Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel «The Other Side of Silence» bei Penguin Random House, New York.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Mai 2018
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«The Other Side of Silence» Copyright © 2016 by Thynker Ltd.
Redaktion Elisabeth Mahler
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ISBN Printausgabe 978-3-499-27342-1 (1. Auflage 2019)
ISBN E-Book 978-3-644-20045-6
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-20045-6
Jane gewidmet,
für all die glücklichen Jahre
Er hatte mich zerstört, und ich ward wiedererstanden
Aus Nichtsein, Dunkelheit, Tod: Dingen, die nicht sind
John Donne, «A Nocturnal upon St. Lucy’s Day»
Französische Riviera, 1956
Gestern habe ich versucht, mich umzubringen.
Nicht weil ich unbedingt sterben wollte, sondern damit der Schmerz endlich verging. Elisabeth, meine Frau, hatte mich vor einer Weile verlassen, und ich vermisste sie sehr. Das war eine Ursache für den Schmerz, eine ziemlich gewichtige, wie ich zugeben muss. Selbst nach einem Krieg mit mehr als vier Millionen toten deutschen Soldaten sind deutsche Frauen nicht leicht zu bekommen. Ein anderer großer Schmerz in meinem Leben war natürlich der Krieg selbst, und das, was danach in den sowjetischen Kriegsgefangenenlagern mit mir passiert war. Was meine Entscheidung, Suizid zu begehen, vielleicht eigenartig erscheinen lässt, wenn man bedenkt, wie schwer es war, nicht in Russland zu sterben; andererseits war der Wille, am Leben zu bleiben, für mich schon immer mehr eine Gewohnheit als eine aktive Wahl.
Während der Jahre unter den Nazis beispielsweise war ich nur aus schierer Sturheit am Leben geblieben. Also fragte ich mich eines Morgens, warum dem nicht ein Ende machen? Für einen Goethe liebenden Preußen wie mich war die schlichte Rationalität einer solchen Frage geradezu bestechend. Abgesehen davon – es war nicht so, als wäre mein Leben noch besonders schön gewesen, auch wenn ich ehrlich gesagt nicht sicher bin, ob es das jemals war. Morgen und die langen, langen leeren Jahre danach sind nichts, was mich sonderlich interessiert hätte, erst recht nicht hier unten an der französischen Riviera. Ich war allein, ging auf die sechzig zu und verrichtete in einem Hotel einen Job, den ich im Schlaf beherrschte – nicht dass ich dieser Tage viel davon abbekommen hätte. Die meiste Zeit fühlte ich mich miserabel. Ich lebte irgendwo, wo ich nicht hingehörte, und es fühlte sich an wie eine kalte Ecke in der Hölle – ich glaubte also nicht, dass irgendjemand, der sich an einem sonnigen Tag erfreut, die dunkle Wolke vermissen würde, die mein Gesicht war.
All das sprach dafür zu sterben, plus die Ankunft eines Gastes im Hotel. Eines Gastes, den ich wiedererkannte und den ich lieber vergessen hätte. Doch darauf komme ich gleich. Vorher muss ich wohl erklären, warum ich noch da bin.
Ich ging in die Garage unter meiner kleinen Wohnung in Villefranche-sur-Mer, schloss die Tür und wartete mit laufendem Motor im Wagen. Eine Kohlenmonoxidvergiftung ist nicht sooo schlimm. Man schließt die Augen und schläft ein. Wäre der Motor nicht ausgegangen, vermutlich weil kein Benzin mehr im Tank war, wäre ich jetzt nicht mehr hier. Ich dachte, ich würde es ein andermal wieder versuchen, falls sich die Dinge nicht besserten und nachdem ich einen zuverlässigeren Wagen gekauft hatte. Ich hätte natürlich auch nach Berlin zurückkehren können, wie meine arme Frau, was zum gleichen Ergebnis geführt hätte. Auch heute noch ist es so einfach wie eh und je, in Berlin zu Tode zu kommen, und ich glaube nicht, dass es, falls ich in die ehemalige deutsche Hauptstadt zurückkehrte, sehr lange dauern würde, bis jemand so freundlich wäre, mein überraschendes Ableben zu organisieren. Die eine Seite oder die andere würde es schon bewerkstelligen, und das mit gutem Grund.
