Emanuele Coccia verbindet Philosophie, Anthropologie und Botanik zur ersten modernen Philosophie der Pflanzen. Er füllt damit eine klaffende Lücke, denn wenn wir heute über das Leben und dessen Ursprünge sprechen, denken wir fast ausschließlich an Menschen oder Tiere. Und die Pflanzen? Seit Aristoteles’ Vorstellung eines vegetativen Seelenvermögens sind sie weitgehend aus der Philosophie verschwunden. Kaum zu glauben, denn sie sind die eigentlichen Erschaffer der Welt. Die Pflanzen waren die Ersten auf der Erde und haben sie auf einzigartige Weise geformt: Sie können sich nicht bewegen und sind doch geniale Handwerker, sie vermitteln zwischen Erde und Sonne und besitzen verborgene zweite Körper im Boden.
Emanuele Coccia gibt dem Leser ein neues Bewusstsein für die Pflanzen und wie sie unsere Existenz formen. Denn Pflanzen sind mehr als blühender Zufall, sie sind Grundlage allen Lebens und damit unentbehrlich für unser Wissen über uns.
Hanser E-Book
Emanuele Coccia
DIE WURZELN DER WELT
Eine Philosophie der Pflanzen
Aus dem Französischen von Elsbeth Ranke
Carl Hanser Verlag
Matteo Coccia (1976–2001)
in memoriam
INHALT
I PROLOG
1 Von den Pflanzen, oder vom Ursprung unserer Welt
2 Die Ausweitung der Lebenszone
3 Von den Pflanzen, oder vom Leben des Geistes
4 Für eine Philosophie der Natur
II THEORIE DES BLATTS – DIE ATMOSPHÄRE DER WELT
5 Blätter
6 Eintauchen ins Leben: Der Tiktaalik roseae
7 An der frischen Luft: Ontologie der Atmosphäre
8 Der Atem der Welt
9 Alles ist in allem
III THEORIE DER WURZEL – DAS LEBEN DER GESTIRNE
10 Wurzeln
11 Was am tiefsten in der Welt liegt, sind die Gestirne
IV THEORIE DER BLÜTE – DIE FORMEN DER VERNUNFT
12 Blüten
13 Vernunft ist Sexualität
V EPILOG
14 Von der universellen Mischung
15 Wie eine Atmosphäre
Dank
Anmerkungen
Im Alter zwischen 14 und 19 Jahren besuchte ich eine Landwirtschaftsschule irgendwo in der ländlichen Provinz Mittelitaliens. Dort sollte ich einen »richtigen Beruf« erlernen. Statt mich wie all meine Freunde dem Studium der klassischen Sprachen zu widmen, der Literatur, der Geschichte und der Mathematik, verbrachte ich meine Jugend versunken in Büchern über Botanik, Phytopathologie, Agrarchemie, Gemüseanbau und Insektenkunde. Im Mittelpunkt des Unterrichts an dieser Schule standen die Pflanzen, ihre Bedürfnisse und ihre Erkrankungen. Der jahrelange tägliche Kontakt mit Lebewesen, die mir ursprünglich so fern waren, hat meinen Blick auf die Welt nachhaltig geprägt. Dieses Buch versucht, die Gedanken zu neuem Leben zu erwecken, die aus diesen fünf Jahren Betrachtung ihrer Natur, ihres Schweigens, ihrer anscheinenden Gleichgültigkeit gegenüber aller »Kultur« erwachsen sind.
Es ist offensichtlich, dass es nur eine einzige Substanz gibt,die nicht nur allen Körpern gemeinsam ist, sondern auch allen Seelen und Geistern, und dass sie nichts anderes ist als Gott selbst. Die Substanz, von der aller Körper kommt, heißt Materie; die Substanz, von der alle Seele kommt, heißtVernunft oder Geist. Und es ist offensichtlich, dass Gott dieVernunft aller Geister ist und die Materie aller Körper.
