Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
Hit Refresh
ISBN 978-0-06-265250-8
Copyright der Originalausgabe 2017:
Copyright © 2017 by Satya Nadella
All rights reserved.
Copyright der deutschen Ausgabe 2018:
© Börsenmedien AG, Kulmbach
Übersetzung: Matthias Schulz
Gestaltung und Satz: Martina Köhler
Lektorat: Karla Seedorf
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-86470-483-3
eISBN 978-3-86470-484-0
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Für die beiden Familien,
die mein Leben geprägt haben:
für Anu, unsere Eltern und unsere Kinder;
und meine Microsoft-Familie.
Vorwort
von Bill Gates
Kapitel 1
Von Hyderabad nach Redmond –
Wie Karl Marx, eine sanskrit-Lehrerin und ein Cricket-Held meine Jugend prägten
Kapitel 2:
Ich lerne zu führen –
Windows und die Cloud
Kapitel 3:
Neue Mission, neuer Schwung –
Die wiederentdeckte seele von Microsoft
Kapitel 4:
Wiederbeleben der Unternehmenskultur –
Von Besserwissern zu Besserlernern
Kapitel 5:
Freunde oder Freundfeinde? –
Partnerschaften aufbauen, bevor man sie benötigt
Kapitel 6:
Jenseits der Cloud –
Mixed Reality, künstliche Intelligenz und Quantenrechner
Kapitel 7:
Die Vertrauensformel –
Privatsphäre, Sicherheit und freie Meinungsäußerung: zeitlose Werte im digitalen Zeitalter
Kapitel 8:
Die Zukunft von Mensch und Maschine –
Wege zu einem ethisch vertretbaren Fundament für die Entwicklung künstlicher Intelligenz
Kapitel 9:
Wirtschaftswachstum für alle –
Welche Rolle spielen Unternehmen in einer globalen Gesellschaft?
Nachwort
Danksagung
Quellen und Literaturhinweise
Über den Autor
Ich kenne Satya Nadella nunmehr seit über 20 Jahren. Wir lernten uns kennen Mitte der 1990er-Jahre, als ich CEO von Microsoft war und er an unserer Server-Software arbeitete, die damals gerade durchstartete. Wir haben das Geschäft mit Weitblick aufgebaut, was zwei Vorteile mit sich brachte: Es verschaffte dem Unternehmen einen weiteren Wachstumsmotor und es brachte viele der neuen Führungskräfte hervor, die Microsoft heute leiten. Satya ist so ein Beispiel.
Später intensivierte sich unsere Zusammenarbeit, als er unsere Bemühungen anführte, eine Weltklasse-Suchmaschine aufzubauen. Wir waren hinter Google zurückgefallen und unser ursprüngliches Suchmaschinenteam hatte sich verabschiedet. Satya war Teil der Gruppe, die versuchte, die Dinge zum Besseren zu wenden. Er war bescheiden, zukunftsorientiert und pragmatisch. Er stellte kluge Fragen zu unserer Strategie und arbeitete gut mit den Hardcore-Programmierern zusammen.
Insofern war es auch nicht überraschend, dass Satya unmittelbar nach seiner Ernennung zum Microsoft-CEO damit begann, das Unternehmen maßgeblich zu prägen. Wie der Titel des Buches schon verrät, hat er nicht vollständig mit der Vergangenheit gebrochen – wenn Sie die „Refresh“- oder „Aktualisieren“-Schaltfläche Ihres Webbrowsers benutzen und die Webseite neu geladen wird, bleibt einiges auf der Seite beim Alten. Aber unter Satyas Führung ist es Microsoft gelungen, den Schwerpunkt des Unternehmens weg von einem rein auf Windows fixierten Ansatz zu verlagern. Er ist verantwortlich dafür, dass das Unternehmen nun eine kühne neue Mission verfolgt. Er steht im ständigen Dialog mit Kunden, Spitzenforschern und Managern. Vor allem aber setzt er ganz stark auf einige wenige zentrale Technologien wie künstliche Intelligenz und Cloud-Computing. In diesen Bereichen wird Microsoft herausragen.
Ein kluger Ansatz, der sich nicht nur für Microsoft empfiehlt, sondern für alle Unternehmen, die im digitalen Zeitalter erfolgreich bestehen wollen. Noch nie war die Computerbranche dermaßen komplex. Google, Apple, Facebook, Amazon und andere – neben Microsoft leisten heutzutage viele große Firmen innovative Arbeit. Nutzer, die technisch an vorderster Front arbeiten, finden sich in aller Welt, beileibe nicht nur in den USA. Für die meisten Menschen ist der PC nicht länger der wichtigste Computer, mit dem sie interagieren, geschweige denn der einzige.
So rasch der Wandel in der Computerindustrie auch vonstattengeht, wir stehen dennoch erst ganz am Anfang der digitalen Revolution. Nehmen Sie beispielsweise den Bereich künstliche Intelligenz (KI). Denken Sie an all die Zeit, die wir damit verbringen, Dinge händisch zu sortieren und ganz gewöhnliche Aktivitäten durchzuführen, sei es das Planen von Meetings oder das Bezahlen von Rechnungen. Künftig wird ein KI-Assistent wissen, dass Sie an Ihrem Arbeitsplatz sind und gerade zehn Minuten Zeit haben. Dann wird er Ihnen helfen, abzuarbeiten, was ganz oben auf Ihrer To-do-Liste steht. Schon bald wird KI unser Leben produktiver und kreativer machen.
Innovation wird das Leben in vielen weiteren Bereichen verbessern. Das macht auch den Großteil meiner Arbeit bei der Gates-Stiftung aus, die sich dem Ziel verschrieben hat, die größten Ungleichheiten auf diesem Planeten zu beseitigen. Dank digitaler Überwachungsgeräte und der DNA-Sequenzierung stehen wir haarscharf davor, Kinderlähmung auszumerzen. Es wäre erst die zweite menschliche Krankheit überhaupt, die ausgelöscht werden konnte. In Kenia, Tansania und anderen Ländern können Menschen mit geringen Einkommen dank digitalem Geld besser denn je sparen, Kredite aufnehmen und Überweisungen vornehmen. In den USA ist es Schulkindern möglich, dank personalisierter Lernsoftware in dem für sie optimalen Tempo zu lernen und sich auf die Fähigkeiten zu konzentrieren, in denen der größte Nachholbedarf besteht.
Natürlich bringt jede neue Technologie auch ihre Herausforderungen mit sich. Wie helfen wir den Menschen, deren Arbeitsplätze durch KI-Assistenten und Roboter abgelöst werden? Werden die Menschen bereit sein, ihren KI-Assistenten alle Informationen anzuvertrauen? Angenommen, ein Assistent könnte Sie zu Ihrer Arbeitsweise beraten, würden Sie das überhaupt wollen?
