Inhaltsübersicht

Impressum

Die Originalausgabe erschien 1962 unter dem Titel «Pale Fire» bei G. P. Putnam’s Sons, New York.

 

Die erste deutsche Ausgabe erschien 1968 im Rowohlt Verlag, Reinbek. Bei der Übernahme in die Gesammelten Werke wurde sie überarbeitet und mit einem kommentierenden Anhang versehen.

 

Der Text folgt: Vladimir Nabokov, Gesammelte Werke, Band X, herausgegeben von Dieter E. Zimmer.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, August 2018

Copyright © 1968, 2008, 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Pale Fire» Copyright © 1962 by Véra Nabokov und Dmitri Nabokov, Montreux

Veröffentlicht im Einvernehmen mit The Estate of Vladimir Nabokov

Lektorat Hans Georg Heepe

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung any.way, Cordula Schmidt

Umschlagabbildung Jessica Torres/Arcangel; iStock.com; Kalligraphie Anna-Bess Meredith

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen

ISBN Printausgabe 978-3-499-27390-2 (Ausgabe 2018)

ISBN E-Book 978-3-644-00139-8

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-00139-8

Anmerkungen

1

Der englische Pädagoge und Schriftsteller Samuel Johnson (1709–1784), der erste große Lexikograph der englischen Sprache, hatte seinen Eckermann in James Boswell (1740–1795), der jahrelang den Umgang mit ihm gesucht hatte und 1791 seine Lebensgeschichte herausgab. Das Fahles Feuer voranstehende Motto findet sich in R.W. Chapmans Ausgabe von Boswells Life of Johnson (Oxford 1953ff., S. 1217); die Anekdote betrifft den April 1783, stammt also von Johnsons Lebensende. Boswell konnte Johnsons Kater Hodge nicht ausstehen und berichtet missbilligend, der gutmütige Johnson habe ihn zu sehr verwöhnt, z.B. selber Austern für ihn eingekauft. Der gelehrte Dichter John Shade soll Ähnlichkeit mit Johnson haben (s. Kinbotes Kommentar zu Vers 894), und in seiner Zudringlichkeit hat Kinbote eine gewisse Ähnlichkeit mit Boswell. Die beiden Letzteren scheinen mehr an sich selbst als an dem von ihnen so verehrungsvoll kommentierten großen Mann interessiert. Johnsons Befürchtungen wurden im übrigen nicht wahr, sein Kater wurde nicht erschossen. Wurde es also vielleicht auch Shade gar nicht?

2

Engl. Heroic Couplets: heroische Reimpaare. Ein im England des 17. und 18. Jh.s viel gebrauchtes Versmaß, besonders bei Alexander Pope und John Dryden: Verszeilen aus fünf Jamben wie beim Blankvers, aber im Unterschied zu diesem paarweise gereimt. Beispiel: «Be not the first by whom the New are try’d, / Nor yet the last to lay the Old aside» (Pope) – «Sei nicht der Erste, Neues zu erfassen, / Der Letzte nicht, das Alte gehn zu lassen». Heroic Couplets sind in der deutschen Dichtung sehr rar. «999 Zeilen in Heroic Couplets» scheint zunächst ein Scherz, da Reimpaare notwendig zu einer geraden Gesamtzahl führen.

3

New Wye ist ein fiktiver Ort – und ein produktiver sprachspielerischer Einfall. Wye ist eine Kleinstadt in Südengland, etwa 20 km südwestl. Canterbury, und gut könnte es in der Neuen Welt ein New Wye geben; gibt es aber nicht. Gleichzeitig klingt New Wye wie knew why ‹gewusst warum› und wye allein wie der engl. Buchstabe Y, ‹New Y› also wie ‹New York›. Am «Omega»-See, in dem Hazel Shade ertrinkt, liegen sich Exe (Exton) und Wye gegenüber, also X und Y (Zeile 490). In das New Wye des Romans und sein Universitätsambiente sind manche Züge von Ithaca im Norden des Staates New York eingegangen, dem Sitz der Cornell-Universität, wo Nabokov von 1948 bis 1959 Professor war. Aber wo hat man es sich vorzustellen? An einer Stelle, in der Anmerkung zu Vers 149, sagt Kinbote, New Wye liege in Neuengland. Der Anmerkung zu Vers 238 zufolge liegt es in der Übergangszone von kanadischer und oberaustraler Faunazone (zumindest was Schmetterlinge angeht); diese zieht sich von den Großen Seen entlang den Alleghanies bis nach North Carolina. Danach kämen außer New York auch West Virginia und Virginia infrage. In seinem Vorwort sagt Kinbote, New Wye liege auf dem 38. Breitengrad. Das spricht ebenfalls für Virginia und West Virginia; möglicherweise sind hier diese beiden Staaten zu dem fiktiven Staat Appalachia vereint. Die nächste Großstadt für gehobenes Shopping scheint Washington und nicht New York City gewesen zu sein. Washington ist New Wye anscheinend so nahe, dass auch dieses Indiz auf Virginia hindeutet. Nabokov hat dort 1942 am damaligen Longwood College in Farmville Vorträge gehalten.

4

‹… dunkel wie in einem Spiegel›: Nach 1. Korinther 13.12, Videmus nunc per speculum [et in] enigmate («Wir sehen jetzt in einem Spiegel und undeutlich», nach der amerikanischen Standardbibel «We see now in a glass, darkly»). Das zu einer Redensart gewordene Bibelwort versichert dem Gläubigen, das Diesseits sei nur ein trüber Abglanz jenseitigen Glanzes. Es wurde u.a. von J.S. LeFanu 1872 als Titel eines Erzählungsbandes, 1960 von Ingmar Bergman als Filmtitel verwendet (Wie in einem Spiegel).

5

‹… eigentlichen Verursacher›: Kinbote spielt mit dieser Formel (engl. the only begetter) auf ein berühmtes und immer noch ungelöstes Rätsel der Literaturgeschichte an: Die Erstausgabe von William Shakespeares Sonetten (die u.a. seine homoerotische Beziehung zu einem Unbekannten zum Gegenstand haben und damit für Kinbote von besonderem Interesse sind) erschien 1609 im Verlag von Thomas Thorpe, der das Buch mit einer gedruckten Widmung an «Mr. W.H., the only begetter» versah. Vergeblich hat die Literaturwissenschaft gerätselt, wer dieser «W.H.» ist, ob es sich bei ihm um Shakespeares Liebespartner handelt und inwiefern dieser oder ein anderer the only begetter (Erzeuger, Verursacher, Urheber, aber nicht im Sinne von Verfasser) sein könnte – ein sekundäres Rätsel hinter dem anderen, ob hinter Shakespeare nicht überhaupt jemand ganz anderes steht.