David de Dinant
This is a blue planet, but it is a green world.
Karl J. Niklas1
I
PROLOG
1
VON DEN PFLANZEN, ODER VOM URSPRUNG UNSERER WELT
Wir sprechen kaum von ihnen und vergessen ihre Namen. Die Philosophie hat sie schon immer vernachlässigt, aus Geringschätzung mehr als aus Unachtsamkeit.1 Sie sind kosmisches Ornament, unwesentlicher Farbtupfer am Rande unseres kognitiven Feldes. In den modernen Metropolen sieht man sie als überflüssigen Klimbim der Stadtverschönerung. Vor den Toren der Stadt sind sie Gäste – als Unkraut – oder Gegenstand der Massenproduktion. Die Pflanzen sind die immer offene Wunde der metaphysischen Arroganz, die unsere Kultur definiert. Die Wiederkehr des Verdrängten, das wir loswerden müssen, um uns als anders betrachten zu können: Menschen, vernunftbegabte, spirituelle Wesen. Pflanzen sind das kosmische Geschwür des Humanismus, der Abfall, den der absolute Geist nicht zu beseitigen vermag. Auch von den Biowissenschaften werden sie vernachlässigt. »Die heutige Biologie stützt sich auf unser Wissen über das Tier und klammert die Pflanzen praktisch völlig aus«;2 »die Standardliteratur zur Evolution ist zoozentrisch«. Und die Biologielehrbücher behandeln »die Pflanzen nur widerwillig als Dekoration auf dem Lebensbaum statt als die Formen, die diesem Baum das Überleben und Wachsen erst ermöglicht haben.«3
Das ist nicht einfach nur eine epistemologische Unzulänglichkeit: »Als Tiere identifizieren wir uns sehr viel unmittelbarer mit anderen Tieren als mit Pflanzen.«4 So engagieren sich Wissenschaftler, radikale Ökologen und die Zivilgesellschaft seit Jahrzehnten für die Befreiung der Tiere,5 und die harsche Kritik an der Trennung zwischen Mensch und Tier (die anthropologische Maschine, von der in der Philosophie die Rede ist6) ist heute ein Gemeinplatz der intellektuellen Welt. Dagegen hat anscheinend niemand je die Überlegenheit des Tierlebens über das Pflanzenleben infrage gestellt und das Recht des Ersten, über Leben und Tod der Pflanzen zu entscheiden: Ihrem Leben wird jede Persönlichkeit und Würde abgesprochen, und so verdient es weder irgendeine wohlwollende Empathie noch die Anwendung des Moralismus, zu dem die überlegenen Lebewesen doch in der Lage sind.7 Unser tierischer Chauvinismus8 weigert sich, das Terrain einer »Tiersprache« zu verlassen, »die für eine Bezugnahme auf eine Pflanzenwahrheit ungeeignet ist«.9 In diesem Sinn ist der antispeziesistische Animalismus nur ein Anthropozentrismus unter Einbeziehung des Darwinismus: Er hat den menschlichen Narzissmus auf das Tierreich ausgedehnt.
