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Impressum

Die französische Ausgabe erschien 2014 (2. Auflage) unter dem Titel «Et si le temps n’existait pas?» bei Dunod Éditeur, Paris. Diese Übersetzung folgt der von Élisa Brune überarbeiteten französischen Ausgabe. Die italienische Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel «Che cos’è il tempo? Che cos’ è lo spazio?» bei Di Renzo.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2018

Copyright © 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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«Et si le temps n’existait pas?» Copyright © 2014 by Dunod Éditeur – www.dunod.com

Lektorat Frank Strickstrock

Fachlektorat Bernd Schuh

Umschlaggestaltung Anzinger und Rasp, München

Umschlagabbildung FrankRamspott/Getty Images

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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ISBN Printausgabe 978-3-499-63388-1 (1. Auflage 2018)

ISBN E-Book 978-3-644-00074-2

www.rowohlt.de

 

Hinweis: Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-00074-2

Carlo Rovelli ist theoretischer Physiker und zählt zu den Begründern der Theorie der Schleifenquantengravitation, ein mathematisch ausgesprochen schwieriges Thema. Dennoch – als ich ihn bei einer interdisziplinären Zusammenkunft traf und ihm zuhörte, erzählte er so verständlich von seiner Arbeit, dass ihm ein Fünfzehnjähriger Schritt für Schritt hätte folgen können. Und er sprach mit so viel Begeisterung, dass der junge Zuhörer sicherlich hätte wissen wollen, wie er selbst Physiker werden könnte.

Carlo Rovelli arbeitet wissenschaftlich an vorderster Front, doch seine Forschung ist für ihn kein Selbstzweck. Die Probleme, die er lösen möchte, verliert er nicht aus dem Auge. Das macht ihn zu einem Sachbuchautor von geradezu magischer Qualität. Methodisch und klar gibt er einen knappen Überblick über die Grundlagenphysik, um ihre Lücken deutlich zu machen – die offenen Fragen, die die heutigen Physiker faszinieren.

Der italienische Herausgeber Sante Di Renzo hatte die Weitsicht, Carlo Rovelli um einen Text für neugierige junge Leser zu bitten, die sich für eine wissenschaftliche Laufbahn interessieren. Aus mehreren Gesprächen über Physikvorlesungen des Physikers entstand schließlich der Text Che cos’è il tempo? Che cos’è lo spazio?

Da ich, nachdem ich Carlo Rovelli auf der Konferenz gehört hatte, selbst die Idee hatte, ihn zu publizieren, schlug er mir vor, diese Arbeit aufzugreifen und im Hinblick auf ihren wissenschaftlichen Inhalt wie auch auf ihre Gedanken über die

Mehr noch als ein naturwissenschaftliches Werk ist dieses Buch eine Demonstration naturwissenschaftlichen Denkens, das für Kinder so natürlich ist, aber so schwer zu bewahren.

 

Élisa Brune

Wissenschaftsjournalistin

Ich habe einen großen Teil meines Lebens der naturwissenschaftlichen Forschung gewidmet, doch war die Naturwissenschaft eine späte Leidenschaft für mich. In meiner Jugend interessierte ich mich weniger für die Wissenschaft als für die ganze Welt.

Ich bin in Verona aufgewachsen, in einer unauffälligen Familie. Mein Vater, ein Mann von seltener Intelligenz, unaufdringlich und reserviert, war Ingenieur und führte sein eigenes Unternehmen. Er hat mir das Vergnügen vermittelt, die Welt mit Neugier zu betrachten. Meine Mutter, eine wahre Italienerin, überschüttete ihren einzigen Sohn mit Liebe, half mir bei den «Forschungen», die ich in der Grundschule durchführte, und förderte meinen Wissensdurst.

