Es fängt früh an und hört nie auf – die Männer wollen stark sein, stolpern aber ständig über ihre Schwächen. Da ist Bernard, ein junger Franzose, der eine »schockierend billige« Pauschalreise nach Zypern bucht und in einem trostlosen Hotel auf die Verwirklichung seiner erotischen Träume hofft. Da ist Karel, ein in Oxford ansässiger Akademiker aus Belgien, der für den Vater seiner Freundin einen Luxus-SUV von England nach Polen fährt. Unterwegs eröffnet ihm seine Freundin, dass sie schwanger ist – seine Reaktion ist pure Wut. Und da ist Tony, der pensionierte Beamte, der England für sein Landhaus in Italien hinter sich gelassen hat, doch nach einem Unfall öffnet er sich dem, was seine Lebenslüge sein könnte. Was sie alle verbindet: ein ersehntes Machtgefühl und gleichzeitig das Bewusstsein um die eigene Vergänglichkeit. Mit bestechendem Realismus beschreibt David Szalay, der mit diesem Roman auf die Shortlist zum Booker-Preis kam, die Männer, wie sie sind: meist feige, unbeholfen, eitel und doch auch bemitleidenswert und zerbrechlich in ihrer verspäteten Reumütigkeit.
Hanser E-Book
Was ein Mann ist
Roman
Aus dem Englischen
von Henning Ahrens
Carl Hanser Verlag
Eins
APRIL
Zwei
MAI
Drei
JUNI
Vier
JULI
Fünf
AUGUST
Sechs
SEPTEMBER
Sieben
OKTOBER
Acht
NOVEMBER
Neun
DEZEMBER
Alles hat seine naturgemäße Phase,
jedes Anliegen auf Erden seine rechte Zeit.
Siebzehn, und ich verliebte mich …
Berlin Hauptbahnhof.
Hier fahren die Züge aus Polen ein, hier sind die Engländer, aus Krakau kommend, soeben eingetroffen. Sie sehen schrecklich aus, die beiden Teenager, erschöpft durch die lange Zugfahrt, mager und dreckig nach zehn Tagen Interrail. Einer von beiden, Simon, starrt teilnahmslos ins Leere. Ein hübscher Junge mit hohen Wangenknochen und ernster, nervöser Miene. Sieben Uhr morgens, aber die Kneipe im Bahnhof ist laut und verraucht, und er lauscht missbilligend dem Gespräch zweier Männer am Nachbartisch – einer von ihnen offenbar Amerikaner, der andere ein älterer Deutscher, der lächelnd sagt: »Ihr habt nur vierhunderttausend Soldaten verloren. Wir haben sechs Millionen verloren.«
Die Antwort des Amerikaners geht im Lärm unter.
»Die Russen haben zwölf Millionen verloren – wir haben sechs Millionen getötet.«
Simon zündet sich eine polnische Zigarette an, sieht das Wort »Spiegelei« auf der laminierten Speisekarte, das für den Kellner auf den Tisch gelegte Geld – Euro, hübsches, modern gestaltetes Geld. Die Schriftart, die man verwendet hat, gefällt ihm, schlicht, schnörkellos.
»Allein in Leningrad sind eine Million Menschen umgekommen. Eine Million!«
Die Leute trinken Bier.
Ein Nieselregen fällt auf den grauen Bahnhofsvorplatz.
Es gab eine Diskussion mit dem Kellner – ob es möglich sei, ein Kännchen Kaffee mit zwei Tassen zu bekommen. Es war nicht möglich. Sie mussten sich eine Tasse teilen, Simon und sein Freund, der jetzt in einer Telefonzelle steht und versucht, Otto anzurufen – ihre Handys funktionieren nicht –, halb verborgen unter der milchigen Plastikhaube.
Der Kellner mit der fleckigen, weinroten Weste war unverschämt, denkt Simon. Den anderen Gästen gegenüber ist er jedoch unterwürfig – Simons wachsamer Blick folgt seinem Weg durch Rauch und Lärm –, Männern mit Anzug und Zeitung wie jener, der jetzt aufblickt, kurz und verkniffen lächelt und auf die Uhr schaut, während der Kellner das Tablett ablädt.
Eine neue Durchsage mit Informationen zu den Zügen. Eine schneidende Stimme, von draußen hereindringend, wo der Wind durch den weiten Bahnhof fegt. Eine Stimme wie ein Wasserhahn, aus dem Töne fließen – mal aufgedreht, mal zugedreht.
Inzwischen kennt Simon die simple Tonfolge, die jedem Erguss dieser Stimme vorausgeht,
dieser Stimme und ihres Echos.
Und wenn diese simple Tonfolge erklingt, kommt sie ihm vor wie eine Vertiefung seiner Erschöpfung, wie etwas in seinem Inneren, etwas Persönliches.
Der Kellner verneigt sich regelrecht vor dem Mann im Anzug.
Das Leben im Bahnhof tost und wirbelt wie ein schmutziger Strom. Menschen. Menschen fließen durch den Bahnhof wie ein schmutziger Strom.
Und wieder diese Frage –
Was tue ich hier?
Er sieht, wie sein Freund Ferdinand den Hörer der Telefonzelle einhängt. Sie versuchen schon seit Tagen, Otto zu erreichen – ein Typ, den Ferdinand vor einigen Wochen in London kennengelernt hat, ein junger Deutscher, der ihnen, vermutlich blau, sicher in der Überzeugung, dass es nie dazu käme, angeboten hat, bei ihm zu wohnen, sollten sie mal in Berlin sein.
Ferdinand kehrt mit besorgter Miene an den Tisch zurück.
»Wieder nicht erreicht«, sagt er.
Simon schweigt und raucht. Er hofft insgeheim, Otto möge nie ans Telefon gehen. Die Vorstellung, bei Otto zu wohnen, hat ihm nie gefallen. Er hat ihn in London nicht kennengelernt, und was er über ihn gehört hat, passt ihm nicht.
Er fragt: »Und jetzt?«
»Keine Ahnung«, sagt sein Freund. »Wir könnten einfach zur Wohnung fahren.« Er hat Ottos Adresse – Otto erwartet sie irgendwann in diesem April, das jedenfalls haben sie von London aus verabredet, vage, auf Facebook.
Sie fahren zwei Stationen mit der S-Bahn und suchen lange nach der Wohnung, und als sie diese endlich finden – überraschenderweise in einer dreckigen, kleinen Seitenstraße –, ist bis auf einen Polizisten in blauer Uniform niemand dort. Er wartet ein Stockwerk unterhalb der Wohnung im trüben Licht eines Fensters auf einem Treppenabsatz.
Weil sie nicht wissen, wieso der Polizist dort steht,
Wurde Otto ermordet?
zögern sie.
»Tag«, sagt der Mann. Seine Stimme verrät eindeutig: Niemand wurde ermordet.
Sie erzählen, dass sie zu Otto wollen, und der Polizist, der offenbar weiß, wer Otto ist, erwidert, dieser sei nicht da. Niemand sei in der Wohnung, sagt er.
Sie warten.