Doch bei all dieser langen Missachtung bleiben sie ungerührt: Mit einer souveränen Gleichgültigkeit begegnen sie der Welt des Menschen, der Kultur der Völker, dem Wechsel von Reichen und Epochen. Die Pflanzen scheinen abwesend, wie versunken in einen langen, stummen Drogentraum. Sie haben keine Sinne, aber sie sind alles andere als abgeschottet: Kein anderes Lebewesen ist seiner Umwelt mehr verhaftet als sie. Sie haben weder Augen noch Ohren, um die Formen der Welt erkennen und ihr Abbild im Schillern von Farben und Tönen abbilden zu können, das wir in ihr wahrnehmen.10 In allem, was ihnen begegnet, haben sie Anteil an der Welt in ihrer Gesamtheit. Die Pflanzen laufen nicht, können nicht fliegen: Sie sind nicht in der Lage, einen bestimmten Ort gegenüber dem übrigen Raum zu bevorzugen, sie müssen da bleiben, wo sie sind. Der Raum zerfällt für sie nicht in ein heterogenes Schachbrett geografischer Differenzen; die Welt verdichtet sich in dem Flecken Boden und Himmel, den sie besetzen. Im Unterschied zu den meisten höheren Tieren haben sie keinerlei selektive Beziehung zu ihrer Umwelt: Sie sind, sie können nicht anders, als ständig ihrer Umwelt ausgesetzt zu sein. Das pflanzliche Leben ist das Leben als integrales Ausgesetztsein in absoluter Kontinuität und globaler Kommunion mit der Umwelt. Um mit der Welt so eng wie möglich zu verwachsen, entwickeln sie einen Körper, dem die Oberfläche wichtiger ist als das Volumen: »Die im Verhältnis zum Volumen sehr große Oberfläche bei den Pflanzen ist eines ihrer typischsten Merkmale. Über diese ausgedehnte Oberfläche, die sich buchstäblich in die Umwelt hineinstreckt, absorbieren die Pflanzen die diffusen Ressourcen, die sie zum Wachstum benötigen.«11 Dass sie sich nicht bewegen, ist nur die Kehrseite ihrer vollständigen Haftung an dem, was ihnen begegnet, an ihrer Umwelt. Die Pflanze lässt sich – sei es physisch oder metaphysisch – von der Welt, die sie beherbergt, nicht trennen. Sie ist die intensivste, die radikalste und paradigmatischste Form des In-der-Welt-Seins. Die Pflanze verkörpert die engste, die elementarste Verbindung, die das Leben zur Welt knüpfen kann. Und auch das Gegenteil trifft zu: Sie ist das klarste Observatorium, um die Welt in ihrer Gesamtheit zu beobachten. Unter Sonne und Wolken, vermengt mit Wasser und Wind, ist ihr Leben eine unendliche kosmische Betrachtung, ohne Trennung von Gegenstand und Substanz; oder anders gesagt, in Akzeptanz aller Nuancen bis hin zur Verschmelzung mit der Welt, bis zum Zusammenfall mit ihrer Substanz. Nie werden wir eine Pflanze verstehen können, solange wir nicht verstanden haben, was die Welt ist.
2
DIE AUSWEITUNG DER LEBENSZONE
Sie leben unendlich weit weg von der Welt der Menschen, so wie fast sämtliche andere Lebewesen. Diese totale Trennung ist keine kulturelle Illusion, sondern gründet tiefer. Ihre Wurzel liegt im Stoffwechsel.
Das Überleben fast sämtlicher Lebewesen setzt die Existenz anderer Lebewesen voraus: Jede Lebensform ist darauf angewiesen, dass es auf der Welt bereits Leben gibt. Die Menschen brauchen das Leben, das Tiere und Pflanzen hervorbringen. Und die höheren Tiere würden nicht überleben ohne das Leben, das sie über den Ernährungsprozess untereinander austauschen. Leben ist im Wesentlichen ein Leben vom Leben der anderen: Leben im und durch das Leben, das andere aufzubauen oder zu erfinden wussten. Das Lebendige charakterisiert sich durch eine Art universellen Parasitismus, ja Kannibalismus: Es ernährt sich von sich selbst, betrachtet nur sich, braucht sich selbst für andere Daseinsformen und Daseinswege. Als wäre das Leben in seinen komplexesten, am stärksten ausartikulierten Formen immer nur eine unermessliche kosmische Tautologie: Es setzt sich selbst voraus, produziert nur sich selbst. Darum erklärt sich, so scheint es, das Leben nur aus sich selbst. Die Pflanzen dagegen bilden die einzige Lücke in der Autoreferenzialität des Lebendigen.
