziter Sprache« gewarnt, Schreibweisen mit Binnen-I empfohlen, dritte Klotüren installiert. Robert Pfaller fragt sich in seinem neuen Buch, wie es gekommen ist, dass wir nicht mehr als Erwachsene angesprochen, sondern von der Politik wie Kinder behandelt werden wollen. Steckt gar ein Ablenkungsmanöver dahinter? Eine politische Strategie? Es geht darum, als mündige Bürger wieder ernst genommen zu werden – doch dann sollten wir uns auch als solche ansprechen lassen.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: hißmann, heilmann, Hamburg
Coverabbildung: Szene aus dem Film »How to Murder Your Wife« © MGM / picture alliance
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ISBN 978-3-10-490443-6
Keine der hier folgenden Bemerkungen beansprucht besondere Originalität. Es geht mir nur um deren Gesamtbild sowie dessen Zusammenhang mit der Eingangsbeobachtung.
Siehe dazu Chossudovsky 2016; Glastra van Loon/Marijnissen 2016; Gowans 2016.
Siehe dazu http://www.sueddeutsche.de/politik/bundeswehr-in-schlechter-verfassung-1.2762535 (Zugriff: 2017-03-27).
Siehe dazu http://www.free21.org/die-usa-wollen-staaten-die-im-chaos-versinken (Zugriff: 2017-03-17).
Zu dieser »postkolonialen« Strategie der Zonierung siehe Lea/Stenson (2007: 24): »… foreign multinationals concerned with oil, diamonds, timber make direct deals with various warlords who, for example, protect and secure exports in return for funding which enables them to sustain their regimes and ›criminal activities‹; vgl. Woodiwiss 2005; Badiou 2016; Mbembe 2017: 19f.
Siehe dazu http://www.povertyusa.org/the-state-of-poverty/poverty-facts/; vgl. auch http://www.usnews.com/news/articles/2016-07-06/the-new-faces-of-us-poverty. Sinkende, wenngleich ebenfalls alarmierende Zahlen präsentiert http://www.worldhunger.org/hunger-in-america-2015-united-states-hunger-and-poverty-facts/. Vgl. dazu auch die Fallbeschreibungen in http://www.humanosphere.org/basics/2015/10/poverty-in-the-u-s-its-is-worse-than-youre-led-to-believe/ (alle Quellen: Zugriff: 2016-12-26).
Siehe dazu https://en.wikipedia.org/wiki/Comparison_of_United_States_incarceration_rate_with_other_countries; vgl. https://www.washingtonpost.com/news/fact-checker/wp/2015/07/07/yes-u-s-locks-people-up-at-a-higher-rate-than-any-other-country/?utm_term=.56d0a76b810d; nach http://news.bbc.co.uk/2/shared/spl/hi/uk/06/prisons/html/nn2page1.stm sind es sogar 724 pro 100000 (alle Quellen: Zugriff: 2016-12-26).
Obama, Barack: The President’s Role in Advancing Criminal Justice Reform, in: 130 Harvard Law Review 811, 5.1.2017, siehe: http://harvardlawreview.org/2017/01/the-presidents-role-in-advancing-criminal-justice-reform/ (Zugriff: 2017-01-14; meine Übersetzung, R. P.).
Siehe dazu Hoffmann: »Hentoff führt die Argumentation eines schwarzen Studenten an, der die Meinung, Schwarze seien so hilflos, daß sie vor [sprachlichen] Rassismen beschützt werden müßten, herablassender als die Schmähung Nigger empfände: ›He’s been familiar with that kind of speech all his life, and he had never felt the need to run away from it. He’d handled it before and could again.‹« (Hoffmann 1996: 66; vgl. Hentoff 1992: 219)
Siehe dazu http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/armut-in-deutschland-das-risiko-steigt-wieder-obwohl-die-wirtschaft-laeuft-a-1112646.html; http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/kinderarmut-in-deutschland-hier-wohnen-deutschlands-arme-kinder-a-1071196.html (Zugriffe: 2016-12-26).
Siehe dazu Piketty 2014: 11.
Siehe dazu https://psmag.com/the-imf-confirms-that-trickle-down-economics-is-indeed-a-joke-207d7ca469b«.uemmyxco1 (Zugriff: 2017-03-17).
Siehe dazu z.B. http://blog.arbeit-wirtschaft.at/eliten-und-ungleichheit/; vgl. Therborn 2013; Becker 2014; Piketty 2014; Wilkinson/Pickett 2016; Milanović 2017; Stiglitz 2017.
Siehe dazu Misik 2017; vgl. https://makroskop.eu/2017/02/wachstum-durch-freihandel-ein-mythos (Zugriff: 2017-03-17).
Siehe http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/oxfam-8-milliardaere-sind-reicher-als-3-6-milliarden-menschen-a-1129932.html (Zugriff: 2017-01-30).
Fraser 2017; vgl. dazu auch Mark Lillas Begriff des »Identity Liberalism« (Lilla 2016).
Siehe dazu z.B. http://www.slate.com/articles/double_x/doublex/2016/12/_2016_was_the_year_the_feminist_bubble_burst.html (Zugriff: 2016-12-29).
Diese Entwicklung lässt sich in vielen Feldern beobachten. Sehr fein bemerkt dies z.B. Insa Härtel in Bezug auf die Frage von Autorschaft in der Literatur: Gerade in dem Moment, als auch Frauen und Angehörige marginaler Gruppen in größerer Zahl Zugang zu dieser Position zu gewinnen schienen, setzte die postmoderne Literatur mit der Kritik am Begriff des Autors ein und blies die Fanfaren zu seiner Abschaffung oder zur Feststellung seines »Todes« (siehe Härtel 2009: 11).
Zu diesem Begriff siehe Pfaller 2008: 32.
Siehe dazu Rorty 1999; vgl. Lau 2000: 149ff.; Fraser/Honneth 2003; Michaels 2006. Zu dieser Veränderung innerhalb der feministischen Theorie und Politik siehe die ausgezeichnete Darstellung bei Elisabeth Badinter (Badinter 2004).