Sie warten über eine Stunde. Ferdinand geht währenddessen mehrmals zur Telefonzelle in der Straße, um Leute anzurufen, die wissen könnten, wo Otto steckt, während Simon auf dem Fliesenfußboden des großen Eingangsflurs sitzt und versucht, in »Die Gesandten« voranzukommen, eine eselsohrige Penguin-Classics-Ausgabe, die in einer der Reißverschlusstaschen seines Rucksacks lebt. Seine müden Augen stoßen auf diese Worte:
Leben Sie, so intensiv Sie können; alles andere ist ein Fehler. Was Sie tun, spielt eigentlich keine große Rolle, solange Sie Ihr eigenes Leben leben. Wenn Sie das nicht gelebt haben, was haben Sie dann überhaupt gehabt? Ich bin zu alt; zu alt jedenfalls für meine Einsicht. Was man verliert, hat man verloren; machen Sie sich da nichts vor. Immerhin haben wir die Illusion der Freiheit; vergessen Sie deshalb nicht, so wie ich heute, diese Illusion. Ich war im entscheidenden Augenblick entweder zu dumm oder zu klug, mich daran zu erinnern, und jetzt spricht aus mir natürlich die Reaktion auf diesen Fehler. Tun Sie, was Sie wollen, bloß begehen Sie nicht meinen Fehler. Denn es war ein Fehler. Leben Sie, leben Sie!
Er holt einen Stift aus der Tasche, in der das Buch steckte, und markiert diese Worte mit einem senkrechten Strich. Er notiert am Seitenrand: ZENTRALES THEMA.
Ferdinand kommt von der Straße herein, nass vom Nieselregen.
»Was machen wir jetzt?«, fragt er.
Wieder die S-Bahn.
Es regnet nicht mehr. Sie sehen so einiges durch das Fenster. Ein Abschnitt der Mauer, als Denkmal erhalten, bedeckt von psychedelischen Graffiti. Diese Welt haben sie nicht mehr erlebt. Sie sind zu jung. Sonnenschein auf den Brachen, er fällt durch Lücken in der Mauer. Sonnenschein. Durch die Fenster der S-Bahn, durch den Dreckschleier fällt er in Simons zurückscheuende Augen.
Was tue ich hier?
Was tue ich hier?
Die Bahn rumpelt über die Gleisanschlüsse.
Was tue
Die Bahn wird langsamer,
ich hier?
als sie eine Haltestelle erreicht – Warschauer Straße. Windige Bahnsteige, ringsumher Ödland.
Ein ödes Land.
April ist der …
Sie vergöttern Eliot und dessen wohlklingenden Pessimismus. Sie schauen ehrfürchtig zu Joyce auf. Er verkörpert, was sie sein wollen, ein Monument wie er. Und Shakespeares Tragödien. Und »L’Étranger«. Und das Elend von Wladimir und Estragon, mit dem sie sich gern identifizieren. Sie warten auf Otto.
Warschauer Straße. Züge fahren durch das üppig sprießende Unkraut. Frühlingsschauer bestreichen die abblätternden Bauzäune, von den Überführungen ergießt sich der Lärm eines unsichtbaren Verkehrs.
In Kreuzberg lassen sie sich erschöpft zum Essen nieder.
Kreuzberg ist eine Enttäuschung. Angeblich das Hipster-Viertel, der alternative Stadtteil. Ferdinand ist am tiefsten enttäuscht. Simon schiebt sich das Essen in den wohlgeformten Mund. Er hat kein Interesse daran, findet die Annahme seines Freundes, der Stadtteil wäre interessant, ziemlich naiv – sagt dies aber nicht laut.
Beim Essen diskutieren sie darüber, dass hier alles viel teurer ist als in Polen (sie waren in Warschau, Krakau und Auschwitz), wenngleich sie die höheren Preise für gerechtfertigt halten, weil in Berlin alles besser ist. Etwa das Essen. Sie schlingen es hungrig in sich hinein.
Dann kommen sie irgendwie auf ihre Schulkameraden. Sie sind im letzten Schuljahr, machen in diesem Sommer ihre A-Levels, hoffen, im Herbst mit dem Studium in Oxford beginnen zu können. (Darum wühlt sich Simon lustlos durch die Werke von Henry James, er sucht nach einem passenden Stoff für das »Internationale Thema«.)
Also reden sie über alle möglichen Leute – stimmen meist darin überein, dass es Arschlöcher sind –, und dann kommt Ferdinand auf Karen Fielding zu sprechen.
Als er den Namen nennt, als wäre dieser ganz banal, ahnt er nicht, dass sein Freund ständig von Karen Fielding träumt – Träume, in denen sie sich unterhalten oder Blicke tauschen, in denen sich ihre Hände kurz berühren, aus denen er in dem Glauben erwacht, immer noch ihre Hand zu spüren, erfüllt von einer flüchtigen, aber unbändigen Freude. Er notiert diese Träume in seinem Tagebuch, sehr gewissenhaft, füllt Seiten mit Spekulationen über ihre Bedeutung und das Wesen des Träumens an sich.
In der wachen Welt hat er kaum ein Wort mit Karen Fielding gewechselt, und sie ahnt nichts von seinen Gefühlen – außer sie hätte bemerkt, wie er sie mit Blicken verfolgt, wenn sie mit dem Tablett durch die Mensa geht oder mit matschiger Ausrüstung vom Lacrosse zurückkommt. Eigentlich weiß er nur eines über sie, nämlich, dass ihre Familie in Didcot lebt – das hat er aufgeschnappt, als sie sich mit jemandem unterhielt –, und seither ist das Wort »Didcot« in seinen Gedanken mit einer besonderen, geheimnisvollen Verheißung verbunden. Ein Wort, das genau wie ihr Name zu aufgeladen ist, um notiert zu werden, aber in einer Jugendherberge in Warschau, Ferdinand duschte gerade, schrieb er es eines Abends auf, und sein Herz schlug sofort höher: Schwachsinn, durch Europa zu reisen, denn im Grunde will ich nur im schlichten, englischen Vorort
Sein Stift schwebte über der Seite.
Dann tat er es, er schrieb das Wort.
Didcot sein.
Ihm fehlt der Mut, ihren Namen zu schreiben, denn dieser ist mit noch mehr Bedeutung aufgeladen.
Und als Ferdinand ihn nennt, nickt Simon nur und tut noch mehr Zucker in seinen Kaffee.
Er sehnt sich danach, über sie zu reden.
Er wünscht sich nichts sehnlicher, als den ganzen Nachmittag über sie zu reden oder einfach nur ihren Namen zu hören, vier Silben, die alles zu enthalten scheinen, für das es sich auf Erden zu leben lohnt.
Stattdessen erörtert er – nicht zum ersten Mal – die Unmöglichkeit, als Tourist Erfüllung zu finden.
Ferdinand senkt den Blick und hört, während er im Kaffee rührt, seinem Freund zu, der sich missmutig über dieses Thema auslässt.
