Über das Buch

Alle haben Familie. Und alle haben manchmal Schwierigkeiten mit ihr. Die Philosophin Barbara Bleisch geht einem der prägendsten und spannungsreichsten Verhältnisse in unserem Leben auf den Grund: der Beziehung zu den eigenen Eltern. Ihr Buch fragt nach den Spielregeln, die in engen Bindungen gelten, und skizziert eine Moral der Familienbeziehung, die jeden angeht.

Sätze wie »Ich habe dich unter Schmerzen geboren!« oder »Blut ist dicker als Wasser!« zeigen, wie aufgeladen das Verhältnis zu den eigenen Eltern ist. Pointiert und zugänglich schildert Warum wir unseren Eltern nichts schulden diese existentielle und zugleich komplizierte Verwandtschaftsbeziehung. Barbara Bleisch macht deutlich, was Kinder im Guten wie im Schlechten an ihre Eltern bindet. Dabei plädiert sie für eine Änderung der Blickrichtung: Wenn wir uns fragen, wozu wir unseren Eltern verpflichtet sind, sollten wir nicht zurück in die Kindheit blicken, sondern in die Zukunft. Wir sollten für uns klären, worin das Potential unserer heutigen Beziehung zu unseren Eltern besteht – und wie wir als Kinder respektvoll und klug mit der Verletzlichkeit umgehen können, die ihr entspringt.

Immerhin wird uns die Bindung zu den eigenen Eltern zeit unseres Lebens begleiten. Barbara Bleisch zeigt, dass aus diesem Umstand keinerlei Pflichten erwachsen – dass es aber gute Gründe gibt, sich um die Beziehung zu den eigenen Eltern zu bemühen.

Barbara Bleisch

Warum wir unseren Eltern nichts schulden

Carl Hanser Verlag

MEINEN ELTERN

»Das höchste Abenteuer besteht nicht im Sich-Verlieben;
es besteht im Geborenwerden.«

GILBERT KEITH CHESTERTON

»Emanzipieren, von lateinisch emancipare:
eigentlich einen erwachsenen Sohn oder einen Sklaven
aus der väterlichen Gewalt in die Selbstständigkeit entlassen.«

DER DUDEN, 2017

»No man is an island.«

JOHN DONNE

Inhalt

1 Einleitung

2 Schuld

3 Dankbarkeit

4 Freundschaft

5 Verwandtschaft

6 Verletzlichkeit

7 Das gute Kind

Dank

Anmerkungen

Nachweis der Motti

1 Einleitung

»Die Philosophie kann uns zwar nicht mit Sicherheit sagen,
wie die richtigen Antworten auf die gestellten Fragen heißen,
aber sie kann uns viele Möglichkeiten zu bedenken geben,
die unser Blickfeld erweitern und uns von der Tyrannei
des Gewohnten befreien.«

BERTRAND RUSSELL1

Alle haben Familie. Und die Beziehung zur eigenen Familie ist gewiss nicht immer leicht. Kürzlich erst hat mir ein Freund erzählt, wie schwierig sein Verhältnis zu seinen Eltern ist. Er war nicht der Erste und wird sicher nicht der Letzte sein, von dem ich so etwas höre. Mein Freund und seine Frau arbeiten beide gern und viel. Seine Eltern werfen ihm seit einiger Zeit vor, seinem Kind keinen geregelten Alltag zu bieten. Vor allem behaupten sie, der Junge leide unter der Trennung von seiner Mutter, die viel zu oft abwesend sei. Die Mutter meines Freundes kann außerdem nicht verstehen, warum Frauen heutzutage eigentlich immer alles haben müssten.

Mein Freund ist die ständigen Sticheleien leid. Er hat schon überlegt, einfach länger nicht mehr zu seinen Eltern zu fahren. Gleichzeitig will er seinen Eltern ihr Enkelkind nicht vorenthalten, und natürlich sind ihm seine Mutter und sein Vater auch wichtig. Da er ihre Bemerkungen aber einfach nicht mehr erträgt und die Reiserei in die Stadt seiner Eltern sowieso viel Aufwand ist, hat er sich jetzt entschieden, nicht zum achtzigsten Geburtstag des Vaters zu fahren. Seine Eltern sind tief gekränkt, und seine Schwester macht ihm bittere Vorwürfe: Immerhin seien das doch seine Eltern, und der achtzigste Geburtstag sei nicht irgendein Geburtstag. Mein Freund hat ein schlechtes Gewissen: Natürlich hat seine Schwester recht, Eltern sind etwas Besonderes, und er weiß ja auch, wie wichtig es ihnen ist, dass er und seine Schwester zu diesem Fest erscheinen – auch, weil sein Vater an einer beginnenden Demenz leidet und seine Mutter sich für den großen Abend Unterstützung von ihren Kindern erhofft hatte.