In diesem Sinn scheint das höhere Leben nie unmittelbare Beziehungen zur unbelebten Welt gehabt zu haben: Die erste Umgebung alles Lebendigen ist die der Individuen seiner Art oder auch anderer Arten. Das Leben, so scheint es, muss Milieu, muss Ort für sich selbst sein. Nun trifft es sich aber, dass die Pflanzen gegen diese topologische Autoinklusionsregel verstoßen. Um zu überleben, brauchen sie nicht die Vermittlung anderer Lebewesen. Sie streben sie nicht an. Sie wollen nur die Welt, die Wirklichkeit in ihren elementarsten Komponenten: Steine, Wasser, Luft, Licht. Sie sehen die Welt, bevor sie von höheren Lebensformen bewohnt wird, sehen die Wirklichkeit in ihren ursprünglichsten Formen. Oder besser, sie finden Leben, wo das kein anderer Organismus schafft. Sie formen alles, was sie berühren, in Leben um, sie machen Materie, Luft, Sonnenlicht zu dem, was für die übrigen Lebewesen Wohnraum, ja Welt wird. Die Autotrophie – so bezeichnet man diese Midas-Gabe, alles, was man berührt, und alles, was man ist, in Nahrung umformen zu können – ist nicht einfach nur eine radikale Form der Nahrungsautonomie, sondern vor allem ihre Fähigkeit, die im Kosmos versprengte Sonnenenergie in lebende Körper umzuformen, die formlose, zerfaserte Materie der Welt in kohärente, geordnete, einheitliche Wirklichkeit zu verwandeln.
Was die Welt ist, müssen wir von den Pflanzen erfragen – denn eben sie »machen Welt«. Diese Welt ist für die allermeisten Organismen ein Produkt des pflanzlichen Lebens, Produkt der uralten Besiedelung unseres Planeten durch die Pflanzen. Nicht nur besteht der Organismus der Tiere vollständig aus den organischen Substanzen, die von den Pflanzen produziert wurden,1 sondern »die höheren Pflanzen stellen 90 Prozent der eukaryotischen Biomasse der Erde dar«.2 Sämtliche Gegenstände und Werkzeuge, die uns umgeben, sind pflanzlichen Ursprungs (Nahrungsmittel, Möbel, Kleidung, Treibstoffe, Medikamente), vor allem aber ernährt sich sämtliches höheres (aerobes) Tierleben vom organischen Gasaustausch dieser Wesen (nämlich dem Sauerstoff). Unsere Welt ist ein pflanzliches Faktum, bevor sie zum tierischen Faktum wird.
Als Erstes befasste sich Aristoteles mit der Grenzstellung der Pflanzen, indem er sie als Prinzip der Beseeltheit und des universellen Psychismus beschrieb. Das vegetative Leben – die Nährseele (threptikē psychē) – war für den Aristotelismus der Antike und des Mittelalters nicht einfach nur eine bestimmte Klasse spezieller Lebensformen oder eine von den anderen getrennte taxonomische Einheit, sondern tatsächlich ein Ort, der allen Lebewesen gemein war, ganz ohne Unterscheidung zwischen Pflanzen, Tieren und Menschen. Dieses Leben ist ein Prinzip, »wodurch das Leben allen zukommt«.3
Durch die Pflanzen definiert sich das Leben zunächst als Zirkulation des Lebendigen und bildet sich daher in der Uneinheitlichkeit der Formen aus, in der Unterscheidung der Arten, der Reiche, der Lebensweisen. Dennoch sind sie keine Zwischenformen an der kosmischen Schwelle zwischen lebendig und nicht-lebendig, zwischen Geist und Materie. Mit ihrem Landgang und ihrer Vermehrung konnte die Menge an Materie und organischer Masse produziert werden, aus der das höhere Leben sich zusammensetzt und von der es sich ernährt. Vor allem aber haben sie zugleich das Gesicht unseres Planeten für immer verwandelt: Über die Photosynthese kam es zu dem massiven Sauerstoffgehalt unserer Atmosphäre;4 und ebenfalls dank der Pflanzen und ihres Lebens können die höheren Tierorganismen die zum Überleben nötige Energie produzieren. Durch und über sie produziert unsere Erde ihre Atmosphäre und lässt die Wesen atmen, die ihre Oberfläche bewohnen. Das Leben der Pflanzen ist eine laufende Kosmogonie, die kontinuierliche Genese unseres Kosmos. In diesem Sinne müsste die Botanik im hesiodischen Duktus alle Formen des Lebens, die zur Photosynthese in der Lage sind, als unmenschliche materielle Gottheiten beschreiben, als zahme Titanen, die keine Gewalt brauchen, um neue Welten zu begründen.