6

Dank dieser stehengelassenen Satzanweisung lässt sich der Status des Textes, den der Leser vor sich hat, recht genau bestimmen. Weitere Hinweise werden folgen, vor allem Kinbotes später Widerruf einiger mitgeteilter Varianten, bei denen er eingesteht, dass er sie gefälscht hat, statt die Fälschungen selber noch aus seinem Kommentar zu entfernen. Der Verleger hat, wie Kinbote gleich verraten wird, sein Manuskript setzen lassen, und nun sitzt der Kommentator in seiner Hütte in Cedarn oder sonstwo, liest Korrektur und erstellt wahrscheinlich erst jetzt das Register. Auch die eine oder andere Textänderung bringt er noch an, auf Wunsch des Verlegers auch die Erklärung, dass für etwaige Fehler in seinem Kommentar er allein die Verantwortung trage. Seit er den Kommentar fertiggeschrieben und abgeschickt hatte, müssen Wochen oder Monate vergangen sein. Normalerweise müsste er in ein paar Wochen noch einmal einen Fahnensatz zur Kontrolle erhalten. Ein zweites Mal aber hat er offenbar nicht mehr Korrektur gelesen, sonst hätte er die versehentlich mitgesetzte Satzanweisung bemerkt und eliminiert. Auch der beschworene «professionelle Korrektor» muss sie bei der Schlusskorrektur übersehen haben. Vielleicht hat es gar keinen mehr gegeben, weil der Verleger das ganze Buch noch vor der Veröffentlichung fallen ließ. Dann läsen wir gar nicht Shades und Kinbotes Buch, sondern sozusagen sein ungeborenes Phantom. Diese Erklärung des Textstatus beweist noch nicht, dass Kinbote nach der Absendung der Korrekturfahnen Selbstmord begangen hat, aber sie widerlegt es auch nicht. (Vgl. auch Bellino, 2006.)

7

Gemeint ist wahrscheinlich der engl. Autor James Coates Ph. D. (1843–1933), der um 1900 eine Reihe von Büchern über paranormale Gegenstände wie Hypnose, Mesmerismus, Hellsehen, Gedankenlesen, «Gesichterlesen» schrieb, u.a. Photographing the Invisible (1911).

8

Zum ersten Mal fällt hier der Name des kleinen nordeuropäischen Landes, aus dem Kinbotes König Carl II. – also er selber – zu stammen behauptet: Zembla. Geographisch muss es nach allen folgenden Beschreibungen eine Russland vorgelagerte Halbinsel im Norden Skandinaviens sein; klimatisch liegt es eher auf der Höhe des Baltikums. Es ist mit seinen Küsten, Gebirgen und Ortschaften so genau beschrieben, dass man eine Karte von ihm zeichnen könnte; nur wie es am «Golf der Überraschungen», auf dessen anderer Seite die Sowjetunion liegt, und über einen unüberwindlichen «Kanal» hinweg am europäischen Kontinent befestigt ist, bleibt undeutlich. Der Name ist zum einen eine Anspielung auf Nowaja Semlja (zu deutsch ‹Neues Land›), den russischen Archipel im Nordmeer, der aber viel weiter nordöstlich liegt, wesentlich größer ist und mit dem es keinesfalls identisch gedacht werden darf. Zum andern ist der Name dem Lehrgedicht An Essay on Man (Vom Menschen, 1733/34) von Alexander Pope entnommen, wo er ein imaginäres Land im Norden bezeichnet: «Doch wo das Extrem des Lasters zuhaus ist, darüber war man sich nie einig: / Man frage nur, wo liegt der Norden? In York, an der Tweed; / In Schottland, auf den Orknays; und dort / In Grönland, Zembla oder Gott weiß wo: / Kein Wesen nennt es im höchsten Grad sein eigen, / Glaubt aber, der Nachbarn sei ihm näher» (II.221–226). Ein zweites Mal gebraucht Pope den Namen in seinem satirischen Versgedicht The Dunciad (Die Dummkopfiade, 1742), in dem er mit seinen literarischen Gegnern und der schlechten Dichtung seiner Zeit abrechnet. An einer Stelle, im «Reich der Langeweile», zählt er deren Widersinnigkeiten auf, u.a.: «Hier erfreut die fröhliche Beschreibung Ägypten mit Regenschauern / Oder stattet Zembla mit Früchten aus und Barca mit Blumen …» (Dunciad I.73–74). Schließlich enthält ‹Zembla› das frz. sembler ‹scheinen›, enthalten in engl. to resemble (ähneln) – das macht Zembla zum «Land des Anscheins».

9

Der Name dieses College ist eine Kontraktion von zwei englischen Dichternamen, Wordsworth und Goldsmith, und bedeutet wörtlich ‹Wörterschmied›. Der abwesende Richter, dessen Haus Kinbote gemietet hat, trägt die anderen beiden Namenshälften: Goldsworth.

10

Der Gattungsname Parthenocissus (grch., wörtlich Jungfrauenefeu) bezeichnet den in Nordamerika beheimateten Wilden Wein, mit dem dieses Gebäude offenbar bewachsen war.

11

Engl. emerald: Smaragd. Der Name, mit dem Kinbote seinen Feind am College belegt, heißt also eigentlich so viel wie ‹Grün›.

12

Alfred Edward Housman (1859–1936), englischer Lyriker, bekannt geworden vor allem durch den Band A Shropshire Lad (1896), und Latinist am Trinity College der Universität Cambridge. Nabokov schätzte seine Gedichte hoch und erlebte ihn während seiner Studienjahre am Trinity College auch noch persönlich. Warum die Studenten Kinbote in ihrem Sketch ständig Housman zitieren lassen, scheint dieser nicht zu ahnen: weil Housman bekanntermaßen homosexuell war und sie Kinbotes homosexuellen Penchant, den dieser in New Wye unbedingt geheim halten wollte, sofort durchschaut hatten.

13

Anspielung auf den englischen Maler und Kupferstecher William Hogarth (1697–1764), bekannt für seine satirischen, gesellschaftskritischen, moralisierenden Genrebilder und Bilderzyklen. Trunkenbolde sind z.B. auf seinem Gemälde Das Wahlgelage zu sehen.

14

Ja, der Bursche, der die Schuhe umdrehte, stammt aus Sir Arthur Conan Doyles Sherlock-Holmes-Geschichten. Es war sogar Sherlock Holmes selbst. Im letzten Stück der zweiten Sammlung, Memoirs of Sherlock Holmes (1894), der Story The Final Problem (Das letzte Problem), scheint Holmes ums Leben zu kommen: Bei einem Zweikampf mit dem Bösewicht Professor Moriarty, der «unsichtbaren Kraft» hinter unzähligen Londoner Verbrechen, stürzte er in die Schlucht am Fuß des Reichenbachfalls bei Meiringen. Einige Jahre später erweckte Doyle seinen Detektiv überraschenderweise wieder zum Leben. Im ersten Stück, The Adventure of the Empty House (Das Abenteuer des leeren Hauses), erklärt er Watson, Moriarty sei allein in den Tod gestürzt, er selber aber über eine Felsklippe entkommen und dann vorsichtigerweise fürs Erste von der Bildfläche verschwunden; bei anderen Gelegenheiten habe er, um Verfolgern zu entgehen, die Stiefel rückwärts angezogen.