Das ist es, was Bücher wie Hit Refresh so wertvoll macht. Satya zeigt einen Weg, wie man die Möglichkeiten des technischen Fortschritts bestmöglich nutzt. Gleichzeitig stellt er sich aber auch den schwierigen Fragen, die dieses Thema bereithält. Er garniert das Ganze mit seiner eigenen faszinierenden Lebensgeschichte, zahlreichen Literaturzitaten und sogar einigen Lektionen aus seinem geliebten Cricket.
Wir alle sollten optimistisch in die Zukunft blicken. Die Welt verändert sich zum Besseren, der Fortschritt ist mehr denn je auf dem Vormarsch. Dieses Buch ist ein gut durchdachter Leitfaden für eine aufregende und anspruchsvolle Zukunft.
Wie Karl Marx, eine Sanskrit-Lehrerin und ein Cricket-Held meine Jugend prägten
Ich habe mich 1992 Microsoft angeschlossen, weil ich mich bei einem Unternehmen einbringen wollte, dessen Belegschaft es sich zum Ziel gesetzt hatte, die Welt zu verändern. Mittlerweile sind 25 Jahre vergangen und ich habe diese Entscheidung nie bereut. Microsoft leitete die PC-Revolution ein und unser Erfolg ist legendär, vergleichbar höchstens mit dem von IBM in einer früheren Generation. Viele Jahre lang hielten wir all unsere Wettbewerber auf Abstand, doch dann änderte sich etwas – und zwar nicht zum Besseren. Innovation wurde abgelöst von Bürokratie. Teamwork wurde ein Opfer betriebsinterner Politik. Wir fielen zurück.
Mitten in diesen schweren Zeiten zeichnete ein Cartoonist ein Microsoft-Organigramm, in dem die einzelnen Sparten als Gangs abgebildet waren, die sich gegenseitig bekriegen und mit Waffen bedrohen. Die dahinterstehende Botschaft war unüberhörbar. Mich, den Microsoft-Veteranen, der seit vielen Jahren im Unternehmen war, ärgerte diese Karikatur maßlos. Noch mehr ärgerte mich jedoch, dass unsere eigenen Leute sie einfach so hinnahmen. Natürlich waren mir in meinen unterschiedlichen Funktionen Disharmonien nicht völlig fremd gewesen, aber ich hatte sie nie als unlösbar empfunden. Als ich im Februar 2014 also zum dritten CEO der Microsoft-Geschichte ernannt wurde, erklärte ich der Belegschaft, meine höchste Priorität bestehe darin, die Unternehmenskultur zu erneuern. Ich kündigte an, erbarmungslos alle Hürden aus dem Weg zu räumen, die uns daran hindern, innovativ zu sein. Ich wollte dafür sorgen, dass wir alle wieder zurück zu dem Punkt gelangten, wegen dem wir uns dem Unternehmen ursprünglich einmal angeschlossen hatten – um etwas zu bewirken in der Welt. Microsoft war immer dann am besten, wenn persönliche Leidenschaft einherging mit einem höheren Ziel: Windows, Office, Xbox, Surface, unsere Server, die Microsoft Cloud – all diese Produkte haben sich zu digitalen Plattformen entwickelt, auf denen Personen und Organisationen ihre eigenen Träume begründen können. Das waren beeindruckende Leistungen, aber ich wusste, dass wir noch mehr erreichen können und die Belegschaft begierig war, einiges zu bewegen. Ginge es nach mir, dann sollten diese Instinkte und Werte einen festen Platz in Microsofts Unternehmenskultur erhalten.
Ich war noch nicht lange CEO, da entschloss ich mich zu einem Experiment. Dafür wählte ich mir eines der wichtigsten Meetings, die ich leite. Jede Woche trifft sich mein Senior Leadership Team (SLT), brütet über schwierigen Entscheidungen, ringt mit großen Chancen, begutachtet Produkte und hält Brainstormings ab. Dem SLT gehören ausgesprochen fähige Leute an – Programmierer, Wissenschaftler, Manager und Marketingexperten. Diese vielfältige Gruppe an Männern und Frauen bringt sehr unterschiedliche Erfahrungen mit, aber sie haben alle bei Microsoft angeheuert, weil sie Technologie lieben und daran glauben, mit ihrer Arbeit etwas bewirken zu können.
Zum damaligen Zeitpunkt gehörten dem SLT Menschen wie Peggy Johnson an, ehemals Programmiererin in der Sparte für Rüstungselektronik bei General Electric (GE) und Managerin bei Qualcomm. Inzwischen leitet sie bei uns den Bereich Geschäftsentwicklung. Da war Kathleen Hogan, die früher bei Oracle Apps entwickelte, mittlerweile die Personalabteilung führt und mir als Partnerin bei der Neuausrichtung unserer Kultur zur Seite steht. Der erfahrene Microsoft-Manager Kurt Delbene verließ in den Obama-Jahren das Unternehmen, um Probleme der staatlichen Krankenversicherungs-Webseite Healthcare.gov zu lösen, kehrte anschließend zu uns zurück und verantwortet nun den Bereich Strategie. Qi Lu arbeitete zehn Jahre bei Yahoo und leitete unseren Bereich für Anwendungen und Dienstleistungen. Er ist Inhaber von 20 Patenten in den USA. Unsere Finanzchefin Amy Hood war früher Investmentbankerin bei Goldman Sachs. Microsoft-President Brad Smith war gleichzeitig unser Rechtsvorstand. Früher war er Partner bei Covington & Burling – dort erinnert man sich noch gut daran, wie er 1986 in der Traditionskanzlei als erster Anwalt überhaupt seine Einstellung an die Bedingung knüpfte, dass an seinem Arbeitsplatz ein PC steht. Scott Guthrie, der von mir die Führung des Bereichs Cloud und Unternehmenskunden übernahm, kam direkt von der Universität Duke zu Microsoft. Auch Terry Myerson, zuständig für Windows und Geräte, machte seinen Abschluss an der Duke, bevor er mit Intersé eines der ersten Online-Software-Unternehmen gründete. Unser Marketingchef Chris Capossela wuchs in einem familiengeführten italienischen Restaurant im Bostoner North End auf und kam ein Jahr vor mir direkt von Harvard zu Microsoft. Dann war da der ehemalige Wal-mart-Manager Kevin Turner, der nun als COO fungierte und den weltweiten Vertrieb leitete. Harry Shum machte seinen Abschluss in Robotik an der Carnegie Mellon und ist eine weltweite Koryphäe in Sachen Maschinelles Sehen und Computergrafik, bei uns leitet er die gefeierte Abteilung für künstliche Intelligenz und Forschung.