Ich besuchte das klassische Gymnasium in Verona, wo mehr Wert auf Griechisch und Geschichte als auf Mathematik gelegt wurde. Diese Schule bot einerseits viele kulturelle Anregungen, war andererseits aber auch anmaßend und provinziell, hatte sie sich doch

Meine Jugendjahre waren von Aufbegehren geprägt. Ich konnte mich mit den Werten, die um mich herum vertreten wurden, nicht identifizieren und empfand ein Gefühl völliger Verwirrung, denn nichts erschien mir sicher. Nur eins war klar: Die Welt um mich herum unterschied sich deutlich von jener, die mir gerecht und schön erschien. Ich träumte davon, auszusteigen und dieser Wirklichkeit, die mich abstieß, zu entfliehen. Ich las Bücher, in denen von anderen Lebensweisen und neuen Ideen die Rede war. Und ich dachte, in jedem Buch, das ich noch nicht gelesen hatte, könnten wunderbare Schätze verborgen sein.

Es war eine Zeit, in der man seine Träume auslebte. Wir reisten viel: im Kopf und auf der Straße, immer auf der Suche nach neuen Freunden und Ideen. Mit zwanzig brach ich allein zu einer langen Reise um die Welt auf. Ich war auf der Suche nach Abenteuern und wollte «die Wahrheit finden». Heute, Anfang sechzig, muss ich über meine damalige Naivität lächeln, aber ich denke noch immer, dass ich die richtige Wahl traf, und in gewisser Weise erlebe ich heute noch das Abenteuer, das damals begann. Der Weg war nicht immer leicht, doch die verrückten Hoffnungen und die grenzenlosen Träume von damals erfüllen mich noch immer; man muss nur den Mut haben, ihnen zu folgen.

Mit einer Gruppe von Freunden rief ich in Bologna

Auf halbem Weg meines Studiums fühlte ich mich verlorener als je zuvor; ich hatte das bittere Gefühl, dass die Träume, die von so vielen geteilt wurden, im Begriff waren, sich schon wieder zu verflüchtigen. Ich hatte keinen Schimmer, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Den Weg des sozialen Aufstiegs einzuschlagen, Karriere zu machen, Geld zu verdienen und einen Zipfel der Macht zu ergreifen, erschien mir allzu öde. Das war nicht mein Ding. Aber es gab die ganze Welt zu erforschen, und jenseits der Wolken stellte ich mir stets einen grenzenlosen Horizont vor.

Die wissenschaftliche Forschung war damals meine Rettung – hier fand ich einen unbegrenzten Freiraum, ein Abenteuer, ebenso außergewöhnlich wie uralt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich studiert, um meine

Im dritten Studienjahr Physik stand die «neue» Physik auf dem Lehrplan, die Physik des 20. Jahrhunderts: Quantenmechanik und Einsteins Relativitätstheorie. Dahinter stehen faszinierende Ideen, außergewöhnliche konzeptuelle Revolutionen, die unsere Sicht der Welt verändern und alte Ideen auf den Kopf stellen, darunter auch solche, die als gut gesichert galten. Im Zuge dieser neuen Erkenntnisse ist deutlich geworden, dass die Welt nicht so ist, wie sie scheint. Man lernt, die Dinge mit anderen Augen zu betrachten. Das ist eine bemerkenswerte Gedankenreise. So bin ich aus einer missglückten Kulturrevolution in eine gerade stattfindende Revolution des Denkens hineingeschlittert.

Mit den Naturwissenschaften entdeckte ich eine Art des Denkens, die mit dem Festlegen von Regeln beginnt, um die Welt zu verstehen, und anschließend in der Lage ist, diese Regeln zu modifizieren. Diese Freiheit auf der Suche nach Erkenntnis faszinierte mich. Angespornt von meiner Neugier und vielleicht auch von dem, was Federico Cesi, Freund Galileis und Visionär der modernen Naturwissenschaften, «den

