Nora Flynn ist 21, als sie mit ihrer jüngeren Schwester von einem irischen Dorf nach Boston auswandert, um ihrem Verlobten zu folgen und Theresa eine Ausbildung zu ermöglichen. Doch die macht alle Pläne zunichte. Theresa wird schwanger. Nora trifft eine folgenschwere Entscheidung.

Fünfzig Jahre später hat Nora vier erwachsene Kinder: John, der Karriere in der Politik gemacht hat; Bridget, die mit ihrer Freundin ein Baby plant; Brian, der nichts so recht auf die Reihe kriegt, und den gutaussehenden Patrick, ihren Ältesten, der Nora beständig Sorgen bereitet und trotzdem ihr Liebling ist.

Theresa lebt als Nonne in einem Kloster, als Patricks Tod die Schwestern nach Jahrzehnten des Schweigens wieder zusammenführt − und sie zwingt, sich mit dem auseinander zu setzen, was ihr Leben für immer verändert hat.

 

Deuticke E-Book

J. Courtney Sullivan

 

ALL DIE JAHRE

 

Roman

 

Aus dem Englischen von Henriette Heise

 

 

Deuticke

 

 

Für Jenny Jackson, Brettne Bloom und Ann Napolitano, die den Glauben bewahrten.

 

 

Ich existiere an zwei Orten,

Hier und wo du bist.

 

Margaret Atwood, Corpse Song

 

 

Teil Eins

 

2009

 

 

1

 

Im Auto auf dem Weg zum Krankenhaus erinnerte Nora sich. Als Patrick noch ein kleiner Junge war, war sie oft plötzlich aufgewacht, panisch vor Angst – dass er zu atmen aufgehört hatte oder von einem tödlichen Fieber befallen war. Dass man ihn ihr weggenommen hatte.

Dann musste sie ihn sehen, um sich sicher zu sein. Damals wohnten sie im obersten Stock eines kleinen Wohnhauses auf der Crescent Avenue. Sie nachtwandelte mit über die kalten Dielen schleifendem Nachthemd durch die Küche und an Bridgets Zimmer vorbei, den langen Flur hinunter bis zum Zimmer des Kleinen. Im Hintergrund war Mrs. Sheehans Radio aus der Wohnung unter ihr zu hören.

Die Angst kehrte in dem Sommer wieder, in dem Patrick sechzehn Jahre alt war und sie in das große Haus in Hull zogen. Nora wachte nachts mit pochendem Herzen auf, sah ihn und ihre Schwester vor sich, und Bilder aus Vergangenheit und Gegenwart überlagerten einander. Sie machte sich Sorgen wegen der Jungs, mit denen er sich herumtrieb, wegen seiner Launen und wegen der Dinge, die er getan hatte und die nicht wieder rückgängig gemacht werden konnten.

Sie begegnete diesen Ängsten auf die ihr vertraute Art. Zu welcher Stunde auch immer: Sie stand auf und stieg die Treppen zu Patricks Zimmer unter dem Dach hinauf, um ihn zu sehen. Das war ihre Vereinbarung mit sich selbst, das Ritual, das Sicherheit garantierte. Solange sie die Augen offen hielt, konnte nichts richtig Schlimmes passieren.

Über die Jahre hatte es immer wieder Zeiten gegeben, in denen sie mehr mit einem der anderen drei Kinder beschäftigt gewesen war. Je älter sie wurden, desto besser konnte Nora sie einschätzen. Das war etwas, das einem keiner vorher sagte: Man musste die eigenen Kinder kennenlernen. John wollte ihr unentwegt gefallen. Bridget war ein hoffnungsloser Wildfang und benahm sich wie ein Junge. Sie hatten sich diese Eigenschaften aus der Kindheit bis ins Erwachsenenalter erhalten. Als Brian, das Nesthäkchen, auszog, machte Nora sich schreckliche Sorgen. Noch mehr Sorgen machte sie sich allerdings, seit er wieder eingezogen war.

Aber es war Patrick, der sie stets am meisten beschäftigte. Er war jetzt fünfzig Jahre alt, und in den letzten Monaten waren die alten Ängste zurückgekehrt. Alles hatte damit angefangen, dass John Dinge aufgewirbelt hatte, von denen sie gedacht hatte, dass sie schon lange vergessen waren. Sie konnte in diesen Nächten, wenn die Angst sie wach hielt, nicht mehr nach Patrick sehen, also knipste Nora die Lampe an und blätterte durch ihre Heiligenbildchen, bis sie die heilige Monika fand, Schutzheilige der Mütter schwieriger Kinder. Sie legte die Karte neben sich auf Charlies Kopfkissen und schlief ein.

