Katastrophen wollen passieren. Und ein Unglück kommt selten allein. Erst recht in unserer hochautomatisierten, übervernetzten Zeit. Was aber ist das geheime Bindeglied zwischen Bankenkrise, Brexit und dem Godot-Flughafen BER? Holm Friebe und Detlef Gürtler nennen es Clusterfuck.
Scharfsinnig analysieren sie die größten Katastrophen der Menschheitsgeschichte, legen die tieferen Gründe der unheilvollsten Kettenreaktionen der Gegenwart offen – und liefern zudem eine Anleitung dazu, in Zukunft weniger episch zu scheitern.
Hanser E-Book
Clusterfuck
Warum Katastrophen uns lieben – und eine selten allein kommt
Carl Hanser Verlag
Einleitung: Shit Happens
Welt am Abgrund
Die Geister, die ich rief
Wie Katastrophen ticken
Anatomie des Clusterfucks
Die Tücke des Subjekts
Kollektiver Meltdown
Intelligentes Design
Exits
Danksagung
Literatur
Register
Es gibt keine Katastrophen, nur Chancen. Das bedeutet
für mich natürlich auch: Chancen auf neue Katastrophen.
Boris Johnson
Im Universum strebt alles zum größtmöglichen Chaos, zur Entropie, dem Endzustand maximaler Unordnung. Insofern ist es eine Überraschung, wenn überhaupt etwas gelingt. Statistisch betrachtet sind Ordnung und Funktionieren sehr viel unwahrscheinlicher, als dass alles sich verhakelt, blockiert und ins Wanken gerät. Alles Leben auf dem Planeten, sämtliche Handlungen – ob im Büro, im Schlafzimmer oder im Auftrag von Majestät oder Nation – sind ein beständiger, aussichtsloser, nur auf Zeit zu gewinnender Kampf gegen den Schlamassel.
Wir haben femtosekundengenaue Atomuhren erfunden, aber die Zeit bis zur nächsten Katastrophe ist nicht messbar. Katastrophen passieren, wann sie wollen – und nicht, wann Sie wollen. Sie lauern darauf, zuschlagen zu können, wie es die englische Redewendung »accident waiting to happen« trefflich formuliert. Und ein Unglück kommt selten allein. Hat es erst einmal einen Fuß in der Tür, sagt es blitzschnell all seinen Freunden Bescheid, die in kürzester Zeit auf der Matte stehen, wie bei einer aus dem Ruder gelaufenen Facebook-Party.
Wenn Murphy’s Law mit voller Wucht zuschlägt; wenn gefühlt alles, was schiefgehen kann, auf einmal schiefgeht; wenn man beginnt, sich Hiob als einen vergleichsweise glücklichen Menschen vorzustellen – dann nennen wir das Clusterfuck.
Was für ein Clusterfuck?! Der lautmalerisch-drastische Begriff entstand im Vietnamkrieg, der für die Amerikaner trotz erdrückender militärischer Überlegenheit alles andere als gut lief. Analog zu anderen Jargon-Akronymen wie SNAFU (»situation normal, all fucked up«) hat sich auch das Funkkürzel »Charlie Foxtrot« oder kurz »CF« etabliert.
Das Wiktionary definiert: »Clusterfuck (Slang, vulgär), eine chaotische Situation, wo alles schiefzugehen scheint. Wird oft verursacht durch Inkompetenz, Kommunikationsversagen oder eine komplexe Umgebung.« Das Wörterbuch dict.cc übersetzt treuherzig mit »Riesendurcheinander«, was einer euphemistischen Untertreibung gleichkommen dürfte, gemessen daran, wie sich Clusterfucks für die Betroffenen anfühlen. Wir wagen eine eigene, vorläufige Definition: Ein Clusterfuck ist ein systemisches Problem, das die Lösungskapazität aller Beteiligten unabwendbar übersteigt.
Der Clusterfuck ist der gemeinsame Nenner von Bankenkrise, Brexit und dem Godot-Flughafen BER. Es gibt ihn in Staat, Wirtschaft und Familie, im Großen und im Kleinen. Und er kann auf den verschiedensten Wegen erreicht werden: durch ständige Wiederholung, wie bei dem Krug, der zum Brunnen geht, bis er bricht; durch Überschreiten einer Schwelle, wie bei dem Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt; durch übermäßige Vernetzung, die zu Rückkopplungen oder Blackouts führt; durch übergroßes Vertrauen in die eigene Stärke; durch gute Absichten, bösen Willen oder schlicht durch Ignoranz. Viele Wege also führen zum Clusterfuck. Aber keiner von ihm zurück.
Shit happens. Missgeschicke passieren im Kleinen wie im Großen. Das war schon immer so. Die Maya und die Dinosaurier könnten ein Lied davon singen, wenn sie noch singen könnten. Wir werden uns also dem Vorwurf stellen müssen, in die Falle der Gegenwartseitelkeit zu tappen, wenn wir unsere Epoche für eine besonders vertrackte halten. Und wie jeder, dem dieser Vorwurf gemacht wird, antworten wir, dass unsere Epoche tatsächlich eine besondere ist. Es ist nicht nur ein subjektives Empfinden, dass sich die Clusterfucks in jüngster Zeit häufen. Wenn es jemand geben sollte, dem es nicht wie eine Häufung vorkommt, dann handelt es sich wahrscheinlich um einen Leser aus dem Jahr 2047, der seufzend feststellt, dass unser Krisenhaufen verglichen mit den Katastrophen seiner Gegenwart allenfalls ein Häufchen ist. Unser Zeitalter ist das Zeitalter der Clusterfucks. Und es hat gerade erst begonnen.
Woher kommt das? Unser Versuch, Struktur im Chaos der Katastrophen zu finden, bringt uns auf drei große, gleichzeitig ablaufende Verknäulungstrends – je einer in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.