Als Steve Ballmer noch CEO war, hatte auch ich dem SLT angehört. Ich bewunderte jedes Mitglied unseres Teams, dennoch hatte ich das Gefühl, wir sollten uns noch intensiver um gegenseitiges Verständnis bemühen. Wir müssten dahinterkommen, wie jeder von uns tickt, und unsere persönliche Philosophie mit unseren Aufgaben als Führungskräfte dieses Unternehmens in Einklang bringen. Ich war mir sicher: Wenn jeder von uns mit offenen Karten spielen würde und wir unsere kollektive Intelligenz und Energie in eine neu belebte Mission einbringen könnten, würden wir zurückfinden zu dem Traum, der damals Bill und Paul inspirierte – modernste Computertechnologie zu demokratisieren.
Unmittelbar vor meiner Ernennung zum CEO hatte unser heimisches Footballteam, die Seattle Seahawks, gerade den Superbowl gewonnen und viele von uns waren inspiriert von der Erfolgsgeschichte dieser Mannschaft. Auf Pete Carroll, den Cheftrainer der Seahawks, war ich aufmerksam geworden, als er den Psychologen Michael Gervais unter Vertrag nahm. Gervais ist darauf spezialisiert, Menschen durch Achtsamkeitstraining zu Leistungen auf höchstem Niveau zu verhelfen. Das mag für den einen oder anderen nach Voodoo-Hokuspokus klingen, ist es aber ganz und gar nicht. Dr. Gervais arbeitete mit den Seahawks daran, den Geist der Spieler und des Trainerstabs so zu schärfen, dass sie auf dem Spielfeld und außerhalb davon Hervorragendes leisten. Wie Athleten bewegen wir uns alle in einem Umfeld, in dem es für uns um viel geht, deshalb dachte ich mir, dass auch wir etwas von den Methoden des Dr. Gervais lernen könnten.
An einem Freitagmorgen kam das SLT zusammen, nur dieses Mal nicht in unserem langweiligen Tagungsraum. Stattdessen versammelten wir uns in entspannterer Atmosphäre am anderen Ende des Campus, in einem Raum, in dem sich sonst Software- und Spiele-Entwickler trafen. Es war ein offener, großzügiger, spartanischer Raum. Die üblichen Tische und Sessel fehlten ebenso wie ein Platz, an dem man Computer aufbauen und so den niemals endenden Strom an E-Mails und Newsfeeds mitverfolgen konnte. Verschwunden waren auch unsere Telefone, sie wurden in Hosentaschen, Taschen und Rucksäcke verbannt. Stattdessen setzten wir uns auf bequemen Sofas in einen großen Kreis. Abtauchen konnte hier niemand. Ich eröffnete das Meeting und bat alle, sich mit Urteilen zurückzuhalten und zu versuchen, im Hier und Jetzt zu bleiben. Ich war gespannt, aber auch etwas ängstlich.
Zu Beginn der ersten Übung fragte uns Dr. Gervais, ob wir Interesse daran hätten, eine außergewöhnliche persönliche Erfahrung zu machen. Wir alle nickten zustimmend. Daraufhin bat er um einen Freiwilligen, doch niemand meldete sich. Es war sehr still und einen Moment lang herrschte eine sehr unangenehme Atmosphäre. Dann sprang unser Finanzvorstand Amy Hood auf und meldete sich als Freiwillige. Ihre Aufgabe: Sie sollte das Alphabet aufsagen, aber nach jedem Buchstaben eine Zahl folgen lassen, also A1B2C3 und so weiter. Und Dr. Gervais hakte neugierig nach: Warum waren denn nicht alle aufgesprungen? Hier handelte es sich doch um eine Gruppe Leistungsträger, oder? Hatten nicht alle gerade erklärt, sie wollten etwas Außergewöhnliches tun? Wir hatten keine PCs und keine Handys, deshalb blickten wir auf unsere Schuhe oder lächelten nervös unsere Kollegen an. Antworten auf diese Fragen waren schwer zu bekommen, obwohl sie doch direkt unter der Oberfläche schlummerten. Angst – man könnte sich zum Gespött machen, man könnte etwas falsch machen oder man könnte den Eindruck zerstören, der klügste Kopf in dieser Runde zu sein. Arroganz – ich bin zu wichtig für derartige Spielchen. An den Satz „Was für eine blöde Frage!“ hatten wir uns schon gewöhnt.
Aber Dr. Gervais ermutigte uns. Die Leute entspannten sich zunehmend, hier und da brach Gelächter aus. Draußen wich der graue Morgen der Sommersonne und einer nach dem anderen ergriff das Wort. Wir erzählten uns von unseren persönlichen Leidenschaften und Überzeugungen. Dann sollten wir darüber nachdenken, wer wir sind, sowohl in unserem Privatleben als auch bei der Arbeit. Was verbindet unsere berufliche mit unserer privaten Identität? Es wurde über Spiritualität gesprochen, über katholische Wurzeln, über das Studium konfuzianischer Lehren. Wir sprachen über unsere Probleme als Eltern und unsere unermüdliche Leidenschaft für die Entwicklung von Produkten, die Menschen sowohl bei der Arbeit als auch in ihrer Freizeit liebend gerne benutzen. Während ich zuhörte, wurde mir eines klar: Nach all den Jahren bei Microsoft war dies das erste Mal, dass ich miterlebt hatte, wie meine Kollegen nicht ausschließlich über geschäftliche Belange sprachen, sondern auch über sich selbst. Als ich mich im Raum umsah, bemerkte ich hier und da sogar ein paar feuchte Augen.
Dann war ich dran. Ich schöpfte aus dem tiefen Brunnen meiner Emotionen und begann zu sprechen. Ich hatte über mein Leben nachgedacht – über meine Eltern, meine Frau, meine Kinder, meine Arbeit. Es war ein langer Weg gewesen, zu diesem Punkt zu gelangen, an dem ich nun stand. In Gedanken reiste ich in meine Vergangenheit – ich als Kind, als junger Mann, der in die USA einreist, als Ehemann, als Vater eines Kindes mit speziellen Bedürfnissen, als Programmierer, der Technik entwickelte für Milliarden Menschen in aller Welt, und ja, auch als obsessiver Cricket-Fan, der vor langer Zeit von einer Profikarriere träumte. All diese Teile meines Ichs kamen in dieser neuen Rolle zusammen, einer Rolle, für die ich all meine Leidenschaft, all meine Fähigkeiten und all meine Wertvorstellungen brauchen würde – ebenso wie die Herausforderungen, die auf uns warteten, jeden in diesem Raum und auch alle anderen Mitarbeiter von Microsoft in Beschlag nehmen würden.