15

Lat. stillicidium: anhaltendes Tröpfeln, Dachtraufe, von stillare (träufeln) und cadere (fallen). Die im Original verwendete engl. Alternativform lautet stillicide. Das Wort ist auch im Englischen obsolet und wird kaum noch verstanden. Im 18. Jh. wurde es noch in der Heilkunde verwendet, zuletzt nur noch im Baurecht, Kapitel Dachtraufen. Sogar einige als Unterrichtshilfen gedachte englischsprachige Webseiten verstehen es völlig falsch, nämlich als ‹Ruhetöter›. Das stilettförmige «gefrorene Träufeln» sind natürlich Eiszapfen, Eisstalaktiten. – Möglicherweise handelt es sich um eine der Schlüsselstellen des Romans.

16

Der Hickory ist ein mächtiger Laubbaum, der bis zu tausend Jahre alt wird und typisch ist für den Nordosten Amerikas, wo er in zwanzig Arten anzutreffen ist, darunter jener, die die Pekannuss liefert. Nach Shades Beschreibung – schwärzliche, tief gefurchte Rinde – müsste es sich bei seinem Hickory um den mächtigen, bis zu 36 m hohen Schuppenrinden-Hickory Carya ovata handeln; er hat eine graubraune, tief gefurchte Rinde, die sich in Streifen abschält.

17

‹Präterist›: Engl. preterist bezeichnet in der Theologie jemanden, der die Prophezeiungen des Neuen Testaments für bereits eingetroffen hält. Shade scheint damit einen Menschen mit einer Vorliebe für das Gewesene, das Präteritum, zu meinen.

18

Wer ist dieses «nächste Baby»? Wir erfahren es nicht. Aus diesem Vers und zwei anderen Stellen wurde herausgelesen, dass Shade eine studentische Geliebte gehabt und mit dieser ein Kind gezeugt haben muss (die «sagenhafte Blondine mit dem schwarzen Body»); sogar, dass die Mutter mit dem Kind Selbstmord begangen hat. Es ist eine Spekulation auf Klatschniveau, die schlüssigere Beweise brauchte, um ernst genommen zu werden.

19

Tante Maud hat sich diese Zeitungsmeldung wegen ihrer komischen Doppeldeutigkeit an die Tür gepinnt. Beim Baseball, von dem in der Zeitung offenbar die Rede ist, ist ein homerun oder homer ein Lauf des Batters und aller auf den weiteren Basen postierten Spieler zurück zum Ausgangspunkt, nachdem der Batter den Ball sehr weit oder gar über den Außenzaun geschlagen hat. Ben Chapman (1908–1993) war in den 1930er Jahren ein Spielerstar der New York Yankees, kurzzeitig auch der Boston Red Sox. «Chapmans Homer» ist also einerseits Chapmans Homerun, andererseits aber auch die englische Homer-Übersetzung des George Chapman (1559–1634), Gegenstand eines berühmten Gedichts von John Keats, On First Looking into Chapman’s Homer (Beim ersten Blick in Chapmans Homer): «Much have I travelled in the realms of gold …»

20

‹Iridulum›: Eine von Nabokovs Neuprägungen, als Bezeichnung für eine «kleine Perlmuttwolke». In einem Interview (mit Alden Whitman von der New York Times, 1971) bemerkte Nabokov, der Webster nehme «keinerlei Notiz von meinen eigenen Neuschöpfungen oder Neuverwendungen von Wörtern – weder von iridule (ein irisierendes Wölkchen in Fahles Feuer) noch von racemosa (eine Art Traubenkirsche)» (in Deutliche Worte, Reinbek: Rowohlt, 1993, S. 279).

21

Lemniskaten sind algebraische Kurven höherer Ordnung in der Form einer liegenden Acht (∞), benutzt als mathematisches Zeichen für ‹unendlich›.

22

Shades kursivierter Syllogismus tut, als wäre er ein Zitat, ist aber nur eine Anspielung auf einen bekannten Syllogismus der Philosophiegeschichte. Er stammt aus einem 1797 erstmals erschienenen Schullehrbuch, der Logik zum Gebrauch für Schulen des Kant-Schülers J[ohann] G.C. Kiesewetter (1766–1819), und lautet: «Alle Menschen sind sterblich; Cajus ist ein Mensch; Also ist auch Cajus sterblich» (§ 101). Es ist ein «Vernunftschluss», der bei richtiger Anwendung die Aussage trifft, laut Kiesewetter: «Was der Gattung oder der Art zukommt, kommt auch allem dem zu, was zu ihr gehört» (§ 108). Shade wendet ihn mutwillig zwar formal korrekt, aber inhaltlich so an, dass eine Absurdität herauskommt. Der Fehler liegt in der Ersetzung von «alle Menschen» durch «andere Menschen» im Obersatz. «Andere» ist relativ und zu unbestimmt. Nur wenn feststünde, dass das «Ich» des Mittelsatzes in keiner Weise zur Gattung der «anderen» gehören kann, wäre ein logisch korrekter Schluss möglich, aber auch nur der, dass unbestimmt bliebe, ob «ich» sterblich bin oder nicht. Auch der Maler und Objektkünstler Marcel Duchamp (1887–1968) verdrehte den Syllogismus für seine ironische Grabinschrift auf dem Friedhof in Rouen: «Übrigens sind es immer die anderen, die sterben.»

Kiesewetter und sein Mustersyllogismus sind in Russland ungleich bekannter, als sie es in Deutschland je waren, weil sie an prominenter Stelle in Lew Tolstojs Erzählung Der Tod des Iwan Iljitsch (1886) vorkommen, die auch Nabokov überaus schätzte und der er eine seiner Literaturvorlesungen an der Cornell-Universität widmete. Tolstoj und nicht Kiesewetter selbst dürfte also Shades und Nabokovs Quelle sein. Bei ihm taucht der Syllogismus in den verzweifelten Überlegungen des todkranken Iwan Iljitsch auf und wird von diesem mit dem gleichen Trick abgewehrt wie bei Shade: «Jener bekannte Syllogismus, den er [Iwan Iljitsch] in der Logik Kiesewetters gelernt hatte: Cajus ist ein Mensch, alle Menschen sind sterblich, also ist auch Cajus sterblich –, war ihm sein ganzes Leben lang sehr richtig in Bezug auf Cajus erschienen, in keinem Falle aber in Bezug auf sich selber. Cajus – das war der Mensch, der Mensch im allgemeinen, und da war gegen diesen Schluss nichts einzuwenden. Aber er selber war gar nicht Cajus und durchaus nicht der Mensch im allgemeinen, sondern immer ein ganz und gar besonderes, von allen anderen verschiedenes Geschöpf … Cajus ist sterblich, und es ist ganz in Ordnung, dass Cajus stirbt; aber ich, Wanja, Iwan Iljitsch, mit allen meinen Gedanken und Gefühlen – das ist etwas ganz anderes, es kann nicht sein, dass auch ich sterben muss. Das wäre zu schrecklich.»