In der großen Politik bewegen wir uns auf einen Zustand zu, wie ihn niemand von uns je erlebt hat. Und auch niemand von unseren Eltern, Großeltern und Urgroßeltern, ja eigentlich kein Mensch, der seit der Erfindung des Buchdrucks gelebt hat. Dieser Zustand ist eine Welt ohne Weltmacht, und er herrschte (beziehungsweise herrschte gerade nicht) das letzte Mal zwischen 945 (Ende des großarabischen Reiches durch Entmachtung der Abbasiden) und 1206 (Beginn des Mongolenreichs unter Dschingis Khan). Seither gab es immer eine oder mehrere Supermächte, die einen mehr als nur regionalen Einfluss beanspruchten – ob das Ming-China oder das Mogul-Indien, ob die Spanier oder die Briten.
Oder eben die Sowjetunion und die USA, die großen Kontrahenten des 20. Jahrhunderts. Der eine verabschiedete sich 1992 aus der Weltmachtrolle, und zwar genauso, wie es sich der frühere US-Verteidigungsminister Caspar Weinberger gewünscht hatte: »not with a bang, but a whimper«. Und die andere Weltmacht ist seit dem 11. September 2001 dabei, aus dieser Rolle verabschiedet zu werden. Donald Trump könnte diesen Prozess zu Ende führen. Die Frage ist nur, ob es wieder mit einem Winseln geschieht oder doch mit einem Knall. So oder so, am Ende steht eine unberechenbare Welt voller neuer Macht- und Ohnmachtskonstellationen.
In der Wirtschaft wird die Verknäulung auf einen anderen Begriff gebracht. Er heißt Digitalisierung. »Software is eating the world«, beschreibt der Internetpionier und Venture-Kapitalist Marc Andreessen nüchtern den Prozess, der wie jeder Ess- und Verdauungsvorgang eine Weile dauert. Nach und nach attackiert die Digitalisierung ein Produkt, ein Unternehmen, eine Branche nach der anderen. Das Beispiel der Musikindustrie, die es um das Jahr 2000 als Erste traf, zeigt deutlich, wie es einem ergeht, wenn die Digitalisierung einen in der Mangel hat: Man hat ein Gefühl wie Erdbeben, Tsunami und Hurrikan auf einmal.
Und die Gesellschaft schließlich muss sich mit einer steigenden Komplexität ihrer Infrastrukturen herumschlagen. Große, vernetzte Systeme, die einen hohen Ressourceneinsatz benötigen, um nur ihre und unsere Existenz zu erhalten. Entsprechend anfällig reagieren sie auf Stress: Die Stromnetze wurden von der Energiewende kalt erwischt, bei den Autobahnen rächt sich gerade, dass jahrelang an der Instandsetzung und Erneuerung der Brücken gespart wurde, und die Rentensysteme ächzen jetzt schon unter der demografischen Belastung. Das wird, vorsichtig gesprochen, in den kommenden Jahren nicht besser werden.
Es gibt also nicht nur eine natürliche, sondern auch eine kultürliche Drift hin zur Katastrophe, gegen die wir uns täglich stemmen müssen wie Sisyphos, der seinen Stein den Berg hinaufrollt – ein unwahrscheinlicher Zustand hoher Lageenergie für einen runden Stein –, nur damit dieser wieder hinunterrollen kann, seinem statistisch determinierten Ort am Fuße des Berges entgegen.
Im Anhang zu seiner Komödie Die Physiker schreibt Friedrich Dürrenmatt in einer Auflistung von 21 Punkten zum Stück unter anderem: »Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmst mögliche Wendung genommen hat. (…) Die schlimmst mögliche Wendung ist nicht voraussehbar. Sie tritt durch Zufall ein. (…) Je planmäßiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer vermag sie der Zufall zu treffen.« Diese Punkte lassen sich wie eine Bauanleitung für den Clusterfuck lesen.
Irgendwann erwischt es jeden. 99,9 Prozent der Arten, die jemals existiert haben, sind ausgestorben. »Von biologischen Spezies über Wirtschaftsunternehmen bis zur Politik scheint es ein ehernes Gesetz des Scheiterns zu geben«, schreibt Paul Ormerod in Why Most Things Fail.
Nicht nur Staaten können scheitern – wie etwa die »failed states« Somalia und der Südsudan –, neuerdings kennt die Wissenschaft auch »gescheiterte Sterne«: Himmelskörper, die weder Sterne noch Planeten sind, die nicht leuchten können und zudem ziemlich klein und hässlich sind. Früher hielt man sie für die Ausnahme, aber die neue Forschung hat ergeben, dass sie eher in der Mehrheit sind. Womöglich leben auch wir auf der Umlaufbahn eines langsam scheiternden Sterns, auf jeden Fall ist unser Planet ein Planet des Scheiterns.
Das Gesetz des Scheiterns hört auf den Namen Murphy’s Law und lautet »Was schiefgehen kann, das wird auch schiefgehen.« Es geht zurück auf Edward A. Murphy, der als Ingenieur an einem aufwendigen Experiment der U.S. Air Force beteiligt war, das stets vom gleichen Techniker versemmelt wurde. Dem Wortlaut nach soll sich Murphy erst über ihn echauffiert haben: »If that guy has any way of making a mistake, he will« – und formulierte diesen Ausbruch dann in Gesetzesform: »Wenn es mehrere Möglichkeiten gibt, eine Aufgabe zu erledigen, und eine davon in einer Katastrophe endet oder sonstwie unerwünschte Konsequenzen nach sich zieht, dann wird es jemand genau so machen.«
Murphy’s Law liefert uns einen guten Startpunkt für unsere Analyse kaskadierender Katastrophen. Zumeist sind, wie im Fall des Air-Force-Technikers, Menschen beteiligt, um nicht zu sagen: schuldhaft verstrickt. Es können aber weitere Faktoren hinzutreten wie unbewusste Akte der Selbstsabotage oder die sprichwörtliche Tücke des Objekts. In Kombination führt das gern zu der ebenso sprichwörtlichen Verkettung unglücklicher Umstände.