Wir verbringen so viel Zeit bei der Arbeit, dass es fast unmöglich ist, ihr keine tiefere Bedeutung beizumessen, erklärte ich der Runde. Wenn wir das, wofür wir als Einzelne stehen, mit den Fähigkeiten des Unternehmens in Einklang bringen, gibt es fast nichts, was wir nicht erreichen können. So lange ich mich zurückerinnern kann, war ich immer ausgesprochen wissbegierig gewesen – ich wollte lernen, sei es beim Lesen einer Gedichtzeile, sei es im Gespräch mit einem Freund oder sei es durch die Lektion eines Lehrers. Mit der Zeit und nach einer Vielzahl unterschiedlicher Erfahrungen reifte in mir die persönliche Überzeugung und Leidenschaft, neue Ideen mit einem zunehmenden Gefühl der Empathie für andere Menschen in Einklang zu bringen. Ideen finde ich aufregend und Empathie ist mein Anker und mein Zentrum. Ironischerweise war es fehlende Empathie, wegen der ich vor über 20 Jahren beinahe meine Möglichkeit vertan hätte, mich Microsoft anzuschließen. Ich entsinne mich, dass ich einen ganzen Tag lang Bewerbungsgespräche mit verschiedenen Führungskräften aus dem Softwarebereich geführt hatte, die sehen wollten, wie belastbar ich war und was ich intellektuell zu bieten hatte. Dann traf ich Richard Tait, einen aufstrebenden Manager, der später das Spieleunternehmen Cranium gründen sollte. Richard schrieb kein Softwareproblem aufs Whiteboard und er wollte auch nicht meine Meinung zu einem komplexen Code-Szenario hören. Er fragte mich nicht nach früheren Erfahrungen oder welche Abschlüsse ich vorzuweisen hatte. Er stellte mir bloß eine einzige, ganz simple Frage:
„Stellen Sie sich vor, Sie sehen ein Baby auf der Straße liegen. Das Baby weint. Was tun Sie?“, fragte er mich.
„Ich wähle den Notruf“, erwiderte ich, ohne groß nachzudenken.
Richard führte mich aus seinem Büro, legte seinen Arm um mich und meinte zu mir: „Ich glaube, Mr. Nadella, Sie brauchen etwas mehr Einfühlungsvermögen. Wenn ein Baby weinend auf der Straße liegt, dann nehmen Sie es auf den Arm.“
Aus irgendeinem Grund habe ich den Posten trotzdem bekommen, aber an Richards Worte denke ich bis heute zurück. Damals wusste ich noch nicht, dass ich bald darauf eine zutiefst persönliche Lektion in Sachen Einfühlungsvermögen erhalten würde.
Denn nur wenige Jahre später kam unser erstes Kind Zain auf die Welt. Meine Frau Anu und ich sind beide Einzelkinder, Sie können sich also vorstellen, wie groß die Vorfreude der werdenden Großeltern war. Mit Hilfe ihrer Mutter hatte Anu das Haus mit allem ausgestattet, was ein glückliches, gesundes Neugeborenes brauchte. Kopfzerbrechen bereitete uns höchstens, wie rasch Anu nach dem Mutterschutz ihre florierende Karriere als Architektin wiederaufnehmen könnte. Wie alle angehenden Eltern machten wir uns Gedanken, wie sich wohl unsere Wochenenden und unsere Urlaube verändern würden.
Eines Abends während der 36. Schwangerschaftswoche fiel Anu auf, dass das Baby sich nicht so häufig bewegte, wie sie es gewohnt war. Wir fuhren in die Notaufnahme eines in der Nachbarschaft in Bellevue gelegenen Krankenhauses und rechneten damit, dass man höchstens ein paar Routine-Untersuchungen durchführen würde und es sich vermutlich bloß um einen Fall überängstlicher junger Eltern handelte. Ich glaube, ich ärgerte mich sogar ziemlich darüber, wie lange wir in der Notaufnahme warten mussten. Nach der Untersuchung waren die Ärzte jedoch dermaßen beunruhigt, dass sie eine Notentbindung per Kaiserschnitt durchführten. Zain kam am 13. August 1996 um 23:29 Uhr zur Welt und wog gerade einmal drei Pfund. Er weinte nicht.
Vom Krankenhaus in Bellevue verlegte man ihn über den Lake Washington ins Kinderkrankenhaus von Seattle, in eine hochmoderne Intensivstation für Neugeborene. Anu erholte sich langsam von der schwierigen Geburt und ich verbrachte die Nacht mit ihr im Krankenhaus. Am nächsten Morgen machte ich mich sofort auf den Weg zu Zain – ich ahnte noch nicht, wie grundlegend sich unser Leben verändern sollte. Während der nächsten Jahre lernten wir mehr über die Schäden, die eine intrauterine Asphyxie anrichtet. Zain würde einen Rollstuhl benötigen und muss wegen seiner infantilen Zerebralparese sein Leben lang von uns betreut werden. Ich war am Boden zerstört, aber traurig war ich vor allem darüber, was uns beiden, mir und Anu, widerfahren war. Glücklicherweise half mir Anu zu erkennen, dass es nicht darum ging, was mir zugestoßen war, sondern darum, möglichst gut nachvollziehen zu können, wie es Zain ging, Empathie für seinen Schmerz und seine Lage zu entwickeln und gleichzeitig unserer elterlichen Verantwortung gerecht zu werden.
Ehemann und Vater zu sein ist für mich eine emotionale Herausforderung. Es hat mir geholfen, ein besseres Verständnis für Menschen mit allen möglichen Fähigkeiten zu entwickeln und zu erkennen, wie weit man mit Liebe und menschlichem Erfindungsgeist kommt. Dabei entdeckte ich für mich auch die Lehren von Indiens berühmtestem Sohn – Gautama Buddha. Ich bin nicht sonderlich religiös, aber damals war ich auf der Suche und interessierte mich dafür, warum Buddha trotz seiner indischen Wurzeln in diesem Land nur wenige Anhänger gefunden hat. Ich fand heraus, dass Buddha nicht die Absicht hatte, eine Weltreligion zu begründen, ihm ging es vielmehr darum, herauszufinden, was der Ursprung allen menschlichen Leidens ist. Ich lernte, dass nur das Auf und Ab des Lebens einen dazu bringt, Mitgefühl zu entwickeln, und dass man nur dann nicht (oder zumindest weniger) leidet, wenn man sich stets seiner Vergänglichkeit bewusst ist. Mir ist noch deutlich vor Augen, wie sehr mir die „Unvergänglichkeit“ von Zains Zustand in den ersten Jahren zu schaffen machte. Doch die Dinge befinden sich in einem steten Fluss. Sobald man sich mit der Vergänglichkeit des Lebens abgefunden hat, kann man mehr Gelassenheit entwickeln. Das Auf und Ab des Lebens bringt einen dann nicht so schnell aus der Fassung. Erst dann ist man imstande, ein tiefes Gefühl der Empathie und des Mitgefühls für alles Lebende zu entwickeln. Der Informatiker in mir liebte diese übersichtliche Handlungsanweisung für das Leben.