Damit rütteln die Pflanzen an einem Pfeiler der Biologie und der Naturwissenschaften der letzten Jahrhunderte: an der Priorität des Milieus über das Lebendige, der Welt über das Leben, des Raums über das Subjekt. Die Pflanzen, ihre Geschichte, ihre Evolution beweisen, dass die Lebewesen das Milieu, in dem sie leben, selbst hervorbringen und nicht gezwungen sind, sich ihm anzupassen. Sie haben die metaphysische Struktur der Welt für immer verändert. Wir sind eingeladen, die physische Welt als Gesamtheit aller Gegenstände zu denken, als Raum, der alles Gewesene, Seiende und Zukünftige einschließt: als endgültigen Rahmen, der kein Außen mehr duldet, das absolut Umfassende. Indem die Pflanzen die Welt, deren Teil und Inhalt sie sind, ermöglichen, zerstören sie die topologische Hierarchie, die im Kosmos scheinbar herrscht. Sie zeigen, dass das Leben ein Bruch in der Asymmetrie zwischen Umfassendem und Umfasstem ist. Sobald es Leben gibt, ruht das Umfassende im Umfassten (ist also in ihm enthalten) und umgekehrt. Das Paradigma dieser gegenseitigen Verschränkung nannte man schon in der Antike den Atem (pneuma). Hauchen, atmen bedeutet in der Tat genau diese Erfahrung: Was uns enthält, die Luft, wird zu dem, was in uns enthalten ist, und umgekehrt, was in uns enthalten war, wird zu dem, was uns enthält. Atmen bedeutet das Eintauchen in ein Milieu, das uns mit derselben Intensität durchdringt, wie wir es durchdringen. Die Pflanzen haben die Welt in die Wirklichkeit eines Atems umgeformt, und bei unserem Versuch, in diesem Buch den Begriff der Welt zu beschreiben, werden wir von dieser topologischen Struktur ausgehen, die das Leben dem Kosmos verliehen hat.
3
VON DEN PFLANZEN, ODER VOM LEBEN DES GEISTES
Sie haben keine Hände, um sie an die Welt zu legen, und doch ließen sich nur schwer Akteure finden, die sich bei der Konstruktion von Formen geschickter anstellen als sie. Die Pflanzen sind nicht nur die kunstfertigsten Handwerker unseres Kosmos, sie sind es auch, die dem Leben die Welt der Formen eröffnet haben, die Lebensform, die die Welt zum Ort der endlosen Figurabilität gemacht hat. Über die höheren Pflanzen hat sich das Festland als Raum und kosmisches Experimentierlabor für die Erfindung von Formen und die Gestaltung der Materie durchgesetzt.1
Das Fehlen der Hände ist kein Zeichen eines Mangels, sondern vielmehr Folge eines restlosen Eintauchens in eben die Materie, die sie unentwegt gestalten. Die Pflanzen werden eins mit den Formen, die sie erfinden: Alle Formen sind für sie Abwandlungen des Seins und nicht lediglich des Tuns und Handelns. Eine Form zu erschaffen, bedeutet, sie mit seinem ganzen Wesen zu durchschreiten, so wie man Zeitalter oder Phasen seines eigenen Lebens durchschreitet. Der Abstraktion des Schöpfens und der Technik – beides kann Formen gestalten, sofern Schöpfer und Produzent des Umformprozesses ausgeschlossen bleiben – stellt die Pflanze die Unmittelbarkeit der Metamorphose gegenüber: Etwas zu erzeugen, bedeutet immer, sich selbst umzuformen. Den Paradoxien des Bewusstseins, das Formen nur dann zu entwerfen vermag, wenn sie sich vom Selbst und von der Realität, deren Modell sie sind, unterscheiden, stellt die Pflanze die absolute Intimität, die Einheit von Subjekt, Materie und Vorstellung gegenüber: Sich etwas vorzustellen heißt zu werden, was man sich vorstellt.