Das Ganze ist schlicht zermürbend. Dabei sollte es doch schön sein, eine Familie zu haben! Mein Freund fragt sich: Macht seine Schwester ihm zu Recht Vorwürfe? Ist er hartherzig, wenn er erst einmal vor allem an sich denkt? Muss man sich als Sohn nicht einfach um seine Eltern kümmern?

Ich kenne seine Familie gut. Ich habe auch die Eltern oft getroffen und halte sie für hilfsbereite, freundliche Menschen. Sie mögen manchmal etwas veraltete Vorstellungen haben, was Erziehung und Gleichstellung anbelangt – aber bösartig erschienen sie mir nie. Dennoch finde ich falsch von ihnen, dass sie ihrem Sohn Vorhaltungen zu seiner Lebensweise machen. Aber andererseits: Ist es nicht trotzdem respektlos von meinem Freund, wenn ausgerechnet er als Sohn sie in einem so wichtigen Moment ihres Lebens wie einem hohen Geburtstag allein lässt?

Solche und ähnliche Geschichten gibt es überall. Viele in meinem Umfeld sind beruflich sehr eingespannt, manche arbeiten im Ausland, haben zeitintensive Hobbys oder einen großen Freundeskreis. Die meisten gründen, sind sie erst mal erwachsen, eigene Familien mit Partnerinnen, Partnern und Kindern, die von da an ebenfalls ihre Ansprüche geltend machen. Allein schon aus zeitlichen Gründen verläuft der Kontakt zu den eigenen Eltern oft nicht reibungslos – wobei das sicher nicht das einzige Problem zwischen den Generationen ist, wie dieses Buch zeigen wird.

Und alle fragen sich: Was schulde ich meinen Eltern? Sollte ich meine Eltern öfter besuchen oder wenigstens regelmäßiger anrufen? Ist es etwa falsche Rücksichtnahme von mir, meinem Vater zu verschweigen, dass ich seine lehrerhaften Leserbriefe an seine Lokalzeitung peinlich finde? Oder im Gegenteil das gebotene Maß an Höflichkeit? Müssen längst erwachsen gewordene Kinder den Wunsch ihrer Mutter respektieren, dass sie keine Pflegehilfe möchte, und sich damit abfinden, dass sie im Alter immer ungepflegter erscheint? Müssen sie sich die politischen Ansichten ihrer Eltern immer weiter anhören, auch wenn sie sie abscheulich finden? Dürfen sie den Eltern sagen, dass sie die Einladung in die Ferien großartig finden, aber lieber allein in Urlaub fahren möchten? Dürfen Kinder schließlich ein paar Jahre später die antike Kommode, die ihnen die bereits verstorbenen Eltern vermacht haben, auf Ebay versteigern? Was schuldet jeder von uns seinen Eltern – als deren Tochter, als deren Sohn? Ist allein schon der Umstand, dass wir alle jemandes Kinder sind, auch ein Anlass für eine Verpflichtung diesen Menschen gegenüber?

Dieses Buch geht diesen Fragen auf den Grund. Es untersucht, ob Kinder sich, wenn sie erst einmal erwachsen sind, speziell um ihre Eltern kümmern müssen, und zwar allein deshalb, weil sie ihre Kinder sind. Diese Frage ist zugegebenermaßen unbequem. Sie auch nur aufzuwerfen, klingt undankbar – als würde man sich darüber unterhalten, ob man dem Kellner wirklich ein Trinkgeld schuldet, und damit bereits signalisieren, dass man mit seinen Diensten nicht zufrieden war. Eltern jedoch haben in aller Regel reichlich in die ›Dienste‹ an ihren Kindern investiert – ja, ohne ihr Zutun gäbe es die Kinder nicht einmal. Doch die Frage zu stellen, ob wir unseren Eltern überhaupt zu etwas verpflichtet sind, muss nicht Ausdruck von fehlender Dankbarkeit sein und schon gar nicht eine Absage an die Beziehung zu ihnen.