Vgl. dazu Marx/Engels: »Wenn das Proletariat im Kampfe gegen die Bourgeoisie sich notwendig zur Klasse vereint, durch eine Revolution sich zur herrschenden Klasse macht und als herrschende Klasse gewaltsam die alten Produktionsverhältnisse aufhebt, so hebt es mit diesen Produktionsverhältnissen die Existenzbedingungen des Klassengegensatzes, die Klassen überhaupt, und damit seine eigene Herrschaft als Klasse auf. An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für freie Entwicklung aller ist.« (Marx/Engels [1848]: 482) Zur republikanischen Forderung der Identität von Menschen- und Bürgerrechten siehe Milner 2017.
Siehe dazu Žižek: »British colonialism did many horrible things in India, but the worst among them was resuscitating the oppressive Hindu tradition of caste. Before British colonisation, the caste tradition was already disintegrating because of the influence of Islam. But British colonisers understood very quickly that the way to rule Indians was not to make them like us or to bring to them our modernity. No, a much better way to rule them was to resuscitate their own traditional, patriarchal, authoritarian structures. Colonialists did not want to create modernisers« (Žižek 2016a). Vgl. dazu Cannadine 2002.
Siehe dazu Marx/Engels [1848]: 366; Marx [1859]: 128. Zu dem gegen die Aufklärung des 18. Jahrhunderts in der Postmoderne gern erhobenen Vorwurf des Eurozentrismus betont Susan Neiman sehr richtig, dass gerade die Aufklärung die erste moderne Bewegung war, die Eurozentrismus und Rassismus bekämpfte. Sie erinnert an Kants Anerkennung für die Abwehr Chinas und Japans gegen die Europäer (siehe Kant [1795]: 215f.) und bemerkt: »Wer China und Japan lobt, weil sie die raubgierigen Europäer von ihren Ländern fernhielten, dem kann kaum der Vorwurf gemacht werden, er wolle dem Rest der Welt blindlings westliche Lebens- und Denkweisen aufzwingen.« (Neiman 2014: 52)
Diese »Ethik des als ob« bildet deshalb, wie der Philosoph Alain erkannte, auch ein Ensemble von Glückstechniken, die seit der antiken Polis bekannt waren. Der öffentliche Raum, als Anreiz und Forum für diese schauspielerischen Leistungen, fungierte mithin sozusagen als Glücksmedium (siehe dazu Alain 1982). Die seit den neoliberalen Privatisierungen betriebene Zerstörung öffentlichen Raumes kann insofern auch als eine direkte Ursache für Neigung zu Klage und Beschwerde begriffen werden, welche die Postmoderne charakterisiert (siehe dazu Hughes 1994).
An anderer Stelle kommen Dusini und Edlinger dem wirklichen Zusammenhang sehr viel näher, wenn sie zum Beispiel schreiben: »Offenbar will man heute auch von staatlicher Seite jeden Anlass vermeiden, aufgrund dessen sich jemand beleidigt fühlen könnte, auch wenn oder gerade weil auf juridischer Ebene zugleich etwa Rassismus in Form verschärfter Asylgesetze insitutionalisiert bleibt.« (Dusini/Edlinger 2012: 37; meine Hervorhebung, R. P.) Es handelt sich hier und in vielen analogen Fällen nicht um ein »auch wenn«, sondern eben um ein »gerade weil«. Vgl. dazu Therborn 2013: 137ff.; Milanović 2016: 238.
Ein anderes Beispiel aus der Beobachtung einer Bekannten zeigt ebenfalls in diese Richtung: In Südafrika sind HIV-infizierte Injektionsnadeln eine begehrte Ware auf dem Schwarzmarkt. Denn da nur HIV-Infizierte bestimmte staatliche benefits bewilligt bekommen, versuchen immer mehr Leute, sich mit Hilfe dieser Nadeln zu infizieren. (Ich bin Dora Stockreiter, Wien, dankbar für diese Beobachtung und ihre Mitteilung.)
Zur historischen Veränderung des Opferbegriffs von »Opfer bringen« zu »Opfer sein« nach 1945 sowie der Sehnsucht, Opfer zu sein, und dem entsprechenden Wettbewerb darum siehe Kohner-Kahler 2009.
Dies hat Cora Stephan bereits in den 1990er Jahren scharfsichtig bemerkt: »Die angeblich alle Frauen umfassende Frauenbewegung hat […] nur ihren eigenen Funktionärinnen nennenswert genützt […]; die Institution der Frauenbeauftragten hat die Frauenberufe um einen vermehrt.« (zitiert nach http://www.zeit.de/1998/08/frauen.txt.19980212.xml/seite-6 [Zugriff: 2016-12-30])
Vgl. dazu Lilla 2016: »When young people arrive at college they are encouraged to keep this focus on themselves by student groups, faculty members and also administrators whose full-time job is to deal with – and heighten the significance of – ›diversity issues‹.«
Siehe dazu http://www.washingtontimes.com/news/2016/jan/6/whoopi-goldberg-stop-calling-me-african-american/; http://www.mediaite.com/online/whoopi-goldberg-issues-a-ruling-on-what-to-call-black-people/; https://www.youtube.com/watch?v=FRnTovm26I4 (Zugriffe: 2017-01-01).
Siehe Lacan 1966: 515.
Siehe dazu Dusini/Edlinger 2012: 9f.
Bemerkenswert hier eine Bemerkung Arthur Schopenhauers: »So wollen die Juden Israeliten, die Schneider Kleidermacher heißen, und kürzlich wurde vorgeschlagen, daß, weil das Wort Litterat in Mißkredit gerathen sei, diese Herren sich statt dessen Schriftverfaßer nennen sollten. Aber wenn eine an sich unverfängliche Benennung diskreditabel wird; so liegt es nicht an der Benennung, sondern am Benannten, und da wird die neue bald das Schicksal der alten haben.« (Schopenhauer 2009: 97) Freilich muss, um Missverständnisse zu vermeiden, klargestellt werden, dass hier unter dem »Benannten« wie in der Linguistik Ferdinand de Saussures das Signifikat zu verstehen ist – und nicht etwa der Gegenstand. Nicht die benannten Menschen sind schuld am Kreditverlust ihrer Bezeichnungen, sondern die anonyme Meinung über sie, welche das Bezeichnete dieser Bezeichnungen bildet.