Und davon gibt es viele. Der in allen Fragen praktischer Lebensführung unbedingt maßgebliche Peter Glaser, Literat aus Graz und Technikautor in Berlin, lieferte kürzlich auf Facebook einen kleinen Gesetzeskommentar zu Murphy’s Law, den wir an dieser Stelle gern wiedergeben:
Sieben von Murphys Gesetzen:
Damit ist schon einmal für etwas Konkretisierung gesorgt. Im Laufe des Buches werden uns weitere Gesetzmäßigkeiten wie der Seneca-Effekt (Katastrophen spulen sich schneller ab, als sie sich aufbauen) oder Brooks’s Law (Manpower zu einem bereits verspäteten Projekt hinzuzufügen verursacht nur weitere Verspätung) begegnen. All diese Gesetze sind aber bloß Krücken, die uns die Scheinsicherheit einer Kontrollillusion vermitteln. Das Wissen um diese Gesetze hilft nicht, Clusterfucks zu vermeiden. Aber wenigstens hat man für jede Katastrophe die richtige Beschreibung parat.
Und immer wieder werden wir dem tragisch früh verstorbenen Douglas Adams begegnen, dessen gesamtes schriftstellerisch-futurologisches Werk sich als eine einzige Variation über das Clusterfuck-Motiv lesen lässt. Er hat auch die bislang einzige wirksame Antwortstrategie auf Murphy’s Law formuliert, die sogar in der empirischen Praxis Bestand hat. Sie lautet – nein, nicht: 42 – sondern: Keine Panik!
Auf der Suche nach Rollenvorbildern, die uns helfen, Clusterfucks zu verstehen, werden wir schnell fündig. Die Geschichte und insbesondere die Kulturgeschichte wimmeln von Clusterfuck-Produzenten, die für uns durch die Hölle gehen, durch die selbst eingebrockte Scheiße waten oder durch den Kakao gezogen werden. Angefangen buchstäblich bei Adam und Eva: Wegen eines läppischen verbotenen Apfels aus dem Paradies rausgeschmissen zu werden ist wirklich ein maximal unglückliches Verhältnis von geringfügiger Ursache und verheerender Wirkung.
Bei Hiob können wir uns abschauen, dass auch auf eine statistisch ausgesprochen unwahrscheinliche Serie persönlicher Niederlagen und Nackenschläge immer noch der nächste Hieb folgen kann. In der griechischen Mythologie liefert uns Herakles’ Kampf mit der Hydra, bei der die abgeschlagenen Köpfe doppelt nachwachsen, die Blaupause für ein Problem, das sich mit jedem Lösungsversuch verschärft.
Auf der Bühne wollen wir Helden fallen sehen. Wir wollen den gesamten Gefühlscocktail des voyeuristischen Angstlustgrusels, der entsteht, wenn sich jemand Fremdes »schuldhaft unschuldig« verstrickt und immer weiter der tragischen Zuspitzung nähert. Entscheidend für die Satisfaktionsfähigkeit ist dabei stets die Fallhöhe. Für Shakespeares Königsdramen gilt der Grundsatz: »The bigger they come, the harder they fall.« Je moralisch und standesmäßig höher der Held zu Anfang steht, desto krachender und vollständiger seine Auslöschung. Dass das Prinzip der Fallhöhe auch ohne Adlige und Könige funktioniert, hat etwa Thomas Mann gezeigt, der in den Buddenbrooks die bürgerlich-hanseatische Kaufmannsfamilie so lustvoll demontiert, dass der kleine Hanno am Ende nur noch einen dicken Strich unters Familienstammbuch ziehen kann.
Auf der Kinoleinwand sind es die großen Pechvögel, denen unser Mitleid und unsere Schadenfreude gehören, wenn sie sich traumwandlerisch in Ungemach verstricken: Charlie Chaplin, der gebeutelte Proletarier, Woody Allen, der aneckende Intellektuelle, allen voran Peter Sellers, der linkische »Partyschreck« im gleichnamigen Film, der erst eine unwiederbringliche Filmkulisse in die Luft jagt, bevor die Kamera läuft, und anschließend die Party des Filmproduzenten sprengt.
Unsere Lieblingsfigur unter den notorischen Clusterfuck-Produzenten aus Literatur, Film und Fernsehen ist aber Don Quijote, der gegen eingebildete Armeen und riesenhafte Windmühlenflügel kämpfende Ritter von der traurigen Gestalt. Wie kein anderer steht Quijote dafür, dass jeder Clusterfuck mit einem Mindfuck beginnt, einem heimtückischen Denkdefekt; das alles hätte ja nicht sein müssen, wenn es nicht Quijotes Kopf entsprungen wäre! Unsere Lieblingsverfilmung des Stoffes ist, um das auch noch zu erwähnen, Lost in La Mancha aus dem Jahre 2002. Eigentlich sollte es das Making-of zur Verfilmung des Don Quijote durch Ex-Monty-Python Terry Gilliam werden – doch dann geht alles schief. Der Drehort im spanischen Navarra erweist sich als ungeeignet wegen des ständigen Flugverkehrs eines nahegelegenen NATO-Standortes. Bei einem Unwetter schwimmt das gesamte Equipment weg. Durch die Verspätungen gerät die Finanzierung in Schieflage. Am Ende trifft es den zweiten Hauptdarsteller neben Johnny Depp, Jean Rochefort, der extra für den Film in Rekordzeit die englische Sprache erlernt hat, aber infolge eines schweren Bandscheibenvorfalls nicht länger auf einem Pferd reiten kann. Danach verliert auch Terry Gilliam den Glauben an das Projekt. Sein »We’re fucked!« – den jähen Moment der Erkenntnis flankierend, dass nun wirklich alles verloren ist – ist einer der entwaffnendsten und eindrücklichsten uns bekannten Leinwand-Momente. Und Lost in La Mancha, der vom epischen Scheitern des Quijote-Projekts erzählt, ist vermutlich der gelungenste Film, den man aus dem Stoff machen konnte.