Worum gehe es dem Touristen? Etwas zu sehen? Tiefere Einblicke in das Leben zu gewinnen? Das Leben sei doch überall, man müsse auf der Suche danach nicht durch Europa tingeln …
denn im Grunde will ich nur
Ferdinand tut nicht mal mehr so, als würde er zuhören, sondern beginnt, eine Postkarte zu schreiben. Das Bild: die Krakauer Kathedrale, dunkel und zerklüftet. Er schreibt an ein Mädchen in England, mit dem er unverbindlich flirtet, das er manchmal sehr mag – das er sich jedenfalls warmhalten will. Als er schreibt Uns beiden wächst ein Bart, lächelt er und spürt die Stoppeln auf dem Kinn – das klingt befriedigend männlich. Dann liest er den Text vor, um die Zustimmung seines Freundes zu erhalten. Anschließend steht er auf, um die Toiletten zu suchen.
Er bleibt eine Weile verschwunden, und Simon, im sonnendurchfluteten Restaurant sitzend, beobachtet den Rauch, der von seiner Zigarette aufsteigt.
Vielleicht liegt es an der Müdigkeit, dass er das Gefühl hat, gleich losheulen zu müssen.
Was tue ich hier?
Das Einsamkeitsgefühl gleicht einer gewaltigen Gewitterfront. Nach zwei Reisewochen empfindet er seinen Freund meist als nervig. Er musste sich ein Lächeln abringen, als Ferdinand die Postkarte vorlas und ihm das kleine, mit grüner Tinte skizzierte Bild eines bärtigen Mannes zeigte. Und wie er sich mit Joop! eingesprüht hat, bevor er den Rucksack in das Bahnhofsschließfach tat. Wie er prahlerisch das T-Shirt hochzog, um sich mit Joop! einzusprühen und aller Welt die behaarte Brust darzubieten … In dem Moment … Und er hat sich eingebildet, mit einem Freund unterwegs zu sein. Das Einsamkeitsgefühl, das ihn erfasst, gleicht einer gewaltigen Gewitterfront.
Während er den von seiner Zigarette aufsteigenden Rauch betrachtet.
Im sonnendurchfluteten Restaurant.
*
Abends begeben sie sich wieder zu Ottos Wohnung und finden dort Ottos Schwester mit zwei Typen in Lederkluft vor, einer klein, das Gesicht voller Piercings – Lutz –, der andere viel größer, mit Walrossschnauzer – Willi. Ottos Schwester weiß nicht, wer Simon und Ferdinand sind, aber nachdem sich die beiden erklärt haben, schlägt sie ihnen vor, sich wie zu Hause zu fühlen und auf Otto zu warten – er werde sicher irgendwann kommen. Sie und ihre Freunde, sagt sie, wollten gerade gehen.
Sobald sie allein sind, fühlen sie sich tatsächlich wie zu Hause. Die Wohnung ist überraschend groß, und während sie durch die Zimmer schlendern, erlauben sie sich gewisse Freiheiten, bedienen sich bei einem teuer wirkenden Whisky und ziehen Schubladen auf. In einer findet Simon sonderbare Spielkarten. Vermutlich Tarot, denkt er. Er dreht eine Karte um – das Bild einer Hand, die eine Art Knüppel hält. As der Stäbe, heißt es darauf. Offensichtlich ein Phallussymbol. Nicht gerade subtil. Egal. Schwachsinn. Er schließt die Schublade.
*
Gegen zwei Uhr morgens stürmt Otto in die Wohnung und findet sie in Schlafsäcken auf dem Fußboden im Wohnzimmer vor.
Er knipst das Licht an, brüllt.
Dann bemerkt er Ferdinand, der gerade den Kopf gehoben hat und ihn anblinzelt, und schreit: »Scheiße, Mann, du bist echt da!«
»Otto …«
»Scheiße!«
»Ich hoffe, du hast nichts dagegen …«, beginnt Ferdinand.
»Was redest du da, Scheiße nochmal?«, brüllt Otto.
»Ich hoffe, du hast nichts dagegen, dass wir da sind …«
»Wie kommst du darauf, ich hätte was dagegen?«, ruft Otto.
»Weiß auch nicht …«
»Ich habe euch erwartet.« Irgendjemand steht neben Otto, schaut über seine Schulter.
»Wir haben versucht, dich anzurufen …«
»Ja?«
»Du warst nie da.«
»Ich war nicht da!«, erklärt Otto, immer noch brüllend.
»Und du bist nicht an dein Handy gegangen …«
»Habe ich verloren!«
»Oh.«
»Ja, verloren«, sagt Otto, jetzt leise und niedergeschlagen. »Ich hab’s verloren.«
Nachdem er sich auf eines der Sofas gesetzt hat, beginnt er, einen Joint zu drehen, zur Enttäuschung Ferdinands, der gehofft hat, er würde gleich wieder gehen und das Licht löschen.
Otto trägt einen albernen Hut, die Jackenärmel enden weit vor den Handgelenken. Während er mit dem Joint beschäftigt ist, bewegt sich sein Adamsapfel auf und ab. Wie sich herausstellt, kellnern er und sein Freund die ganze Woche auf einem Open-Air-Festival außerhalb Berlins. Während Otto dreht, bedankt sich Ferdinand unaufhörlich dafür, dass sie in der Wohnung pennen dürfen.
»Nochmal tausend Dank, hörst du?«, sagt Ferdinand, der sich im Schlafsack hingesetzt hat.
»Hey, Scheiße, vergiss es«, sagt Otto, immer noch mit Hut, immer noch auf dem Sofa sitzend, mit herrschaftlicher Gleichgültigkeit.
»Und … äh … dieser Polizist?«, fragt Ferdinand.
Otto scheint die Frage nicht zu hören. »Was?«
»Der Polizist. Du weißt schon.« Ferdinand zeigt auf den Joint, der zwischen Ottos Fingern langsam Gestalt annimmt.
Otto reagiert wegwerfend. »Ach, scheiß auf den Typen!« Dann fügt er hinzu: »Ist ihm egal.«
»Was wollte er denn hier?«
»Ist mein Vater«, sagt Otto. »Halb so wild.«
»Dein Vater?«
»Ja, echt nervig.« Und er sagt, die Kuppe des kleinen Fingers mit Spucke benetzend und letzte Hand an den Joint legend: »Arbeitet für die Regierung. Du weißt schon …«
»Für die Regierung?«, meint Simon skeptisch und äußert sich damit zum ersten Mal.
Otto überhört ihn und zündet den Joint an.
Simon spürt sofort eine Abneigung gegen Otto. Er wünscht sich, Ferdinand möge aufhören, sich zu bedanken. Er selbst sagt fast gar nichts, und als er nach dem ersten Joint von Otto gebeten wird, einen zweiten zu drehen, nimmt er die Sachen wortlos entgegen. Otto fordert ihn ständig auf, mehr »Shit« reinzutun. Er unterhält sich mit Ferdinand hysterisch über gemeinsame Londoner Bekannte. Später verlangt Otto von Simon, einen dritten Joint zu drehen, drängt ihn erneut, mehr »Shit« zu verwenden. Zu dem Zeitpunkt sind alle schon dicht. Irgendjemand hat den Fernseher angeschaltet und einen Porno gefunden – nackte Frauen in einem Weizenfeld. Simon schaut nicht hin. Die anderen lachen darüber. Simon merkt plötzlich, dass Ottos Freund weg ist. Simon kann sich nicht daran erinnern, dass er gegangen ist. Er hat das unbehagliche Gefühl, sich die Person nur eingebildet zu haben, dass gar keine vierte Person da war. Die anderen lachen über die Frauen im Weizenfeld, Otto glotzt den Bildschirm an, seine Augen funkeln, die Zunge hängt ihm halb aus dem Mund, er ist wie gebannt.