23

‹Ein leeres Smaragdfutteral›: die Larvenhülle, die eine grüne Singzikade bei ihrer letzten Häutung zurückgelassen hat.

24

Engl. sea gulls: Möwen.

25

‹La Fontaine lag falsch›: Shade spielt an auf das erste Fabelgedicht von Jean de La Fontaine (1621–1695), La Cigale et la Fourmi (Die Zikade und die Ameise). Bei Herbstbeginn möchte die Zikade, die den ganzen Sommer über nur gesungen hat, sich etwas Nahrung von ihrer Nachbarin leihen, der Ameise, und wird von dieser abgewiesen mit dem Rat: Wenn sie immer nur gesungen habe, dann solle sie doch jetzt bitteschön tanzen. Tatsächlich sind Ameisen die größten Feinde der Singzikaden, deren Larven sie fressen. Die Oberkiefer (Mandibeln) der Ameisen dienen ihnen zum Zerkleinern von festen Materialien und zum Kämpfen. In Fahles Feuer hat die Zikadennymphe ihre Hülle am Baumstamm verlassen, während die Ameise im Harz feststeckt.

26

‹Vanessa … mein admirabler Schmetterling›: Shades Kosename für seine Frau hat eine Geschichte. Mit der Vanessa meint er, wie aus der nächsten Zeile hervorgeht, den unverwechselbaren Tagfalter Admiral, dessen wissenschaftlicher Name Vanessa atalanta (L., 1758) ist. (Nabokov selber bestand wie Shade immer wieder darauf, dass ‹Admiral› eine ärgerliche Verballhornung von ‹Admirabel› sei.) Es handelt sich um einen prächtig gezeichneten, über die ganze Nordhalbkugel verbreiteten Wanderfalter mit einer Flügelspannweite von 5 bis 6 cm. Er hat samtschwarze Flügel mit weißen Flecken an der Spitze und einer roten Schrägbinde vom Vorderrand zum Innenwinkel der Vorderflügel. In Nordamerika gibt es die Unterart Vanessa atalanta rubria (Fruhstorfer, 1909), die sich nur im Larvenstadium von der europäischen Art unterscheidet.

Die Erstbeschreibung und damit den Namen atalanta lieferte Linné 1758. Wie viele andere Schmetterlingsnamen entnahm er ihn der griechischen Mythologie. Atalanta war eine schöne amazonenhafte Jägerin. Als Säugling war sie von ihrem unbekannten Vater, der sich einen Sohn gewünscht hatte, in der Wildnis ausgesetzt und dann zunächst von einer Bärin aufgezogen worden. Später wuchs sie bei Jägern auf und wurde selber zu einer geschickten, starken und vor allem schnellen Jägerin. Als zwei Zentauren sie zu vergewaltigen versuchten, erlegte sie beide. Zeus (Jupiter) ermahnte sie zu ewiger Jungfräulichkeit, sah aber schon voraus, dass die Mahnung vergeblich sein würde. Sie forderte ihre Freier zu einem Wettlauf auf, und wer sie besiegte, sollte sie zur Frau erhalten; wen sie besiegte, sollte getötet werden. So tötete sie alle, bis einer, Hippomenes, sich mit der Göttin Aphrodite (Venus) verbündete, die ihm drei goldene Äpfel gab, welche er Atalanta in den Weg warf. Atalanta bückte sich nach ihnen, verlor den Wettlauf und musste ihn zum Mann nehmen (was sie nicht ungern tat). Dass sich Hippomenes nicht artig bei Venus bedankte, machte diese zornig, und als sich das Paar eilig in einem Heiligtum liebte, verwandelte sie beide ein für alle Mal in Löwen. (So ist die Sage vor allem bei Ovid erzählt, in Metamorphosen 10560–707.)

Linné hatte atalanta in seine große Tagfaltergattung Papilio eingeordnet, die später in viele Gattungen aufgespalten wurde. Die Gattung Vanessa wurde 1807 von dem dänischen Taxonomen Johann Christian Fabricius (1745–1808) eingeführt. Er, der sich oft in England aufhielt, entnahm den Namen höchstwahrscheinlich Jonathan Swifts langem Gedicht Cadenus and Vanessa (1713, veröffentlicht 1726). Der Name ‹Vanessa› war nämlich Swifts Erfindung, der Kosename für seine 23 Jahre jüngere Schülerin und Freundin Esther (genannt Esse) Vanhomrigh (1690–1723), die er 1708 kennen lernte und deren tatsächlichen Namen er als das einzig Hässliche an ihr bezeichnete. ‹Cadenus› war ein Fast-Anagramm von ‹deacon› (Diakon der anglikanischen Kirche) und damit für ihn selbst. In Cadenus und Vanessa drückte er ihre schwierige Beziehung aus, an der die Swift-Forschung bis heute rätselt; letztlich erteilt er ihr darin einen Rat, an den sie sich dann jedoch nicht hielt: sich nicht allzu besinnungslos in ihn zu verlieben. Sie starb, bald nachdem er sich von ihr abrupt getrennt hatte.

Fabricius entnahm den neuen Gattungsnamen Vanessa Swifts Gedicht vermutlich darum, weil er dort an einer Stelle gleich neben ‹Atalanta› vorkommt und er Linnés Schmetterling atalanta als Typenart seiner neuen Gattung vorgesehen hatte. In seiner Anmerkung zu Vers 270 zitiert Kinbote diese Stelle aus dem Gedächtnis, und zwar richtig: «When, lo! Vanessa in her bloom / Advanced like Atalanta’s star» (Sieh da, als Vanessa in ihrer Blüte / Wie Atalantes Stern hervortrat). «Atalantes Stern» ist natürlich eine Umschreibung für die Venus. Dass das Zitat mitsamt seinen Kursivierungen völlig richtig ist, überrascht bei jemandem, der angeblich kein Buch zur Hand hat.