Pessimisten sind Realisten mit Erfahrung, heißt es. Dieser resignativen Lesart der schicksalhaften Geworfenheit des Menschen wollen wir hier keineswegs das Wort reden, sondern vielmehr die Schippe tiefer ansetzen: Clusterfucks gehören unausweichlich und unhintergehbar zum Leben dazu. Shit happens, Katastrophen lauern auf ihren Einsatz, und was schiefgehen kann, geht schief. Wir wollen eine Lanze dafür brechen, sich nicht kirre machen zu lassen, und laden dazu ein, sich mit der Mechanik, Entstehungsweise und Logik von Clusterfucks vertraut zu machen. Wenn man einmal verstanden hat, wie Katastrophen ticken, hat man eine größere Chance, ihnen im letzten Moment auszuweichen, sie auszutricksen oder gar Anteile ihrer zerstörerischen Energie in etwas Nützliches zu verwandeln.
Natürlich ist auch dieses Buch als gescheitert zu betrachten. Das war absehbar. Es konnte gar nicht anders kommen. Die ursprünglichen hochtrabenden Pläne, eine ultimative Bauanleitung für Clusterfucks zu liefern, stellten sich in der Praxis schnell als größenwahnsinnig und vermessen heraus. Katastrophen sind vielschichtiger, variantenreicher und raffinierter, als das, was zwischen zwei Buchdeckel passt. Am Ende wurde auch noch die Zeit knapp, und die Missverständnisse häuften sich.
Dass Sie diese Zeilen dennoch jetzt lesen können, liegt zum guten Teil daran, dass wir zum Zeitpunkt des allerunausweichlichsten Scheiterns ein paar der Ratschläge befolgt haben, die wir für Sie und uns im letzten Kapitel gesammelt haben: Wir haben Apfelbäumchen gepflanzt, so als wäre unser Untergang nicht längst beschlossene Sache. Wir haben einen Hail-Mary-Move quer übers ganze Manuskript gespielt, um doch noch in letzter Sekunde den entscheidenden Touchdown zu schaffen. Und wir haben mehr als nur einen gordischen Knoten zerschlagen.
So ist es ein Buch geworden, das sich an der Strategie der erratischen Kreativität orientiert, die in Krisensituationen die große Stärke der E. coli-Bakterien ist. Gegen Clusterfucks helfen ihnen nicht so sehr klare Konzepte als vielmehr offenes Chaos. Wir vermuten, es hilft auch Ihnen.
Holm Friebe und Detlef Gürtler im November 2017.
Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. –
Nachmittag Schwimmschule.
Franz Kafka in seinem Tagebuch am 2. August 1914
Die Geschichte ist eine Geschichte der Klassenkämpfe, sagten Karl Marx und Friedrich Engels. Wir sagen: Die Geschichte ist eine Geschichte der Clusterfucks. Rückwärts blickend stolpern wir durch die Zeit, streben den Himmel auf Erden an und machen uns dabei gegenseitig das Leben zur Hölle. Fast jeder möchte das Beste für alle, aber zunächst einmal für sich selbst und die Seinen. Daraus entstehen Konflikte. Eine Weltgeschichte ohne Konflikte wäre eine »history without drama«, insofern haben Marx und Engels natürlich einen Punkt. Die ruckelnde Dialektik der Geschichte hat immer wieder Menschheitskatastrophen produziert, die niemand gewollt hat. Die kriegerischen Konflikte des 20. Jahrhunderts waren für mehrere Hundert Millionen Tote verantwortlich. Demokratisch gewählte Führer treiben ganze Nationen in den Abgrund. Scheiternde Verhandlungen lassen am Ende alle beteiligten Parteien schlechter dastehen, als theoretisch möglich wäre.
»Jeder lebt in seiner eigenen Welt, aber meine ist die richtige«, haben die Lassie Singers gesungen. Wo unterschiedliche Interessen konkurrieren, offene und versteckte Agenden aufeinanderprallen, entstehen Konflikte. Clusterfucks wiederum ernähren sich von Konflikten. Um Clusterfucks zu verstehen, müssen wir also verstehen, wie Konflikte zustande kommen und eskalieren.
Wenn Kim Jong-un mit der Atomwaffe droht, die EU zerbricht, die USA Donald Trump zum Präsidenten wählen, dann können wir die jeweils dahinterstehenden Konflikte nicht einfach aus der Welt schaffen, aber wir können sie erklären – mithilfe der Spieltheorie. Wie Thomas C. Schelling, einer der Väter der Spieltheorie, in seinem Grundlagenwerk Strategy of Conflict schreibt, verläuft eine Trennlinie »zwischen jenen, die Konflikt als pathologischen Zustand ansehen, dessen Ursachen es zu finden und den es zu kurieren gilt, und jenen, die Konflikt als etwas Gegebenes betrachten und das Verhalten im Konfliktfall genauer studieren wollen«. Wir wollen Konflikte studieren, um besser zu verstehen, wie aus ihnen Clusterfucks werden.
US-Präsident Merkin Muffley ist perplex. »Wie kann es sein, dass etwas, das automatisch ausgelöst wird, auf keine Weise gestoppt werden kann?«, fragt er die um ihn versammelten Berater. Dr. Seltsam antwortet ihm: »Herr Präsident, das kann nicht nur so sein, es muss so sein. Das ist doch der Zweck dieser Maschine.«
Die Doomsday Machine, die Weltuntergangsmaschine, wird automatisch bei einem atomaren Angriff auf die Sowjetunion gestartet. Nichts und niemand kann sie dann noch davon abhalten, genügend sowjetische Wasserstoffbomben zu zünden, um die ganze Welt zu vernichten. Die perfekte Abschreckung, die den Weltfrieden sichert, weil bei dieser Perspektive natürlich niemand den atomaren Erstschlag riskieren will. Nur leider geht in Stanley Kubricks Film Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben von 1964 gerade so viel schief, dass die Maschine ausgelöst und die Welt für Jahrhunderte unbewohnbar wird.
