Seit kurzem schläft Sheriff Lucian Wing im Büro. Seine Frau Clemmi hat ihn rausgeschmissen. Ein Sheriff, der seine häuslichen Probleme nicht im Griff hat, dem vertrauen die Bürger nicht. Und schon gar nicht traut ihm der neue Vorsitzende: ein Ehrgeizling von außerhalb, der keine Nerven zeigt für Wings Methode. Mehrfach sind junge Rowdys in seltsame Unfälle verwickelt; bei der Vernehmung später sind sie auffällig wortkarg und verlassen kurz darauf die Gegend. Der Sheriff sieht keinen Handlungsbedarf, schließlich sind im Ergebnis alle zufrieden. Aber der Vorsitzende lässt nicht locker, er wird richtig unangenehm.
Erneut lässt Castle Freeman seine lebenserfahrenen Hinterwäldler zu voller Form auflaufen und zeigt uns die Kehrseite des Pionierlandes durch eine meisterhafte literarische Verdichtung.
Nagel & Kimche E-Book
Castle Freeman
DER KLÜGERE LÄDT NACH
Roman
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
Nagel & Kimche
Das vierte Gebot: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, wie dir der HERR, dein Gott, geboten hat, auf dass du lange lebest und dass dir’s wohl gehe in dem Lande, das dir der HERR, dein Gott, geben wird.
5. Mose, 5:16
Das neue Arrangement
Sprinter
Die Glocke
DFK
Familiensachen
Der Elefantenfriedhof
Umsehen
Calamity Jane
Ein Kern aus Eisen
Deeskalation
Ein Grapefruitlöffel
Der Einschüchterer und das Infield
Steep Mountain
Die Situation
Nummer vier
Klick
Knackpunkt und Anmache
Der Hochsitz
Der Tod des Don
Der Tag der Versöhnung
Der Obstgarten
Scheiß-Sherlock-Holmes
Ganz neue Informationen
Schluss
Einmal sagte unsere Mutter: «Alle denken, dein Bruder ist der Schlaukopf in dieser Familie. Aber das stimmt nicht. Der Schlaukopf bist du. Du bist viel intelligenter als Paul. Doch, doch. Die Sache ist nur: Du bist stinkfaul. Paul nicht.»
Hätte sie das nicht zu mir, sondern zu Paul gesagt, dann hätte sie stink weggelassen. Wenn Sie den Unterschied verstehen, würdigen, sich auf der Zunge zergehen lassen können, wird Ihnen diese Geschichte vielleicht gefallen. Wenn nicht, tja, dann sollten Sie sich vielleicht lieber nach was anderem umsehen.
Das hatte Clemmie offenbar getan: Sie hatte sich nach was anderem umgesehen. Oder was anderes hatte sich nach ihr umgesehen. Ich wusste nicht, wie es gelaufen war. Ich wusste nur, dass Clemmie und ihr neuer alter Freund Jake viel Zeit miteinander verbrachten, und das seit mittlerweile sechs oder acht Wochen. Ich wusste, dass Jake in unserem neuen Haus am Diamond Mountain ein und aus ging. Wesentlich öfter als ich. War er bei Clemmie eingezogen? War mein Haus jetzt sein Haus? Das wusste ich ebenfalls nicht, aber ich würde es rausfinden. Ich würde es rausfinden.
Jedenfalls: Jemand leistete ihr Gesellschaft, und dieser Jemand war nicht ich. Während Clemmie und Jake sich in unserem Haus vergnügten, dem Haus, das wir gemeinsam gebaut hatten, kampierte ich im Büro auf dem durchgesessenen Sofa von Sheriff Ripley Wingate, meinem ehemaligen Boss. Bei feuchtem Wetter roch das Ding noch immer nach Wingates billigen Zigarren. Ich hatte dort eine Kaffeemaschine, eine Kochplatte und einen Topf. Ich hatte das Sofa und einen Schlafsack. Ich hörte Radio, und wenn ich nicht schlafen konnte, ging ich nach vorn und spielte Dame mit dem Fürsten der Finsternis – so nannten wir Walt, den Nachtfunker. Um fünf Cent pro Spiel.
Ja, zu der Zeit, als das alles passiert ist, hatten wir ein ganz neues Arrangement: Clemmie und Jake sägten mein Holz in dem, was mal mein Haus gewesen war, und ich kampierte in meinem Büro in Fayetteville und machte meinen Job.