Siehe dazu Dinsmore 2016: »Earlier this month, Oxford was in the headlines again when it was claimed that students had been told not to utter ›he‹ or ›she‹ when referring to their peers and to opt for the gender-neutral ›ze‹. The Oxford University Students’ Union denied that ›ze‹ was now mandatory, but only because doing so would offend trans students who wanted to be referred to as ›he‹ or ›she‹. The union nevertheless encourages all students, academics and speakers to state their pronouns in class and on campus. Just picture a professor with a beard having to say: ›Hello, I am male.‹«
Siehe https://is.muni.cz/el/1421/jaro2016/ETMB81/um/jakoubek_dizertace_Konec_mytu.pdf (Zugriff: 2017-03-16). Ich bin Tereza Kuldova, Oslo/Wien, dankbar für diesen Hinweis sowie für viele weitere zu diesem Kapitel.
Zum einen handelt es sich um eine gebrochene Metapher, da es im Sprechen eben nichts Sichtbares gibt. Andererseits ist es ein schwerwiegender Irrtum postmoderner Politiken, Sichtbarkeit für ein emanzipatorisches Ideal zu halten. In der Gesellschaftsordnung des Nationalsozialismus waren die ethnischen, religiösen oder sexuellen Minderheiten wohl am meisten »sichtbar« (dank entsprechender Zwangsabzeichen) – aber eben auch am meisten diskriminiert.
Siehe dazu Dusini/Edlinger 2012: 50; vgl. dazu die Äußerung der österreichischen Ministerin Gabriele Heinisch-Hosek: »Sprache schafft Wirklichkeit. Weibliche Formen unerwähnt zu lassen und Frauen damit auszublenden, das wäre ein völlig falsches Zeichen.« Zit. nach http://derstandard.at/2000003059367/Neuer-Kampf-um-eine-gendergerechte-Sprache (Zugriff: 2017-01-08).
Siehe Kant ([1798]: 444): »Höflichkeit (Politesse) ist ein Schein der Herablassung, der Liebe einflößt. Die Verbeugungen (Komplimente) und die ganze höfische Galanterie, samt den heißesten Freundschaftsversicherungen mit Worten, sind zwar nicht eben immer Wahrheit […], aber sie betrügen darum doch auch nicht, weil ein jeder weiß, wofür er sie nehmen soll, und dann vornehmlich darum, weil diese anfänglich leeren Zeichen des Wohlwollens und der Achtung nach und nach zu wirklichen Gesinnungen dieser Art hinleiten.«
Siehe dazu Lévi-Strauss 1978; vgl. Lacan 1991: 36; 65.
Zum Begriff des »naiven Beobachters« siehe Pfaller 2002, Kapitel 9. Vgl. auch das Kapitel »Das Unter-Ich« in diesem Band.
Siehe dazu https://www.timeshighereducation.com/features/why-audit-culture-made-me-quit; http://www.truth-out.org/news/item/23156-henry-a-giroux-neoliberalism-democracy-and-the-university-as-a-public-sphere (Zugriffe: 2017-03-16); vgl. Giroux 2014; Power 1994 und 1997; Schwarz 2006; Strathern 2000.
Siehe dazu de Libera 2005.
Vgl. dazu Dusini/Edlinger 2012: 49f.
Der Psychoanalytiker Avi Rybnicki hat einmal ein anschauliches Beispiel dafür gegeben, wie sich bei einem Kind die Entstehung eines Über-Ich bemerkbar macht. Solange noch keines vorhanden ist, sagt das Kind: »Ich darf das nicht.« Ist das Über-Ich da, sagt das Kind: »Ich tue das nicht.« (Avi Rybnicki, persönliche Mitteilung.)
https://www.theguardian.com/business/2013/jun/05/imf-underestimated-damage-austerity-would-do-to-greece (Zugriff: 2016-12-31).
Siehe dazu Guérot 2016 und 2016a.
http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=OJ:C:2010:083:FULL&from=DE (Zugriff: 2016-12-31).
Siehe dazu Michael Hartmann: »Die Folgen für die politische Partizipation der Bevölkerung sind unübersehbar. Das untere Drittel der Bevölkerung verabschiedet sich zunehmend aus dem politischen Willensbildungsprozess. Bei den letzten Bundestagswahlen lagen die Prozentsätze der Wahlbeteiligung für die unterschiedlichen Teile der Bevölkerung weiter auseinander als je zuvor. Betrug die Differenz zwischen den Wahlbezirken in den 1990er Jahren nur um die zehn Prozentpunkte, liegt sie jetzt um die 30 Prozentpunkte. […] In den USA lässt sich dieses Verhalten schon länger beobachten. Die oberen zehn Prozent der Bevölkerung gehen bei den Präsidentschafts- und Kongresswahlen zu vier Fünfteln wählen, das oberste Prozent sogar fast ohne Ausnahme, das untere Viertel dagegen gerade einmal zu einem Drittel.« Vgl. Therborn 2013; Milanović 2016. http://blog.arbeit-wirtschaft.at/eliten-und-ungleichheit/ (Zugriff: 2016-12-31).
Dies hat Nancy Fraser sehr treffend erkannt. Sie schreibt: »Darüber hinaus herrschte in den USA während all der Jahre, in denen die Industrieproduktion einbrach, ein dröhnender Dauerdiskurs über ›Vielfalt‹, ›Frauen-Empowerment‹ und ›den Kampf gegen Diskriminierung‹. Fortschritt wurde zunehmend mit meritokratischen Ansprüchen statt mit fortschreitender Gleichheit identifiziert. Zum Maßstab der Emanzipation avancierte dadurch der Aufstieg von ›talentierten‹ Frauen, Minderheiten, Schwulen und Lesben in der kommerziellen Winner-take-all-Hierarchie – und nicht mehr deren Abschaffung.« (Fraser 2017); vgl. dazu auch die Kritik von Adolph Reed, der illusionslos feststellt: »Identity politics is neoliberalism«, und erklärt: »… within that moral economy a society in which 1 % of the population controlled 90 % of the resources could be just, provided that roughly 12 % of the 1 % were black, 12 % were Latino, 50 % were women, and whatever the appropriate proportions were LGBT people.« (Reed 2015)
Siehe dazu z.B. die Diskussion zu den Schlussfolgerungen aus Didier Eribons Buch »Rückkehr nach Reims« (Eribon 2016): https://www.taz.de/Kolumne-Bestellen-und-Versenden/!5343590/ (Zugriff: 2017-02-24).
Gerade die marginalen Gruppen werden durch die Politik der Ungleichheit weitaus massiver geschädigt, als es die Diversitätspolitik an ihnen jemals wiedergutmachen kann. Dies haben Winlow, Hall und Treadwell richtig erkannt (Winlow/Hall/Treadwell 2017: 142); vgl. auch Michaels 2006: 11f.; Milanović 2017: 239f.