Simon fühlt sich angeschlagen. Er steht wortlos auf und macht sich auf die Suche nach dem Bad. Dort vergisst er eine Weile, wo er ist, starrt die Shampoos auf dem Badewannenrand an, den Plastikfrosch zum Aufziehen. Er steht lange da, betrachtet die Dinge. Er starrt den Plastikfrosch zum Aufziehen an, sein unschuldiges, grünes Gesicht. Das Brummen der Entlüftung klingt in seinen Ohren immer mehr wie ein Schluchzen.
Als er sich zwanzig Minuten später wieder ins Wohnzimmer setzt, fragt Otto: »Wie viel Shit ist noch übrig?«
»Nichts«, antwortet Simon. Das Wohnzimmer – ganz in Beige- und Cremetönen, voller orientalischer Kunst – wirkt so fremd, als würde er es zum ersten Mal sehen.
»Du hast den Shit alle gemacht?«
Ferdinand muss wider Willen kichern und sagt dann immer wieder: »Verzeihung, Verzeihung …«
»Du hast den Shit alle gemacht?«, wiederholt Otto ungläubig.
Ferdinand kichert und bittet um Verzeihung.
»Ja«, sagt Simon. Er hat auch für einen Brandfleck auf dem hellen, flauschigen Teppich gesorgt, beschließt aber, dies noch nicht zu erwähnen.
»Scheiße«, sagt Otto und fragt dann, als hätte Simon einen Witz gemacht: »Du hast ihn echt alle gemacht?«
»Alle, alle.«
»Ich bitte um Verzeihung«, sagt Ferdinand, der plötzlich ein todernstes Gesicht zieht.
Otto seufzt. »Na, dann«, sagt er mit leisem Schulterzucken. Aber er hat es noch immer nicht verdaut. »Scheiße«, sagt er kurz darauf, »du hast den Shit alle gemacht …«
Simon wickelt sich langsam in den Schlafsack und kehrt den beiden den Rücken zu. Sie reden noch, als er einschläft.
*
Am nächsten Tag fährt er mit Ferdinand nach Potsdam. Das ist Simons einziger Wunsch in Berlin – er möchte Schloss Sanssouci besuchen.
Vom Potsdamer Bahnhof aus kommend gehen sie durch ein grünes, verschnörkeltes Tor. Danach folgen sie einer Allee mit kleinen Bäumen zum Schloss auf dem terrassierten Hügel. Am Fuß des Hügels schießt eine hohe Fontäne in die Luft, im Park stehen viele helle Steinskulpturen – Männer, die Frauen belästigen, miteinander ringen oder die Stirn in noble Falten legen, den Blick in weite Ferne gerichtet, alle in einer Pose rätselhafter Raserei erstarrt, zwischen stillen Hecken und an den Rändern ebenso stiller Bassins erstarrt.
Simon schlendert regelrecht verzückt durch den Park – die langen, schnurgeraden Alleen, die Kreuzungen mit den Springbrunnen, die Fassaden am Ende.
Es gibt ein Lokal mit metallenen Gartenmöbeln, in dem man Tee trinken kann, und er erklärt, dass dieser Park, ähnlich wie die Musik Johann Sebastian Bachs, die natürliche Ordnung des menschlichen Geistes zum Ausdruck bringe.
Ferdinand, der Kuchen futtert, beklagt sich darüber, dass die Akne auf seinem Rücken sein Hemd befleckt.
Simon hat ähnliche Probleme, verschweigt sie aber. (Er achtet auch darauf, seinen Körper vor Ferdinand zu verbergen.) Stattdessen legt er »Die Gesandten« weg und erzählt Ferdinand von Friedrich Wilhelm, dem Vater Friedrichs des Großen, der von seinen Gardesoldaten besessen war – es mussten möglichst lange Kerls sein, er kümmerte sich um jedes Detail der Uniformen und sah ihnen gern beim Marschieren zu, wenn er sich unwohl fühlte. Diese Geschichte bringt Ferdinand zum Lachen. »Echt super«, sagt er und wischt den letzten Klecks Sahne mit dem Finger vom Teller. Simon leert zufrieden den Tee und greift wieder zum Buch. Es ist später Nachmittag – sie haben das Lokal nicht gleich gefunden. Die Sonne füllt die hohen Fenster des Schlosses. Die Schatten der Skulpturen schlängeln sich über gemähte Rasenflächen.
»Was machen wir heute Abend?«, fragt Ferdinand.
Simon zuckt unmerklich mit den Schultern, ohne vom Buch aufzusehen.
Ottos Schwester, die sich morgens in der Wohnung aufhielt, hat sie eingeladen, mit ihr und ihren Freunden Lutz und Willi abends durch die Stadt zu ziehen. Ferdinand erinnert an dieses Angebot. Simon gibt sich unverbindlich. Die Aussicht darauf, den Abend mit Ottos Schwester und ihren Freunden zu verbringen, löst ein Gefühl in ihm aus, das an Angst grenzt, an eine leise Panik. »Das sind doch Idioten, oder?«, fragt er, den Blick auf das Buch geheftet. Sie haben heute viel über Lutz und Willi gelacht – ihre Lederkluft, die Piercings, das schrille Lachen von Lutz, Willis grämlichen Schnauzer.
»Ich finde sie in Ordnung«, erwidert Ferdinand wehmütig. Er ist seit zwei Wochen mit Simon allein. Er sagt: »Und Ottos Schwester ist nett.«
»Ja?«
»Etwa nicht?«
»Sie ist in Ordnung«, verkündet Simon, indem er umblättert, »glaube ich jedenfalls.«
»Außerdem – was sollen wir denn sonst machen?«, meint Ferdinand. »So übel sind die zwei nun auch wieder nicht.«
»Wie spät ist es?«
»So spät, dass wir zurückfahren sollten.«
»Meinst du wirklich?«, sagt Simon und dreht sich zu dem mit Schatten gefüllten Park um. »Mir gefällt es hier.«
Sie verbringen dann doch einen Teil des Abends mit Ottos Schwester, Lutz und Willi. Simon ist offenbar fest entschlossen, sich nicht zu amüsieren. Während die anderen reden, sitzt er so verdrossen da, dass Ferdinand seine Gegenwart schließlich als peinlich empfindet – eine distanzierte, unglückliche Gestalt, die Bio-Wein trinkt. Sie sitzen vor einem hippen Lokal in Kreuzberg, unter einer Heizlampe – der Abend ist kühl – und einigen Bäumen, deren Blüten nach Sperma riechen.
