Gertrude Pressburger war zehn, als Hitler in Österreich einmarschierte. Obwohl die jüdische Familie Jahre zuvor auf Wunsch des Vaters katholisch getauft worden war, musste sie fliehen. Fast sechs Jahre dauerte die Flucht quer durch Jugoslawien und Italien, die 1944 in Auschwitz endete. Gertrude überlebte – ihre Eltern und die zwei jüngeren Brüder wurden von den Nationalsozialisten umgebracht.
Jahrzehntelang hat Gertrude Pressburger geschwiegen. »Wie einen Stein in der Brust« hat sie ihre Vergangenheit in sich getragen: »Ich konnte und wollte nicht erzählen.« Dass ein maßgeblicher Politiker in Österreich 2016 von einem drohenden Bürgerkrieg spricht, hat sie bestürzt. Dass ihre wahrhaftigen Worte Gehör finden, hat sie bestärkt, mit einer jungen Journalistin ihre Geschichte aufzuschreiben. »Ich bin nicht zurückgekommen, um dasselbe noch einmal zu erleben.«
Zsolnay E-Book
GERTRUDE PRESSBURGER
GELEBT, ERLEBT, ÜBERLEBT
AUFGEZEICHNET VON MARLENE GROIHOFER
Mit einem Nachwort von Oliver Rathkolb
Paul Zsolnay Verlag
MEINER FAMILIE
In Liebe unvergessen
INHALT
1. Kapitel: Die Erste, die im Baumwipfel sitzt
2. Kapitel: Weg aus Wien
3. Kapitel: Mit drei Kindern und fünf Koffern
4. Kapitel: Auschwitz
5. Kapitel: Hinter der gläsernen Wand
6. Kapitel: Wo ist mein Vater?
7. Kapitel: Wien, das Feindesland
8. Kapitel: Ich lasse mich nicht unterkriegen
Epilog
Danksagung
Oliver Rathkolb: Nachwort
Es gibt Nächte, in denen fällt es mir schwer, einzuschlafen. Ich glaube, das passiert, weil ich tagsüber nicht ausgelastet bin, denn früher habe ich das nicht gehabt. Dann lege ich mich um elf Uhr abends ins Bett und schlafe um eins immer noch nicht, werde um drei Uhr wieder munter und liege bis vier wach. Meiner Cousine geht es ähnlich, sie steht dann auf und fängt an, die Fenster zu putzen. Mich macht es nicht nervös, wenn ich nicht schlafen kann. Ich bleibe liegen und döse, gebe meinem Körper die Möglichkeit, sich auch ohne Schlaf zu erholen, und das Liegen beruhigt meine Kreuzschmerzen.
Manchmal, wenn ich so daliege, teste ich mich selbst. Belanglose Worte fallen mir ein, und ich versuche, sie in andere Sprachen zu übersetzen. Wie heißt »Kind« auf Kroatisch? Wie weit kann ich auf Schwedisch noch zählen? Wie weit auf Italienisch? In wie vielen Sprachen kann ich »Ich liebe dich« sagen? Das probiere ich aus, mit geschlossenen Augen, während ich in die Finsternis hineinhorche und darauf warte, dass der Schlaf zurückkommt. Früher hat uns mein Vater auf die Idee zu solchen Spielereien gebracht. Heute haben die Kinder Spielsachen – wir hatten Wörterketten und »Stadt, Land, Fluss«.
Und dann, plötzlich, taucht in der Nacht noch anderes auf: Szenen von früher zögern den Schlaf hinaus. Szenen, von denen ich oft gar nicht weiß, dass ich sie noch weiß. Auf einmal sind sie da, glasklar.
»Gerti, du wäschst das Geschirr ab, Heinzi, du übernimmst das Abtrocknen«, sagt meine Mama. Wir stehen mit ihr in der Küche, ich und mein um drei Jahre jüngerer Bruder. Dann gehen die Eltern, und wir bleiben allein daheim. Mein Bruder will die Aufgaben tauschen, es passt ihm nicht, dass er abtrocknen soll: »Ich will abwaschen.« »Nein«, sage ich, »du planscht da nicht im Wasser herum.« Ich kremple meine Ärmel hoch, hebe den Kessel mit dem heißen Wasser vom Haken über dem offenen Kamin und stelle ihn in die Abwasch aus grauem Beton. Einen Teller nach dem anderen tauche ich ins warme Wasser und schrubbe ihn mit einem Fetzen ab. Sorgfältig staple ich die Teller anschließend neben dem Becken übereinander. »Beeil dich ein bisschen«, sage ich zu meinem Bruder, der immer noch neben mir steht und schaut. »Nur wenn ich mit dem Teller anfangen kann, den du als Erstes abgewaschen hast«, sagt Heinzi. Ich erkläre ihm, dass das nicht geht, weil der erste jetzt ganz unten liegt und er den obersten zuerst abwischen muss, da zieht er zornig den untersten hervor, worauf die Teller umkippen, hinunterfallen und alle auf einmal am Küchenboden zerbrechen. Schimpf kriege natürlich ich, als die Eltern später heimkommen, schließlich bin ich die Ältere, die vernünftig sein hätte müssen.