Siehe dazu Ganser 2016.
Siehe dazu Cannadine 2002. Vgl. Mbembe 2017: 43.
Siehe dazu Dusini/Edlinger 2012: 69.
Zur diesbezüglichen Debatte siehe zum Beispiel Philosophie Magazin Nr. 02/2017. Es ist kein unbeträchtliches Verdienst des Buches von Achille Mbembe, durch seinen Titel »Critique de la raison nègre« diese Diskussion vollends aporetisch und in ihrer Absurdität kenntlich gemacht zu haben. Wenn man Pippi Langstrumpf verbessern möchte – wird man das dann ebenso mit Mbembe wagen (Mbembe 2017)?
Siehe dazu Abiola 2016.
Der Begriff des »Rassismus ohne Rassen« wurde von Étienne Balibar geprägt, siehe https://legrandsoir.info/un-racisme-sans-races.html (Zugriff: 2017-01-02).
So bemerken Campbell und Manning: »The socially down and out are so inferior to third parties that they are unlikely to campaign for their support, just as they are unlikely to receive it.« (Campbell/Manning 2014: 701)
Siehe Diederichsen 1995; vgl. Dusini/Edlinger 2012: 68.
Die starke Resonanz, die Didier Eribons Autobiographie erfahren hat, besitzt einen Grund in der Aktualität der Frage, die er sich stellt: Ob er nicht zugunsten seiner homosexuellen Identität seine Klassenidentität verraten habe (siehe Eribon 2016: 219). Dies ist nicht nur eine individuelle Frage; man kann sie auch ganzen Parteien stellen. In noch größerem Maßstab lautet dieselbe Frage, ob die Postmoderne nicht einen Verrat an der Moderne darstellt.
Chantal Mouffe erläutert diesen Prozess am Beispiel Österreichs wie folgt: Wenn zwei große Parteien einander immer ähnlicher werden und in die politische Mitte rücken, etwa durch Bildung einer sogenannten »großen Koalition« wie in Österreich von 1987 bis 1999, dann führe dies zum Erstarken einer rechtspopulistischen Oppositionspartei wie der FPÖ (siehe Mouffe 2007: 87: »Die Rechtsparteien hatten immer dann Zulauf, wenn zwischen den traditionellen demokratischen Parteien keine deutlichen Unterschiede mehr erkennbar waren.«). Mouffe übersieht allerdings die zusätzliche Bedingung, die »Überdeterminierung«, die hier am Werk ist. Denn große Regierungskoalitionen gab es in Österreich auch von 1949 bis 1966, ohne dass dies zu einem vergleichbaren Effekt geführt hätte. Der Unterschied besteht darin, dass die großen Koalitionen der Nachkriegszeit in Wiederaufbau und Schaffung von Wohlstand ein großes deklariertes Ziel und Glücksversprechen vorzuweisen hatten; dies war bei den neoliberal agierenden Koalitionsregierungen der 1980er und 1990er Jahre nicht mehr der Fall. Dieses Beispiel lässt sich verallgemeinern; und es zeigt, dass »Hegemonie«, gesellschaftlicher Zusammenhalt und Integrationskraft nicht, wie Mouffe, Laclau und ihre Epigonen immer wieder betonen, von der Existenz eines »konstitutiven Außen« abhängig sind, sondern vielmehr von der Triangulierung durch eine Fortschrittsperspektive. Dasselbe zeigt sich übrigens bei der Integration von sogenannten »Gastarbeitern«: Bis in die 1990er Jahre tendierten die Gastarbeiter in Österreich, wo Arbeitskräfte gesucht waren, zur Assimilation, da sie Hoffnung hatten, ihre Kinder würden es einmal besser haben. Seit diese Hoffnung durch steigende Arbeitslosigkeit und strukturelle Verarmung der unteren Gesellschaftsklassen erloschen ist, tendieren dieselben Gruppen zur Besinnung auf die eigenen ethnischen und religiösen Wurzeln; und zwar in einem Ausmaß, das über die entsprechende frühere »Verwurzelung« sogar noch hinausgeht: Die Angehörigen der zweiten oder dritten Generation sind nun »ethnischer« und »religiöser«, als es ihre Eltern und Großeltern jemals waren – ein Phänomen, das in der Anthropologie unter dem Begriff »Pizza-Effekt« bekannt ist (siehe dazu Sedgwick 2007). Man kann es auch als Effekt »negativer Hegemonie« begreifen.
Siehe dazu auch das Kapitel »Enttäuschende Enttäuschte« über die Wahl von Donald Trump in diesem Band.
So meint zum Beispiel die Germanistin Susanne Hochreiter zum Ärger über gegenderte Sprache: »Wenn man sich anschaut, wer sich am meisten darüber erbost, sind es nicht gerade Menschen, die soziale Ungleichheiten bekämpfen möchten« (siehe: http://derstandard.at/2000051773350/Auf-der-Suche-nach-einer-Sprache-die-nicht-diskriminiert, Zugriff: 2017-02-22). Genau dieser Auffassung soll hier widersprochen werden: Der Ärger ist berechtigt, und er kommt nicht zuletzt von den Leuten, die an Gleichheit das stärkste Interesse haben. Sie sind zornig, eben weil die symbolische Pseudopolitik nichts in dieser Richtung leistet.
In dieser Fehlzuschreibung von PC zur Linken sind sich Befürworter wie Diederichsen und rechte Kritiker bezeichnenderweise einig (siehe zu diesem Umstand Dusini/Edlinger 2012: 67–69).
Siehe dazu Žižek: http://www.stevesanterre.com/slavoj-zizek-political-correctness-actually-elected-donald-trump/ (Zugriff: 2017-02-24); Žižek 2017; Fraser 2017.
Marx [1841]: 371.
Gut begründeten Zweifel an dieser Annahme meldet die österreichische Schriftstellerin Karin Fleischanderl in einem schönen Essay an: »Und warum werde ich gerade dort, wo ich meine Geschlechtsidentität für meine Verhältnisse am weitesten zurückgelassen habe, nämlich im universitären/akademischen Bereich, am heftigsten daran erinnert, eine Frau zu sein?« (Fleischanderl 2012)
Zu dieser Auffassung siehe zum Beispiel diese Passage aus einer (nicht signierten) Kolumne der taz: »Wenn man sich mit dem Erfolg der Rechten auseinandersetzen will, muss man deshalb die AfD-Wähler zuallererst ernst nehmen als das, was sie sind: Leute, die ein Problem mit der modernen, offenen Gesellschaft haben«. https://www.taz.de/Kolumne-Bestellen-und-Versenden/!5343590/ (Zugriff: 2017-04-03).