Dabei stimmt natürlich, dass wir in persönlichen Beziehungen meist erst dann nach unseren Pflichten fragen, wenn Sand im Getriebe knirscht. Frisch Verliebte fragen eher nicht, was sie sich schuldig sind, sondern lesen sich die Wünsche gegenseitig von den Lippen ab. Und auch enge Freundinnen und Freunde werden sich selten fragen, was sie einander schulden – und tun sie es doch wiederholt, ist das meist ein Anzeichen dafür, dass sie sich der Verbindung zueinander nicht ganz sicher sind. Der deutsche Philosoph Rüdiger Bittner hat deshalb Pflichten und Rechte im Fall von Beziehungen als »Störungsbegriffe« bezeichnet: Wir nehmen erst Bezug auf die Sprache der Moral, wenn es in Beziehungen nicht rund läuft – beispielsweise, wenn wir uns im Stich gelassen fühlen oder uns das Verhalten des Gegenübers irritiert. Möglich, dass bereits die Frage, was genau wir eigentlich unseren Eltern schulden, auf eine solche Störung hinweist. Doch Beziehungen, und gerade Familienbeziehungen, sind eben nicht ausschließlich Schönwetterveranstaltungen. Der Familienstreit gehört zur Familie ebenso dazu wie das Familienglück. Und weil wir alle früher oder später auch mit den schwierigen Seiten von Familien konfrontiert werden können, lohnt sich die Auseinandersetzung mit der Frage, wozu Familie moralisch verpflichtet, auf jeden Fall.

Natürlich ist es auch möglich, dass man das Verhältnis zu den eigenen Eltern durchaus als intakt empfindet – sich aber dennoch etwa die Frage stellt, ob man sich mehr um sie kümmern sollte, ob man sie zu oft für die Betreuung der Enkel einspannt oder sich in Konflikten loyaler zeigen müsste. Die Klärung der Frage, ob Familienmitglieder einander etwas schulden, muss also nicht zwingend auf einen schwelenden Konflikt hinweisen. Ebenso gut kann sie Ausdruck des redlichen Bemühens sein, für sich selbst Klarheit darüber zu bekommen, was eigentlich in einer Familie von einem verlangt ist. Denn in der Regel wollen letztlich die Allermeisten in einem moralischen Sinn anständig leben. Und für sich selbst Gewissheit haben, dass sie ihrer Verantwortung nachkommen und niemanden zu Unrecht übergehen.

Gerade in Familien sieht man sich aber leicht mit diffusen Erwartungshaltungen konfrontiert – von den Eltern, von sich selbst, von Dritten. Wir denken, wir dürften uns gewisse Freiheiten nicht nehmen, und sind gleichzeitig verstimmt, weil wir die Ansprüche des Gegenübers als übertrieben empfinden. In diesem Zwiespalt wollen wir unser schlechtes Gewissen gern ablegen und Vorwürfe gelassen kontern können. Sind wir wirklich der liederliche Sohn, die unnütze Tochter, für die uns andere vielleicht halten? Gehen wir zu Recht so hart mit uns ins Gericht, wenn wir uns Freiheiten herausnehmen, die Mutter und Vater missfallen? Die Empörung, mit der andere auf unser Verhalten reagieren, kann manchmal durchaus ein Hinweis darauf sein, dass wir moralische Fehler begehen und unser Verhalten ändern sollten. Unser eigenes schlechtes Gewissen hat eine ähnliche Funktion: Als eine Art »internalisierte Empörung«2 kann es uns selbst zur Ordnung rufen, indem es uns signalisiert, dass wir eine Grenze zum Unrecht überschritten haben. Doch ist ein schlechtes Gewissen – und ebenso sein Ausbleiben – nicht immer die verlässlichste Partnerin, wenn es darum geht, abschließend zu beurteilen, ob und wie wir gut und richtig handeln. Nur weil sich in uns oder in anderen Widerstand regt, heißt das noch nicht, dass wir auch tatsächlich etwas falsch machen, sondern es bedeutet erst einmal nur, dass wir nachfragen und darüber nachdenken müssen, ob die Empörung auch begründet ist. Finden wir keine Gründe, besteht vielleicht auch gar keine Pflicht. Nach unseren moralischen Pflichten zu fragen, heißt deshalb immer auch, vertraute Konventionen zu hinterfragen und tiefer zu bohren nach dem Fundament, von dem aus Ansprüche geltend gemacht werden, mit denen wir uns konfrontiert sehen oder andere konfrontieren.

Die Tiefenbohrung in diesem Buch gibt eine klare Antwort auf die Frage, was Kinder ihren Eltern schulden – nämlich nichts. Die Meisten gehen allerdings ganz im Gegenteil davon aus, dass allein die Tatsache, dass jemand mein Vater, meine Mutter ist, mich in besonderer Weise moralisch verpflichtet. Ich will zeigen, dass das in dieser Form nicht zutrifft. Was natürlich nicht heißt, dass wir unsere Eltern behandeln können, wie wir wollen. Denn Respekt schulden wir allen Menschen und deshalb eben auch unserer Mutter und unserem Vater, und zwar ganz unabhängig von der Qualität unserer Beziehung zu ihnen. Mutwillig verletzen, ausnutzen oder beschämen dürfen wir niemanden, auch wenn das in Familien geradezu fürchterlich einfach ist: Denn einerseits kennt man seine Pappenheimer meist sehr gut und weiß um ihre wunden Punkte. Und andererseits ist den Allermeisten an einer intakten Beziehung zu ihren Eltern beziehungsweise ihren Kindern gelegen, und sie sind zu entsprechend großen Zugeständnissen bereit.