Mein Interesse für diese Disziplin erwuchs daher eher aus Zufall und Neugier denn aus einer bewussten Entscheidung. Im Gymnasium war ich gut in Mathematik, aber ich fühlte mich stets stärker zur Philosophie hingezogen. Wenn ich als Studienfach Physik statt Philosophie gewählt hatte, dann nur deshalb, weil ich in meiner Verachtung für die etablierten Institutionen philosophische Probleme für zu wichtig hielt, um sie allein an der Hochschule zu diskutieren …

In dem Moment, als mein Traum, eine neue Welt zu schaffen, an der Realität scheiterte, verliebte ich mich daher in die Wissenschaft, die die Entdeckung einer unendlichen Zahl neuer Welten bereithält und mir die Möglichkeit bot, als Forschender frei und ungehindert meinem Weg zu folgen. Die Naturwissenschaft war für mich ein Kompromiss: Sie erlaubte mir, auf meinen Wunsch nach Veränderung und Abenteuer nicht zu verzichten, meine Gedankenfreiheit zu bewahren und der zu sein, der ich bin; zugleich mied sie alle Konflikte, die aufgrund dieser Haltung mit der Umwelt auftreten können. Besser noch, ich leistete einen Beitrag zu einem Unterfangen, das die Gesellschaft schätzte.

Ich denke, die Neugier und das Streben nach Veränderungen, die es in jeder Generation gibt, sind die Hauptquelle für gesellschaftlichen Fortschritt. Neben den Hütern der Ordnung, die die Stabilität erhalten, die geschichtliche Entwicklung aber bremsen, muss es Menschen geben, die ihre Träume leben und sich trauen, neue Wege zu gehen, verblüffende Ideen zu entwickeln, die Realität auf bisher ungeahnte Weise zu betrachten und zu verstehen. Die heutige Welt ist von denjenigen erdacht und erbaut worden, die in der

Dieses Buch beschreibt einige Etappen des Weges, den ich in meiner Neugier eingeschlagen habe, und die Träume, die ich auf diesem Weg geträumt habe. Es erzählt von meiner Begeisterung für die Ideen und von den Freunden, die mir unterwegs begegnet sind.

Ein außergewöhnliches Problem: die Quantengravitation

Während meines vierten Jahres auf der Universität stieß ich auf den Artikel eines englischen Physikers, Chris Isham, in dem es um Quantengravitation ging. An der Basis der modernen Physik gebe es ein ungelöstes Problem, hieß es in dem Artikel, das mit der Definition von Zeit und Raum verknüpft ist, also mit der Grundstruktur der Welt. Ich las diesen Artikel begierig, ohne viel vom Inhalt zu verstehen, doch die Frage, die er beleuchtete, schlug mich in ihren Bann. Im Folgenden möchte ich das Problem in groben Zügen skizzieren.

Die große wissenschaftliche Revolution des 20. Jahrhunderts basiert auf zwei Grundpfeilern: einerseits auf der Quantenmechanik, andererseits auf Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie. Die Quantenmechanik, die die mikroskopische Welt sehr gut beschreibt, hat all unser Wissen über Materie auf den Kopf gestellt. Die Allgemeine Relativitätstheorie, die die Gravitation (Schwerkraft) genau erklärt, hat all das radikal verändert, was wir über Zeit und Raum zu wissen meinten. Diese beiden Theorien sind weitgehend experimentell bestätigt und haben die Entwicklung eines Großteils unserer modernen Technologie ermöglicht.