Doch selbst in diesen Problemzonen stimmt diese Annahme kaum. Siehe dazu die oft äußerst differenzierten und keineswegs bloß xenophoben Äußerungen von Betroffenen, die Winlow, Hall und Treadwell aufgezeichnet haben (siehe Winlow/Hall/Treadwell 2017: 91–99).
Siehe dazu http://derstandard.at/3258956/Kopf-des-Tages-Jose-Luis-Zapatero; http://www.faz.net/aktuell/krise-in-spanien-was-zapatero-hinterlaesst-1642795.html (Zugriffe: 2017-03-04); vgl. dazu De Paz Nieves/Moreno Rodriguez 2010: 7.
Hierin besteht meines Erachtens die Antwort auf die sehr treffende Frage von Winlow, Hall und Treadwell: »why has so much emphasis been placed on tolerating diversity and the creation of a just cultural order when so little emphasis has been placed on the creation of the just economic order we need to accommodate it?« (Winlow/Hall/Treadwell 2017: 142) Vgl. dazu auch Michéa 2014: 109.
Der »Querfront«-Vorwurf unterstellt nicht nur eine Interessensgemeinschaft von radikaler Linker und faschistischer Rechter, sondern auch dass dies unter der Hegemonie der Rechten geschehe; dass die Linken durch solche Engagements zu Helfershelfern der Rechten würden. Siehe dazu z.B. http://www.spiegel.de/politik/deutschland/querfront-debatte-war-hitler-links-augstein-kolumne-a-1068892.html; https://www.heise.de/tp/features/Daniele-Ganser-und-die-Querfront-3265822.html; http://www.nachdenkseiten.de/?p=33793 (Zugriffe: 2017-01-02).
So schreibt Emily Dinsmore in »Spiked« an die Britischen Studierenden: »In 2016, the cultural-appropriation meltdown went mainstream. At the University of Cambridge it seems students aren’t even trusted to attend a fancy-dress party. An ›Around the World in 80 Days‹ themed party at Pembroke College was cancelled by the Junior Parlour Committee over fears that ›racist‹ costumes would offend students. You’ve reached peak authoritarianism when you’re policing fancy dress.« (Dinsmore 2016)
Siehe Oehmke 2016; Campbell/Manning 2014: 694.
Zu den sozialen und kommunikationstechnischen Voraussetzungen der Selbstviktimisierung – das Vorhandensein einer dritten, eingreifenden Macht sowie den Zugang zu einer hysterisierbaren Medienöffentlichkeit – siehe Campbell/Manning 2016: 718.
Siehe dazu Patten 2016; Furedi 2016.
Siehe dazu Lukianoff/Haidt 2015; Campbell/Manning 2016: 716f; Furedi 2016: 43; 146ff. Man braucht übrigens nur an Alfred Hitchcocks Film »Marnie« zu denken, um sich klarzumachen, wie undurchführbar solche Forderungen letztlich sind: Traumatisierungen können ja auch durch Begleiterscheinungen des traumatischen Erlebnisses, wie zum Beispiel die Farbe Rot, wieder wachgerufen werden.
Ich bin Ernst Strouhal, Wien, dankbar für diese Überlegung und das dazugehörige Gespräch. Vgl. dazu Furedi 2016: 46.
Siehe dazu http://www.politik-lexikon.at/inklusion-exklusion/; vgl. dazu Farzin 2006; Kronauer 2013.
Siehe dazu Luhmann 1989: 160; vgl. Hillebrandt 1999.
Zu einer aktuellen Bestimmung der Prinzipien einer »offenen Gesellschaft« siehe Welzer 2017.
Ein schönes Beispiel zu diesem Unterschied hat Karl Marx, unter Verweis auf Gustave de Beaumont, geliefert: Wie er beobachtete, ist Religionsfreiheit in den USA lediglich »inklusiv« gefasst: Man kann »frei« wählen, welcher Religionsgemeinschaft man sich anschließen möchte. Sie ist aber nicht offen konzipiert: Es ist schwierig, gar keiner Religionsgemeinschaft anzugehören (siehe Marx [1843]: 351–3). Auch in den europäischen Gesellschaften zeichnen sich seit der Postmoderne ähnliche Tendenzen der Schließung ab: Zu bestimmten ethischen Fragen werden bevorzugt Vertreter von großen, anerkannten Religionsgesellschaften befragt, eingeladen und angehört; nicht aber die – meist ohne Gruppenvertreter lebenden – Konfessionslosen. (Zum Unterschied zwischen gemeinschaftlich gefassten, dörflichen, »inklusiven« und gesellschaftlich gefassten, offenen, urbanen Konzeptionen von Solidarität siehe auch Pfaller 2017.)
Die in den USA gesetzlich verankerte Forderung, alles müsse immer auch Behinderten im gleichen Maß zugänglich sein, hat vor kurzem zur Beseitigung öffentlich zugänglich gemachten Materials der Universität Berkeley geführt; siehe https://www.insidehighered.com/news/2017/03/06/u-california-berkeley-delete-publicly-available-educational-content (Zugriff: 2017-05-12). Wenn der Staat hier nicht seine Verantwortung als Förderer wahrnimmt und für die Kosten solcher Zugänge einsteht, sondern sich lediglich in die Rolle des Kontrolleurs begibt, können solche vermeintlich fortschrittlichen Gesetze ein wirksames Instrument der Zensur sein. Um dies zu verhindern, sollte man die schöne Brecht’sche Regel »Keiner oder alle, alles oder nichts« in solchen Fällen wohl konsequent und mithin »verdoppelt« handhaben: Solange diese Regel noch nicht überall und für alles gilt, darf sie auch in keinem einzelnen Fall angewendet werden.
Siehe http://www.reuters.com/article/us-soccer-fifa-ethics-idUSKBN1860OS (Zugriff: 2017-05-11).