Ein paar Worte dazu: Es ist kein Job wie jeder andere. Es ist kein normaler Job. Ich bin der County Sheriff in unserem Tal. Ich mag meine Arbeit. Unser Tal ist ein schönes Tal. Es ist ein gutes Tal. Und es ist ruhig, meistens. Die Leute denken, ich tue nichts. Aber es gibt Menschen, die nichts tun, und andere, die auch nichts tun, das aber richtig. Und die Letzteren braucht man überall, und sei es nur, damit sie dem einen oder anderen ab und zu einen kleinen Stubs geben oder die richtige Stelle zur rechten Zeit mit einem Tropfen Öl versehen. Der Sheriff kann stubsen. Der Sheriff hat ein Ölkännchen.
Noch etwas über unser Tal. Es ist ein schönes Tal, ein gutes Tal und so weiter. Aber es ist nicht groß. Das heißt, der Sheriff und alle anderen schwimmen im selben Teich, wie die Frösche im Frühling. Je mehr man herumläuft, desto mehr läuft man sich über den Weg. Darum können Arrangements wie das, das Clemmie und ich anscheinend getroffen hatten, manchmal ein bisschen misslich sein. Manchmal ist es, als würde man versuchen, in einer Telefonzelle Fußball zu spielen. Dann braucht man neue Regeln. Aber wie lauten die?
«Lucian? Hallo, Lucian», sagte Jake. «Wir sind doch immer gut miteinander ausgekommen. Ich will keinen Ärger mit dir. Aber du weißt ja, wie die Dinge sich manchmal entwickeln.»
Jake kam mit einem Sixpack und einer Packung Tiefkühlkrabben aus dem Laden.
«Die Dinge?», fragte ich.
«Äh, ja, die Dinge. Du weißt schon.»
«Clemmie isst so was nicht», sagte ich. «Sie mag keine Krabben.»
«Die sind für die Katze», sagte er.
«Das Bier auch?»
«Hm?»
«Das Bier. Ist das auch für die Katze?»
«Äh, nein», sagte Jake. «Das Bier ist für mich.»
«Und nichts für die kleine Frau?»
«Hm?»
«Nichts für Clemmie? Für Misses Wing? Für meine Frau? Was soll sie essen?»
«Äh, ich weiß nicht», sagte Jake. «Irgendwas, würde ich sagen.»
«Würde ich auch sagen. Tolle Köchin, oder?»
«Hm?»
«Okay, Jake», sagte ich. «Wir sehen uns.»
«Freut mich, dass du mir das nicht übelnimmst.»
«Natürlich nicht», sagte ich.
«Soll ich dir mal was sagen? Ich hasse diese Scheißkatze.»
Das war Jake. Clemmies Neuer. «Die kommt schon zurück», sagte Mom. «Clemmie Jessup hatte noch nie was im Kopf. Und jetzt hat sie sich mit Jake Stout eingelassen? Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Er ist noch dümmer als sie. Wenn man ihre beiden Köpfe verbindet und auf den Schalter drückt, bringen sie nicht mal eine Taschenlampe zum Leuchten. Sobald Clemmie das merkt, ist sie wieder da. Glaub mir, sie hat nichts im Kopf.»
Unsere Mutter hält viel auf Köpfe und das, was darin ist.
«Was willst du damit eigentlich sagen?», fragte ich sie. «Wenn Clemmie so dumm ist, was bin dann ich?»
«Intelligenter als Paul», sagte Mom.
Ich war in West Galilee und half meinem alten Freund Gus Cooper, einen Kamin zu mauern. Solche Gelegenheitsarbeiten mache ich ziemlich oft, öfter, als man meinen sollte. Ich mache sie, weil ich muss. In früheren Zeiten (und damit meine ich das gute alte England) war der Sheriff eines Countys ein reicher und mächtiger Mann. Er fuhr in einer schicken Kutsche zur Arbeit, und Diener und Vorreiter räumten ihm den Weg frei. Das war einmal. Heutzutage wird der Sheriff dafür bezahlt, die Polizeiarbeit in ländlichen Gemeinden zu übernehmen, die zu klein oder (wie sie behaupten) zu arm sind, um sich eine eigene Polizei leisten zu können. Die Gemeinderäte dieser Orte geben nicht gern Geld aus. Sie schneiden den Speck sehr dünn. Sie wollen Sicherheit, sehen aber nicht ein, warum der Sheriff und seine Deputys öfter als einmal täglich essen oder Holz für den Winter haben sollen. Diese Gemeinden müssen sparen, sagen sie einem, und damit meinen sie, dass man selbst ebenfalls sparen soll. Also keine Kutsche, keine Diener. Nein, der Sheriff von Nottingham bin ich nicht. Und darum verdiene ich mir etwas Geld nebenher, indem ich Gelegenheitsarbeiten für irgendwelche örtlichen Baufirmen erledige: Maurer-, Maler-, Zimmerer-, Dachdeckerarbeiten, was eben gerade anfällt. Ich schlage Nägel ein und trage Sachen von hier nach da. Nichts allzu Anspruchsvolles. Keine Rohre. Keine elektrischen Leitungen.