Nicht dass wir uns falsch verstehen: Ich bin keineswegs perfekt und stehe auch ganz gewiss nicht kurz davor, Erleuchtung zu finden oder das Nirwana zu erreichen. Meine Lebenserfahrung hat mir allerdings geholfen, immer mehr Mitgefühl für einen zunehmend größeren Kreis Menschen zu empfinden. Ich empfinde Mitgefühl für Menschen mit Behinderungen. Ich empfinde Mitgefühl für Menschen, die in ihren Stadtvierteln, im amerikanischen „Rust Belt“ oder in asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Entwicklungsländern ums tägliche Überleben kämpfen. Ich empfinde Mitgefühl für Menschen, die sich als Betreiber kleiner Unternehmen durchschlagen. Ich empfinde Mitgefühl für alle Menschen, die wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Ansichten oder ihrer Liebe zu anderen Menschen Opfer von Gewalt und Hass werden. Meine Passion ist, dass Mitgefühl mir als Richtschnur meines Handelns diene – bei den Produkten, die wir herausbringen, bei neu zu erschließenden Märkten und natürlich bei den Mitarbeitern, Kunden und Partnern, mit denen wir arbeiten.
Als Technologe kann ich natürlich aus eigener Erfahrung berichten, welch wichtige Rolle die EDV dabei spielen kann, das Leben der Menschen zu verbessern. Zains Sprachtherapeut entwickelte gemeinsam mit drei Highschool-Schülern eine Windows-App, mit der Zain selbst Musikstücke auswählen kann. Zain liebt Musik und sein Geschmack umfasst diverse Jahrzehnte, Genres und Künstler, von Leonard Cohen über Abba bis hin zu Nusrat Fateh Ali Khan. Er wollte in seiner Musiksammlung hin- und herspringen können und sein Zimmer mit den Klängen beschallen, nach denen ihm gerade war. Doch leider konnte er das nicht alleine, sondern musste immer darauf warten, dass jemand kam und ihm half. Das war für ihn genauso frustrierend wie für uns. Drei Highschool-Schüler, die einen Informatik-Kurs belegt hatten, hörten von dem Problem und boten ihre Hilfe an. Jetzt hat Zain an seinem Rollstuhl einen Sensor, den er problemlos mit dem Kopf anstupsen kann, um durch seine Musiksammlung zu blättern. Zu wie viel Freiheit und Glück diese drei mitfühlenden Teenager meinem Sohn verholfen haben!
Dasselbe Einfühlungsvermögen inspirierte mich bei meiner Arbeit. Um bei dem Meeting des Führungsteams meinen Beitrag zum Abschluss zu bringen, erzählte ich die Geschichte eines Projekts, das wir bei Microsoft gerade fertiggestellt hatten. Einfühlungsvermögen hatte in Verbindung mit neuen Ideen zum Entstehen einer Eye-Tracking-Technologie geführt, einer bahnbrechenden natürlichen Nutzeroberfläche, die Menschen mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS) und Zerebralparese zu mehr Unabhängigkeit verhilft. Die Idee war ein Produkt des allerersten von Microsoft veranstalteten Mitarbeiter-Hackathons, der sich als Nährboden für Kreativität und Träume erwies. Eines der am Hackathon teilnehmenden Teams hatte dieses Einfühlungsvermögen entwickelt, da es einige Zeit mit Steve Gleason verbracht hatte. Steve ist ein ehemaliger Football-Profi, der an ALS erkrankt ist und nun im Rollstuhl sitzt. Wie mein Sohn auch benutzt Steve PC-gestützte Technologie zur Verbesserung seines Alltags. Eines können Sie mir glauben: Ich weiß, was diese Technologie für Steve, für Millionen Menschen in aller Welt und auch für meinen Sohn daheim bedeutet.
An diesem Tag begannen sich unsere Rollen innerhalb des SLT zu verändern. Unsere Führungskräfte waren nicht länger nur bei Microsoft angestellt – ihnen allen hatte sich eine höhere Berufung eröffnet: Sie sollten bei Microsoft ihre persönlichen Leidenschaften verfolgen und das Unternehmen dazu nutzen, andere dazu zu befähigen, Verantwortung zu übernehmen. Es war ein emotionaler und anstrengender Tag, aber er gab einen neuen Ton vor und daraus resultiert eine engere Zusammenarbeit des Führungsteams. Am Ende des Tages gelangten wir alle zu derselben drastischen Erkenntnis: Es würde nicht den einen Manager, die eine Gruppe oder den einen CEO geben, der als Held von Microsofts Erneuerung Geschichte schreibt. Wenn es tatsächlich eine Erneuerung geben sollte, dann würden wir alle mit unserer ganzen Persönlichkeit daran mitwirken müssen. Die kulturelle Transformation würde ein langwieriger und mühsamer Prozess werden und es würde dauern, bevor dieser Prozess erste Früchte trug.
In diesem Buch geht es um Wandel – den Wandel, der heute in mir stattfindet und in unserem Unternehmen, angespornt von einem Gefühl der Empathie und dem Wunsch, andere zu eigenständiger und eigenverantwortlicher Arbeit zu befähigen. Vor allem aber geht es um den Wandel, den wir im Zuge der bislang umwälzendsten Technologiewelle der Geschichte erleben – der einsetzenden Epoche des ubiquitären Computings und der Umgebungsintelligenz. Es geht in diesem Buch darum, wie sich Menschen, Organisationen und Gesellschaften in ihrem ständigen Streben nach neuer Energie, neuen Ideen, nach neuer Relevanz und nach Erneuerung insgesamt transformieren können und müssen (wie sie den „Refresh“-Button drücken). Letztlich geht es um uns Menschen und diese einzigartige Eigenschaft namens Einfühlungsvermögen. In einer Welt, in der zahlreiche neue Technologien den Status quo wie nie zuvor verändern, gewinnt dieses Einfühlungsvermögen zunehmend an Bedeutung. „Die Zukunft zeigt sich uns, lange bevor sie eintritt“, schrieb der mystische österreichische Lyriker Rainer Maria Rilke. Existenzielle Poesie kann ebenso erhellend und aufschlussreich sein wie eleganter Softwarecode für Maschinen. Rilke spricht aus einem anderen Jahrhundert zu uns – er sagt, dass die Zukunft in uns selbst liegt und dadurch bestimmt wird, welchen Kurs jeder von uns heute einschlägt. Diesen Kurs und die dafür nötigen Entscheidungen möchte ich hier beschreiben.