Hellsichtig in diesem Punkt Welzer, der bemerkt: »… heute lässt man Schulen und Lehrkörper verwahrlosen und nennt die Sparmaßnahmen ›Inklusion‹.« (Welzer 2017: 83)
Zitiert nach http://www.chicagotribune.com/news/local/breaking/ct-university-of-chicago-safe-spaces-letter-met-20160825-story.html (Zugriff: 2017-01-03); vgl. dazu Patten 2016.
Siehe Campbell/Manning 2014: 713.
Siehe Furedi 2016: 16; vgl. Unbedingte Universitäten (Hg.) 2010.
Siehe dazu http://www.zeit.de/2015/21/columbia-university-sexueller-missbrauch-prozess/komplettansicht (Zugriff: 2017-01-04).
Diese vermeintlich »radikale« Position stellt freilich zugleich eine extreme Verharmlosung wirklicher Vergewaltigungsverbrechen dar. Zur feministischen Kritik dieser Position siehe Badinter 2004: 23–40.
Siehe Mouffe 2007: 12; vgl. Stephan 2017. So treffend und berechtigt die Position von Mouffe in dieser Frage ist, möchte ich doch wenigstens kurz die entscheidenden Differenzen benennen, die meine Position von der Mouffes (sowie der Autoren, die man zur Laclau/Mouffe-Schule rechnen kann) trennen. Erstens lokalisiert Mouffe die Identität einer Gesellschaft in ihrem Imaginären (in der Vorstellung eines »Wir/Sie«, siehe Mouffe 2007: 12). Damit aber gehört auch der »Antagonismus«, den Mouffe zur Bedingung von Identität (bzw. zum Grund für die Unmöglichkeit einer »beruhigten«, endgültigen Identität einer Gesellschaft) erklärt, zum Imaginären, worin eine Gesellschaft sich ihr Außen vorstellt. Der Begriff ist damit verbraucht und nicht mehr geeignet, den höchst realen Antagonismus innerhalb einer Gesellschaft zu bezeichnen, der entweder zur Spaltung von Klassen oder aber zu deren Aufhebung führen kann (siehe dazu Althusser 1973: 48f.). Bei Mouffe hingegen dient der »Antagonismus« lediglich dazu, mit Hilfe eines vorgestellten Außen verschiedene Lebensstile im Inneren der Gesellschaft miteinander ins Einvernehmen zu setzen. In demselben Maß, in dem Mouffe also den Antagonismus »ontologisiert« (siehe Mouffe 2007: 15), verharmlost und enthistorisiert sie ihn also auch.
Zweitens ist Mouffe ungenau bei der Bestimmung des »relationalen Charakters« von Identität (siehe Mouffe 2007: 23). Ob ein Element wie das sprachliche Zeichen nach Auffassung de Saussures seinen Wert von allen anderen Zeichen erhält, ist eine ganz andere Frage als die, ob etwas, um seine Identität auszubilden, ein »konstitutives Außen« (Mouffe 2007: 23) benötigt. Im ersten Fall handelt es sich um eine strukturale Beziehung mit beliebig vielen Elementen; im zweiten Fall dagegen um eine duale, imaginäre Beziehung eines Ich mit seinem Alter Ego, die notwendigerweise nur zwei Elemente umfasst. (Zu diesem zweiten Beziehungstyp und seiner »klassischen« Formulierung bei Ludwig Feuerbach siehe Althusser 1995: 176ff.: »La théorie de l’horizon absolu, ou théorie de l’objet comme essence du sujet«.)
Dies hat, drittens, entscheidenden Einfluss auf die Schlussfolgerung. Für Mouffe, ähnlich wie für den pessimistischen, späten Freud, benötigt eine Gesellschaft, um sich zu vereinen, einen äußeren Feind (oder wenigstens die Vorstellung davon; siehe Mouffe 2007: 37; vgl. Freud [1930a]: 243). Die Zwei ermöglicht hier sozusagen die Eins. Ich hingegen begreife die notwendige Minimalallianz innerhalb einer Gesellschaft nicht als Wirkung des Imaginären, sondern des Symbolischen; mithin nicht als Wirkung der Zwei, sondern als Wirkung von Triangulierung. Das Hinzutreten einer dritten Blickposition verhindert gerade, dass sich zwei Rivalen auf der Ebene des dualen Imaginären – als unversöhnliche Feinde, nach dem Prinzip »Du oder Ich« – begegnen. Und diese Blickposition muss nicht in einer wirklichen Person oder einer wirklichen äußeren Gesellschaft verkörpert sein. Sie kann – wie sich zum Beispiel an der Funktionsweise von Höflichkeit erkennen lässt (siehe dazu das Kapitel »Weiße Lügen, schwarze Wahrheiten« in diesem Buch) – auch virtuell bleiben. Eine andere Möglichkeit von Triangulierung besteht in der Ausrichtung aller gesellschaftlichen Gruppen auf ein gemeinsames Vorhaben wie zum Beispiel Wohlstand für alle. (Und erst in dem Moment, als westliche Gesellschaften dieses Vorhaben in der Postmoderne mehr oder weniger unverhohlen aufgaben, entstanden die Fixierungen auf scheinbar unversöhnliche Identitäten.) Das bedeutet: Friede in einer Gesellschaft ist auch ohne realen äußeren Feind möglich. (Diese Auffassung wäre übrigens auch näher an Freud, vor allem dem Freud von »Totem und Tabu«, siehe Freud [1912–13].)
Siehe dazu Diederichsen 1996: 180; Dusini/Edlinger 2012: 69.
Siehe Furedi 2016: 15.
Siehe dazu Hoffmann 1996: 60: »[…] denn ob der Sprecher den Hörer im perlokutionären Sinn beleidigt, könne nur der Hörer beantworten, wenn überhaupt jemand.«
Siehe dazu z.B. Roland Barthes: »… l’unité du texte n’est pas dans son origine, mais dans sa destination … la naissance du lecteur doit se payer de la mort de l’auteur.« (Barthes 1984: 66f.)
Siehe dazu Culler 1988: 73: »Lesen heißt, mit der Hypothese eines Lesers arbeiten …«
Siehe Althusser [1975].
Siehe Badinter 2004: 40. Freilich macht man sie in Wirklichkeit nicht einmal zu Kindern, sondern zu einem Klischee von Kindern: zu reflexionsunfähigen asexuellen Wesen, wohingegen Kinder ja, wie Sigmund Freud zum Entsetzen nicht nur seiner Zeitgenossen entdeckte (siehe Freud [1905d]), eine infantile Sexualität haben – ein Umstand, auf den auch Kipnis mit Recht verweist (Kipnis 2015).