Heute Nacht hatte sie endlich einmal nicht an Patrick gedacht, sondern an etwas ganz anderes: die Heizanlage im Keller. Die hatte nach dem Abendessen angefangen, komische Geräusche zu machen. Nora hatte die Temperatureinstellung verändert, aber es hatte sich nichts getan. Wahrscheinlich musste die Heizung gelüftet werden. Als nichts mehr half, sprach sie als letztes Mittel einen Rosenkranz. Das schien zu wirken, und sie legte sich mit einem Grinsen ins Bett, zufrieden mit ihren Fähigkeiten.

Kurze Zeit später weckte sie ein Anruf: Die Stimme eines Fremden erklärte, es habe einen Unfall gegeben und sie solle sofort kommen. Als sie die Notaufnahme erreichte, im rosa Flanellpyjama unter dem Wintermantel, war Patrick schon tot.

 

Der Rettungswagen hatte ihn ins Carney gebracht.

Nora brauchte eine Dreiviertelstunde für die Strecke von zu Hause in die Gegend, in der sie früher gelebt hatten.

An der Tür warteten schon der Arzt, eine Schwester und ein Priester in Noras Alter auf sie. Als sie den Geistlichen sah, war alles klar. Sie dachte daran, dass sie damals wegen Patrick aus Dorchester weggezogen waren, und dass er, sobald er alt genug war, wieder hierhergezogen war. Hier hatte sein Leben seinen Anfang genommen, und hier war es zu Ende gegangen.

Man führte sie in ein fensterloses Büro. Sie wollte sagen, dass sie da nicht hineingehen würde, doch dann trat sie doch ein und setzte sich. Der Arzt sah schrecklich jung aus für diese Aufgabe, aber in letzter Zeit kamen ihr viele Menschen schrecklich jung vor. Er wollte Nora sagen, dass sie fast eine Stunde lang versucht hatten, ihren Sohn wiederzubeleben. Für ihn sei alles Menschenmögliche getan worden. Er erklärte ruhig und detailliert, dass Patrick getrunken hatte, die Kontrolle über das Auto verloren und am Morrissey Boulevard unter einer Brücke in eine Mauer gefahren war. Sein Oberkörper sei gegen das Lenkrad geschleudert worden. Die Lungen ausgeblutet.

»Es hätte schlimmer sein können«, sagte der Arzt. »Wenn er nicht angeschnallt gewesen wäre, wäre er durch die Frontscheibe geflogen.«

Gab es etwas Schlimmeres als den Tod, fragte sie sich, hielt sich aber an einem Detail fest: Patrick hatte einen Sicherheitsgurt getragen. Er hatte nicht sterben wollen.

Nora hätte den Priester gerne gefragt, ob er es für möglich hielt, dass all ihre Ängste auf diesen Moment hinausgelaufen waren. Oder ob sie das hier hinausgezögert hatten. Sie hatte das Gefühl, dass sie beichten sollte. Ihre Schuld. Ihr war klar, dass sie sie für verrückt erklären würden, wenn sie das laut sagte. Sie saß da, die Lippen fest aufeinandergepresst, und drückte sich die Handtasche wie ein zappeliges kleines Kind an die Brust.

Nachdem Nora die Papiere unterschrieben hatte, sagte die Krankenschwester: »Wenn Sie möchten, können Sie ihn noch einmal sehen.«

Sie führte Nora den Flur entlang, in einen Raum hinein und schloss die Tür.

Patrick lag unter einer weißen Abdeckung auf einer Bahre. In seinem Mund steckte ein Atemschlauch. Jemand hatte ihm die Augen geschlossen.

Aus dem Flur und den umgebenden Zimmern drangen Schritte, Stimmen und das Piepen der Maschinen. Im Schwesternzimmer lachte jemand laut. Aber in diesem Raum herrschten Endgültigkeit und Stille.

Nora versuchte, sich genau an die Worte des Arztes zu erinnern. Wenn es ihr gelang, sich alles zu erklären und das Problem zu verstehen, konnte sie ihn vielleicht doch wieder zurückbekommen.