In diesem Buch werden Sie drei Erzählsträngen folgen. Als Erstes möchte ich im Vorwort über meine persönliche Verwandlung berichten – wie ich von Indien in mein neues Zuhause nach Amerika kam, mit Zwischenstopps im „Heartland“ (der Kernregion der USA), im Silicon Valley und bei einem Microsoft, das damals eine Vormachtstellung innehatte. Teil zwei konzentriert sich auf den Neustart bei Microsoft nach meiner überraschenden Ernennung zum CEO, der auf Bill Gates und Steve Ballmer folgte. Der Wandel von Microsoft unter meiner Führung ist noch nicht abgeschlossen, aber ich bin stolz auf das, was wir bereits erreicht haben. Im dritten und letzten Akt stelle ich die These auf, dass wir vor einer vierten industriellen Revolution stehen, bei der die Intelligenz von Maschinen mit der des Menschen konkurrieren wird. Wir werden uns mit einigen spannenden Fragen beschäftigen: Welche Rolle wird der Mensch künftig spielen? Wird Ungleichheit der Vergangenheit angehören oder wird sie gar zunehmen? Wie kann der Staat helfen? Welche Rolle übernehmen multinationale Konzerne und ihr Management? Wie werden wir als Gesellschaft den „Refresh“-Button anklicken?
Dieses Buch zu schreiben, war sehr aufregend für mich, aber ich habe auch ein wenig gezögert. Wen interessiert denn schon, wie es mir ergangen ist? Ist es nach nur wenigen Jahren als Microsoft-CEO nicht etwas verfrüht, darüber zu schreiben, wie wir unter meiner Führung triumphierten oder scheiterten? Seit diesem Meeting haben wir große Fortschritte erzielt, aber der Weg, der vor uns liegt, ist noch sehr lang. Deshalb interessiert es mich auch nicht, meine Memoiren zu schreiben – das hebe ich mir für die Zeit auf, wenn ich alt und grau bin. Und dennoch: Einige Argumente haben mich überzeugt, einen Teil meines jetzigen Lebensabschnitts dem Schreiben zu widmen. Ich habe mich verpflichtet gefühlt, unsere Geschichte von meiner Warte aus festzuhalten. Gleichzeitig befinden wir uns in einer Phase gewaltigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbruchs, der durch den bahnbrechenden technischen Fortschritt noch beschleunigt wird. Cloud-Computing, Sensoren, Big Data, Maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz (KI), Mixed Reality, Robotik – die Kombination all dieser Dinge lässt einen sozioökonomischen Wandel erahnen, der direkt aus einem Science-Fiction-Roman zu stammen scheint. In Bezug auf die Frage, was die kommende Welle intelligenter Technologien für Auswirkungen haben wird, gibt es ein stetig breiter werdendes Spektrum an Debatten. Der Pixar-Film WALL-E beispielsweise zeichnet ein Zukunftsszenario, in dem für die Menschheit endlose Entspannung angesagt ist, während Roboter die harte Arbeit erledigen. Am anderen Ende des Spektrums warnen Forscher wie Stephen Hawking vor dem Weltuntergang.
Am meisten überzeugte mich das Argument, dieses Buch für meine Kollegen zu schreiben – die Microsoft-Belegschaft – und für unsere Millionen Kunden und Partner. Schließlich habe ich an jenem kalten Februartag im Jahr 2014, als das Board of Directors von Microsoft meine Ernennung zum CEO verkündete, die Unternehmenskultur ganz oben auf unsere Tagesordnung gesetzt. Wir müssten die Seele Microsofts wiederfinden, sagte ich, denn sie sei der Grund dafür, dass es uns gibt. Ich habe inzwischen begriffen, worin meine Hauptaufgabe besteht: Ich muss unsere Kultur so gestalten und pflegen, dass 100.000 inspirierte Köpfe – die Mitarbeiter von Microsoft – unsere Zukunft gestalten können. Es gibt so viele Bücher von Führungspersönlichkeiten, in denen sie auf ihre Amtszeit zurückschauen, doch nur wenige entstehen mitten im Gefecht. Was, wenn wir die Reise gemeinsam antreten könnten, gemeinsam die Gedanken eines amtierenden CEOs verfolgen, während um ihn herum eine gewaltige Umwälzung in Gang ist? Microsofts ursprüngliche Daseinsberechtigung, die Wurzeln des Unternehmens, war das Streben nach Demokratisierung der EDV. Jeder sollte Zugriff auf Computer bekommen. „Ein Computer auf jedem Schreibtisch und in jedem Haus“, das war unsere ursprüngliche Mission und die Basis unserer Unternehmenskultur. Doch mittlerweile hat sich vieles geändert. Inzwischen stehen Computer auf fast jedem Schreibtisch in fast jedem Haus und die meisten Menschen besitzen ein Smartphone. In vielerlei Hinsicht waren wir erfolgreich, aber bei viel zu vielen anderen Aspekten hinkten wir hinterher. Der PC-Absatz hatte sich verlangsamt und im Mobilfunkbereich lagen wir deutlich hinten. Auch im Suchgeschäft waren wir abgeschlagen und mussten bei Spielen neues Wachstum erzielen. Es galt, mehr Empathie für unsere Kunden und deren unausgesprochene und unerfüllte Wünsche zu entwickeln. Es war an der Zeit, den „Refresh“-Button zu betätigen.
Nach 22 Jahren als Programmierer und Führungskraft bei Microsoft hatte ich die Suche nach einem neuen CEO eher mit philosophischem Gleichmut als mit Spannung verfolgt. Selbst als die Gerüchteküche zu brodeln begann, was die Nachfolge Steves anging, ignorierten meine Frau Anu und ich die Spekulationen größtenteils. Wir hatten zu Hause viel zu viel damit zu tun, uns um Zain und unsere beiden Töchter zu kümmern. Und bei der Arbeit war ich voll darauf konzentriert, die Microsoft Cloud in einem hart umkämpften Geschäftsfeld weiter auf Wachstumskurs zu halten. Das Board würde schon jemand Passendes finden, davon war ich überzeugt. Wenn ich es sein sollte – großartig! Aber wenn das Board jemand anderem das Vertrauen schenken sollte, würde ich ebenso gern für diese Person arbeiten. Tatsächlich sagte mir eines der Board-Mitglieder während des Auswahlprozesses, wenn ich CEO werden wolle, müsse ich ganz deutlich machen, dass ich scharf auf den Job sei. Ich dachte darüber nach und sprach sogar mit Steve darüber. Er lachte und meinte bloß: „Es ist zu spät, sich zu ändern.“ Ein derartiges Maß an persönlichem Ehrgeiz an den Tag zu legen, das hätte mir einfach nicht entsprochen.