Doch das grundlegendste moralische Verbot lautet, dass man einander nicht ohne Not Schaden zufügen darf, beispielsweise in Notwehr, und diese Regel gilt natürlich auch in Familienverhältnissen. Dieses Buch ist also kein Plädoyer, die eigenen Eltern ins Pflegeheim abzuschieben, sie zu ignorieren, kaltherzig über ihre Bedürfnisse und Anliegen hinwegzusehen. Vielmehr ist es ein Aufruf dazu, Familienbeziehungen als das zu sehen, was sie im Kern sind: in vielerlei Hinsicht bedeutungsvolle und außergewöhnliche Kontexte, die von unermesslichem Wert für uns sein können.

In einer Hinsicht jedoch sind sie eben nicht außergewöhnlich: Sie schaffen keine speziellen Pflichten über das hinaus, was wir allen Menschen schulden. Mag sein, dass es Kinder und Eltern gibt, die einander konkrete Dienste oder Hilfestellungen versprochen haben und die sich deshalb auch an das gegebene Versprechen halten müssen. Oder die eng miteinander befreundet sind und aufgrund dieser Freundschaft berechtigte Erwartungen aneinander hegen. Doch nur, weil bestimmte Personen ihre Eltern sind, schulden Kinder ihnen erst einmal nichts. Es gibt nämlich, und das ist die These dieses Buches und zugleich ein zentraler Begriff, auf den wir immer wieder zurückkommen werden, keine filialen Pflichten – keine Pflichten, die wir allein aufgrund des Umstands haben, dass wir die Tochter oder der Sohn von jemandem sind.

Eines ist klar: Kinder haben um die Beziehung zu ihren Eltern ebenso wenig gebeten wie um ihr Leben. Familie hat man; nur Freundinnen und Freunde kann man sich aussuchen. Die Rede von der Wahlverwandtschaft ist deshalb genau genommen irreführend: Verwandte sind zuallererst die Leute, die man unter keinen Umständen auswählen kann, sondern vom Zufall vorgesetzt bekommt. Mit eigener Verantwortung und einem vorangehenden freien Entschluss hat das letztlich wenig zu tun – und dennoch greift die Rechtsprechung in vielen Ländern ständig und vor allem lebenslänglich auf die Familie zurück. Wie das sogenannte ›Rabenvater-Urteil‹3 in Deutschland erst vor wenigen Jahren zeigte, werden erwachsene Kinder beispielsweise selbst dann für Unterhaltszahlungen zugunsten ihrer pflegebedürftigen Eltern zur Kasse gebeten, wenn die Eltern ihrerseits schon Jahre zuvor den Kontakt zum Kind abgebrochen haben. Die entsprechenden Regelungen mögen aus gesamtgesellschaftlichen Überlegungen ihre Berechtigung haben. Aus moralischer Perspektive sind sie aber weder alternativlos noch zwingend gerechtfertigt. Mit dem demographischen Wandel und dem Zuwachs an pflegebedürftigen Menschen wird in Zukunft über solche Maßnahmen vermutlich immer heftiger gestritten werden.

Während dieses Buch also die These vertritt, dass es keine filialen Pflichten gibt – dass wir unseren Eltern also nichts Besonderes schulden, weil sie unsere Eltern sind –, gehen viele von völlig anderen Vorstellungen aus. Manchen fällt an dieser Stelle das fünfte Gebot im Alten Testament ein, das dazu anhält, Vater und Mutter zu ehren.4 Und auch in den einschlägigen Internetforen, in denen sich verlassene Eltern bitter über ihre undankbaren Kinder beklagen, die den Kontakt zu ihnen scheinbar grundlos abgebrochen haben, spiegelt sich die tiefe Überzeugung, dass Kinder ihren Eltern eine Menge schulden. Dabei zeigen entsprechende Untersuchungen: Leichten Herzens brechen Kinder ihre Beziehungen nahezu niemals ab; natürlich liegt ihnen an einem guten Verhältnis zu ihren Eltern.5 Selbst Kinder, die zeitlebens unter ihren Eltern leiden, bemühen sich zum Teil in fast grotesker Weise, ihnen dennoch gerecht zu werden – denken wir etwa an Franz Kafka, der in seinem berühmten Brief an den Vater schreckliche Grausamkeiten beschreibt, die ihm der Vater zugefügt hat, und dennoch zugesteht: »Wobei ich Dich aber immerfort bitte, nicht zu vergessen, daß ich niemals im entferntesten an eine Schuld Deinerseits glaube.«6