Boyd (2000) ist aufgefallen, dass ‹Sybil-Vanessa› eigenartig an ‹Sybil Vane› anklingt, die eine Hauptfigur von Nabokovs letzter Erzählung Die Schwestern Vane, geschrieben 1951, veröffentlicht 1958/59. Die andere Hauptfigur ist ihre Schwester Cynthia Vane. Cynthia ist ebenfalls eine von Fabricius eingeführte Schmetterlingsgattung, die mit Vanessa so nahe verwandt ist, dass sie schließlich mit Vanessa zusammengelegt wurde. Eigentlich hätte der zeitlich vorangehende Name Cynthia bei der Zusammenlegung der beiden Gattungen Vorrang haben müssen, wie Nabokov fand – «aber die Internationale Kommission für zoologische Terminologie hat (aus sentimentalen Gründen) [1944] anders entschieden» (1963/65, in Brian Boyd/Robert Michael Pyle [Hg.]: Nabokov’s Butterflies. Boston, MA: Beacon Press, 2000, S. 596). Der entomohistorische Zusammenhang zwischen Cynthia und Vanessa war Nabokov also deutlich bewusst. Eben seinetwegen mag er für sein Schwesternpaar Cynthia und Sybil den Nachnamen ‹Vane› gewählt haben. Das Besondere an Die Schwestern Vane ist, dass die Geschichte eine Botschaft aus dem Geisterreich enthält, ein Akrostichon ganz am Ende, welches der Leser selbst entdecken und entziffern muss – und dass Nabokov, als der New Yorker das Akrostichon nicht entziffert und die Geschichte abgelehnt hatte, enttäuscht zurückschrieb: «Die meisten Geschichten, über die ich zurzeit nachdenke, … werden in dieser Art gebaut sein, nach dieser Methode, bei der eine zweite (die eigentliche) Geschichte in die halb durchsichtige Oberflächengeschichte hineingewebt oder hinter ihr sichtbar wird» (Dmitri Nabokov/Matthew J. Bruccoli (Hg.): Selected Letters 1940–1977, San Diego, CA: Harcourt Brace Jovanovich, 1989, S. 117). Als die Zeitschrift Encounter schließlich 1959 Die Schwestern Vane druckte, gab sie den Lesern den Schlussabsatz ausdrücklich als eine Art Rätsel auf. Nabokov schrieb dazu: «Meine Schwierigkeit bestand darin, das Akrostichon einzuschmuggeln, ohne dass der Erzähler sein Vorhandensein und seinen geisterhaften Ursprung bemerkte» (ibid., S. 286). Dass Nabokov zur gleichen Zeit in Fahles Feuer den Sybil-Vanessa(-Cynthia)-Komplex wieder aufgreift, ist ein starkes Indiz dafür, dass der Leser auch hier mit Botschaften aus dem Geisterreich zu rechnen hat, die ihm sozusagen hinter dem Rücken der fiktiven Erzähler übermittelt werden.

Die Vanessa atalanta bildet in Fahles Feuer eine Art Leitmotiv. In ganz verschiedenen Zusammenhängen taucht sie auf. Shade nennt seine Frau liebevoll Vanessa (Kinbotes Kommentar zu Vers 270). Die Vanessa ist der einzige Schmetterling, mit dem auch Kinbote vertraut zu sein behauptet (270). Eine Vanessa erscheint im Wappen der Herzöge von Payn und ist damit Königin Disas Wappentier (270). Tante Maud weist in ihrer Geisterbotschaft auf eine atalanta im Augenblick der Gefahr hin (347). Der Mörder Gradus sieht in Lex, auf dem Weg von Zembla nach New Wye, eine Vanessa rückwärts über eine Mauer fliegen (408). Shade erwähnt indirekt eine Vanessa in einem Malbuch seiner Kindheit (470). Gradus trägt eine vanessaartig gemusterte Krawatte (949). Unmittelbar vor seiner Ermordung tummelt sich eine Vanessa in Shades Garten (993), die Shade in den letzten Zeilen seines Gedichts noch erwähnt und die auch sein Nachbar Kinbote sieht, erkennt und beschreibt.

Einem Interviewer sagte Nabokov, die Vanessa habe Ende des 19. Jh.s in St. Petersburg als «Schicksalsschmetterling» gegolten, da er auf der Unterseite seiner Hinterflügel eine Markierung trägt, die sich als ‹1881› lesen lässt – das Jahr, in dem Zar Nikolaus II. einem Bombenattentat zum Opfer fiel. Tatsächlich galt der Admiral vielerorts als böses Omen, da er nach dem Schlüpfen manchmal einen Tropfen überflüssiger rötlicher Flüssigkeit aus dem Hinterleib ausscheidet und bei seinem massenhaften Auftreten «Bluttröpfchen» auf den Pflanzen zu hinterlassen scheint. Fiel sein massenhaftes Erscheinen dann noch auf das Jahr 1881, das ihm gleichsam eingeschrieben ist, so dürfte er fast zwangsläufig für einen Todesboten gehalten worden sein. Bedeutungsvoll also scheint der Admiralfalter in dem Roman – aber was bedeutet er?

Boyd (1999, S. 131–145) glaubte sein Rätsel gelöst zu haben. Hazel Shade, im Leben eher mit unansehnlichen Weißlingen assoziiert, sei nach ihrem Suizid zu einem ihrer vanessahaften Mutter ebenbürtigen Geist aufgeblüht und heiße ihren Vater kurz vor dessen Tod übermütig und freudig in Gestalt einer Vanessa atalanta im Jenseits willkommen. Ausgeschlossen ist das nicht, aber bewiesen auch nicht

So viel immerhin scheint mir relativ sicher zu sein: Der Admiralfalter an sich ist kein Symbol, aber er trägt eine Markierung, die ein aufmerksamer Mensch als Symbol interpretieren kann, nämlich als die Zahlenfigur ‹18 81›. Sie ist so deutlich zu erkennen, dass der Falter ihr seinen spanischen Namen verdankt: numerada, ‹die Nummerierte›. Wie einige Kommentatoren bemerkt haben, ist die ‹8› eine senkrecht stehende Lemniskate, also ein mathematisches Unendlichkeitszeichen. Die beiden vom senkrechten Strich der ‹1› flankierten Achten sind demnach zwei sich spiegelnde Unendlichkeitssymbole. Kinbote/Botkin weiß vermutlich nichts von dieser Markierung, hatte wahrscheinlich auch selber nie Gelegenheit, sie zu bemerken, und dass der Falter ihretwegen in Russland einmal «Schicksalsschmetterling» genannt wurde, dürfte er ebenso wenig wissen, denn wie D. Barton Johnson (2007) eruiert hat, wurde bisher kein Beleg für dieses Beiwort gefunden als eben Nabokovs Interview von 1971, das Kinbote natürlich nicht gekannt haben könnte. Mit den Lemniskaten in Shades Gedicht (Verse 137 und 534) weiß Kinbote ausdrücklich nichts anzufangen; selbst das Wort ist ihm unbekannt, die Sätze, in denen es vorkommt, erscheinen ihm sinnlos. Dass er eine ganze Anmerkung darauf verwendet, dem Leser seine Ignoranz in dieser Sache mitzuteilen, ist verdächtig. Trotzdem lenkt er seine Leser merkwürdigerweise unübersehbar hin zur Zahlenfigur ‹18›. Die Schauspielerin ‹Iris Acht› lässt er 1888 durch Mord oder Selbstmord sterben, den Geheimgang, der vom Schloss in ihre Garderobe führt, lässt er 1888 Yards lang sein. Der Name ‹Iris Acht› (die man auch ‹I.8› schreiben könnte) hat selbst Schmetterlingskonnotationen, wenn auch ohne Verbindung zum Admiralfalter: ‹Goldene Acht› ist ein anderer deutscher Name des Gemeinen Heufalters Colias hyale (L., 1758), Apatura iris (L., 1758) der wissenschaftliche Name des Großen Schillerfalters, benannt nach der Göttin des Regenbogens. ‹Iris Acht› wäre also ‹Regenbogen Unendlichkeit›.