Ein Film. Natürlich. So was passiert im echten Leben doch nicht. Wer würde jemals auf die Idee kommen, etwas zu konstruieren, das einen unweigerlich selbst zerstört, wenn es erst einmal in Gang gesetzt ist?! Herman Kahn kam auf diese Idee. Der einflussreiche US-Futurologe argumentierte in seinem Buch On Thermonuclear War, dass auch ein mit Wasserstoffbomben geführter Atomkrieg gewonnen werden könne, und sinnierte über eine Strategie, bei der man sich jeder Möglichkeit beraubt, die Katastrophe zu verhindern.
Herman Kahn dachte im Auftrag der RAND-Corporation, einer US-Denkfabrik mit starker Nähe zu den US-amerikanischen Militärs. Über sie hielt die Spieltheorie in die Politik Einzug – und in Hollywood. Denn auch Thomas Schelling arbeitete für RAND, der 1962 den Regisseur Stanley Kubrick bei den Recherchen für Dr. Seltsam beriet und 2005 den Wirtschafts-Nobelpreis für seine Beiträge zur Spieltheorie erhielt. Dr. Seltsam war also eine (für Hollywood-Verhältnisse) realistische Übersetzung aus einer unglaublichen Gegenwart.
Die RAND-Analysen bestimmten die Strategie der nuklearen Abschreckung im Kalten Krieg maßgeblich mit und beeinflussten damit auch das gesamte spätere Kräftemessen zwischen politischen Akteuren. Tatsächlich hat die Doomsday Machine in der Realität des Kalten Kriegs genau das geleistet, was sie sollte: Das Gleichgewicht des Schreckens führte dazu, dass es eben nicht zum Atomkrieg der Supermächte kam. Ein Erfolgsmodell.
Ein halbes Jahrhundert später wurde es in Europa neu aufgelegt. Wie der britische Ökonom Edward Hugh im September 2011 feststellte, funktioniert die gemeinsame europäische Währung genauso wie Kubricks Doomsday Machine: »Das Euro-System läuft Gefahr, unter dem Druck seiner inneren Widersprüche zu explodieren. Aber jeder Versuch, das System wieder zurückzubauen, könnte für alle Beteiligten Konsequenzen haben, die noch viel schlimmer sind – nicht nur für Europa, sondern für die ganze Weltwirtschaft.« Die wirtschaftliche Katastrophe, die der Euro in Südeuropa, vor allem in Griechenland anrichtete, sei nicht nur im Jahr 2011 nicht mehr zu verhindern gewesen, sondern bereits 2002, als die Währungs-Maschine gestartet worden war.
Diesen Selbstzerstörungsmodus habe man durchaus bewusst eingebaut, argumentierten viele – vor allem europäische – Ökonomen und ein deutscher Finanzminister. So wie die Unerbittlichkeit der Doomsday Machine den Frieden sichern und nicht die totale Zerstörung anrichten sollte, war die Unerbittlichkeit der gemeinsamen Währung als Garant dafür gedacht, dass sich die nationalen Regierungen der Eurozone auf harmonische Wirtschaftspolitiken einschwingen. Wenn es keinen Ausweg aus dem System gibt, zwingt man alle Beteiligten dazu, sich systemkonform zu verhalten.
Spieltheoretisch nennt man diese Strategie auch »brinkmanship«, das Spiel mit dem Abgrund. In dem Moment, wo eine glaubwürdige Drohung auf dem Tisch liegt, den maximalen Schaden anzurichten und das ganze System zu zerstören – und ein wirksamer Mechanismus, der die Drohung Wirklichkeit werden lässt –, werden alle rational handelnden Beteiligten diszipliniert, und sie werden es nicht zum Äußersten kommen zu lassen. Derjenige, der die Drohkulisse aufbaut, trägt den Vorteil davon.
Die eigensinnigen Briten haben von Anfang an gewittert, dass Europa Zwangscharakter hat – und deshalb nie richtig mitgemacht, nicht beim Euro und bloß halbherzig beim sonstigen Integrationsprozess. Immer war es Großbritannien, das mit der Drohung, die Verhandlungen platzen zu lassen, Sonderkonditionen für sich heraushandelte. Im Jahr 2015 konstruierte der damals amtierende Premier der Konservativen David Cameron schließlich seine eigene Doomsday Machine: Unter dem Druck einer wachsenden euroskeptischen Stimmung im eigenen Land kündigte er für 2016 eine Volksbefragung über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU an. Eigentlich sollte der Brexit-Volksentscheid nur eine wirksame Drohung gegenüber Brüssel konstruieren, einen umfangreichen Forderungskatalog zugunsten Großbritanniens durchzusetzen.
Doch das Ding verselbstständigte sich und flog Cameron um die Ohren. Obwohl eine Bevölkerungsmehrheit bis kurz vor der Abstimmung für den Verbleib in der EU war, obwohl die Buchmacher die Wahrscheinlichkeit eines Austritts bis zum Stichtag mit nur 25 Prozent taxierten, votierte am 23. Juni 2016 eine Mehrheit von 51,9 Prozent für den Brexit. In der trügerischen Sicherheit der Umfragewerte – und im Vertrauen darauf, dass eine Mehrheit besonnen abstimmen würde – wollten wohl viele Briten bloß Großbritanniens Verhandlungsposition stärken. Aus dem rationalen Kalkül vieler Einzelner erwuchs kollektive Irrationalität. Es folgte das jähe Erwachen. Cameron trat zurück und hinterließ seiner Nachfolgerin Theresa May den Scherbenhaufen und die Aufräumarbeiten. Bis heute ist unklar, wie sich der Austritt vollziehen kann, ohne dass Großbritannien in die Isolation gerät und wirtschaftlich abstürzt. Auch im Rest der EU sitzt der Schock über den Brexit noch tief. So sieht es aus, wenn eine Doomsday Machine tatsächlich losgeht.