Warum dieser Hang, die eigenen Eltern immer neu zu verteidigen? Wahrscheinlich ist er auch darin begründet, dass man die Beziehung zu ihnen nie gänzlich überwinden kann. Die Eltern gehören einfach zu uns, ob wir wollen oder nicht. Wir bleiben ihre Kinder, auch wenn sie uns verstoßen, und sie bleiben Vater und Mutter, auch wenn wir uns nicht mehr blicken lassen. Während man sich mit Freunden auseinanderleben und von Liebespartnern trennen kann, kann man sich von der eigenen Herkunftsfamilie zwar entfremden; gänzlich kappen lassen sich die Bande jedoch nicht. Wie entfernt wir auch voneinander leben mögen, wie irritierend wir die gegenseitigen Ansichten finden können, ja, wie sehr wir uns zu zerstreiten in der Lage sind – »bis dass der Tod uns scheidet« bleiben wir alle Sohn oder Tochter, und, wenn wir Kinder haben, Vater oder Mutter. Familie ist nicht deutungsoffen. Sie hat deshalb stets einen »Beigeschmack von Wahrheit«, wie der österreichische Schriftsteller Karl Kraus schrieb.

Diese »Wahrheit« ist dem Umstand geschuldet, dass uns die Wahl unserer Angehörigen nicht offensteht. Ihren »Beigeschmack« erhält sie dadurch, dass wir in ihr auf besondere Weise verletzlich sind. Verletzlichkeit ist zwar die Kehrseite jeder nahen persönlichen Beziehung: Wenn wir lieben und vertrauen, können wir enttäuscht, ausgebeutet, von Verlusten getroffen werden. Gerade weil Beziehungen schiefgehen können, haftet ihnen stets etwas Riskantes an – ein Risiko, das wir in den meisten Fällen vermeiden könnten, wenn wir uns gar nicht erst auf die Beziehungen einließen und uns ihrer Intimität verweigerten. Aber ganz abgesehen von der Frage, ob es wirklich eine erfüllende Lebensform wäre, sich allein aus Angst vor Verletzungen gegen Beziehungen zu verwahren – in Familienbeziehungen haben wir diese Freiheit nicht. Wir starten nun einmal alle als von jemandem Geborene in unser Leben. Es eint uns, wie Hannah Arendt es nannte, unsere »Natalität«7, und deshalb bleibt uns auch nichts anderes übrig, als diese unsere familiäre Verletzlichkeit anzunehmen und möglichst umsichtig mit ihr umzugehen. Das Beharren auf Ansprüchen, die Kinder zu erfüllen hätten, hilft dabei weder den Kindern noch den Eltern – im Gegenteil: Erst aus der Freiheit heraus, sich ohne Pflichtgefühl auf die eigenen Eltern einzulassen, werden Kinder den Reichtum neu entdecken können, den eine Familie ja in vielen Fällen birgt. Auch von diesem Reichtum und den Gütern, die eine Familie speziell wertvoll machen können, handelt dieses Buch.

Das Buch ist dabei aber wohlgemerkt kein psychologischer Ratgeber, sondern eine philosophische Untersuchung: das heißt, der Versuch, Vorurteile nicht einfach blind zu bestätigen, sondern sie zu hinterfragen und zum Selberdenken aufzufordern. Menschen werden von ihrer Familie tief geprägt, sie werden in ihrer ganzen Art zu leben berührt. Inwiefern uns Philosophie helfen kann, in einem therapeutischen Sinn besser mit offenen Wunden und Enttäuschungen umzugehen, wird in der Philosophie selbst kontrovers diskutiert. Ausgehend von Sokrates, Ludwig Wittgenstein und dem amerikanischen Philosophen Stanley Cavell wird gerade auch in jüngster Zeit das therapeutische Vermögen der Philosophie im Sinne einer Lebenskunst wieder vermehrt betont. Philosophie hat aber ganz bestimmt nicht nur tröstende oder heilende Aspekte, sondern auch die verwirrende Eigenschaft, stets noch weitere bohrende Fragen zu stellen. Noch schlimmer: Sie kann uns sogar hinsichtlich vieler Fragen oft nicht einmal mit Sicherheit sagen, wie die richtigen Antworten lauten, wie der britische Philosoph Bertrand Russell zugestand. Sie vermag aber für Russell etwas anderes, vielleicht Wichtigeres, nämlich uns »viele Möglichkeiten zu bedenken geben, die unser Blickfeld erweitern und uns von der Tyrannei des Gewohnten befreien«8. Philosophie ist in diesem Sinne immer auch radikal, weil sie nicht gelten lässt, was uns vertraut ist, allein schon deshalb, weil es uns vertraut ist. Vielmehr fragt sie nach Gründen und Rechtfertigungen für bestimmte Überzeugungen und erweitert so unseren Blick. Erst in dieser Erweiterung unseres Blickes auf uns selbst und die anderen kann zuweilen ein neues Verständnis füreinander keimen. Und vielleicht kann so auch Frieden in die Familie einkehren, wie sich das Franz Kafka in seinem Brief an den Vater wünschte.9