Dies mag an die berühmte Bemerkung Freuds über das bescheidene Ziel der psychoanalytischen Behandlung erinnern: »hysterisches Elend in gemeines Unglück zu verwandeln« (Freud [1895d]: 312). Daraus ließe sich im Umkehrschluss eine recht brauchbare Definition von Neurose und Paranoia ableiten: Sie liegen dann vor, wenn diese Unterscheidung nicht gelingt.
Siehe Epiktet 2004: 11.
Zum puritanischen Hintergrund der political correctness siehe Geoffrey Hughes 2010: 3, 9. Zu den religiösen Motiven der aktuellen »Säuberungen« des Alltagslebens siehe Pfaller 2008.
Siehe dazu Berman 2009.
Siehe dazu Pfaller 2003; 2009a.
Siehe dazu Furedi 2016: 102ff.
Siehe dazu Money (Hg.) 1965; Money/Erhardt 1975; Stoller 1968; vgl. Reiche 1997.
Siehe Grunberger/Dessuant 2000.
Siehe Freud [1905d]: 60. Vgl. dazu das Kapitel »Kindliche Götter« zum Begriff des »Unter-Ich« in diesem Band.
Zu diesem Begriff siehe Leiris [1938].
Freud [1912–13]; vgl. Pfaller 2008.
Siehe dazu das Kapitel »Kindliche Götter« zum Begriff des »Unter-Ich« in diesem Band.
Psychoanalytisch lässt sich dieser Sachverhalt wie folgt formulieren: Für den kulturellen (sekundären) Narzissmus erscheinen die Gebote der zivilisierten Öffentlichkeit, also der symbolischen Ordnung, als heteronome, autoritäre Anordnungen. Gerade das, was »symbolische Kastration«, also Überwindung narzisstischer Willkür, herstellt, wird fälschlich als »unkastrierte«, »urvaterhafte« Willkür und als finsteres Genießen wahrgenommen. Ein schönes Beispiel dieser narzisstischen Fehlwahrnehmung hat mir einmal eine befreundete Wiener Psychoanalytikerin gegeben: Wenn sie zu ihrer kleinen Tochter sage, sie solle die Hand nicht auf die heiße Herdplatte legen, dann glaube die Tochter, die Mutter verbiete es ihr nur deshalb, damit sie selbst ihre Hand dorthin legen und sich somit ein gewaltiges Genießen jenseits aller Verbote verschaffen könne. Dass es etwas Drittes geben könnte, nämlich einen Raum, in dem alle »kastriert« sind und an heißen Herdplatten schmerzlichen Schaden nehmen können, ist für den Narzissmus (in diesem Fall den primären, infantilen) nicht vorstellbar. Dies ist, wie Jacques Lacan bemerkte, die Wirkung eines den Narzissmus prägenden, tyrannischen Über-Ich, welches das Ich gnadenlos und permanent mit dem Befehl »Genieße!« drangsaliert (siehe Lacan [1972–73]: 10; vgl. dazu Pfaller 2011, Kapitel 10; Dusini/Edlinger 2012: 186–191; sowie das Kapitel »Kindliche Götter« in diesem Band).
Siehe Furedi 2016: 18. Eine erste Bemerkung zu diesem Paradoxon liefert Freud: Je milder die Eltern waren, desto strenger wird das Über-Ich, denn sein Vorbild sind nicht die Eltern, sondern deren Über-Ich (siehe Freud [1933a]: 505).
Siehe Grunberger/Dessuant 2000: 203; 272.
Genau unter diesem Gesichtspunkt müssen auch die für die neoliberale Politik so charakteristischen totalen Rauchverbote betrachtet werden. Es sind, unter dem Anschein, Regulierungen zu sein, in Wahrheit Maßnahmen der Deregulierung: Das Prinzip des öffentlichen Raumes, dass man dort etwas unempfindlicher zu sein hat als im privaten Raum, wird dadurch außer Kraft gesetzt; der öffentliche Raum wird den Kriterien privater Ansprüche unterworfen. Man kann freilich auch im öffentlichen Raum Regelungen einführen, die dem friedlichen Auskommen aller Gruppen dienen und zum Beispiel Unterscheidungen zwischen Nichtraucher- und Raucherlokalen einführen. Aber sobald die Verbote total werden, räumen sie der privaten Empfindlichkeit das totale Primat über den öffentlichen Raum ein. Andere Empfindlichkeiten, zum Beispiel gegen anstößige Filme, religionskritische Reden oder abweichende Meinungen, nehmen sich daran gerne ein Beispiel und folgen bald nach.
Siehe dazu Kuldova 2017.
Siehe dazu Geoffrey Hughes 2010: 12.
Zur Aktualität der Frage nach der Erwachsenheit siehe die rezenten Veröffentlichungen von Neiman 2015; Furedi 2016 oder auch Zupanćić 2016 – Letztere mit dem wunderschönen Kapitel »Where Do Adults Come From?«
Siehe dazu z.B.: http://www.alternet.org/news-amp-politics/poll-suggests-americanvoters-are-stupid (Zugriff: 2017-05-01).
Siehe dazu http://inthesetimes.com/features/zizek_clinton_trump_lesser_evil.html; https://www.nytimes.com/2016/04/24/magazine/how-hillary-clinton-became-a-hawk.html?_r=0; http://www.salon.com/2016/04/27/democrats_this_is_why_you_need_to_fear_hillary_clinton_the_ny_times_is_absolutely_right_shes_a_bigger_hawk_than_the_republicanse/ (Zugriffe: 2017-03-15).
https://www.bostonglobe.com/opinion/2016/02/12/syria-thank-you-russia/UNKMxrzQvvAt8j4sJH03mJ/story.html (Zugriff: 2017-03-15).
Vgl. dazu https://www.heise.de/tp/features/Warum-ueberlaesst-man-es-Trump-die-Nato-fuer-obsolet-zu-erklaeren-3632354.html (Zugriff: 2017-03-17).
https://www.theguardian.com/commentisfree/2016/nov/09/donald-trump-white-house-hillary-clinton-liberals (Zugriff: 2017-03-15).