«Dein Boss ist gerade gekommen», sagte Gus. Er war auf dem Dachfirst, beim Kamin. Ich stand am Fuß der Leiter im Hof, mischte den Mörtel und wartete darauf, dass Gus neuen brauchte. Ich konnte die Zufahrt nicht sehen, Gus aber schon.
«Wer?», fragte ich.
«Du weißt schon. Der große Vorsitzende.»
«Das ist nicht mein Boss», sagte ich.
«Ich dachte, er ist der Boss von allen.»
«Sag ihm, ich bin nicht da.»
«Aber da steht dein Wagen», sagte Gus. Er winkte jemandem.
«Na gut», sagte ich. «Kommst du runter?»
«Bestimmt nicht», sagte Gus. «Mir geht’s hier oben ganz gut. Du hast ihn ganz für dich allein.»
«Herzlichen Dank», sagte ich.
«Aber quatsch nicht zu lange», sagte Gus. «Du weißt ja, du wirst nach Zeit bezahlt.»
Ich ging um das Haus herum. Stephen Roark stand wartend neben seinem Wagen. Er sah missmutig aus.
«Gar nicht so leicht, Sie zu erwischen, Sheriff», sagte Roark.
Stephen Roark war Vorsitzender des Gemeinderats von Cardiff, der drittgrößten Ortschaft des Countys, wo ich selbst ebenfalls wohnte. Wir konnten uns glücklich schätzen, Stephen auf diesem Posten zu haben. Man brauchte ihn nur zu fragen, dann sagte er einem dasselbe. Er hatte uns vor ein paar Jahren den Gefallen getan, sich nach seiner Pensionierung von der Air Force hier niederzulassen. Eigentlich war er Colonel Roark und hatte die mit diesem Rang verbundenen Gewohnheiten einfach beibehalten: das Kommandieren und Einschüchtern, das arrogante Auftreten – und dabei hatte Roark seine gesamte Laufbahn im Pentagon verbracht und nie einen feindlichen Schuss gehört. Wingate war im Zweiten Weltkrieg gewesen und hatte über Roark mal gesagt, es gebe keinen härteren, entschlosseneren, abgebrühteren Soldaten als einen Colonel in Friedenszeiten.
«Sie sind ziemlich schwer zu erreichen, Sheriff», sagte Roark. «Haben Sie kein Handy?»
«Guten Morgen, Mister Roark», sagte ich.
Ich nannte ihn «Mister Roark». Ich nannte ihn nicht «Vorsitzender» wie die meisten anderen. Das war weniger eine Anrede als vielmehr eine Stichelei. Im Gemeinderat legte Roark großen Wert darauf, Vorsitzender (Maskulinum) eines Gremiums zu sein, dessen Mitglieder er Gemeinderäte (ebenfalls Maskulinum) nannte – wo er war, gab es keine Schrägstriche oder geschlechtsneutralen Bezeichnungen. Sein Pech, dass er damit bei Sally Anthony aneckte, der dienstältesten Gemeinderätin, einer Frau, die mindestens ebenso grob und selbstgerecht und beinahe so unerträglich war wie Roark. Sally ließ keine Gelegenheit aus, Roark als «der Vorsitzende» zu titulieren. «Was sagt der Vorsitzende dazu?», «Sollen wir den Vorsitzenden fragen?», «Zu welchem Tagesordnungspunkt äußert sich der Vorsitzende gerade?» Viele andere, darunter auch Gus Cooper, taten es Sally nach und nannten Roark gern «der Vorsitzende» oder «Vorsitzender Steve». Ich allerdings nicht. Als Sheriff weiß man, dass sich früher oder später jeder im Distrikt über einen ärgert und es ganz unnötig ist, Extraärger zu provozieren.