Sich der eigenen Familie auf eine Weise zu nähern, wie ich es in diesem Buch tue – mit kritischem Blick und ergebnisoffen, aber immer am Verstehenwollen dieses komplexen Verhältnisses orientiert –, ist zugegebenermaßen eine Luxussituation. In ärmeren Ländern, die über keinen so ausgebauten Sozialstaat verfügen, wie wir ihn gewohnt sind, in Katastrophengebieten oder auf der Flucht zählt oft allein die Familie. Sie zu hinterfragen, ist in solchen Kontexten unmöglich oder hätte unter Umständen dramatische Folgen. Vielleicht vergessen wir in unserem Wohlstand manchmal, wie wertvoll Familie eigentlich sein kann, wenn materielle Not den Alltag bestimmt und kein Versicherungswesen für uns einspringt.

Doch mein Buch geht zugleich von einem anderen Eindruck aus, nämlich dass wir allzu schnell rhetorisch fragen: »Wozu hat man denn Familie?«, ohne uns zu überlegen, ob jene, die man da ›hat‹, überhaupt leisten können und wollen, was man von ihnen erwartet. Mein Buch ist in diesem Sinne von einer Hoffnung getragen: Wenn wir die verschiedenen Möglichkeiten genau geprüft haben, was Kinder ihren Eltern warum schulden, können wir einander vielleicht befreiter und unbefangener begegnen. Denn dann wissen wir, worin unsere Verantwortung besteht und wie weit unsere Freiheit reicht. Liebe und Zuwendung wollen nicht vorgeschrieben sein, sie sollen aus freiem Herzen verschenkt werden. Eine Auseinandersetzung mit dem, was wir voneinander erwarten dürfen, ist dafür ein erster Schritt.

2 Schuld

»Erbitte dir zuerst Gesundheit, dann Wohlergehen,
drittens ein frohes Herz und zuletzt, niemandes Schuldner zu sein.«

PHILEMON VON SYRAKUS

Kinder großzuziehen, ist kein Pappenstiel. Ganz im Gegenteil: Elternschaft ist sowohl emotional als auch materiell eine ›kostenintensive‹ Tätigkeit. Das beginnt bei vielen Paaren heute bereits beim Versuch, schwanger zu werden, und betrifft ebenso die tatsächliche Schwangerschaft, die großes Glück, aber auch allerhand Leiden mit sich bringen kann. Ist das Kind erst einmal da, folgen für viele seliges Staunen, doch bald auch durchwachte Nächte mit einem schreienden Bündel im Arm, Phasen mit trotzigen Kindern, die an Irrationalität kaum zu überbieten sind, und hilflose Versuche der Verständigung mit pubertierenden Halbwüchsigen, die ihre Eltern ständig zugleich in Anspruch nehmen und von sich weisen.

Eltern zu sein, bringt erwachsene Menschen außerdem dazu, einen Großteil ihrer früheren Lebensgewohnheiten in Frage oder gleich ganz auf den Kopf zu stellen: ihre Ernährungsgewohnheiten und ihr Freizeitverhalten, ihren Einrichtungsstil, ihre Karrierepläne und die Wahl ihrer Ferienziele. Als Eltern schlüpfen sie plötzlich in ganz neue Rollen, die ihre bisherigen Präferenzen gehörig durcheinanderbringen. Der Philosoph Dieter Thomä etwa schreibt, als »praktizierender Vater« sei er »Beichtvater, Chauffeur, Friseur, Koch, Krankenpfleger, Lastesel, Lehrer, Reiseveranstalter, Seelentröster, Wäscher, Wohnungsgeber und vieles andere mehr«1. Auch wenn einen die eigenen Kinder zum Lachen bringen und herzerwärmend beglücken können und viele Eltern sagen, sie seien sogar eine der wichtigsten Quellen der Sinnstiftung, ist nicht von der Hand zu weisen, dass Mutter und Vater zu sein auch ganz schön an den Energiereserven zehrt. Außerdem strapaziert Elternschaft massiv den Geldbeutel: Je nach Berechnungsgrundlage und Land kostet ein Kind seine Eltern in Europa im Schnitt bis zu seiner Volljährigkeit zwischen 200.000 und 700.000 Euro – eine stolze Summe, mit der man sich durchaus den einen oder anderen Luxus, eine berufliche Neuorientierung, eine Auszeit, eine Weltreise oder vielleicht ein Eigenheim hätte leisten können. Einige Paare geraten wegen ihrer Kinder sogar in die Abhängigkeit der Fürsorge oder nehmen Kredite auf. Scheint es angesichts derart großer Leistungen durch die Eltern nicht naheliegend, dass die erwachsen gewordenen Kinder ihnen im Gegenzug etwas schulden, um das Lastenkonto zumindest einigermaßen ins Gleichgewicht zu bringen?