In der vorangegangenen Ausgabe hatte der »Falter« in seiner wöchentlichen Glosse »gut – böse – jenseits« Žižek aus den genannten Gründen für »jenseitig« erklärt. Siehe Falter, Nr. 45/16, 9.11.2016: 27.
Siehe dazu http://www.telegraph.co.uk/women/politics/i-dont-vote-with-my-vagina-why-susan-sarandon-is-not-backing-hil1/; http://www.salon.com/2017/03/04/susan-sarandon-was-right-she-warned-us-hillary-was-doomed-liberals-didnt-want-to-listen/ (Zugriffe: 2017-03-21).
Eine präzise und differenzierte Wählerstromanalyse hat Steve Phillips im Februar 2017 vorgelegt; https://www.nytimes.com/2017/02/21/opinion/move-left-democrats.html?ribbon-ad-idx=3&rref=opinion&module=Ribbon&version=context®ion=Header&action=click&contentCollection=Opinion&pgtype=article (Zugriff: 2017-03-15); vgl. dazu Kohlenberg 2016.
Austin 1962.
Siehe dazu Lévi-Strauss 1978.
Siehe dazu Žižek 2011a.
Zu den logisch möglichen Varianten dieser Szene siehe die virtuose Abhandlung, die Slavoj Žižek in seinem Buch »Absoluter Gegenstoß« vorgelegt hat (Žižek 2016: 563ff.).
Siehe Mannoni 1985; Pfaller 2002.
Kant [1798]: 442.
Siehe dazu Rousseau 1959, Bd. 3: 7f.; vgl. Berman 2009: 84.
Siehe Althusser 1977: 99.
Ein Fall übrigens, in dem das »esse est non percipi«-Prinzip durchaus gilt: Gerade um neoliberale Politik am wirksamsten verfolgen zu können, müssen viele gesellschaftliche Akteure sich selbst als politisch progressive Kräfte fehlwahrnehmen. Ein Großteil der neoliberalen Einschnitte ins Sozialsystem konnte nur durch Sozialdemokraten – wie Tony Blair oder Gerhard Schröder – vorgenommen werden und unter dem Vorwand emanzipatorischer Argumente.
Siehe Hobbes 1999: 111; Mandeville 1980: 80.
Mit Spinoza gesprochen, könnte man sagen: Diese Aussage ist wahr nach dem Maßstab der ersten Erkenntnisgattung. Diese sagt mehr über das Subjekt aus als über den Gegenstand, über den das Subjekt zu sprechen meint. Siehe Spinoza 1990: 197.
Siehe Althusser [1969]: 133.
Brecht 1984: 1106.
Zur Unterscheidung zwischen der Ebene der Aussage und jener des Aussagens siehe auch das folgende Kapitel, »Anmaßende Bescheidenheit«.
Siehe Freud [1921c]: 107.
Kant [1798]: 445.
Dies würde der von Freud beschriebenen kindlichen Entwicklung entsprechen, worin Kinder zunächst aus Angst vor Liebesverlust nach den Anordnungen ihrer Eltern handeln; während sie später diese äußere Autorität »introjizieren«, ein Über-Ich aufrichten und aus sozusagen eigenem Antrieb »moralisch« zu handeln beginnen (siehe Freud [1930a]: 251f.).
Siehe Plinius 1978: 55.
Dies unterscheidet Kants Position in der Frage der religiösen Rituale so markant von jener Blaise Pascals, der sie in der Frage der Höflichkeit doch so ähnlich zu sein schien (siehe dazu Žižek 2014: 62; Pfaller 2016: 31–33). Der Grund liegt darin, dass Pascal, im Gegensatz zu Kant, religiöse Handlungen durchaus als »außen-geleitete« Praktiken wie die Höflichkeit begreift. Ihr Sinn liegt für ihn nicht in ihrem Verweis auf Innerlichkeit.
Siehe Kant [1793]: 821.
Siehe Pfaller 2002: 261–317; vgl. dazu auch das Kapitel »Kindliche Götter« in diesem Band.
Siehe Mannoni 2003.
Siehe Žižek 2011a.
War es nicht bezeichnend, dass während Powells Rede im UN-Sicherheitsrat die Reproduktion von Picassos »Guernica« im Foyer verhüllt werden musste – da andernfalls, so wurde befürchtet, das Bild einen unvorteilhaften Kommentar zu Powells Rede liefern würde? (Siehe dazu https://www.wsws.org/en/articles/2003/02/guer-f08.html (Zugriff: 2016-11-29)). Nur das Verhüllen des Bildes erlaubte Powell, die dünne Hülle aus Vorwänden zu präsentieren, welche der Angriff auf den Irak als seine Rechtfertigung erforderte.
Merkel, Reinhard: Der Westen ist schuldig, in: FAZ, 2.8.2013, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/syrien-der-westen-ist-schuldig-12314314.html?printPagedArticle=true«pageIndex_2 (Zugriff: 2016-12-17). Ebenso stellt sich die Frage, wer eigentlich jemals die Behauptung geglaubt haben könnte, die Giftgasangriffe im syrischen Bürgerkrieg von August 2013 und April 2017 seien von Regierungstruppen durchgeführt worden. Siehe dazu http://www.labournetaustria.at/fritz- edlinger-zur-debatte-um-giftgaseinsaetze-in-syrien/ (Zugriff: 2017-05-04).
Vgl. dazu Louis Althussers knappe Definition des Materialismus: »sich keine Geschichten erzählen« (»ne pas se raconter d’histoire«, Althusser 1994: 247).
Das Ego akzeptiert hier offenbar alles, was dem Lustprinzip zuträglich ist und insofern, nach dem Muster des alten Lust-Ich, als ichkonform erscheint. Der naive Beobachter ist demgegenüber ein kritischerer, mehr dem Realitätsprinzip verpflichteter Beobachter: Auch wenn er nur nach dem Augenschein urteilt, ist für ihn doch nur der perfekte Augenschein überzeugend.
Siehe dazu Alain 1982: 200: »Höflichkeit muß ebenso gelernt werden wie Tanzen. Wer nicht tanzen kann, meint, die Schwierigkeit bestehe darin, die Regeln zu kennen und sich ihnen entsprechend zu bewegen; aber das betrifft nur das Äußerliche der Sache; man muß es vor allem dahin bringen, die Steifheit und Befangenheit zu verlieren, das heißt, ohne Furcht zu tanzen.« – Diese Bemerkung kann buchstäblich auf die Probleme mit der political correctnessPCUSA1979