»Was ist mit deinem Freund los?«, will Lutz von Ferdinand wissen, flüstert ihm die Frage ins Ohr, untermalt vom Klimpern seiner Piercings. »Alles okay mit ihm?« Lutz ist dunkelblond und hässlich.
»Keine Ahnung«, sagt Ferdinand so laut, dass Simon ihn hören kann, obwohl dieser tut, als wäre er taub. »Er ist immer so.«
»Muss ja ein Riesenspaß sein, mit ihm zu reisen.«
Ferdinand lacht nur.
Lutz fragt: »Er ist einfach schüchtern, was?«
»Vielleicht.«
»Er ist bestimmt in Ordnung.«
»Sicher«, sagt Ferdinand. »Er ist hochintelligent.«
»Glaube ich sofort.«
»Und manchmal auch sehr lustig.«
»Ja?«
»Wirklich.«
»Kann ich mir nicht vorstellen«, meint Lutz.
Sein Freund Willi ist allerdings fast genauso schweigsam wie Simon, lächelt ebenso selten, und so wird der Abend vor allem von Ferdinand, Lutz und Ottos Schwester bestritten. Sie sprechen unweigerlich über die Orte, die Ferdinand und Simon schon bereist, das, was sie dort unternommen haben – die Sehenswürdigkeiten, meist Kirchen. Das bringt Lutz auf die Palme: »Den Scheiß könnt ihr machen, wenn ihr alt seid!«, wendet er ein. »Aber doch nicht jetzt! Was wollt ihr denn in Kirchen? So was macht man, wenn man alt und grau ist. Wie alt seid ihr, Jungs?«
Sie sagen es ihm – siebzehn.
»Ihr seid noch so jung«, sagt Lutz bewegt, obwohl er höchstens zehn Jahre älter ist. »Amüsiert euch, okay? Okay?«
Amüsiert euch.
Nachtzug nach Prag. Kein freier Sitzplatz, und sie legen sich vor der Toilette in den Gang, kassieren wiederholt versehentliche Tritte von vorbeilaufenden Fahrgästen.
Irgendwann nach Anbruch der Morgendämmerung stehen sie auf, um etwas zu essen.
Draußen zieht die Mittelgebirgslandschaft im herrlichen Licht der Frühe vorüber.
Tannenwälder, in dampfenden Nebel gehüllt.
Simon denkt noch an einen Traum, den er, im Gang liegend, während einer bestimmten Schlafphase hatte. Es ging um etwas, das sich am Grund eines Sees verbarg, etwas, das ihm gehörte. Dann unterhielt er sich mit einem Mitschüler, sprach über Karen Fielding. Sein Gesprächspartner benutzte ein sonderbares Wort, ein Wort, das es vielleicht gar nicht gab. Und dann war er Karen Fielding in einer schmalen Tür begegnet und hatte den Blick gesenkt, und als er aufsah, hatte sie ihn angelächelt, und beim Erwachen hatte ihn kurz eine überwältigende Freude erfasst.
»Du siehst total beschissen aus, Kumpel«, sagt Ferdinand, der ihm am Tisch im Speisewagen gegenübersitzt.
»Ja?«
»Alles klar mit dir? Du wirkst angeschlagen.«
Ferdinand will offenbar gut Wetter machen, denkt er.
Am Vortag war es zu einem Streit über die Reisepläne gekommen.
Simon hatte einen frühen Zug nach Prag nehmen wollen. Ferdinand hatte sich dagegen gesträubt. Er wollte Otto beim Wort nehmen und sich zeigen lassen, wo es in Berlin so richtig abging.
Simon hatte wie üblich still auf seinem Willen beharrt – und dann stellte sich heraus, dass er in Leipzig aussteigen wollte, um die Grabstätte Johann Sebastian Bachs zu besuchen.
Ferdinand hatte das Gefühl, gelinkt worden zu sein, und der Zwischenstopp in Leipzig war grässlich gewesen. Zehn Stunden im Bahnhof und den umliegenden, dieselverpesteten Straßen – der nächste Zug nach Prag fuhr erst mitten in der Nacht –, und alles nur für ein paar Minuten in der kalten Thomaskirche, die Simon selbst als »genau genommen belanglos« bezeichnet hatte.
Gegen Mitternacht, sie schwiegen sich nur noch an, setzten sie sich schließlich auf den Bahnsteig, um auf den Zug zu warten. Ein paar junge deutsche Christen sangen dort »Let It Be« und »Blowing in the Wind«, während der Regen im Schein hoher Laternen auf die dunklen Gleise fiel.
Simon scheint das Zerwürfnis nicht bemerkt zu haben, ganz zu schweigen von dem morgendlichen Versuch seines Freundes, die Sache wieder einzurenken.
Er schaut aus dem Fenster, die Sonne fällt auf sein hübsches Profil, nach der schrecklichen Nacht zittern seine Hände.
»Noch eine Stunde bis Prag«, sagt Ferdinand.
»Ja?« Simon hat plötzlich ein Bild im Kopf, ein Bild des menschlichen Lebens als Luftblasen, die im Wasser aufsteigen. Die Blasen steigen in Strömen und Wolken auf, berühren und vermischen sich und bleiben doch jeweils intakt, während sie aus der Tiefe zum Licht emporsteigen und sich am Ende an der Oberfläche auflösen. Im Wasser existieren sie physisch, individuell – an der Luft sind sie ein Teil der Luft, Teil eines unermesslich großen Ganzen, untrennbar mit allem anderen verbunden. Ja, denkt er, in den vom Nebel gedämpften Sonnenschein blinzelnd, mit Tränen in den Augen, so ist das – Leben und Tod.
»Wo übernachten wir?«, fragt Ferdinand.
»Keine Ahnung.«
»Jugendherberge?«
»Ja«, sagt Simon, noch immer die Landschaft betrachtend, den sich lichtenden Nebel.
Alles geschieht rasant. Der einfahrende Zug wird bereits von verzweifelten, unrasierten Männern erwartet. Ihre gereckten Köpfe gleiten an den Fenstern vorüber, während der Zug immer mehr an Tempo verliert. Die englischen Teenager sind schon Gegenstand von Gerangel, da stehen sie noch auf den Metalltritten der Tür, und Minuten später sitzen sie in einem Škoda, der älter ist als sie selbst, dessen Motor wie eine Wespe brummt und mächtige Wolken bläulich schillernder Abgase entlässt. Die Abgase riechen benebelnd süßlich. Ebenso die in Blüte stehenden Bäume. Ihr Fahrer spricht neben seiner Muttersprache nur ein paar Brocken Deutsch. »Zimmer frei, Zimmer frei«, hatte er im Bahnhof ständig wiederholt, und dann hatte er einfach so ihre Rucksäcke gepackt und war zu seinem Auto gesaust.
Sie fahren gut zwanzig Minuten, meist bergauf (also sehr, sehr langsam), bis sie einen frühlingsgrünen Vorort erreichen. Der Asphalt der Straße löst sich auf, die Häuser auf den kleinen Grundstücken wirken verwahrlost, und schließlich halten sie vor einem einstöckigen Haus mit einem Baum davor, dessen Blüten den Weg zur Haustür bedecken. Hier wohnt ihr Fahrer mit seiner Frau, und diese spricht ein wenig Englisch.