Dabei geht es nicht ausschließlich um Einheit und Unmittelbarkeit: Die Zeugung von Formen erlangt bei den Pflanzen eine Intensität, die für alle anderen Lebewesen unerreichbar ist. Im Unterschied zu den höheren Tieren, deren Entwicklung endet, sobald das Individuum die Geschlechtsreife erlangt hat, hören die Pflanzen nicht auf, sich zu entwickeln und zu wachsen, vor allem aber Organe und Teile ihres eigenen Körpers neu auszubilden (Blätter, Blüten, Teile des Stamms und so weiter), die sie verloren oder abgestoßen haben. Ihr Körper ist eine morphogenetische Fabrik, die keinen Produktionsstopp kennt. Das Pflanzenleben ist nur die kosmische Retorte der universellen Metamorphose, die Macht, die es jeder Form erlaubt zu entstehen (also sich aus Individuen herauszubilden, die eine andere Form haben), sich zu entwickeln (im Verlauf der Zeit die eigene Form zu modifizieren), sich durch Differenzierung fortzupflanzen (das Existierende mittels Modifikation zu vermehren) und zu sterben (das Andere über das Identische siegen zu lassen). Die Pflanze wandelt das biologische Faktum des Lebendigseins in ein ästhetisches Problem um und macht diese Probleme damit zu einer Frage von Leben und Tod.
Auch deswegen galten die Pflanzen, bevor die kartesianische Moderne den Geist auf seinen anthropomorphen Schatten reduziert hat, jahrhundertelang als paradigmatische Form für die Existenz der Vernunft, eines Geistes, der sich in der Gestaltung seiner selbst übt. Maßstab für dieses Einssein war der Samen. Im Samen beweist das Pflanzenleben, wie vollständig es der Vernunft gehorcht: Die Produktion einer bestimmten Realität verläuft nach einem strengen, völlig fehlerlosen Modell.2 Diese Rationalität ist analog zu derjenigen der Praxis oder der Produktion. Tiefer freilich und radikaler, denn sie betrifft den Kosmos in seiner Gesamtheit und nicht ausschließlich ein lebendes Individuum. Die Rationalität nämlich nutzt die Welt für das Werden eines einzelnen Lebewesens. Anders gesagt, im Samen ist die Rationalität nicht mehr einfach nur eine Funktion des (tierischen oder menschlichen) Psychismus oder Attribut eines Einzelnen, sondern ein kosmisches Faktum. Sie ist die Daseinsweise und die materielle Realität des Kosmos. Um zu existieren, muss die Pflanze sich mit der Welt vermengen, und das kann sie nur in Form des Samens: des Raums, in dem der Akt der Vernunft mit dem Werden der Materie zusammenfällt.