Am 24. Januar 2014 schickte mir John Thompson eine E-Mail mit der Bitte um ein Gespräch. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. John Thompson war zu diesem Zeitpunkt der Lead Independent Director, also das ranghöchste unabhängige Board-Mitglied, und verantwortlich für die Suche nach einem neuen CEO. Ich nahm an, er wolle mich auf den neuesten Stand bringen, wie weit das Board in seinem Entscheidungsprozess sei. Als mich John an diesem Abend anrief, fragte er mich zuerst, ob ich sitze. Das tat ich nicht, vielmehr spielte ich gerade mit einem Kookaburra-Cricketball, wie ich es so oft mache, wenn ich bei der Arbeit das Telefon auf Lautsprecher gestellt habe. John eröffnete mir, ich solle der neue Microsoft-CEO werden. Ich brauchte einige Minuten, um zu verdauen, was er mir gerade mitgeteilt hatte. Ich sei geehrt, dankbar und aufgeregt, erklärte ich ihm. Diese Aussage kam ganz spontan, fasste aber perfekt zusammen, wie ich mich fühlte. Wochen später erklärte ich Medienvertretern, wir müssten uns klarer ausrichten, schneller agieren und unsere Unternehmenskultur und unser Geschäft weiter umkrempeln. Eines stand für mich fest: Wenn ich effektiv führen wollte, musste erst ich in einigen Punkten Klarheit finden und dann alle anderen, die bei Microsoft beschäftigt sind: Warum existiert Microsoft? Und was ist meine Aufgabe in dieser neuen Rolle? Diesen Fragen sollte sich jeder in jedem Unternehmen stellen. Wenn ich mir diese Fragen nicht stellte oder sie nicht wahrheitsgemäß beantwortete, würde ich dann nicht frühere Fehler fortführen und – schlimmer noch – unaufrichtig sein? Das war meine Sorge. Jede Person, jede Organisation, ja, die Gesellschaft an sich gelangt immer wieder an einen Punkt, an dem sie es sich selbst schuldig ist, den „Refresh-Button“ zu betätigen – um frische Energie zu sammeln, sich zu erneuern, die eigene Ausrichtung zu verändern und die gesteckten Ziele zu überdenken. Leider ist das nicht immer so einfach wie das Aktualisieren einer Internetseite im Webbrowser.
Wir leben in einem Zeitalter regelmäßiger Updates und ständig abrufbarer Technologien, da wirkt es altertümlich, von einem „Refresh“-Button zu reden. Und dennoch: Wenn es richtig betrieben wird und sich Menschen und Kulturen neu erschaffen und beleben, kann das den Auftakt für eine Renaissance darstellen. Sportvereine tun das. Apple ist es gelungen. Auch Detroit ist gerade dabei. Eines Tages werden aufstrebende Unternehmen wie Face-book nicht länger wachsen, und dann werden auch sie keine andere Wahl haben.
Also lassen Sie mich ganz von vorne anfangen, und zwar mit meiner eigenen Geschichte. Was für ein CEO stellt schon existenzielle Fragen wie: „Warum existieren wir überhaupt?“ oder „Warum sind Konzepte wie Kultur, Ideen und Empathie mir überhaupt so wichtig?“. Mein Vater war ein Beamter mit marxistischen Ansichten, meine Mutter eine Sanskrit-Lehrerin. Meinem Vater habe ich viel zu verdanken, meine intellektuelle Neugier beispielsweise und meine Geschichtsbegeisterung, aber mehr noch war ich das Kind meiner Mutter. Ihr war es stets sehr wichtig, dass ich glücklich bin und dass ich selbstbewusst und ohne Bedauern im Hier und Jetzt lebe. Sie arbeitete hart im Haushalt und im Klassenzimmer des Colleges, an dem sie die alte Sprache, Literatur und Philosophie Indiens lehrte. Sie bereitete uns ein fröhliches Zuhause.
Und dennoch: In meinen frühesten Erinnerungen sehe ich meine Mutter darum kämpfen, weiter arbeiten zu können und ihre Ehe vor dem Scheitern zu bewahren. Sie war die Konstante, die ausgleichende Kraft in meinem Leben, während mein Vater überlebensgroß war. Er wäre beinahe in die USA ausgewandert, an diesen weit entfernten Ort, der für eine Vielzahl an Möglichkeiten stand. Ihm war ein Fulbright-Stipendium für ein Doktoratsstudium in Wirtschaftswissenschaften angeboten worden. Diese Pläne wurden verständlicherweise sofort ad acta gelegt, als man ihm einen Posten beim Indian Administrative Service (IAS) anbot, dem höheren indischen Verwaltungsapparat. Wir schrieben die frühen 1960er-Jahre und Jawaharlal Nehru amtierte als Indiens erster Ministerpräsident, nachdem Gandhis historische Bewegung zu Indiens Unabhängigkeit von Großbritannien geführt hatte. Für die Generation, die nun in die Bürokratie einzog und an der Geburt einer neuen Nation mitwirkte, erfüllte sich ein Traum. Der IAS war praktisch ein Überbleibsel des alten Raj-Systems, das die Briten hinterlassen hatten, als sie 1947 die Kontrolle über das Land abgaben. Pro Jahr wurden nur etwa 100 junge Fachleute für den IAS ausgewählt und so verwaltete mein Vater schon in jungen Jahren einen Bezirk, in dem Millionen Menschen lebten. Während meiner Kindheit war er in vielen Bezirken des indischen Bundesstaats Andhra Pradesh stationiert. Ich erinnere mich an diverse Umzüge und daran, wie wir in den 1960ern und den frühen 1970er-Jahren in alten Kolonialgebäuden mitten im Nirgendwo lebten und jede Menge Zeit und Raum hatten. Es war ein Land im Umbruch.
Trotz aller Unruhefaktoren gab meine Mutter ihr Allerbestes, ihre Lehrkarriere fortzusetzen, mich großzuziehen und eine liebevolle Ehefrau zu sein. Als ich etwa sechs Jahre alt war, starb meine fünf Monate alte Schwester. Die Folgen für mich und meine Familie waren gewaltig. Meine Mutter konnte danach nicht mehr arbeiten. Ich glaube, der Tod meiner Schwester war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Sie zu verlieren, dazu die Aufgabe, mich großzuziehen und gleichzeitig im Berufsleben zu stehen, während mein Vater an weit entfernten Orten arbeitete – das war einfach zu viel. Sie hat sich bei mir nie deswegen beklagt, aber ich denke oft über ihren Lebensweg nach, vor allem vor dem Hintergrund der Diversitätsdebatten, die heute in der IT-Branche geführt werden. Wie jeder andere auch wollte und verdiente sie es, auf nichts verzichten zu müssen. Aber die an ihrem Arbeitsplatz herrschende Kultur in Kombination mit den damals in Indien geltenden gesellschaftlichen Normen machten es ihr unmöglich, ein Familienleben mit beruflichen Leidenschaften zu vereinbaren.