Wenn Kinbote aber den Leser solcherart auffällig-unauffällig auf ein Symbol der Unendlichkeit hinweist, das ihm selber nichts bedeutet, von dem er vielleicht gar nichts weiß, Shade dafür aber umso mehr, so lässt sich das als ein weiteres sachtes Zeichen dafür nehmen, dass ihm hinter seinem Rücken der tote John Shade beim Schreiben assistiert. Der leitmotivische Admiralfalter wäre dann ein Signal für Shades fortgesetzte Präsenz; durch phantasievolle Kombination kann der Leser von ihm auf die Unsterblichkeit der Seele schließen.

Wie dem auch sei, auf jeden Fall fungiert der Admiral in Fahles Feuer als Omen: Er deutet hin auf den Tod und möglicherweise darüber hinaus auf ein Ewiges Leben.

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Der Zahnwurzweißling ist ein unscheinbarer weißer Schmetterling, dem auch in Europa verbreiteten Rapsweißling (Pieris napi) ähnlich, wissenschaftlich Pieris virginiensis (W.H. Edwards, 1870), englisch West Virginia White. Den volkstümlichen Namen Toothwort White, Zahnwurzweißling, der sich auf seine Futterpflanze bezieht (Dentaria, Zahnwurz), hat wahrscheinlich Nabokov selber geprägt. Der Falter fliegt Ende April und Anfang Mai lokal in Laubwäldern zwischen den Großen Seen, Neuengland und Georgia. Shades Tochter Hazel wird in seinem Gedicht mehrmals mit Weißlingen assoziiert, während Sybil für ihn ‹Vanessa› ist, d.h. dem prächtigen Schmetterling Vanessa atalanta vergleichbar.

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‹Sponsa›: eine in Nordamerika heimische, prächtig gefärbte Entenart, wissenschaftlich Aix sponsa (L., 1758), engl. wood duck, dt. ‹Brautente›.

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‹Sorosa-Bau›: Sorosis war der Name einer 1868 gegründeten Frauenvereinigung, die die amerikanische Frauenclubbewegung mit einleitete. In den 1950er Jahren gehörten an amerikanischen Colleges die meisten Studierenden einer Verbindung an: die Männer einer fraternity (Bruderschaft), die Frauen einer sorority (Schwesternschaft, von lat. soror, Schwester). Die Wohnheime auf dem Campus wurden von diesen Verbindungen unterhalten. Die Verse 329–331 u.a. scheinen zu besagen, dass auch Hazel Shade als Studentin teils bei ihren Eltern, teils in einem solchen Verbindungsheim wohnte. Zu Verabredungen holten die Männer die Frauen aus ihrem Heim ab. Sie kamen aber immer nur bis zur Anmeldung, von wo aus sie ihre dates telefonisch herunterriefen.

30

‹Catytide› ein amerikanischer Grashüpfer. Engl. catydid ist fast ein Anagramm von didactic.

31

grimpen›: Wie die folgenden seltenen Wörter beweisen, liest Hazel hier gerade Gedichte von T.S. Eliot, und zwar die Vier Quartette (1944). ‹Grimpen› steht im 2. Quartett (East Coker, II.41) und ist eigentlich kein englisches Wort, sondern ein fiktiver Ortsname: Grimpen Mire, das große düstere Moor, wo in Sir Arthur Conan Doyles berühmtem Schauerkrimi Der Hund der Baskervilles (1902) der Schurke Stapleton seinen furchterregenden Höllenhund hielt (der in Wirklichkeit ein mit Leuchtfarbe angemalter Spaniel war) und in dem er schließlich spurlos versank. Die betreffenden Zeilen in Eliots East Coker lauten: «… We are only undeceived / Of that which, deceiving, could no longer harm. / In the middle, not only the middle of the way / But all the way, in a dark wood, in a bramble / On the edge of a grimpen, where is no secure foothold, / And menaced by monsters, fancy lights, / Risking enchantment.» (In der Übersetzung von Nora Wydenbruck: «… Wir durchschauen / Die Täuschung erst, wenn sie nicht mehr schadet. / In der Mitte, nicht nur auf halbem Weg, nein, / Den ganzen Weg im dunklen Wald, im Strauch / Am Rande des Morasts, wo der Fuß keinen Halt hat, / Bedroht von Irrlichtern und Ungeheuern, ausgesetzt / Böser Verzauberung.») Die Stelle deutet voraus auf Hazels nicht mehr fernen Selbstmord, in einer Winternacht 1957, im Morast am Rand des Omega-Sees bei Lochan Neck.

32

Engl. chthonic: chthonisch, unterirdisch, erdhaft. In Eliots Vier Quartetten steht es im dritten (The Dry Salvages, V.40): «… Getrieben von dämonischen, chthonischen / Kräften und rechtes Tun ist Freisein / Von Vergangenem wie von Künftigem.»

33

Engl. sempiternal: ein altes, poetisches Wort für ‹ewig›. Es steht in Eliots 4. Quartett (Little Gidding, I.2): «Frühling mitten im Winter ist eine eigene Jahreszeit / Immer und ewig [sempiternal], wenn auch gegen Abend durchweicht, / In der Schwebe der Zeit zwischen Pol und Wendekreis.»

34

‹moderne Scharlatanerie›, engl. «some phony modern poem». Shade teilt mit Nabokov offenbar die gelegentlich geäußerte Abneigung gegen T.S. Eliot. Allerdings teilen Shade wie Nabokov mit Eliot die metaphysische Neugier. Die Verse in East Coker, die auf «In meinem Ende ist mein Anfang» zulaufen, könnten geradezu als Motto über Shades Fahles Feuer stehen. Boyd (1999) hält den ganzen Roman für einen bewussten Widerspruch gegen Eliots metaphysischen Pessimismus.

35

New Wye ist ein fiktiver Ort und ein produktiver sprachspielerischer Einfall. Wye ist eine Kleinstadt in Südengland, etwa 20 km südwestl. Canterbury, und gut könnte es in den Vereinigten Staaten ein New Wye geben, gibt es aber nicht. Gleichzeitig klingt New Wye wie knew why ‹gewusst warum› und wye allein wie der engl. Buchstabe Y, ‹New Y› also wie ‹New York›. Am ‹Omega›-See, in dem Hazel Shade ertrinkt, liegen sich Exe (Exton) und Wye gegenüber, also X und Y (Zeile 490). In das New Wye des Romans und sein Universitätsambiente sind manche Züge von Ithaca im Norden des Staates New York eingegangen, dem Sitz der Cornell-Universität, wo Nabokov von 1948 bis 1959 Professor war. Kinbotes Anmerkung zu Vers 238 zufolge aber hat man es sich weiter südlich vorzustellen, auf dem 38. Breitengrad in «Appalachia» (wohl West Virginia und Virginia).