Da sehe ich meinen Bruder vor mir, wie er auf einmal ganz entsetzt ist über sich selbst und wie leid ihm die Sache tut. Dass ihm das passieren hat können. »Das wollte ich nicht, das wollte ich nicht.« Er weint sowieso sehr schnell, und jetzt rinnen dicke Tränen seine Wangen herunter, als er kommt, um sich bei mir zu entschuldigen: »Sei mir nicht bös, bitte. Ich wollte dir nicht schaden.«
So liege ich in meinem Bett und denke an meine Familie, ganz für mich allein, wie ich es immer mache, seit über siebzig Jahren. Meist fallen mir lustige Situationen ein oder Momente inniger Gefühle. Oft überlege ich, wie meine Brüder heute aussehen könnten. Ich kann sie mir einfach nicht als alte Männer vorstellen.
Es knackst, irgendwo in der Dunkelheit meines Schlafzimmers, vielleicht sind es die in die Jahre gekommenen Hausmauern oder die Bretter im Kleiderkasten. Nichts, was mich stören würde.
Da ist meine Mutter, mit Migräne in einem Hotel in Genua, und ein zaubernder Immigrant, der sie vom Kopfweh befreit. Mein mittlerer Bruder mit einem riesigen Sonnenbrand beim Fischen am Gardasee. Mein Vater, der Obstknödel kocht, die hart sind wie Stein. Der Kleine bei mir unter der Tuchent, obwohl ich Scharlach habe.
Nicht mehr lang, dann fängt es draußen an zu dämmern. Gerade will ich den Schlaf gar nicht zurück. Gerade lasse ich meine Gedanken zu und genieße, dass ich noch so tief dabei empfinden kann.
Wenn ich mich umdrehe, kann ich von meinem Sessel aus durchs Fenster in den Innenhof sehen. Ein paar junge Bäume stehen auf einer Rasenfläche, die zu dieser Jahreszeit graubraun statt grün ist, daneben verläuft ein schmaler gepflasterter Weg. »Letztens hat dort ein kleines Kind mit seiner Mutter die ersten Schritte geübt«, sagt Frau Pressburger, »ich bin am Fenster gestanden, und wir haben einander zugewinkt.« Sie lacht. Von ihrem Platz aus hat sie den Gartenbereich direkt im Blick. Wir sitzen uns gegenüber, an einem Tisch in ihrer Wiener Wohnung. Es ist ein Wintertag zu Jahresbeginn, und das digitale schwarze Kästchen neben mir im Regal zeigt kurz nach elf Uhr. »Früher geht es bei mir nicht«, hat mir Frau Pressburger am Telefon gesagt, »ich brauche ein bisschen, bis ich in der Früh in die Gänge komme.«
»Wissen Sie schon, was Sie zu Mittag vom Chinesen bestellen wollen?«, fragt sie mich und nimmt ein Stück Papier zur Hand. Ich nicke. »Mango-Ente« notiert sie sich mit blauem Kugelschreiber, während ich meine Kopfhörer und das Mikrofon aus dem Rucksack hole. Dann schiebt sie den kleinen Zettel zur Seite und legt ihre Hände startbereit auf die dunkle Tischplatte. »Bitte stoppen Sie mich, wenn ich etwas erzähle, das Sie nicht brauchen können«, sagt sie, »damit wir nicht ins Wischiwaschi kommen.« Von ihrer Teetasse schaut mir ein rosa Elefant entgegen. »Keine Sorge, Sie sind niemand, den man unterbrechen muss«, sage ich. Und dass ich ja gekommen sei, um zuzuhören. Ich ziehe mein Handy aus der Hülle, bringe das Flugzeugsymbol zum Leuchten und lasse meinen Blick kurz durchs Wohnzimmer wandern. Ein dunkelbrauner Einbauschrank steht hier, ein Sofa und der Tisch, an dem wir sitzen. Gleich nebenan liegt die Küche, durch die man ins Bad gelangt, und zwei Türen weiter muss das Schlafzimmer sein. Seit bald sechzig Jahren wohne sie schon in diesem Gemeindebau, sagt Frau Pressburger. Seitdem ihr Mann gestorben ist, lebt sie hier allein. »Einfache Speisen kann ich mir nach wie vor selbst zubereiten«, erzählt sie, »aber das Einkaufen nimmt mir jede Woche mein Schwiegersohn ab.« Nun klappe ich mein Notizbuch auf und schalte das Aufnahmegerät ein. »Sie unterbrechen aber bitte das Interview, wenn es Ihnen zu viel wird«, sage ich. Frau Pressburger nickt, ihr Blick ist wach: »Natürlich. Da brauchen Sie keine Angst zu haben, ich bin ganz eine Direkte.«