Als sie aus dem Škoda steigen, empfängt sie Vogelgezwitscher, und dann erscheint sie, öffnet das quietschende Tor voller Begeisterung, ja Ungeduld. Sie ist um die vierzig und sieht aus, als wäre sie gerade aufgestanden. Ihr Haar – goldbraun – ist offen und ungekämmt, sie trägt einen gelben Bademantel und blaue Plastiksandalen. In diesen Sandalen läuft sie über den dicht von Blüten bedeckten Bürgersteig, durch das Gespinst der Schatten, zwischen denen Lichtflecke auf die glatte Haut ihres Gesichts fallen, drückt ihren jungen Gästen lächelnd ein paar Küsse auf die Wangen. Dann scheucht sie sie hinein und zeigt ihnen das Zimmer – ein Einzelbett, eine fleckige Matratze auf dem Fußboden, ein Fenster, vor dem sich Laub türmt. Sie lächelt die beiden an, als diese den Raum müde in Augenschein nehmen. »Ist gut?«, fragt sie.
Sie bittet sie, ihre Sachen abzustellen und mit ihr zu frühstücken, und sie folgen ihr durch einen Flur, in dem eine Waschmaschine steht, passieren ein ekelig wirkendes Bad und betreten dann die Küche.
Während Simon ihr in die Küche folgt, muss er wieder an den Traum denken, den er im Zug hatte. Dieser Traum kommt ihm wirklicher vor als der Ort, an dem er sich jetzt befindet, als die Waschmaschine, an der er gerade vorbeigegangen ist, als die sonnige Küche, in der man ihn auffordert, sich zu setzen.
im Grunde will ich einfach nur
Sie tut gerade etwas, in diesem Moment, sie tut etwas, als er sich in der sonnigen Küche an den kleinen, quadratischen Tisch setzt. Und das Lächeln, das sie ihm im Traum geschenkt hat, kommt ihm wirklicher vor als die Frau, die gerade Sachen aus dem Kühlschrank holt und ihnen erklärt, warum es die richtige Entscheidung gewesen sei, bei ihr zu wohnen.
Das Lächeln, das sie ihm im Traum geschenkt hat. Gut möglich, dass es nur Einbildung war. Eigentlich zog sie eine ernste Miene. Ihr blasses, von dunklen Haaren gerahmtes Gesicht wirkte ernst. Aber der Blick ihrer kornblumenblauen Augen war voller Zärtlichkeit, und er wusste irgendwie, dass sie ihn anlächelte. Dann erwachte er zum ersten Tageslicht, das bläulich in den Zug fiel, zum fiebrigen Geräusch der Räder auf den Gleisen.
Sie sagt, es gehe ihr nicht um Geld – das sei nicht der Grund dafür, dass sie Gäste aufnehme. Sie möge die Menschen einfach, sagt sie, und wolle ihnen helfen. Sie werde alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihnen zu helfen. »Ich helfe euch«, verkündet sie. Das Haus, gibt sie zu, liege zwar nicht gerade zentral, aber das Zentrum sei leicht zu erreichen. Sie will ihnen den Weg zeigen, und während sie essen, breitet sie einen Stadtplan auf dem Tisch aus und verfolgt den Weg zur U-Bahn-Station mit dem Finger. Dieser führt dummerweise über einen Knick, wo der Plan gefaltet wird, das Papier abgenutzt, alles undeutlich ist.
O ja, und sie trinken Sliwowitz aus kleinen, wie Eicheln geformten Gläsern, und in der Luft hängt grauer, in den Augen beißender Zigarettenrauch. Während sie sich über den großen, zerfledderten Plan von Prag mit den verschiedenfarbig markierten Stadtteilen beugt, zeigt sich, dass sie ihren Bademantel nachlässig geschlossen hat, und es stellt sich die Frage, was sie darunter trägt – ob sie etwas darunter trägt –, eine Entdeckung, auf die Ferdinand seinen Freund durch einen anzüglichen Blick und ein Nicken hinzuweisen versucht, aber dann tritt ihr Mann ein, nimmt die Zigarette aus dem kleinen Mund und sagt etwas auf Tschechisch.
Sie will ihn wegwedeln, blickt nicht einmal auf – verfolgt mit einem rissigen Fingernagel etwas auf dem Plan, eine schmale Straße –, und dann fechten sie einen kurzen, aber heftigen Streit aus.
Ferdinand lächelt immer noch anzüglich.
Sie beugt sich immer noch über den Stadtplan.
Ihr Mann steht kurz da, brodelnd vor Verdruss. Dann geht er, und sie erzählt, er müsse zur Arbeit. Früher sei er Fußballprofi gewesen, erklärt sie, jetzt Sportlehrer.
Sie zündet sich noch eine Zigarette an, legt Simon eine Hand auf das Knie. (Obwohl Simon so still ist, scheint sie besonderen Gefallen an ihm zu finden.) »Meine Mann«, sagt sie, »hat nur immer Fußball in dem Kopf.« Sie schweigt kurz. Ihre Hand liegt noch auf Simons Knie. »Verstehst du?«
»Ja«, sagt er.
Ein Obstbrand so früh am Morgen, noch dazu nach einer so schrecklichen Nacht, sorgt für eine große Benommenheit. Er weiß nicht recht, was los ist oder wovon sie spricht. Alles sticht ungewöhnlich stark hervor – die sonnendurchflutete Küche, die Bilder kleiner Kätzchen an der Wand, die blauen Augen der Frau des Fußballers, ihre glatte, durchsichtige Haut. Sie fixiert ihn mit einem verstörenden Blick. Er senkt den Kopf und sieht plötzlich ihre schmalen, nackten Knie.
Dann wieder ihr Blick.
»Er hat nur Fußball in dem Kopf«, wiederholt sie. Er betrachtet ihren Mund, als sie dies sagt. »Du verstehst.« Dieses Mal klingt es nicht wie eine Frage. Sondern wie eine Anweisung.
»Und ihr junge Männer«, sagt sie mit einem glücklichen Lächeln und greift nach dem Sliwowitz. »Ihr mögt Sport?«
»Ich schon«, antwortet Ferdinand.
»Ja.«
»Simon nicht so sehr.«
»Stimmt doch gar nicht«, murmelt Simon gereizt.
Sie scheint ihn nicht gehört zu haben. Sie fragt, an ihn gewandt: »Nein? Was du magst? Was du magst? Ich glaube, ich weiß, was du magst!« Und sie legt ihm wieder die Hand auf das Knie und lacht.
»Simon mag Bücher«, sagt Ferdinand.
»Oh, du magst Bücher! Wie schön. Ich mag Bücher! Oh …« – sie legt sich eine Hand auf das Herz – »… ich lieben Bücher. Mein Mann, er mag keine Bücher. Er hat nichts mit Kunst. Ihr habt es mit Kunst, oder?«
»Simon interessiert sich für Kunst«, bestätigt Ferdinand.