36

Der von Shade beschriebene TV-Werbespot bildet ein Echo auf eine Stelle in Alexander Popes The Rape of the Lock (Der Lockenraub, 1712/1714, I.121ff.): «Enthüllt, zeigt jetzt sich die Toilette, / Jede Silbervase in mystischer Ordnung aufgestellt. / Zuerst bewundert die Nymphe in weißem Gewand / Mit bloßem Kopf die kosmetischen Mächte …»

37

‹Sieh, wie der blinde Bettler tanzt, der Krüppel singt›: eine Verszeile aus Alexander Popes Essay on Man (II.267). Die ganze Stelle argumentiert, dass die Menschen zwar sehr verschieden sind, in ihrer gesellschaftlichen Stellung, in ihrem Glückspotenzial und auch in moralischer Hinsicht, dass aber jeder an seiner Stelle zufrieden sein kann und keiner unentrinnbar auf seine Rolle festgelegt ist. Ihr Ende lautet: «Sieh, wie der blinde Bettler tanzt, der Krüppel singt [See the blind beggar dance, the cripple sing]. / Der Trunkene ein Heros, der Irre ein König [The sot a hero, lunatic a king], / Der hungernde Alchimist mit seinen goldenen Aussichten / In höchstem Grad gesegnet [supremely blest], der Dichter mit seiner Muse.» Die Stelle hat Shade auch den Titel für sein Buch über Pope geliefert (Supremely Blest), und eine Zeile beschreibt die Konstellation Shade–Kinbote: Jener ist (in Maßen) ein Trinker und Held, dieser ein Wahnsinniger, der sich für einen König hält.

38

Gemeint ist der amerikanische Lyriker Robert Frost (1874–1963). Frost war zeitweise u.a. Lehrer, Landwirt und von 1917 bis 1938 (mit Unterbrechungen) Professor für englische Literatur am Amherst College, mit kürzeren Verpflichtungen an anderen Universitäten davor und danach; von 1921 bis 1963 las er auch regelmäßig am Middlebury College in Vermont. Er war also wie Shade Dichter und Literaturwissenschaftler. Sein Leben war geplagt von Krankheiten und familiären Schwierigkeiten; er meinte, das «zweite Gesicht» zu haben. Frosts Dichtung stand der avantgardistischen amerikanischen Lyrik seiner Zeit fern (Pound, Eliot, Stevens, Cummings), genoss aber in der Öffentlichkeit umso größere Wertschätzung und wurde mit vielen Preisen bedacht (viermal erhielt er den Pulitzer-Preis). Sein Blick war auf das Nahe gerichtet, die Natur und den ländlichen Alltag. Nabokovs John Shade ist kein Frost-Porträt, aber in manchem reflektiert sein Leben wie sein Werk das von Frost. Shade sah etwa aus wie Frost im Alter, auch Frost verlor ein Kind durch Selbstmord. Nabokov dürfte mit Frosts Gedichten bestens vertraut gewesen sein, kannte ihn auch persönlich, trat in den 1940er Jahren bei drei Dichterlesungen zusammen mit ihm vors Publikum, sagte aber seinem ersten Biographen Andrew Field, er kenne nur ein einziges Gedicht von ihm. Er meinte vielleicht, nur ein Gedicht von Frost sei für Fahles Feuer von Belang gewesen. Laut Socher (2005) ist es möglicherweise nicht das bekannte Stopping by Woods on a Snowy Evening, auf das Kinbote in seinem Kommentar zu dieser Stelle verweist, sondern ein kurzes Gedicht in Heroic Couplets, das bei seiner Erstveröffentlichung (1958 in der Saturday Review) den Titel Of a Winter Evening (An einem Winterabend) trug und das Bild enthält, mit dem Shade sein Gedicht Fahles Feuer anheben lässt: «The winter owl banked just in time to pass / And save herself from breaking window glass. / And her wide wings strained suddenly at spread / Caught color from the last of evening red / In a display of underdown and quill / To glassed-in children at the window sill» (Die Wintereule legte sich noch gerade rechtzeitig schräg, um vorbeizukommen und sich davor zu bewahren, das Fensterglas zu zerbrechen. Und ihre weiten Flügel, die sich beim Ausbreiten plötzlich spannten, fingen die Farbe des letzten Abendrots ein, sodass die eingeglasten Kinder am Fensterbrett eine Demonstration von Flaum und Federkielen erhielten).

39

‹Reue›, engl. Remorse: Einen Film dieses Titels gibt es nicht. Wie man aus der Beschreibung schließen kann und Nabokov seine französischen Übersetzer ausdrücklich wissen ließ, hatte er bei dem Filmstar Marilyn Monroe im Sinn. 1957 gab es nur einen einzigen neuen Film mit ihr, von dem im Fernsehen eine Vorschau gezeigt werden konnte: The Prince and the Showgirl (Der Prinz und die Tänzerin), nach einer Komödie von Terence Rattigan, Regie und männliche Hauptrolle Sir Laurence Olivier, Premiere 13. Juni. Der Titel Reue passt nicht recht zu der Geschichte, die 1911 spielt und in der es um die verschmähte Liebe eines amerikanischen Revuegirls (Monroe) zu einem regierenden Fürsten (Olivier) geht, aber völlig unangebracht wäre er nicht. Das Seltsame jedoch ist, dass der fiktive Großherzog Charles/Carl heißt und Prinzregent eines imaginären europäischen Landes namens Carpathien ist, in dem seine Entmachtung droht. (Dieses allerdings liegt nicht, wo man sich Kinbotes Zembla denken muss, sondern etwa dort, wo Anthony Hopes Ruritanien liegt, das imaginäre Land des Abenteuerromans Der Gefangene von Zenda [1894].) Shade spielt an dieser Stelle – zufällig oder bewusst – auf die Erzählungen an, die sein Nachbar Kinbote ihm aufdrängt.

40

Bei dem «jovialen Neger» denkt Shade wohl an Louis Armstrong. Das Wort ‹Neger› hatte Anfang der 1960er Jahre nichts Pejoratives. Es war die normale Übersetzung von engl. Negro, der damals quasioffiziellen Bezeichnung der Afroamerikaner. Erst als man in Deutschland begann, ‹Neger› fälschlich für die Übersetzung des Schimpfworts ‹nigger› zu halten, verfiel das Wort dem Ostrakismos.

41

«L’if! Toter Baum»: ein Wortspiel über zwei Sprachen. Engl. if bedeutet ‹wenn›, frz. l’if ‹Eibe›, die auf engl. yew heißt. Die Eibe (wissenschaftlich Taxus, verbreitetste Art Taxus baccata) ist ein immergrüner Baum oder Busch, der langsam wächst und extrem langlebig ist, bis 3000 Jahre. Im Volksglauben ist er mit Tod, Trauer und Ewigem Leben assoziiert und findet sich oft als Zierpflanze auf Friedhöfen. Alle Teile der Eibe enthalten das Alkaloid Taxin und sind hochgiftig; gelegentlich wird Wild, das von Eiben gefressen hat, tot aufgefunden. – Die geflügelten letzten Worte des französischen Renaissancedichters François Rabelais (ca. 1493–1553) sollen gewesen sein: «Je m’en vais chercher un grand peut-être. Tirez le rideau, la farce est jouée» («Ich suche jetzt ein großes Vielleicht auf. Lasst den Vorhang fallen, die Komödie ist zu Ende»). Engl. ausgesprochen, klingt frz. peut-être ein wenig wie potato (Kartoffel). Also nennt Shade Rabelais’ apokryphes «großes Vielleicht» respektlos a grand potato (eine große Kartoffel).