Dieser stoizistische Gedanke wurde dank der Vermittlung durch Plotin und Augustinus in der Renaissance eine der Säulen der Naturphilosophie. »Die universelle Vernunft«, so schreibt Giordano Bruno, »ist ein Identisches, welches das All erfüllt, das Universum erleuchtet und die Natur unterweist, ihre Gattungen, so wie sie sein sollen, hervorzubringen. Sie verhält sich demnach zur Hervorbringung der Dinge in der Natur, wie unsere Vernunft sich zur entsprechenden Hervorbringung der sinnvollen Gestalten verhält. (…) Sie wird von den Magiern der fruchtbarste der Samen oder auch der Sämann genannt; denn sie ist es, welche die Materie mit allen Formen erfüllt, sie nach der durch die letzteren gegebenen Weise und Bedingung gestaltet und mit jener Fülle bewunderungswürdiger Ordnungen durchwebt, die nicht dem Zufall noch sonst einem Prinzip zugeschrieben werden können, welches nicht zu scheiden und zu ordnen verstände. (…) Plotin nennt sie den Vater und Urzeuger, weil sie die Samen auf dem Gefilde der Natur verstreut und der nächste Austeiler der Formen ist. Wir nennen sie den inneren Künstler, weil sie die Materie formt und von innen heraus gestaltet, wie sie aus dem Innern des Samens oder der Wurzel den Stamm hervorlockt und entwickelt, aus dem Innern des Stammes die Äste treibt, aus dem Innern der Äste die Zweige gestaltet, aus dem Innern dieser die Knospen bildet, von innen heraus wie aus einem innern Leben die Blätter, Blüten, Früchte formt, gestaltet und verflicht und von innen wieder zu bestimmten Zeiten die Säfte aus Laub und Früchte in die Zweige, aus den Zweigen in die Äste, aus den Ästen in den Stamm, aus dem Stamm in die Wurzel zurückleitet.«3
Es genügt nicht anzuerkennen, wie es die aristotelische Tradition getan hat, dass die Vernunft der Ort der Formen ist (locus formarum), das Lager all der Formen, die die Welt beherbergen kann. Zugleich ist sie nämlich ihre formale Wirkursache. Wenn es eine Vernunft gibt, dann nur die, welche die Erzeugung jeder einzelnen Form definiert, aus denen die Welt sich zusammensetzt. Umgekehrt ist ein Samen exakt das Gegenteil der einfachen virtuellen Existenz einer Form, mit der er häufig verwechselt wird. Das Samenkorn ist der metaphysische Raum, in dem die Form nicht mehr ein reines Aussehen definiert oder den Gegenstand des Anblicks, auch nicht den reinen Zufall einer Substanz, sondern eine Bestimmung: den spezifischen – aber vollständigen und absoluten – Rahmen für die Existenz dieses oder jenes Individuums, und zugleich das, womit man seine Existenz und alle Ereignisse, aus denen sie sich zusammensetzt, als kosmische und nicht rein subjektive Fakten begreifen kann. Sich etwas vorzustellen, bedeutet nicht, sich ein träges, substanzloses Bild zu machen: Eine Vorstellung beschwört die Kraft, über die man die Welt und einen Teil ihrer Materie in ein bestimmtes Einzelleben umwandeln kann. Mit seiner Vorstellung macht der Samen ein Leben notwendig, er lässt seinen Körper in den Lauf der Welt eintreten. Der Samen ist nur der Ort, an dem die Form nicht ein Inhalt der Welt ist, sondern das Sein der Welt, ihre Lebensform. Die Vernunft ist ein Samen, denn anders als die Moderne so hartnäckig meint, ist sie nicht der Raum der sterilen Betrachtung, sie ist nicht der Planungsraum für eine Existenz der Formen, sondern die Kraft, die ein Bild als dezidierte Bestimmung dieses oder jenes Individuums oder Gegenstands existieren lässt. Die Vernunft ist das, was es einem Bild ermöglicht, Bestimmung zu sein, absoluter Lebensraum, räumlicher und zeitlicher Rahmen. Die Vernunft ist kosmische Notwendigkeit und nicht individuelle Laune.