Unter den Kindern der IAS-Väter herrschte ein erbarmungsloser Konkurrenzkampf. Den unerbittlichen Aufnahmetest bestanden zu haben, bedeutete für einige der IAS-Väter, dass sie fürs Leben ausgesorgt hatten. Jetzt würden sie nie wieder eine Prüfung bestehen müssen. Mein Vater sah das anders, das bestandene Examen war für ihn nur der Auftakt für noch wichtigere Prüfungen. Ihm war es wichtig, sein Leben lang zu lernen, aber im Gegensatz zum Großteil meiner gleichaltrigen Kameraden bekam ich das nicht zu spüren. Sie wurden von ihren leistungsorientierten Eltern massiv unter Druck gesetzt, Erfolge zu erzielen, aber meine Mutter war das genaue Gegenteil einer „Tiger-Mutter“. Sie setzte mich nie unter Druck, ihr einziger Wunsch war, dass ich glücklich bin.
Mir passte das ausgesprochen gut. Als Kind war mir so ziemlich alles egal, mit einer Ausnahme – Cricket. Als mein Vater einmal ein Karl-Marx-Poster in meinem Zimmer aufhängte, brachte meine Mutter als Erwiderung daneben eines von Lakshmi an, der indischen Göttin des Überflusses und der Zufriedenheit. Die widersprüchlichen Botschaften waren ganz eindeutig: Mein Vater wünschte sich von mir intellektuellen Ehrgeiz, meine Mutter wollte, dass ich glücklich bin, nicht der Gefangene eines Dogmas. Und ich? Mich interessierte nur ein einziges Poster – das meines Cricket-Helden Motganhalli Laxminarsu Jaisimha, dem Star-Spieler aus Hyderabad, der für sein jungenhaftes gutes Aussehen und seine Eleganz auf dem Feld und abseits davon berühmt war.
Rückblickend ist mir klar, dass mich sowohl die Begeisterung meines Vaters für intellektuelles Engagement beeinflusst hat als auch der Wunsch meiner Mutter, dass mir ein ausgeglichenes Leben geschenkt sein möge. Und bis heute ist Cricket meine große Leidenschaft. Das Spiel mag in England erfunden worden sein, aber nirgendwo ist die Begeisterung für Cricket größer als in Indien. Ich war gut genug, um für meine Schule in Hyderabad spielen zu dürfen, die auf eine lange und leidenschaftliche Cricket-Tradition zurückblickt. Ich habe als Off-Spin-Bowler gespielt, beim Baseball entspräche das einem Pitcher, der stark ausbrechende Curveballs wirft. Cricket lockt geschätzt 2,5 Milliarden Fans weltweit an, Baseball kommt auf gerade einmal eine halbe Milliarde. Beides sind wunderbare Sportarten mit leidenschaftlichen Fans, und es wurde bereits viel über die Anmut, die Spannung und die Komplexität des Spiels geschrieben. In seinem Roman Niederland beschreibt Joseph O’Neill die Schönheit des Spiels, wie die elf Spieler im Gleichklang auf den Batsman zulaufen, um dann wieder und wieder an ihren Ausgangspunkt zurückzukehren – „eine Wiederholung oder ein Lungenrhythmus, als würde das Feld durch seine leuchtenden Besucher atmen“. Als CEO kommt mir diese Metapher für eine Cricket-Mannschaft in den Sinn, wenn ich darüber nachdenke, welche Art von Kultur wir benötigen, um erfolgreich zu sein.
Zur Schule ging ich in vielen Teilen Indiens – Srikakulam, Tirupati, Masuri, Delhi und Hyderabad. Jede Region hinterließ ihre Eindrücke und ist bis heute ein Teil von mir. Masuri beispielsweise liegt im Norden Indiens an den Ausläufern des Himalajas auf knapp 2.000 Meter Höhe. Wann immer ich von meinem Heim in Bellevue aus auf den Mount Rainier blicke, muss ich an die Berge meiner Kindheit denken – Nanda Devi und Bandarpunch. Mein Kindergarten war der „Convent of Jesus and Mary“, Indiens älteste Mädchenschule, aber den Kindergarten dürfen auch Jungen besuchen.
Als ich 15 Jahre alt war, hatte das Umziehen ein Ende. Ich kam auf die Hyderabad Public School (HPS), die von Schülern aus ganz Indien besucht wurde. Ich bin dankbar dafür, dass wir so oft umgezogen sind – es hat mich gelehrt, mich rasch auf Neues einzustellen –, wirklich prägend war für mich aber der Besuch des Internats. In den 1970er-Jahren lag Hyderabad fernab des Geschehens, kein Vergleich mit der 6,8-Millionen-Einwohner-Metropole von heute. Was westlich Mumbais im Arabischen Meer lag, kannte ich damals nicht und es interessierte mich auch nicht – der Besuch der HPS war der größte Glücksfall meines Lebens.
Auf dem Internat gehörte ich zum Haus „Nalanda“, benannt nach einer uralten buddhistischen Universität. Die ganze Schule war multikulturell ausgerichtet, Muslime, Hindus, Christen und Sikhs lebten und lernten unter einem Dach – Mitglieder der Elite und Stammeskinder aus dem Landesinneren, die ein Stipendium erhalten hatten. Der Sohn des Chief Ministers (Regierungsoberhaupt der indischen Bundesstaaten) war ebenso an der HPS wie die Kinder von Bollywood-Stars. Die Kinder in meinem Schlafsaal kamen aus allen wirtschaftlichen Schichten des Landes. Es war ein erstaunlicher Gleichmacher – und ein denkwürdiger Augenblick.
Die Liste der Ehemaligen unterstreicht den Erfolg der Einrichtung: Shantanu Narayen (CEO von Adobe); Ajay Singh Banga (CEO von Mastercard); Syed B. Ali (Chef von Cavium Networks); Prem Watsa (Gründer von Fairfax Financial Holdings in Toronto); dazu Spitzenpolitiker, Filmstars, Sportler, Akademiker und Autoren – sie alle kamen aus dieser kleinen, dezentral gelegenen Schule. Meine akademischen Leistungen waren nicht überragend und die Schule war auch nicht bekannt dafür, Akademiker übermäßig zu fördern. Wenn man Physik studieren wollte, so studierte man eben Physik. Waren einem die Naturwissenschaften zu langweilig und man interessierte sich eher für Geschichte, dann studierte man Geschichte. Massiven Gruppenzwang, einen bestimmten Weg einzuschlagen, gab es nicht.
Ich war seit einigen Jahren an der HPS, als mein Vater zu den Vereinten Nationen nach Bangkok wechselte. Meine entspannte Einstellung stieß bei ihm auf wenig Gegenliebe, er sagte: „Ich melde dich ab und du absolvierst die 11. und 12. Klasse in einer internationalen Schule in Bangkok.“ Ich antwortete: „Vergiss es.“ Und so blieb ich in Hyderabad. Alle sagten: „Bist du verrückt, warum tust du das bloß?“ Aber ich hätte diese Schule unter keinen Umständen verlassen. Cricket war zu diesem Zeitpunkt ein wichtiger Teil meines Lebens. Der Besuch dieses Internats bescherte mir wunderschöne Erinnerungen und gab mir reichlich Selbstvertrauen.