«Haben Sie kein Handy?», fragte Roark.
«Natürlich hab ich eins», sagte ich.
«Und? Ist es kaputt? Ich hab den ganzen Morgen versucht, Sie zu erreichen. Wenn Sie ein Handy haben, wo ist es dann?»
«In meinem Wagen.»
«Was soll ein Handy im Wagen, wenn Sie nicht drinsitzen? Wenn Sie auf dem Dach oder sonst wo sind? Wenn das Handy im Wagen ist, können Sie’s ja nicht hören.»
«Darum ist es ja im Wagen.»
Roark sah mich an, als verströmte ich plötzlich einen strengen Geruch. Er holte Luft. Er schüttelte den Kopf. «Wissen Sie, was gestern Nacht im Krankenhaus los war?»
«Ich hab was von einem Jungen gehört.»
«Terry St. Clair», sagte Roark. «Er ist nicht selbst hingegangen, ich hab ihn gebracht. Hab ihn auf der Straße gefunden. Er war kaum noch bei Bewusstsein und wäre vielleicht verblutet. Seine Hand war weg.»
«Weg?»
«Abgetrennt», sagte Roark. «Er hatte viel Blut verloren und wäre fast gestorben. Reiner Zufall, dass ich gerade auf dem Heimweg war. Ich kenne ihn. Er hat mal für mich gearbeitet.»
«Ich kenne ihn auch», sagte ich. «Nur zu gut. Terry baut Mist wie andere Leute Monopolyhäuser. Was hat er gesagt, wie es passiert ist?»
«Er hat gar nichts gesagt. Er war bewusstlos. Im Krankenhaus hatten sie alle Hände voll zu tun, um ihn am Leben zu halten. Ich bin dann gegangen. Heute Morgen habe ich dort angerufen. Er wird’s schaffen. Er kommt wieder auf die Beine. Aber die Hand ist weg.»
«Dann werde ich ihn mal besuchen», sagte ich.
«Ich komme mit», sagte Roark.
«Nicht nötig.»
«Ich werde Sie begleiten, Sheriff», sagte Roark. «Ich bin Amtsträger. Ich kenne das Opfer persönlich. Ich bin besorgt. Ich bin sehr besorgt. Haben Sie das verstanden? Ich werde Sie begleiten.»
«Meinetwegen», sagte ich.
Also sagte ich Gus Bescheid, der nicht glücklich war, sich aber mit meiner Unzuverlässigkeit abgefunden hatte, und fuhr zum Krankenhaus, gefolgt von Roark. Dem Vorsitzenden. Ich war bereit, ihn mit «Vorsitzender» anzureden. Ja, war ich. Ich war bereit, jede Anrede zu gebrauchen, die er hören wollte. Ich hätte ihn mit «Allmächtiger Gott» angeredet, wenn es ihn froh gemacht hätte. Er war nicht froh. Er war besorgt, sehr besorgt. Und wenn Stephen Roark, der Vorsitzende oder wie auch immer er genannt werden wollte, besorgt, sehr besorgt war, bedeutete das für mich nichts Gutes.
Im Krankenhaus lag Terry St. Clair flach auf dem Rücken und hing an zwei Infusionen. In der einen war Blut, in der anderen hätte eine ordentliche Dosis Hirn sein sollen, aber wahrscheinlich enthielt sie bloß hauptsächlich Wasser. Terry sah wie ausgekotzt aus. Sein Gesicht war gräulich-bläulich-bleich, und der verbundene Stumpf des linken Arms, der etwa zehn Zentimeter über dem Handgelenk endete, war an einer Kette über seiner Brust aufgehängt. Er war wach, sagte aber nichts. Für mich und andere in meiner Branche war das nichts Neues – so verhielt Terry sich immer, selbst in Bestform. Terry war das, was man einen Amateur nennt: ein Teilzeitkleinkrimineller. In der Stadt hätte er schnell seinen Weg gefunden, aber hier draußen musste er sich anstrengen und hin und wieder ehrliche Arbeit verrichten – zum Beispiel Aushilfsarbeiten auf dem großen Anwesen des Vorsitzenden Roark in North Cardiff. Aber obwohl Terry den höchsten Standards der Kriminalität nicht ganz gerecht wurde, kannte er doch die Regeln. Er redete nicht mit Bullen.
«Kümmert man sich gut um dich?», fragte ich ihn.