Diese Vorstellung ist nicht nur weit verbreitet, sie hat auch eine lange philosophische Tradition. Aristoteles verstand die schon zu seiner Zeit gängige Erwartung an Nachgeborene, sich im Erwachsenenalter fürsorglich um ihre Eltern zu kümmern, als das Tilgen einer Schuld,2 und Thomas von Aquin interpretierte das Gebot, die eigenen Eltern zu ehren, als ein Erstatten empfangener Gaben3. Da Eltern ganz offensichtlich mit der Aufzucht und Erziehung ihrer Kinder massiv in Vorleistung gegangen sind, scheint es nur plausibel, dass für die Kinder mit der Mündigkeit die Zeit des Abzahlens beginnt. Erwachsene Kinder haben, so verstanden, ihren Eltern gegenüber also eine Pflicht, die sich analog zur Pflicht eines Schuldners gegenüber seinem Gläubiger verhält: Sie schulden den Eltern die Rückzahlung all jener Profite, die sie von ihnen bezogen haben – und die die Eltern auch für eigene Zwecke hätten nutzen können. Das haben die Eltern aber eben nicht getan, sondern stattdessen den Nachwuchs umsorgt, gefüttert, gefördert und großgezogen. Wenn die Eltern von ihrem Nachwuchs nun eine Gegenleistung erwarten, scheint dies also alles andere als vermessen. Sie haben schlicht ein Anrecht darauf, dass die Kinder, wenn sie erst einmal dazu in der Lage sind, ihre Schulden ihnen gegenüber begleichen.

Die Ausgangslage scheint also klar: Kinder schulden ihren Eltern aufgrund der bezogenen Profite in der Kindheit eine Menge. So einleuchtend diese Überlegung auf den ersten Blick scheinen mag: Ich glaube dennoch nicht, dass das Bild der Eltern-Kind-Beziehung als eine Beziehung zwischen Gläubiger und Schuldner passend ist, und zwar gleich wegen mehrerer Probleme. Erstens führt die Schuldner-Gläubiger-Analogie bereits an sich in die Irre. Sobald ein Schuldner seine Leistung erbracht hat, also beispielsweise Geld zurückzahlt, sind er und sein Gläubiger nämlich ›quitt‹; die Schuld ist abgetragen, der Gläubiger hat keine weiteren Ansprüche mehr, die er mit Blick auf den Schuldner geltend machen könnte. Einen solchen Zustand des Ausgleichs herzustellen, der das Ende der Verpflichtung markiert, ist ja gerade die Idee des Abzahlens von Schulden. Die Pflichten, die Kinder gegenüber ihren Eltern haben, lassen sich mit diesem Bild aber ganz offensichtlich nicht überzeugend einfangen. Denn filiale Pflichten sind, falls sie sich überhaupt begründen lassen, sicher nicht so angelegt, dass sie irgendwann einfach abgehakt wären, weil die Kinder ausreichend Güter erstattet hätten – Eltern werden ihren Kindern ja nicht vorrechnen, dass sie sie noch drei Mal besuchen müssen oder ihnen noch ein Jahresabonnement für den öffentlichen Verkehr bezahlen sollten, weil erst dann die Schuld abgetragen sei, die sich das Kind früher einmal eingehandelt habe.4 Ganz im Gegenteil: Eltern, die ihre Kinder an deren Schuldigkeit erinnern, sind vermutlich viel eher davon überzeugt, sie hätten mit ihren Kindern lebenslang eine Rechnung offen. Doch zum einen ist es eine bizarre Vorstellung einer Gläubiger-Schuldner-Beziehung, wenn der Verschuldete gar keine Möglichkeit hat, seinen Kredit je abzuzahlen. Und zum anderen wäre das entsprechende Bild schlicht grausam: Eltern bringen Kinder zur Welt, die vom ersten Moment an mit Schulden beladen sind! Das erinnert an die metaphysische Idee einer Erbsünde, an der wir unsere Familienbeziehungen wohl kaum ausrichten wollen.