»Oh, wie schön!« Sie seufzt, ohne den Blick von Simon zu lösen. »Schönheit, Schönheit. Ich leben für Schönheit. Hier, ich dir zeigen.«
Sie führt ihn aufgeregt zu einem Gemälde im Flur. Eine flache, leblose Landschaft in hässlichen, grellen Farben. Sie habe es aus Venedig, erzählt sie ihm.
»Sehr hübsch«, sagt er.
Sie stehen eine Minute stumm da.
Während er das scheußliche Bild betrachtet, ist er sich ihrer Präsenz bewusst, ihrer Hand, die warm und schwer auf seiner Schulter ruht.
»Dein Freund«, sagt sie zu Ferdinand und zündet sich noch eine Zigarette an, »er versteht.« Sie sind wieder in der Küche.
»Er ist sehr klug«, sagt Ferdinand.
»Er versteht Schönheit.«
»Ganz eindeutig.«
»Er leben für Schönheit. Er ist wie ich.« Und dann wiederholt sie, während sie die Sliwowitzflasche öffnet: »Mein Mann, er hat nur Fußball in dem Kopf.«
»Der schöne Sport«, scherzt Ferdinand.
Sie lacht, aber es bleibt offen, ob sie die Ironie verstanden hat. »Ihr mögt Fußball?«, fragt sie.
»Ich bin eher der Rugby-Typ«, sagt Ferdinand.
Dann versucht er, Rugby zu erklären, während sie raucht und zuhört und hin und wieder Fragen stellt, die zeigen, dass sie nichts verstanden hat.
»Ist wie Fußball?«, fragt sie nach einer zehnminütigen, detailreichen Erklärung und wedelt den Rauch weg.
»Äh. Irgendwie schon«, erwidert Ferdinand. »Ja.«
»Und Mädchen?«, fragt sie. »Ihr mögt Mädchen?«
Diese Frage ist Ferdinand nicht so peinlich wie Simon, und nach kurzem Schweigen antwortet er: »Natürlich mögen wir Mädchen.«
Sie lacht wieder. »Natürlich!«
Sie betrachtet Simon, der den Tisch anstarrt. Sie sagt: »In Prag ihr findet viele Mädchen.«
Als sie auf der Karlsbrücke mit den verrußten Statuen und den auf dies und das zeigenden Touristen stehen, erklärt Simon die ganze Stadt zu einem seelenlosen Disneyland.
Im Veitsdom, sie schlendern durch das milde Licht, ein Hauch von Holzpolitur liegt in der Luft, liest er auf einem Plakat, dass Mozarts c-Moll-Messe am späten Nachmittag im Dom gespielt wird, und das muntert ihn etwas auf. Nachdem sie Karten gekauft haben, setzen sie sich neben dem Dom vor eine Tourikneipe.
Ferdinand raucht ausnahmsweise eine Zigarette, eine Philip Morris von Simon. Während ihm sein Freund erzählt, wie furchtbar er Prag findet, fallen Ferdinand zwei junge, an einem Nachbartisch sitzende Frauen auf. Vielleicht nicht die Prachtexemplare, die ihre Vermieterin verheißen hat – aber ganz okay. Eine ist sogar mehr als okay. Er spitzt die Ohren, um zu hören, worüber sie reden, und ihre Sprache zu bestimmen. Sie sind offenbar keine Einheimischen.
»Wie soll man als Tourist froh sein?«, fragt Simon. »Man latscht ständig rum, hat keine Peilung, sucht dieses und jenes …«
»Du bist ja echt gut drauf.«
»Ich bin jedenfalls nicht schlecht drauf. Ich meine ja nur …«
Offenbar sind es Engländerinnen. »Und die beiden?«, fragt Ferdinand leise.
»Was ist mit den beiden?«, erwidert Simon.
»Was meinst du?«
Simon verzieht das Gesicht schmerzhaft, vielleicht auch genervt.
»Ach, komm schon!«, sagt Ferdinand. »Sie sind nicht übel. Sie sehen ganz okay aus. Besser als die in Warschau.«
»Steiler als die Zähne zu sein, ist keine Leistung …«
»Ich habe einen steilen Zahn, wenn du verstehst, was ich meine.« Ferdinand lacht. »Ich frage sie mal, ob sie sich zu uns setzen.«
Simon seufzt genervt und zündet sich mit leicht zitternden Händen eine weitere Zigarette an. Er sieht zu, als Ferdinand beneidenswert selbstverständlich zu den Mädchen geht und sie anspricht. Er zeigt auf den Tisch, an dem Simon sitzt, und dieser schaut rasch weg, richtet den Blick auf den beruhigend dunklen gotischen Koloss des Veitsdoms. Er betrachtet ihn immer noch, tut auf jeden Fall so, als Ferdinand sagt: »Das ist mein Kumpel Simon.«
Er dreht sich zur Sonne um, verengt die Augen. Sie stehen da, ihr Getränk in der Hand. Eines der Mädchen trägt einen Sonnenhut. Ferdinand bittet sie mit einer Geste, sich zu setzen, was sie zögerlich tun. »Also«, sagt Ferdinand, der sich ebenfalls setzt, mit einem lauten, schabenden Geräusch und übertrieben höflich, »wie gefällt euch Prag? Wie lange seid ihr schon da? Wir sind erst heute früh angekommen – wir haben noch nicht viel gesehen, oder Simon?«
Simon schüttelt den Kopf. »Nein, nicht viel.«
»Wir haben uns den Dom angeschaut«, erzählt Ferdinand. »Simon steht auf Kirchen.« Die Mädchen werfen ihm einen Blick zu, als würden sie eine Bestätigung oder Verneinung erwarten, aber Simon schweigt. »Wart ihr auch schon drin?«, fragt Ferdinand und richtet die Frage vor allem an das Mädchen mit Sonnenhut, die attraktivere von beiden.
»Ja, gestern«, sagt sie.
»Ziemlich beeindruckend, oder?«
Sie lacht. »Ganz nett«, sagt sie, als hätte Ferdinand einen Witz gemacht.
»Na, ja, sie sind alle irgendwie gleich, finde ich«, meint er. »In dieser Ecke Europas haben wir fast alle Kirchen abgeklappert, ich kenne mich also aus.«
»Echt?«
»Du weißt schon, was ich meine.«
»Wo wart ihr überall?«, will sie wissen.
So kommen sie ins Gespräch – wo warst du, was hast du so gesehen.
Ferdinands Verhalten irritiert Simon. Er hält es für eine Maske, die sein Freund bei Begegnungen mit Fremden aufsetzt, findet es irgendwie heuchlerisch und versteht sein Schweigen als Protest gegen diese Heuchelei. Wie auch gegen die Öde des Ganzen – als er von Sonnenhuts Freundin nach seiner Lieblingsmusik gefragt wird, zuckt er nur mit den Schultern und antwortet, er wisse es nicht.