Unbändige Wut auf John kochte in ihr hoch. Sie erinnerte sich an einen Augenblick im letzten Mai, als er sie gefragt hatte, ob sie sich an die McClains aus Savin Hill erinnerte. Der älteste Sohn sei auf John zugekommen, er suche einen Leiter für seine Wahlkampagne zur Senatswahl.

»Sie waren nicht sehr nett«, sagte sie. »Ich glaube nicht, dass du das machen solltest.«

Was sie meinte war: Tu es nicht! Aber John hatte es trotzdem getan, und das hatte zu dieser schrecklichen Sache bei Maeves Konfirmationsfeier geführt. Seitdem hatten Patrick und John nicht mehr miteinander geredet. Patrick war wie ausgewechselt.

Erst gestern hatte Nora wieder einen Artikel in der Zeitung gesehen und war wie immer, wenn sie Rory McClains Namen las, unruhig geworden.

Auf einem Foto war Rory zu sehen, ganz der Politiker, dieses Gesicht, das ihr so vertraut war, mit dem tiefschwarzen Haar und dem zähnebleckenden Lächeln. Neben ihm stand die Ehefrau, und vor ihnen waren die drei jugendlichen Söhne wie die Orgelpfeifen angeordnet. Ob sie unter den weißen Hemden und den braven Frisuren genauso böse waren wie ihr Vater und ihr Großvater? Heuchelei musste eine vererbbare Eigenschaft sein, wie Zwillingsgeburten oder schwache Knie.

Sie hatte den Artikel nicht lesen wollen. Da sie aber wusste, dass John anrufen würde, um sich sicher zu sein, dass sie ihn gesehen hatte, hatte sie umgeblättert.

Jetzt atmete sie tief ein und sagte sich, dass sie diese Gedanken beiseiteschieben sollte. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit.

Patrick hatte seit zwei Jahren diesen schrecklichen Schnurrbart getragen, trotz ihrer Bitten, ihn abzurasieren. Sie ließ ihre Hand in der Luft über ihm verharren, wie um ihn zu verstecken, dann sah sie ihn an. Sie schaute und schaute. Er war schon immer gutaussehend gewesen, das schönste ihrer Kinder.

Nach einiger Zeit klopfte die Krankenschwester zweimal und trat dann ein.

»Ich fürchte, es ist Zeit«, sagte sie.

Nora nahm eine kleine Plastikbürste aus der Handtasche und glättete die schwarzen Locken. Dann fühlte sie seinen Puls, um ganz sicherzugehen. Es kam ihr vor, als lebe ein ganzer Schwarm Bienen in ihr, aber es gelang ihr schließlich, Patrick gehenzulassen, wie es ihr auch schon bei anderen Gelegenheiten gelungen war, in denen es unmöglich erschienen war. Als er fünf Jahre alt war und Angst vor der Vorschule hatte, steckte sie ihm, als der gelbe Schulbus ins Blickfeld kam, eine Muschel zu. Damit schaffst du das, sagte sie.

Im grell erleuchteten Flur legte der Priester ihr die Hand auf die Schulter.

»Sie sind in besserer Verfassung als die meisten, Mrs. Rafferty«, sagte er. »Sie sind hart im Nehmen, das sieht man gleich. Keine Tränen.«

Nora sagte nichts. Sie hatte noch nie vor anderen weinen können. Außerdem kamen ihre Tränen in einem Moment wie diesem nicht gleich. Weder beim Tod ihrer Mutter, als sie noch ein Kind gewesen war, noch bei dem ihres Mannes vor fünf Jahren hatte sie geweint. Und auch nicht, als ihre Schwester weggegangen war. Das war zwar kein Tod gewesen, aber es hatte sich so angefühlt.

»Woher in Irland stammen Sie?«, fragte er, und als sie ihn nur ausdruckslos anstarrte, fügte er hinzu: »Ihr Akzent.«

»County Clare«, sagte sie.

»Ah, meine Mutter kam aus County Mayo.« Der Priester schwieg einen Augenblick. »Ihr Sohn ist jetzt an einem besseren Ort.«

Warum wurden einem in dieser Situation Geistliche geschickt? Die konnten so etwas grundsätzlich nicht verstehen. Ihre Schwester war genauso. Nora sah sie im schwarzen Habit vor sich – trug man die heutzutage überhaupt noch? Sie würde an diesem Morgen in ihrer friedlichen Abtei auf dem Lande erwachen, frei von jeder Bindung, frei von Herzschmerz, dabei war sie es doch gewesen, die alles ins Rollen gebracht hatte.