Die Voraussetzung dafür, dass das Spiel mit dem Abgrund gelingen kann und am Ende ein wünschenswertes Ergebnis herauskommt, ist, dass beide Parteien letztlich rational agieren. Darauf legten sowohl Sowjets als auch US-Amerikaner in den Dekaden des Kalten Kriegs Wert, insbesondere was den Gebrauch von Atomwaffen anging. Und so waren die Konfrontationen der beiden Weltmachtblöcke berechenbar geworden. Die Sowjets hielten sich in Amerika zurück (siehe Kuba oder später Chile), die USA ließen die Finger von Osteuropa – sowohl beim Berliner Mauerbau 1961 als auch beim Prager Frühling 1968 beschränkte sich der Westen aufs Reden und Beobachten. In Afrika und Asien waren beide Supermächte in eine ganze Reihe von Konflikten verwickelt, die aber nicht zu einer globalen Konfrontation führen sollten.
In zugespitzten Konfliktsituationen kann es jedoch von Vorteil sein, den Einsatz – und damit das Risiko – zu erhöhen, indem man Zweifel an der eigenen Rationalität sät. Die Blaupause dafür liefert das »Chicken Game«. Bei der Grundform dieser auf Deutsch etwas lahm »Feiglingsspiel« genannten Mutprobe fahren zwei Kontrahenten mit Autos aufeinander zu – wer zuerst ausweicht, verliert. Wenn keiner ausweicht, haben am Ende beide verloren, nämlich ihr Leben. Aber je höher der Gewinn, der auf den Sieger wartet, desto größer ist der Anreiz, es darauf ankommen zu lassen und den Verrückten zu mimen. Auch diese Variante hatte Herman Kahn in On Thermonuclear War schon durchgespielt: Die beiden Wagen rasen aufeinander zu – und einer der Fahrer reißt sein Steuerrad heraus und wirft es für den Gegner sichtbar auf die Straße. Er kann jetzt nicht mehr ausweichen. Wenn der Gegner überleben will, muss er sein eigenes Steuer herumreißen, und hat damit verloren.
Richard Nixon war der Erste, der diese verschärfte Variante in der internationalen Politik einsetzte. Anfang der 1970er-Jahre dachte er sich für den Vietnamkrieg die von ihm selbst so genannte »Madman-Theory« aus. Sein Berater Harry Robbins Haldeman beschrieb später, wie Nixon ihm diese Theorie erklärte: »Ich will die Nordvietnamesen glauben machen, dass ich den Punkt erreicht habe, wo ich alles tun werde, um den Krieg zu beenden. Wir werden ihnen so etwas zuspielen wie: ›Mein Gott, sie wissen ja, wie sehr Nixon den Kommunismus hasst. Wenn er in Wut gerät, kann ihn keiner mehr zurückhalten – und er hat die Hand am nuklearen Drücker.‹ In zwei Tagen ist Ho Chi Minh persönlich in Paris und bittet um Frieden.«
So weit kam es dann doch nicht. Zum einen, weil die Nordvietnamesen sich nicht übertölpeln ließen. Richard Nixon hatte sich lange genug wie ein halbwegs ordentlicher Politiker verhalten (von Watergate wusste man damals noch nichts), warum sollte er ausgerechnet jetzt durchdrehen? Und wenn der Gegner zur Erkenntnis kommt, dass der scheinbar Verrückte nur blufft, hat dieser das Spiel verloren und muss zurück zur Vernunft kommen. Zum zweiten, weil, wie schon Kahn zugeben musste, die andere Seite ja auch auf die Idee mit dem Steuerrad kommen könnte: »Since both sides may use this strategy, the game may end in a disaster.«
Seit Ende 2016 wird die Madman-Theory wieder intensiv diskutiert, denn plötzlich hat man es mit einem US-Präsidenten zu tun, der tatsächlich unberechenbar ist, der sich noch nie wie ein halbwegs ordentlicher Politiker verhalten hat. Vielleicht hat er das Steuerrad schon längst auf die Straße geworfen. Oder er tut so, als fahre er ohne Steuerrad, hat sich aber heimlich ein Ersatz-Steuer montieren lassen.
Im Konflikt zwischen den USA und Nordkorea konnte die Welt im Herbst 2017 gebannt zuschauen, wie zwei Verrückte sich gegenseitig hochschaukelten. Bei seinem ersten Auftritt vor der UN-Vollversammlung nannte Trump die Machthaber in Pjöngjang, die im Vorfeld mit Wasserstoffbombentests gezündelt hatten, eine »Bande von Kriminellen«, deren Land er notfalls mit Militärgewalt »völlig zerstören« werde: »Der Raketenmann ist auf einer Selbstmordmission für sich selbst und sein Regime.« Kim Jong-un ließ sich nicht einschüchtern und konterte: »Ich werde den geistig umnachteten senilen Amerikaner sicher und endgültig mit Feuer bändigen.« Aussage gegen Aussage. Mahnende Worte dazu gab es von UN-Generalsekretär António Guterres: »Dies ist die Zeit für hohe Staatskunst – wir dürfen nicht in einen Krieg schlafwandeln.«
Zur Drucklegung dieses Buches steht noch nicht fest, wie das Chicken Game zwischen der aus dem Ruder laufenden Supermacht und dem aufmüpfigen Terrorregime tatsächlich ausgeht. Es gab Hinweise darauf, dass zumindest das nordkoreanische Regime hinter seiner verbalradikalen Maske rationaler agiert, als es den Anschein hat, und in Gesprächen mit US-Experten versucht hat zu ermitteln, wie Donald Trump wirklich tickt.