«Glaub schon», sagte er.
«Hast du Schmerzen?»
«Glaub schon.»
«Haben sie dir irgendwas dagegen gegeben?»
«Glaub schon.»
Roark übernahm. Er schob mich nicht direkt zur Seite, aber es war, als täte er’s. «Was ist mit deiner Hand passiert, Junge?», fragte er Terry.
Terry starrte mich an. Bei meinen Fragen hatte er Roark angesehen, doch jetzt wandte er den Kopf und starrte mich an. Er sagte nichts.
«Junge?»
«Ich hab Heu gemacht», sagte Terry. «Bin mit der Hand in die Presse gekommen.»
«Du hast Heu gemacht?», fragte Roark ihn.
Terry nickte.
«Mitten in der Nacht?»
Wieder sah Terry mich an. Es war ein langer Blick. «Genau», sagt er.
«Und das sollen wir glauben?», sagte Roark.
«Scheiß drauf», sagte Terry. «Mehr sag ich dazu nicht.»
Die Tür ging auf, und der Stationsarzt oder wie immer man den nennt, der im Krankenhaus das Sagen hat, kam herein.
«Tut mir leid, Sheriff», sagte er, «aber Sie müssen jetzt gehen. Er ist nicht in der Verfassung. Wie Sie sehen.»
Der Arzt, Roark und ich ließen Terry allein und gingen hinaus auf den Korridor.
«Es war knapp», sagte der Arzt. «Er hatte einen Schock. Ein paar Minuten später, und er wäre gestorben. Sehr wenige Minuten. Haben Sie ihn gebracht?», fragte er mich.
«Nein, ich», sagte Roark.
«Dann haben Sie ihm das Leben gerettet», sagte der Arzt. «Schlicht und ergreifend.»
«Wie ist das mit seinem Arm passiert?», fragte Roark ihn. Wer leitete eigentlich diese Untersuchung? Wie es aussah, der Vorsitzende. Dann sollte ich ihn auch weitermachen lassen, oder? «Er sagt, er ist mit der Hand in eine Ballenpresse gekommen», fuhr Roark fort. «Kann so ein Ding einem die Hand abtrennen?»
«Was weiß ich?», sagte der Arzt. «Warum fragen Sie mich das? Ich bin Mechaniker, ich flicke Menschen zusammen. Ich bin kein Farmer. Ich habe keine Ahnung von Ballenpressen. Ich würde es allerdings sehr bezweifeln.»
«Aber was dann?»
«Tja», sagte der Arzt, «es war ein einziger Schlag. Ein sauberer Schnitt. Also etwas Schweres. Etwas Scharfes.» Er zuckte die Schultern.
«So was wie eine Axt?», fragte Roark.
«Könnte sein», sagte der Arzt. «Aber eher ein großes Messer oder ein Hackbeil, wie Metzger es haben.»
«Kann ich später mit ihm sprechen?», fragte ich.
«Das muss er selbst entscheiden», sagte der Arzt und ließ uns stehen. Auch Roark machte sich auf den Weg, und ich kehrte zu Gus zurück. Ich überlegte, ob ich noch einmal allein zum Krankenhaus fahren und mit Terry sprechen sollte, vielleicht am nächsten Tag. Obwohl – warum eigentlich? Ich würde nicht mehr aus ihm herausholen. Dass er jetzt eine Hand weniger hatte, war Terrys Problem, ein großer Teil seines Problems, aber eben nur ein Teil. Vor allem hatte er Angst. Er hatte große Angst vor etwas, und zwar nicht vor dem Vorsitzenden Roark. Und auch nicht vor mir.
Ich machte ihm keinen Vorwurf. Wenn ich Terry gewesen wäre, hätte ich auch Angst gehabt.
Am nächsten oder vielleicht übernächsten Nachmittag rief Addison Jessup, Clemmies Vater, mein Schwiegervater, mich im Sheriffbüro an. «Komm später mal vorbei», sagte er.
«Ich kann auch jetzt kommen», sagte ich. «Was ist denn?»
«Nein, komm später, wenn du Feierabend gemacht hast», sagte Addison. «Wir werden was trinken. Irgendwann nach fünf.»
Irgendwann nach neun Uhr morgens, meinst du wohl – aber das sagte ich nicht. Ich dachte es nur. Er wusste einen guten Tropfen zu schätzen.