Sie führen jedoch zu zwei sehr unterschiedlichen Beschreibungen der Welt, die auf den ersten Blick unvereinbar erscheinen. Beide Theorien sind so formuliert, als würde die andere nicht existieren. Das, was ein Professor seinen Studenten über Allgemeine Relativitätstheorie erzählt, scheint für seinen Kollegen, der im Hörsaal nebenan Quantenmechanik unterrichtet, unsinnig zu sein, und umgekehrt gilt das genauso. Die Quantenmechanik benutzt die alten Begriffe von Zeit und Raum, die im Widerspruch zur Allgemeinen Relativitätstheorie stehen. Und die Allgemeine

Es gibt momentan keine Situation in der Physik, in der die beiden Theorien gleichzeitig angewandt werden. Je nach Größenskala des untersuchten Problems ist es mal die eine, mal die andere. Die physikalischen Situationen, in denen beide Theorien gelten, beispielsweise bei sehr kleinen Abständen, im Zentrum eines Schwarzen Lochs oder in den ersten Augenblicken der Entstehung des Universums, führen zu Energieniveaus, die sich mit unseren Apparaturen kaum erzeugen lassen.

Wir wissen jedoch nicht, wie wir diese beiden großen Entdeckungen verbinden sollen: Wir haben kein umfassendes Naturbild. Wir befinden uns in einer schizophrenen Situation; unsere Informationen sind Stückwerk und inkompatibel. Das geht so weit, dass wir tatsächlich nicht mehr wissen, was Raum, Zeit und Materie eigentlich sind. Die heutige Grundlagenphysik befindet sich in einem bedauernswerten Zustand.

In der Geschichte gab es solche Situationen wiederholt, beispielsweise vor der Vereinheitlichung der Physik durch Newton. Für Kepler, der die Planeten und Sterne beobachtete, beschrieben die Objekte Ellipsen.

 

Diese befriedigende Einheit hielt drei Jahrhunderte. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte die Physik ein Ensemble von äußerst schlüssigen Gesetzen, das sich auf eine kleine Zahl von Schlüsselbegriffen wie Zeit, Raum, Kausalität und Materie gründete. Trotz wichtiger Verbesserungen sind diese Begriffe recht stabil geblieben. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begannen sich innere Spannungen im System aufzubauen, und im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts haben Quantenmechanik und Allgemeine Relativitätstheorie diese Fundamente buchstäblich pulverisiert. Die schöne Newton’sche Einheit war dahin.

Quantenmechanik und Allgemeine Relativitätstheorie waren ungeheuer erfolgreich und sind

Es ist ganz offensichtlich ein schwieriges Problem. Aber mit der Kühnheit eines jungen Mannes von zwanzig Jahren entschloss ich mich, als es auf mein letztes Studienjahr zuging, mein Leben dieser

In Italien arbeitete so gut wie niemand an diesem Problem. Meine wissenschaftlichen Lehrer rieten mir strikt davon ab, diese Richtung einzuschlagen: «Das ist ein Weg, der nirgendwo hinführt», «Du wirst niemals eine Stelle finden», oder auch «Du solltest dich einem starken und schon gut etablierten Team anschließen». Das einzige Ergebnis solcher Warnungen, die Erwachsene uns zukommen lassen, besteht jedoch häufig darin, den unbeschwerten Eigensinn der Jugend zu verstärken.

Als Kind las ich die Märchen eines italienischen Schriftstellers, Gianni Rodari. Eines dieser Märchen erzählt die Geschichte von Giovannino und dem Weg, der nirgendwo hinführt. Der Held lebt in einem Dorf, in dem es eben diesen Weg gibt, der nirgendwo hinführt. Aber neugierig und dickköpfig, wie er ist, und all dem zum Trotz, was die anderen sagen, will er sich selbst ein Bild machen. Er begibt sich also auf den Weg, und natürlich findet er ein Schloss und eine Prinzessin, die ihn mit Edelsteinen überhäuft. Als er derart reich beschenkt ins Dorf zurückkehrt, machen sich alle

Raum, Teilchen und Felder

Wir wollen Ursprung und Schwierigkeit des Problems der Quantengravitation etwas genauer diskutieren und mit einem Schlüsselbegriff beginnen: dem des Raumes. Denn der Raumbegriff war historisch gesehen der erste, der erschüttert wurde. Anschließend werde ich erklären, wie der Begriff der Zeit eine noch spektakulärere Wandlung durchmachen musste.