An der Entwicklung der Weltpolitik während der Amtszeit von Donald Trump indes lässt sich relativ gut beobachten, zu welchem Ergebnis eine Madman-Strategie führt, wenn sie kein wirkliches Ziel hat außer dem, Chaos und Verwirrung zu stiften: zum Abwägen und zu viel Misstrauen bei den internationalen Akteuren. Es kann in der Tat zu Unterwürfigkeitsgesten kommen – wie von Angela Merkel, als sie im Frühjahr 2017 Trumps Lieblingstochter Ivanka zu einer Konferenz nach Berlin einlud. Oder zu Belehrungen – wie von Chinas Staatspräsident Xi Jinping, der Trump bei einem Telefonat zehn Minuten lang erklärte, warum China nicht in der Lage sei, Nordkoreas Diktator die Atombomben wieder auszureden. Oder zu Versuchen, aus der neuen Unberechenbarkeit einen eigenen Vorteil zu ziehen – hier dürfte es niemand mit Russlands Wladimir Putin aufnehmen können, der unter anderem im Syrien- und im Krim-Konflikt davon profitiert, dass Trump sein eigenes Militär und die Position der Nato schwächt. Auch bei den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen hat der Respekt vor dem großen russischen Nachbarn zugenommen, seit nicht mehr klar ist, ob der Westen ihnen im Ernstfall gegen eine Invasion Beistand leisten würde.
Bei spieltheoretisch beschreibbaren Konflikten gilt erst einmal die Vermutung, dass es sich bei den beteiligten Parteien um rationale Akteure auf der Suche nach ihrem eigenen Vorteil handelt. Aber dieses Axiom muss regelmäßig gelockert werden, wenn Konflikte länger dauern und an Schärfe zunehmen – also eskalieren. Selbst wenn die großen Player dann noch immer am Schachbrett sitzen und kühlen Kopf bewahren, entsteht auf den unteren Ebenen echter Hass: weil Polizisten prügeln oder Soldaten schießen, weil Leben verpfuscht oder zerstört werden, weil Feindbilder erst aufgebaut und dann mit Realität gefüllt werden. Und ist der Hass erst einmal in den Köpfen, wird er auch den weiteren Lauf der Ereignisse mitbestimmen.
So etwas passiert nicht nur in der großen Politik, sondern auch im alltäglichen Leben. Viele werden eine ähnliche Situation schon einmal im Bekanntenkreis erlebt oder sogar selbst durchlitten haben: eine Scheidung. Manche Paare gehen gütlich auseinander, manche wenigstens vernünftig, manche Trennungen arten in ein zähes Ringen aus, und manche in eine Vernichtungs-Orgie. Der Rosenkrieg heißt ein US-Spielfilm von 1989, in dem Regisseur Danny DeVito den Weg eines Paares von der romantischen Liebe bis zum tödlichen Hass Schritt für Schritt beschreibt. DeVito selbst spielt den Anwalt des Ehemanns, der auf jeder Eskalationsstufe nach gütlichen, geregelten Auswegen sucht und daran scheitert.
Herman Kahns Eskalationsmodell der kühlen Spieltheorie hilft in solchen Fällen nicht weiter. Das brachte den österreichischen Konfliktforscher Friedrich Glasl dazu, 1980 ein eigenes Modell zu präsentieren, das menschliche Abgründe mitberücksichtigt. Denn der Weg der Eskalation, so Glasl, führe »mit einer gewissen zwingenden Kraft in Regionen, die große, untermenschliche Energien aufrufen, die sich jedoch auf die Dauer der menschlichen Steuerung und Beherrschung entziehen«. Bei Glasl führt der Weg zur Hölle über neun Stufen auf drei Ebenen, die interessanterweise dadurch gegeneinander abgegrenzt sind, dass sie jeweils spieltheoretisch eine Ergebnismatrix abbilden:
Ebene 1 »Win-Win«: Es beginnt ganz alltäglich auf der Sachebene mit unterschiedlichen Positionen zu bestimmten Reizthemen, die sich allmählich verhärten (1). Es kommt zu Debatten und Streits, die durchaus noch fruchtbar sein können (2). Charakteristisch für die erste Ebene ist, dass beide Konfliktparteien noch an der Auseinandersetzung wachsen und davon profitieren können. Gütliche Einigungen im Interesse beider sind möglich, werden jedoch unwahrscheinlicher, wenn die Kommunikation abreißt und auf Worte Taten folgen (3).
Ebene 2 »Win-Lose«: Die zweite Ebene der Konflikteskalation ist dadurch gekennzeichnet, dass ein Einvernehmen nicht mehr erreichbar ist und nun beide Konfliktpartner den Glauben hegen und die Strategie verfolgen, als Gewinner aus dem Streit hervorzugehen. Dazu werden zunächst Allianzen mit dem Umfeld geschmiedet, um die eigene Position zu stärken (4). Es wächst der Vernichtungswille, sodass man auch vor Verleumdung und Diffamierungen nicht zurückschreckt. Man will den Gesichtsverlust des anderen erreichen (5). Als Nächstes kommen die Drohstrategien: Eigene Machtdemonstrationen sollen die Gegenseite einschüchtern und zur Kapitulation zwingen (6).
Ebene 3 »Lose-Lose«: Bis hierhin ist der Konflikt so ausgeartet, der Hass so groß geworden, dass keiner mehr als strahlender Sieger daraus hervorgehen kann. Man nimmt den eigenen Untergang mit in Kauf, Hauptsache es erwischt die andere Partei ebenfalls. Begrenzte Vernichtungsschläge dienen allein dem Zweck, dem Gegner Schaden zuzufügen, auch wenn man selbst keinen Nutzen daraus zieht (7). Nächste und vorletzte Eskalationsstufe ist der unbedingte und vollständige Wille, den Gegner zu vernichten, und dazu ist jedes Mittel recht (8). Auf der letzten Stufe hat dieser Vernichtungswille endgültig jede Moral und Rationalität außer Kraft gesetzt. Ab hier geht es nur noch gemeinsam in den Abgrund (9).