Addison gehörte zu den Schwergewichten in unserem Tal. Er lebte in dem großen alten Haus in South Devon, in dem Clemmie aufgewachsen war. Addison und Monica, Clemmies Mutter, hatten sich getrennt, als Clemmie noch klein gewesen war. Ihre Mutter stammte aus New York. Sie zog wieder dorthin, heiratete ein zweites Mal und verschwand mehr oder weniger von Clemmies Bildschirm: teure Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke; teure Urlaube; jüngere Stiefgeschwister. Das war’s. Clemmie großzuziehen blieb weitgehend Addison überlassen.
Addison war geblieben. Er war Anwalt, schien aber nie allzu hart zu arbeiten. Er gab sich nicht mit Immobilienversteigerungen, Testamenten und mickrig ausgestatteten Stiftungen ab. Nein, das war nichts für Addison. Er verbrachte auch nicht viel Zeit bei Gericht. Er war nicht an der juristischen Front, sondern mehr im Beratungsgeschäft, wie er es ausdrückte, und die meisten Leute, die er beriet, waren nicht von hier. Man könnte sagen, Addison war ein Konzernanwalt – oder vielmehr: Das wäre er gewesen, wenn es in unserem Tal irgendwelche Konzerne gegeben hätte. Jetzt ließ er es ruhig angehen, lebte in einem permanenten Halbruhestand und genoss die goldenen Jahre, umgeben von Büchern und Leergut.
Ich fand ihn auf der mit Fliegengitter geschützten hinteren Veranda. Auf dem Tischchen neben ihm standen ein Eiskübel und eine Familienflasche Johnnie Walker. Ich war schon immer der Meinung, Addison sollte nach Schottland ziehen. Ein Mann sollte dem, was er liebt, möglichst nahe sein.
«Lucian», sagte Addison. «Du siehst gut aus. Setz dich. Warte, ich schenke dir einen ein.»
«Vielleicht später», sagte ich.
«Ach, komm schon», sagte er. «Trink einen mit mir. Es ist halb sechs. Du bist doch nicht mehr im Dienst, oder?»
«Sag mir, was du willst, und ich sage dir, ob ich noch im Dienst bin.»
«Clemmie hat mich angerufen.»
«Das dachte ich mir», sagte ich. «Behalt deinen Whisky.»
Addison und ich kamen immer prima miteinander aus. Warum auch nicht? Ich war ja derjenige, der ihm seine Tochter schließlich abgenommen hatte – und Clemmie war, als Tochter wie als Ehefrau, auf jeweils ganz eigene Art nicht ohne. Jetzt benutzte sie, wenn sie nicht persönlich mit mir sprechen wollte, ihren Vater als eine Art Botschafter. Das war der Grund für diese Einladung, dachte ich: Clemmie wollte etwas von mir. Also sagte ich Addison, er solle sich seinen Whisky sparen.
«Ganz ruhig, Lucian», sagte er. «Tief durchatmen. Zähl bis fünfzig. Du kennst doch unser Mädchen. Du musst ihr Zeit geben. Sie wird sich schon wieder fangen.»
«Sie wird sich fangen?», sagte ich. «Sie ist schon dabei, würde ich sagen. Frag den jungen Jake Stout, wie gut sie sich fängt. Ich kann nachts mein eigenes Haus nicht betreten, aus Angst, ich stolpere vielleicht über die beiden.»
«Ich will sie ja gar nicht verteidigen», sagte Addison. «Und ich streite nicht ab, dass Jake eine etwas sonderbare Wahl ist.»
«Sie und Jake sind mir egal. Von mir aus können sie tun, was sie wollen und wo sie wollen. Mir hängt’s bloß zum Hals raus, auf dem Sofa zu schlafen.»
«Du kannst jederzeit hier wohnen. Jede Menge Platz.»
«Ha», sagte ich. «Sieh dich vor – ich könnte dich beim Wort nehmen.»
«Jederzeit», sagte Addison.
«Sie hat also angerufen. Was will sie?», fragte ich ihn.
Addison zog einen Zettel aus der Tasche, außerdem seine Lesebrille, die er auf die Nasenspitze schob. «Wollen mal sehen», sagte er. «Im Küchenfenster ist eine Scheibe zerbrochen und muss ersetzt werden. Der Warmwasserhahn in der Küche tropft. Die Glühbirne über der Hintertür ist durchgebrannt.» Er reichte mir den Zettel und nahm die Brille ab. «Verdammt», sagte er, «ich weiß nicht, wieso ihr Freund Jake nicht imstande ist, eine Glühbirne zu wechseln. Und bei Gott, das werde ich ihr auch sagen.»
