Calpurnia und Travis leben auf einer Farm mit Pferden, Kühen, Hunden, Schafen, Katzen und Kaninchen. Beide lieben Tiere und die Natur über alles. Callie träumt sogar davon, einmal Tierärztin zu werden. Am liebsten geht sie mit ihrem Großvater täglich das Flußufer entlang, um alles über Tiere und ihre Lebensweisen zu erfahren. Ganz egal, ob ein Schmetterling nicht fliegen kann oder einem Lämmchen auf die Welt verholfen werden muss, Calpurnia und Travis sind stets mit Rat und Tat zur Stelle.
Ein neues Lämmchen
Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann
Mit Illustrationen von Alexandra Prischedko
Carl Hanser Verlag
Die Geschichte, die ich hier erzählen will, spielt im Frühjahr 1901 auf unserer Farm in Fentress im amerikanischen Bundesstaat Texas. Falls du nicht zufällig auch auf so einem Hof lebst, weißt du vielleicht nicht, dass das Frühjahr die Zeit ist, zu der die meisten Tiere Nachwuchs bekommen. Bei uns wimmelte es dann nur so von Lämmern, Kälbern, Tauben und Kätzchen. Meistens kamen die Tierkinder völlig problemlos zur Welt, aber gelegentlich ging auch etwas schief. Dann riefen wir Dr. Pritzker um Hilfe.
Dr. Pritzker war der Tierarzt in unserer Stadt. (Gebildete Leute sagen »Veterinär«.) Obwohl ich erst dreizehn war, waren Dr. Pritzker und ich Freunde geworden, und so durfte ich in seiner Praxis Etiketten schreiben für die Medikamente, die er den Tieren verordnete. Manchmal – und das war noch besser – ließ er mich seine Bücher lesen, dabei lernte ich viel über alle möglichen Krankheiten, die Haustiere befallen können. Manchmal aber – und das war das Beste überhaupt – ließ er mich zusehen, wenn er Tiere behandelte. Meiner Mutter gefiel das gar nicht. In ihren Augen gehörte sich das nicht, es war einfach nicht damenhaft, und aus irgendeinem Grunde war sie fest entschlossen, aus mir eine Dame zu machen, die stets wusste, was sich gehörte. Also erzählte ich meiner Mutter gewöhnlich nichts davon, wenn ich Dr. Pritzker begleitete. Ehrlich gesagt, erwähnte ich es so gut wie nie. Im Grunde war es doch nett von mir, wenn ich ihr Dinge ersparte, die sie nur unglücklich machen würden. Stimmt’s? Stimmt!
Wir hatten ein richtig großes Haus, was auch ein Glück war, schließlich waren wir eine ganze Menge Leute: meine Eltern, mein Großpapa, ich selbst und meine insgesamt sechs Brüder. Du hast richtig gelesen: sechs. Wenn du das einzige Mädchen bist, sind sechs Brüder eindeutig zu viel. Ungefähr fünf zu viel. Manchmal ist das Leben einfach nicht fair. Das sage ich hier nicht zum ersten Mal und bestimmt nicht zum letzten.
Von allen meinen übermäßig vielen Brüdern stand Travis mir am nächsten. Er war nur ein Jahr jünger als ich, hatte ein weiches Herz und ein strahlendes Lächeln und war ganz verrückt nach Tieren. In einer dunklen Scheunenecke zog er Kaninchen als Kuscheltiere auf, und wenn bei uns zum Erntedankfest ein Truthahn geschlachtet wurde oder auch nur ein Huhn für das Sonntagsessen, brach es ihm jedes Mal fast das Herz. Ganz ehrlich, der Junge musste sich dringend eine rauere Schale zulegen. Eine, wie ich sie hatte.
Den ganzen Morgen über hatte ich im seichten Wasser des San Marcos River nach schwarz gefleckten Molchen gesucht und mich dabei ganz schön mit Lehm beschmiert. Molche sind sehr scheue Tiere, und so bekam ich keinen zu fassen. Ich hatte mir schon lange gewünscht, einen aufzuziehen, denn Molche verbringen zunächst einen Teil ihres Lebens im Wasser, wie Kaulquappen, bis sie irgendwann ihre Kiemen verlieren, Beine bekommen und an Land herumlaufen. Ein toller Trick, wenn du mich fragst.
Auf einmal hörte ich, wie Viola, unsere Köchin, in weiter Ferne die große Glocke läutete. Damit rief sie uns alle zum Essen zusammen. Oh-oh! Ich hatte mich viel weiter vom Haus entfernt, als ich es vorgehabt hatte, und nun würde ich zu spät bei Tisch erscheinen. Das galt bei uns als schrecklich unhöflich und rief stets heftiges Stirnrunzeln hervor. Also raste ich los.
Bis ich an der Küchentür ankam, saß meine Familie bereits am Esstisch, und Viola war schon dabei zu servieren. Immer wieder eilte sie mit Tellern zwischen den Schwingtüren hindurch. Ein rascher Blick in den Küchenspiegel zeigte mir mein erhitztes Gesicht voller Lehmspritzer und meine vom Schweiß feuchten Haare.
»Wie gekochte Rote Bete siehst du aus«, kommentierte Viola knapp, während sie Kartoffeln auf die Teller lud.
Ich spritzte mir an der Küchenpumpe Wasser ins Gesicht, um mich abzukühlen.
»Kaum besser als vorher«, meinte Viola. »Jetzt siehst du aus wie eine ertrunkene Ratte.«
»Haha. Sehr witzig.«
»Vergiss nicht, dir die dreckigen Pfoten zu waschen.«
Ich scheuerte mir die Hände mit der rauen Küchenseife.
»Ist sie sauer?«
Sie, damit meinte ich natürlich meine Mutter.
»Was glaubst du denn?« Viola griff nach einem sauberen Geschirrtuch. »Komm her.« Sie wischte mir übers Gesicht. »So, schon besser. Und jetzt schnell rein!« Sie schlug mit dem Tuch nach mir.
Ich schlüpfte durch die Tür ins Esszimmer, konnte mich aber nicht entscheiden, ob ich hoch erhobenen Hauptes stehen bleiben sollte, um mir meine Würde zu bewahren, oder ob ich mich zum Tisch schleichen sollte wie ein Hund, der mit stinkendem Fell aus dem Regen kommt. Doch so oder so, es war auch schon egal. Es gab keine Würde zu verteidigen, und es gab kein Versteck. Meine Mutter starrte mich kühl an, und sofort wurde es still am Tisch. Ich setzte mich leise auf meinen Platz neben Travis.
»Also, Calpurnia«, sagte meine Mutter. »Was soll das?«
»Entschuldigung, Mutter«, flüsterte ich.