Gehen wir aber davon aus, dass Kinder in der Lage sind, ihre Schulden zu begleichen und irgendwann mit den Eltern quitt zu sein, so taucht ein zweites Problem auf, nämlich jenes, dass unklar ist, worin eigentlich eine Rückzahlung der bezogenen Leistung bestünde. Die einen Eltern erwarten von ihren Kindern im Gegenzug wöchentliche Telefonanrufe, die anderen möchten regelmäßig besucht werden, die dritten würden gern bei den Kindern wohnen, die vierten wünschen sich, ihre Enkelkinder öfter zu sehen oder überhaupt Enkelkinder zu haben. Offensichtlich ist der Gegenstand der filialen Pflicht in diesem Bild gänzlich unbestimmt: Mit welchen Gütern genau wäre das ›Darlehen‹, das ein Kind bei seinen Eltern in Form von Fürsorge und Erziehung aufgenommen hat, zu erstatten? Mit Geld? Mit emotionaler Zuwendung? Mit Beziehungspflege? Mit Hilfestellungen im Alltag? Gläubiger-Schuldner-Verhältnisse schaffen dieses Problem üblicherweise ja gerade aus dem Weg, indem die zu tauschenden Güter vor dem Handel festgelegt werden: Ich leihe mir beispielsweise Geld bei meiner Freundin, um mich selbstständig zu machen, und wir machen aus, bis wann ich den Kredit in welchen Raten und zu welchem Zinssatz zurückzahlen muss. Ein solches Vorgehen ist in der Eltern-Kind-Beziehung aber natürlich nicht möglich. Es fehlt sozusagen die Vereinbarung über die Währung, in der die Schuld abgetragen werden soll.

Allerdings investieren wir durchaus bisweilen auch im Wissen darum, dass die Rückgabe unserer Investition unterschiedliche Formen annehmen kann und erst einmal offen ist, wie genau sie erstattet werden muss. In den meisten Fällen stören wir uns nicht weiter daran. Nehmen wir einmal an, der Patenonkel meiner Schwester übernimmt die Kosten für ihren Studienplatz an einer amerikanischen Universität. Meine Schwester möchte in den USA studieren, meine Eltern haben jedoch nicht die finanziellen Mittel, ihr diesen Wunsch zu erfüllen. Was meine Schwester ihrem Patenonkel im Gegenzug schuldet? Doch wohl das Bemühen, aus ihrem Stipendium auch etwas zu machen. Ob sie aber perfekt Englisch lernt und danach zuhause einen guten Job in einer Bank antreten kann, weil sie Auslandserfahrung hat und eine Fremdsprache beherrscht, oder ob sie in den USA einen so guten Abschluss hinlegt, dass sie ein Stellenangebot an der Universität erhält, ist weder kalkulierbar noch Teil der Abmachung. Würde der Onkel jedoch feststellen, dass meine Schwester ihr Studium nach Kurzem an den Nagel gehängt hat und das Stipendium lediglich nutzt, um sich in den USA ein schönes Leben zu machen, wäre er zu Recht enttäuscht. Anders gesagt: Der Umstand, dass wir mit Blick auf eine adäquate ›Rückzahlung‹ durchaus Spielraum haben, verändert nicht die Pflicht, überhaupt etwas zurückzugeben. Der erwähnte Spielraum ist sogar ganz und gar üblich, wenn es nicht um Geldschulden oder um den Tausch von Gegenständen oder Dienstleistungen geht, sondern um Liebesdienste oder Hilfestellungen zwischen Menschen, die sich gegenseitig unter die Arme greifen. Hätte der Onkel als Gegenleistung für das Stipendium nicht das redliche Bemühen meiner Schwester erwartet, auch etwas aus seiner Unterstützung zu machen, sondern die exakte Geldsumme zurückhaben wollen, die ihn das Stipendium gekostet hat, dann hätte der Onkel meiner Schwester das Stipendium nicht geschenkt, sondern ihr ein Darlehen gegeben und Rückzahlungsfristen und Zinsen vereinbart.5 Das bedeutet: Selbst wenn unklar sein sollte, womit erwachsene Kinder ihre Schulden den Eltern gegenüber zu begleichen haben, und sie deshalb dabei Spielraum haben, heißt das keineswegs, dass sie ihren Eltern nichts schulden.

Doch liegt noch ein drittesVoluntarismus