«Tu das nicht», sagte ich. «Ich will gar nicht, dass Jake das macht. Ich hab das Haus mit meinen eigenen Händen gebaut, ich hab jeden Balken zugesägt und jeden Nagel eingeschlagen, und auf keinen Fall lasse ich einen Idioten wie Jake irgendwas an meinem Haus machen.»
«Du meinst: Du und Clemmie habt es gebaut», sagte Addison.
«Du hast recht», sagte ich. «Sie hat geholfen. Wir haben es zusammen gebaut. Wenn sie irgendwas reparieren will – prima. Wird sie aber nicht. Sie rührt keinen Finger. Sie ruft dich an, damit du mich anrufst.»
«Mein kleines Mädchen», sagte Addison. «Du weißt, was der Grund ist, oder?»
«Ich weiß, was deiner Meinung nach der Grund ist.»
«Klar», sagte Addison. «Sie tut das, um dich im Spiel zu halten. Clemmie ist eine sehr vorsichtige Investorin, wie du weißt. Ja, das ist sie. Sie hat’s gern, wenn ihre Aktiva da draußen auf den Märkten sind und für sie arbeiten, aber einen Teil davon will sie auf der Bank haben, in Sicherheit.»
«Ihre Aktiva?»
Addison lachte leise. «Hab Geduld», sagte er. «Sie kommt zurück.»
«Und was ist bis dahin mit mir? Ich darf Ausbesserungsarbeiten in meinem eigenen Haus erledigen und werde nicht mal dafür bezahlt. Ich darf nicht mal mit ihr ins Bett.»
«Geduld. Es ist ja nicht für immer. Sie kommt wieder zurück.»
«Das hat meine Mom auch gesagt.»
«Deine Mutter ist eine gescheite Frau. Das wusste ich immer schon. Eine sehr, sehr gescheite Frau.»
«Kann sein», sagte ich. «Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass meine Frau mich zum Idioten macht.»
«Ganz und gar nicht», sagte Addison. «Niemand denkt deswegen schlecht von dir. Glaub mir, wirklich niemand. Ganz im Gegenteil. Du hast neue Freunde, Lucian, mehr als du ahnst. Alle Welt liebt einen Hahnrei.»
«Ach ja?»
«Willst du jetzt was zu trinken?»
«Nur einen kleinen», sagte ich.
Addison schenkte ein und reichte mir mein Glas. Ich wollte gerade daran nippen, als Addison fortfuhr.
«Ich habe gestern einen Freund von dir getroffen», sagte er.
Ich hielt inne. «Wen denn?», fragte ich.
«Steve Roark. Den Gemeinderat.»
Ich stellte das Glas auf das Tischchen.
«Den Vorsitzenden? Der ist kein Freund von mir.»
«Da würde ich dir recht geben», sagte Addison.
«Woher kennst du den?»
«Von der Anwaltskammer. Roark und ich sind ins Plaudern gekommen.»
«Anwaltskammer? Der Vorsitzende ist auch noch Anwalt?»
«Wir sind überall, Lucian.»
«Ich denke, er war Offizier», sagte ich.
«Ist er auch», sagte Addison. «Oder vielmehr: war er. Bei der Militärstaatsanwaltschaft. Er ist Mitglied der Anwaltskammer in Washington, D.C., und daher auch in unserer. Reziprozität. Leider. Der Mann ist ein reines, unverfälschtes Arschloch. Hält sich für General Patton. Keiner kann ihn ausstehen. Aber das ist ihm egal. Er kommt zu jeder Veranstaltung. Bei der letzten kam dein Name ins Spiel.»
«Wieso?»
«Irgendwem ist ein Arm abgetrennt worden?»
«Eine Hand», sagte ich. «Aber, ja, das stimmt.»
«Roark hat davon angefangen. Er kennt den jungen Mann. Er glaubt, dass er das Opfer eines tätlichen Angriffs war.»
«Dass er das glaubt, heißt nicht, dass es auch so war.»
«Wie es scheint, ist er nicht ganz zufrieden mit deiner Reaktion als Sheriff.»
«Was will er denn? Es ist ein ungeklärter Fall. Wir arbeiten daran.»