42

Der Name des fiktiven Ortes Yewshade bedeutet ‹Eibenschatten› (s. vorherige Anm.) Das «Höhere» bezieht sich zunächst auf seine Höhenlage in einem Staat im Südwesten (s. Anm. zu Vers 502).

43

Eine Lemniskate ist eine liegende 8, das mathematische Zeichen für ‹unendlich›. Im Englischen steht an dieser Stelle ampersand (Et-Zeichen, &), eine Art geschwänzte Lemniskate, die Ein- und Ausfahrtspur mit anzeigt.

44

In diesen Versen gibt Shade zwei scheinbar beziehungslose Beispiele für Sterbende: einen Mann, der nach einer Revolution an die Wand gestellt wird, einen Emigranten, der in einem fremden Land einsam in einem Motel stirbt. Das erste Beispiel scheint das Schicksal zu spiegeln, dem Kinbote behauptet entgangen zu sein. Spiegelt das zweite Kinbotes aktuelles Schicksal? Ist dies etwa der Extrakt, den Shade tatsächlich aus den Erzählungen seines aufdringlichen Nachbarn entnommen hat: ein alter russischer Emigrant, der nach der Revolution der Hinrichtung entgangen ist und nun in Amerika einsam sterben wird? Dann hätte Kinbote seinen Nachbarn mit seinen Erzählungen doch einmal inspiriert, aber ganz anders als gewollt.

45

Frz. le grand néant: das große Nichts, ein alter Topos in der europäischen Literatur, z.B. bei Victor Hugo in dem Gedicht À celle qui est restée en France in Les contemplations (1856): «Et regarde, en dehors de ton propre martyre / Le grand néant, si c’est le néant qui t’attire!» (Und betrachte außer deinem eigenen Martyrium / Das große Nichts, wenn es das Nichts ist, das dich anzieht).

46

‹Kartoffelauge› und ‹Tuber› sind Anspielungen auf das «grand potato» (große Kartoffel) von Vers 502, nämlich Rabelais’ «grand peut-être» (großes Vielleicht). Der lat. Name der Kartoffel ist Solanum tuberosum (wörtlich ‹knolliges Nachtschattengewächs›, aus lat. tuber Knoten, Knolle).

47

Mit «Fra Karamasow» ist der fromme Aljoscha in Dostojewskijs Die Brüder Karamasow gemeint. ‹Fra› steht für lat./it. frater ‹Bruder›.

48

«Wer reitet …»: Anfang von Goethes Ballade Der Erlkönig.

49

‹Schahs›: Unter reger Teilnahme der Boulevardpresse heiratete Reza Pahlevi, Schah von Persien, am 12. Februar 1951 Soraya und am 21. Dezember 1959 Farah Diba.

50

Engl. Old Faithful: Alter Getreuer – ein Geysir im Yellowstone-Nationalpark, berühmt für seine Höhe (30 bis 60 m) und die Regelmäßigkeit seiner Eruptionen (alle 35 bis 120 min).

51

Engl. Beyond the veil: Jenseits des Schleiers. Geläufiger Euphemismus für ‹nach dem Tod›.

52

‹Mong Blang›: der Montblanc. Shades Gedicht über den höchsten Berg Europas könnte ein Echo auf das Gedicht Mont Blanc: Lines Written in the Vale of Chamouni (1817) des englischen Romantikers Percy Bysshe Shelley (1792–1822) darstellen, dessen metaphysische Reflexionen denen Shades nahe sind: «Manche sagen, dass Strahlen einer entlegeneren Welt / Die Seele im Schlaf heimsuchen, dass der Tod ein Schlaf ist, / Und dass seine Gestalten die geschäftigen Gedanken / Jener, die wachen und leben, an Zahl übertreffen – ich richte den Blick nach oben; / Hat eine unbekannte Allmacht / Den Schleier von Leben und Tod entrollt? / […] Weit, weit da droben, den unendlichen Himmel durchbohrend, / Erscheint der Montblanc – still, schneebedeckt und heiter …» Die Verse 510–512 von Shades Fahles Feuer scheinen jedenfalls ein Shelley-Echo zu sein: «Ich liebe hohe Berge … Sah man die schneebedeckte Form, so fern, so schön …»

53

Engl. bobolink: Reisstärling, ein amerikanischer Zugvogel, wissenschaftlich Dolichonyx oryzivorous (L., 1758). Der amerikanische Name wird auch im Deutschen benutzt. Etymologisch hat das ‹link› in seinem Namen mit link (Verknüpfung) nichts zu tun und ist selbst eine der scheinbar zufälligen Übereinstimmungen in dem Sinngewebe der Welt. Es stammt aus seinem alten Namen ‹Bob-o-Lincoln›, der sein Zwitschern nachahmen soll. Wörtlich bedeutet ‹Link-und-Bobolink› also ‹Verknüpfung und Reisstärling›, aber das zweimalige link hält beides zusammen, als habe ihr Nebeneinander einen Sinn.

54

‹Kragenbart›: Im Original steht Newport Frill, wohl ein Versehen, denn ‹Kragenbart› ist Newgate Frill.

55

«Ich ekle mich … Haien»: In einem Fernsehinterview hat Nabokov eingestanden, dass Shade hier die pet hates (Lieblingsabneigungen) des Autors versammelt habe.

56

‹Muse … Wechselbalg›: An dieser Stelle steht im englischen Original ein so gut wie unbekanntes und nur verschwommen verständliches Wort, das darum im Verdacht steht, ein Schlüsselwort für den ganzen Roman zu sein, und viel umrätselt wurde: versipel. Seine «sonderbare Muse», die ihn überallhin begleitet, nennt Shade sein versipel. Während versipel im Webster III fehlt, war es im Webster II, den Nabokov regelmäßig benutzte, verzeichnet und definiert: «versipel (von lat. versipellis, wörtlich ‹die Haut wechseln›, ‹das Fell wechseln›) Ein Wesen, das imstande ist, sich von einer Form in die andere zu verwandeln, etwa ein Werwolf».

57

‹Dim GulfNight RoteHebe’s Cup›: Die drei Titel bedeuten «Trüber Golf», «Nachtbrandung» und «Hebes Becher». Shades Buchtitel sind alle sechs älteren Dichtungen entnommen, auch The Untamed Seahorse / Das ungezähmte Seepferd (Browning), Supremely Blest / In höchstem Grad gesegnet (Pope) und nun Pale Fire/Fahles Feuer (Shakespeare). Hebe’s Cup/Hebes Becher stammt aus Music’s DuelDim GulfTo One in ParadiseNight RoteDover Beachhttp://nnyhav.blogspot.com/2005_10_01_nnyhav_archive.html