 

Auf dem Heimweg verdrängte Nora die Frage, wie sie es den Kindern sagen sollte, und dachte stattdessen an ihre Schwester. Ihre Wut war so heftig, als ob eine andere Person neben ihr im Auto sitzen würde.

Als die Kinder noch klein waren, hatte Charlie ihnen oft von zu Hause erzählt. Ihre Lieblingsgeschichte war die vom Knocheneinrichter.

»Habe ich euch schon mal erzählt, wer in Miltown Malbay gerufen wurde, wenn sich einer was gebrochen hat?«, fragte er zum Einstieg.

Sie schüttelten euphorisch die Köpfe, obwohl sie die Geschichte schon kannten.

»Der Knocheneinrichter!«, rief er und packte das nächstbeste Kind, das vor Vergnügen in seinen Armen quietschte.

»Zum Arzt ging man erst, wenn man halbtot war«, sagte er. »Wenn man sich was gebrochen hatte, so wie ich mir damals das Fußgelenk, kam der gute Mann zu einem ins Schlafzimmer und rückte einen mit bloßen Händen zurecht.« Charlie machte ein schnalzendes Geräusch mit der Zunge. »Danach war man so gut wie neu. Ganz ohne Medizin, die war gar nicht nötig.«

Die Kinder wurden grün im Gesicht, wenn er die Geschichte erzählte, aber kaum war er fertig, wollten sie sie von neuem hören.

Wie üblich, wenn Charlie von zu Hause erzählte, ließ er die dunklen Seiten aus: Der Mann hatte das Fußgelenk nicht ganz geradegerichtet, was zu einer leichten Schiefstellung des ganzen Körpers geführt hatte und erst Knieprobleme und später Rückenschmerzen verursachte.

Ihr Lügen funktionierte auf dieselbe Weise: Die Urlüge ging auf ihre Schwester zurück, alle Folgelügen hatte Nora in dem Versuch erdacht, die Welt der ursprünglichen Lüge zu erhalten. Jede dieser Unwahrheiten hatte Patrick mehr in Schieflage gebracht. Das hatte Nora akzeptiert. Es war der Preis für Patricks Sicherheit.

John hatte sich oft darüber beschwert, dass Nora Patrick vorzog, und Bridget sagte, dass sie als kleines Kind gedacht hatte, sein Name sei Meinpatrick. Sie hatte schlicht nie etwas anderes gehört. Eines Tages würden sie es verstehen, hatte Nora gedacht, eines Tages würden sie alles erfahren, obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, es ihnen zu sagen. Patrick hatte Fragen gestellt, aber sie hatte es nicht geschafft, zu antworten.

Nora hatte ihnen nicht einmal erzählt, dass sie eine Schwester hatte.

Sie musste wieder an das Kloster denken. Diese Frauen dort, die die Welt hinter sich gelassen und sogar ihren Namen aufgegeben hatten. Nora war schon vor langer Zeit klar geworden, dass die Mauern, hinter denen sich die Nonnen vor der Außenwelt schützten, auch ein Gefängnis waren, in dem man mit seinen Gedanken ganz allein war. Bitteschön, da hatte sie jetzt etwas zum Nachdenken. Mit dieser Last sollte sie erstmal klarkommen. Nora sah keinen Grund, sie allein zu tragen.

Kaum war sie zu Hause, trat sie an die Schublade mit dem Gerümpel und holte ihr altes Adressbuch hervor. Sie nahm zum ersten Mal nach über dreißig Jahren mit der Abtei Kontakt auf. Der jungen Frau am anderen Ende der Leitung stellte sie sich als Nora Rafferty vor und bat sie, Mutter Cecilia Flynn wissen zu lassen, dass ihr Sohn Patrick am Vorabend bei einem Autounfall umgekommen war, allein.

Vor der Tür hörte sie die ersten Pendler vorbeifahren, den Hügel hinunter Richtung Autobahn, die sie in die Stadt führte oder zur Fähre, auf der sie eine Tasse Kaffee trinken würden, während das Schiff sich seinen Weg durch den dunklen Hafen bahnte.

Nora nahm das Notizbuch von der Arbeitsplatte und machte eine Liste. Dann kochte sie eine Kanne Tee, falls sie früher als erwartet Besuch bekäme. Schließlich setzte sie sich hin, stützte die Ellbogen auf die Tischplatte, legte das Gesicht in die kühlen Hände und weinte.

 

 

Teil Zwei

 

1957–1958