«Natürlich. Das habe ich ihm auch gesagt. Ich habe dich in Schutz genommen. Aber Roark hat erfahren, dass es, seit er hierher gezogen ist, ähnliche Zwischenfälle gegeben hat.»
«Einen oder zwei», sagte ich.
«Jemand hat ein Ohr verloren, sagt er. Ich glaube mich daran zu erinnern. War das nicht Buddy Carpenter? Dem die Motorsäge an den Kopf geschlagen ist? Vor ein paar Jahren?»
«Stimmt.»
«Und dann war da dieser Unfall, bei dem der junge Lewis verletzt wurde.»
«Ja.»
«Was ist aus dem eigentlich geworden?»
«Er ist weggezogen, glaube ich.»
«Ja», sagte Addison. «Und was ist mit dem Bankroft-Jungen? Sam? Scott? Der sich damals in den Fuß geschossen hat?»
«Tommy. Wie’s aussieht, ist er auch weggezogen.»
«Ganz schöne Strecke jedenfalls», sagte Addison.
«Ich weiß nicht», sagte ich. «Auf ein paar Jahre verteilt? Was soll das für eine Strecke sein? Unfälle passieren eben. Und außerdem: Es ist ja nicht gerade so, als würde es irgendeinem leidtun, dass diese Jungs nicht mehr da sind, oder?»
«Stimmt», sagte Addison. «Das waren böse Jungs, allesamt. Gut, dass sie weg sind, da gebe ich dir recht. Aber der Vorsitzende hat sie erwähnt. Und dann hat er nach dir gefragt. Wollte wissen, wie lange du schon Sheriff bist. Woher du weißt, wie Polizeiarbeit funktioniert. Welche Pflichten ein Sheriff hat. Wie er gewählt wird. Und wann. Wie die aufsichtführende Behörde heißt. Solche Sachen eben.»
«Weiß er, dass wir … äh, verwandt sind?», fragte ich.
«Das habe ich ihm gesagt. Und dass du deinen Job gut machst.»
«Aber das hat er dir nicht geglaubt.»
«Den Eindruck hatte ich auch», sagte Addison. «Er ist kein Freund von dir, sehr richtig. Lass dich von ihm nicht irritieren, Lucian. Was soll er schon tun – deine Amtsenthebung beantragen?»
«Ich hab noch nie gehört, dass ein Sheriff seines Amtes enthoben worden ist.»
«Natürlich nicht. Beachte ihn gar nicht. Ich habe es nur erwähnt, weil ich dachte, du solltest es wissen. Dass Roark sich für dich interessiert.»
«Ich weiß das zu schätzen», sagte ich.
«Stephen Roark ist ein Sprinter, Lucian», sagte Addison. «D»
arte es ab, sagte ich. anz schön viel Warterei, was du da von mir verlangst. Ich soll auf Clemmie warten. Und jetzt also auch noch darauf, dass der Vorsitzende aufhört, sich für mich zu interessieren. Wie es aussieht, soll ich gar nichts anderes mehr tun als warten.
ie alle anderen, sagte Addison.
Ein Sprinter, hatte Addison gesagt. Sprinter war unsere Bezeichnung für eine bestimmte Art von Zugezogenen, denen man in kleinen ländlichen Gemeinden wie unserer begegnet. Ein Sprinter zieht aus der Stadt hierher. An einem Montag folgt er dem Umzugswagen zu seinem neuen Haus. Am Dienstag packt er aus. Am Mittwoch kommt er zur Gemeinderatssitzung. Am Freitag hat er Sitz und Stimme. Am Dienstag darauf ist er Gemeinderatsvorsitzender. Noch eine Woche, und er ist Friedensrichter und Immobilientaxator. Seine nächste Station wäre das Amt des Bürgermeisters, aber da es das bei uns nicht gibt, hat er alles erreicht, was er hier erreichen kann, und muss seine Ziele höher stecken. Er kandidiert für das Staatsparlament. Da kein anderer diesen Job will, gewinnt er. Jetzt ist er meist in Montpelier. Auf der örtlichen Ebene ist er weniger präsent – er fließt sozusagen ab wie Wasser nach einer Überschwemmung. Mit einem Mal sieht man ihn seltener. Und bald sieht man ihn gar nicht mehr.
Wenn man es also mit einem zu tun hat, der nicht aufnahmefähig ist, dem man keine Anweisungen geben kann und der seinen Mund nicht hält – was macht man dann mit ihm?