Ferdinand erzählt von dem japanischen Paar, das in Krakau auf dem Hauptmarkt tanzte – er mit Leinenanzug und Panamahut, sie in einem türkisfarbigen Glitzerkleid. Später erzählt er, wie sie an der polnisch-deutschen Grenze aus dem Zug geholt und von schnauzbärtigen deutschen Grenzbeamten gefilzt wurden. »Sie hatten vor allem Simon auf dem Kieker«, sagt er lächelnd, was bei den Damen tatsächlich eine gewisse Heiterkeit auslöst, und auch Simon lächelt, aber schwach und freudlos, akzeptiert die Rolle, die ihm seinem Gefühl nach aufgezwungen wurde.
»Komplett gefilzt, bis auf die Haut«, sagt Ferdinand.
Sonnenhut lacht schockiert und schrill. »Wie? Im Ernst?«
»Nein«, sagt Simon, ohne sie anzusehen. Und dann verkündet er, ausdrücklich an Ferdinand gerichtet, als wären sie unter sich: »Ist schon fast fünf.«
»Ach, so?«, meint Ferdinand, als hätte er Simons Worte nicht verstanden.
»Ja«, sagt Simon. Kurzes Schweigen. »Du weißt schon, das …«
»Richtig«, sagt Ferdinand und scheint kurz nachzudenken, während die anderen abwarten. Dann wendet er sich an Sonnenhut: »Um fünf beginnt ein Konzert. Wird bestimmt super. Warum kommt ihr nicht mit?«
Sie sieht ihre Freundin an, die mit den Schultern zuckt. »Wo findet es statt?«
»Gleich hier!« Er zeigt auf den über ihnen aufragenden Dom. »Da drin. Mozart oder so. Mozart, stimmt’s?«
»Ja«, antwortet Simon ohne Begeisterung.
»Simon fährt total auf den Scheiß ab«, erklärt Ferdinand.
Die Mädchen wechseln wieder einen Blick – verständigen sich wortlos.
Ihre Ausrede lautet, dass sie nicht viel Geld haben.
Ferdinand sagt: »Wir können uns ja danach treffen.« Er lächelt immer noch. »Dauert nicht lange, glaube ich. Wie lange dauert es?«, fragt er Simon, als wäre dieser sein Sekretär.
»Weiß nicht genau«, sagt Simon. »Eine knappe Stunde. Schätze ich.«
»Dann treffen wir uns hier, wenn es vorbei ist«, schlägt Ferdinand vor. »In einer guten Stunde?«
Die Mädchen willigen ein, und Ferdinand und Simon brechen auf.
»Die mit dem Sonnenhut ist doch echt nett, oder?«, meint Ferdinand.
»Sie ist okay.«
»Sie ist mehr als okay – sie ist scharf. Und ihre Freundin?«
»Was soll mit ihr sein?«
Ferdinand lacht fröhlich. »Ja, ich weiß, was du meinst«, sagt er.
Er summt glücklich vor sich hin, als sie sich auf eine Kirchenbank setzen.
»Was hören wir jetzt noch gleich?«, fragt er.
»Mozarts Messe«, antwortet Simon, ohne ihn anzusehen, »in c-Moll.«
»Ja, genau.« Und als wolle er bis auf die Musik alles ausblenden, schließt er die Augen und faltet die Hände im Schoß.
Die Musik beginnt.
Die Musik.
Als sie später zur Kneipe zurückkehren, die jetzt vom Schatten des Doms überflutet ist, stellen sie fest, dass die Mädchen weg sind. Simon scheint die Musik noch im Ohr zu haben, während sein aufgebrachter Freund den Kellner fragt, ob man eine Nachricht für ihn hinterlassen habe, scheint immer noch die Stimme der unsichtbaren, weit vorne stehenden Sopranistin zu hören, die das hohe Gewölbe ausfüllt. Und während sie vor der Kneipe darauf warten, dass die Mädchen vielleicht doch noch aufkreuzen, während sein Freund am Rand des Sitzbereiches steht und in die von Touristen wimmelnde Dämmerung starrt, sitzt Simon rauchend da, immer noch mit der Stimme im Ohr. Sie hatte etwas Weihevolles.
Ferdinand wirkt verzweifelt, als er an den Tisch zurückkehrt.
Sie hatte etwas Weihevolles.
»Scheiße«, sagt Ferdinand.
Diese funkelnde Musik brachte etwas Weihevolles in das gewaltige Gewölbe aus Stein.
»Sie kommen nicht mehr.«
Diese funkelnde Musik, die Stimme der unsichtbaren Sopranistin.
Das gewaltige Steingewölbe ausfüllend.
»Nein«, sagt Simon.
Ferdinand setzt sich und zieht wortlos eine Philip Morris aus Simons Schachtel. Er bemüht sich um Gefasstheit. »Und was jetzt?«, fragt er.
Sie verlassen die Kneipe und suchen ein Restaurant.
Sie ziehen orientierungslos durch schmale Gassen.
Ferdinand hält vor einem Zeitungsstand, um nach dem Weg zu fragen.
Während sein Freund versucht, sich verständlich zu machen, fällt Simon auf, dass viele der Zeitschriften pornographisch sind – er erblickt riesige Brustwarzen, nackte, weiße Haut, offene Münder. Dieser Stand hat ausschließlich Pornographie im Angebot. Der Verkäufer, ein kleiner, müde wirkender Mann, spricht kein Englisch. Er bedeutet Ferdinand zu warten und huscht in einen Laden mit leerem Schaufenster.
Kurz darauf erscheint er mit einer Frau mittleren Alters, die ein schlichtes, blaues Kleid trägt. Simon hat Mitleid mit ihr, weil sie diesen Stand voller Schmutz vor ihrem Laden ertragen muss. »Ja?«, fragt sie und tritt schüchtern lächelnd näher.
Ferdinand erklärt, dass sie sich verlaufen haben und etwas essen möchten.
Sie erklärt ihm den Weg zu den Stellen, die ihnen bekannt sind, und sagt entschuldigend, sie kenne hier in der Nähe leider kein geöffnetes Restaurant. »Tut mir leid«, sagt sie.
»Nein, nein, nicht doch«, erwidert Ferdinand. »Vielen Dank für Ihre Hilfe …«
»Und ihr kauft Zeitschriften?«, fragt sie.
Die Frage scheint vor allem an Simon gerichtet zu sein, der immer noch rauchend vor dem Stand steht. Er sieht sie an, als hätte er nicht verstanden.
»Sex«, sagt sie und weist auf den Stand.
Sie setzt ein Lächeln auf, und als sie dies tut, kommt ihm ihr Gesicht plötzlich grauenhaft vor – wie das eines bösartigen, kleinen Tieres mit winzigen, gelben Zähnen.
»Nein«, sagt er schnell.
»Du kannst schauen«, sagt sie, immer noch lächelnd, löst eine der in Plastik steckenden Zeitschriften von der Schnur und hält sie ihm hin. »Du schauen.«
»Danke, aber wir sind nicht interessiert«, sagt Ferdinand.
»Warum nicht?«, fragt sie leise lachend.
»Interessiert uns einfach nicht«, sagt Ferdinand und folgt seinem Freund, der schon halb die Straße hinunter ist. »Danke.«
Sie essen im Pizza Hut und fahren danach mit der U-Bahn bis zur Endstation in den Vororten.
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