Auch wenn nicht alle Konflikte exakt nach diesem Schema ablaufen, so liefert es doch ein Modell dafür, wie Konflikte zu Clusterfucks eskalieren: Dadurch, dass jede Seite glaubt, auf Kosten der Gegenseite gewinnen und mehr für sich herausholen zu können, wird aus Win-Win Lose-Lose. Am Ende stehen alle schlechter da als notwendig.
Kleine Ereignisse und Einzelpersonen verändern den Lauf der Geschichte. So wie bei Bashir Abazeed im Februar 2011. Er war 15 Jahre alt, Schüler und »frustriert und gelangweilt«. Überall in der arabischen Welt wogte jene Protestwelle, die als »Arabischer Frühling« bekannt werden sollte – nur in Syrien nicht. »Ich wollte etwas unternehmen«, sagte Abazeed zwei Jahre später über die Graffiti, die er mit fünf Freunden zusammen nachts an die Schulmauer sprühte: »Nieder mit dem Präsidenten« und »Du bist dran, Doktor«. Vermutlich war es das Graffiti mit den gravierendsten Folgen in der Weltgeschichte, denn es löste den syrischen Bürgerkrieg aus. Die ersten Eskalationsstufen auf dem Weg von einem Graffiti zur Zerstörung eines ganzen Landes waren dabei geradezu lehrbuchartig: Die Jungs werden erwischt, verhaftet, gefoltert. Die Väter fragen bei der Polizei nach, werden weggeschickt, beschimpft und beleidigt. (»Vergesst, dass ihr diese Kinder hattet. Geht nach Hause. Macht neue Kinder. Und wenn ihr das nicht hinkriegt, bringt uns eure Frauen, und wir machen euch neue Kinder.«) Die Familien protestieren öffentlich. Die Polizei greift ein, Steine fliegen, Schüsse fallen: zwei Tote. Die Toten werden in einem Demonstrationszug begraben, wieder Schüsse, Häuser brennen, Tote auf beiden Seiten. Schließlich greift die Armee ein, die Aufstände greifen auf andere Landesteile über.
Nichts davon war zwangsläufig. An jeder Stelle hätte statt einer Eskalation auch eine Deeskalation stehen können; und manchmal wurde das auch versucht – so als die Sprayer nach fünf Wochen Haft wieder freigelassen wurden. Aber der Fall zeigt, wie sehr Konflikte eine Eigendynamik gewinnen können und wie unberechenbar diese ist.
Situationen, die nicht berechen- und kontrollierbar sind, nennen wir Kontingenz, was von lateinisch contingentia (Möglichkeit) kommt: Alles, was ist, könnte auch anders sein. Schon kleine, kaum wahrnehmbare Änderungen können dazu führen, dass eine Situation einen völlig anderen Verlauf nimmt. Unter Militärs ist die Kontingenz unter dem Begriff »Hinge-Faktor« bekannt, den der Historiker Erik Durschmied als »den Dreh- und Angelpunkt, der über den Ausgang einer Schlacht entscheidet«, beschreibt. Es kann ein Bienenschwarm sein (der die Schlacht von Tanga am 5. November 1914 zugunsten der Deutschen entschied) oder ein Klopfen auf Holz, mit dem die Kriegslist des Trojanischen Pferdes hätte auffliegen können – aber nicht aufflog.
Das Forschungsfeld der kontrafaktischen Geschichte besteht einzig und allein aus Kontingenz: Es untersucht Was-wäre-wenn-Szenarien. Was, wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte – oder eines der Attentate auf ihn erfolgreich gewesen wäre. Was, wenn Kolumbus nicht nach Spanien zurückgekommen wäre. Was, wenn keine Atombombe auf Hiroshima gefallen wäre. Manchmal haben große Änderungen eine kleine Wirkung: Amerika wäre ohne Kolumbus vermutlich ein paar Jahrzehnte später entdeckt worden, die Eroberung durch die Europäer wäre kaum anders verlaufen. Und manchmal haben kleine Änderungen große Konsequenzen, zum Beispiel am 16. April 1746: Was hätte passieren können, wenn die Stuarts an jenem Tag in der Schlacht von Culloden triumphiert und den britischen Thron von den Welfen zurückerobert hätten, die in direkter Linie mit den bis heute amtierenden Windsors verwandt sind? Das hat der britische Historiker Murray Pittock erst vor Kurzem aufsehenerregend durchgespielt. Der Spiegel fasst zusammen: »Ein Triumph der Stuarts in Culloden hätte voraussichtlich die folgenschwere Revolte in den amerikanischen Kolonien verhindert, die letztlich zur Gründung der USA führte – und auch jene verheerende Finanzkrise, die Ludwig XVI. nahezu ruinierte und in die Französische Revolution mündete.« Im Klartext: Die USA würde es nicht geben und die Französische Revolution hätte nie stattgefunden, wenn jene knappe Schlacht, von der noch nie ein Mensch außerhalb Großbritanniens jemals gehört hat, anders ausgegangen wäre.
Am 29. Dezember 1972 um 10 Uhr morgens Bostoner Zeit wurde die Überzeugung, alles unter Kontrolle haben zu können, durch einen Schmetterlingsflügelschlag ausgeknockt. Der US-Meteorologe Edward N. Lorenz hielt damals vor der American Association for the Advancement of Science einen Vortrag mit dem Titel Predictability: Does the Flap of a Butterfly’s Wings in Brazil set off a Tornado in Texas? Lorenz