Als ich noch in Berlin lebte, als Polizeibeamter und später als Expolizeibeamter, war es mir gelungen, mehr oder weniger jedem mächtig auf die Füße zu treten, mit Ausnahme vielleicht der Briten. Trotzdem vermisse ich die Stadt sehr. Ich vermisse natürlich auch das Bier und die Würstchen, und ich vermisse es, Polizist zu sein, als Berliner Polizist zu sein noch etwas Gutes bedeutete. Am meisten jedoch vermisse ich die Leute, die genauso mürrisch sind wie ich selbst.
Nicht mal die Deutschen mögen die Berliner, und das beruht üblicherweise auf Gegenseitigkeit. Berliner mögen niemanden besonders, ganz besonders die Berliner Frauen nicht, was sie für einen Deppen wie mich irgendwie erst recht attraktiv macht. Es gibt nichts Attraktiveres für einen Mann als eine wunderschöne Frau, der es völlig egal ist, ob der Typ überlebt oder vor die Hunde geht. Ich vermisste die Frauen mehr als alles andere. Es gab so viele Frauen. Ich denke an die guten Frauen, die ich gekannt habe – und an eine ganze Menge von den schlechten auch – und die ich niemals wiedersehen werde, und manchmal fange ich an zu weinen, und von da ist es nur mehr ein kurzer Weg zur Garage und zum Ersticken, insbesondere wenn ich getrunken habe. Was ich zu Hause die meiste Zeit mache.
Wenn ich mir nicht gerade selbst leidtue, spiele ich Bridge oder lese Bücher über das Bridgespiel, was für sich genommen schon einer Menge Leute als triftiger Grund erscheinen mag, sich umzubringen. Aber Bridge ist ein Spiel, das ich als anregend empfinde. Bridge hilft, den Verstand scharf zu halten und sich mit etwas anderem zu beschäftigen als mit Gedanken an zu Hause – und all die Frauen natürlich. Im Nachhinein erscheint es mir, als wären viele von ihnen Blondinen gewesen, und nicht nur, weil sie Deutsche waren oder beinahe Deutsche. Viel zu spät im Leben hatte ich erkannt, dass es einen bestimmten Typ Frau gibt, der mich anzieht, nämlich den falschen Typ, und oftmals schließt das eine gewisse Haarfarbe mit ein, die für einen Mann wie mich Ärger bedeutet. Die Suche nach gefährlichen Partnerinnen und sexueller Kannibalismus sind weit mehr verbreitet, als man vielleicht denken mag, auch wenn es unter Spinnen noch häufiger vorkommt als bei Menschen. Anscheinend beurteilen die Weibchen eher den Nährwert eines Männchens als seinen Wert als Partner. Was meine persönliche Lebensgeschichte mehr oder weniger in einem Satz zusammenfasst. Ich bin so viele Male bei lebendigem Leib gefressen worden, dass ich mich fühle, als hätte ich acht Beine, auch wenn es inzwischen wohl nur noch drei oder vier sind. Keine allzu verblüffende Einsicht, ich weiß, und wie ich bereits geschrieben habe, es spielt heute kaum noch eine Rolle – aber ein gewisses Maß an Selbsterkenntnis spät im Leben ist immer noch besser als gar keins. Das hat Elisabeth mir jedenfalls immer gesagt.
Selbsterkenntnis hat für sie funktioniert, daran besteht kein Zweifel. Sie wachte eines Morgens auf und erkannte, wie gelangweilt und enttäuscht sie von mir und unserem neuen Leben in Frankreich war –, und fuhr am darauffolgenden Tag wieder heim. Ich kann nicht sagen, dass ich es ihr verdenke. Sie hat nie Französisch gelernt, mochte das Essen nicht, nicht einmal an der Sonne fand sie sonderlichen Gefallen, und die ist das Einzige, was es hier unten umsonst und reichlich gibt. In Berlin weiß man wenigstens, warum es einem mies geht. Das ist das ganze Geheimnis der Berliner Luft – ein Versuch, sich einen Weg aus der Trübsal zu pfeifen. Hier an der Riviera würde man meinen, dass es jede Menge Gründe gibt zu pfeifen und keinen einzigen, um verdrießlich zu sein, doch irgendwie war mir genau das gelungen, und das hatte sie nicht länger ertragen.
Ich nehme an, ich fühlte mich größtenteils deswegen so elend, weil ich mich höllisch gelangweilt habe. Ich vermisste mein altes Leben als Detektiv. Was hätte ich nicht alles dafür gegeben, durch die Türen des Polizeipräsidiums am Alexanderplatz zu spazieren – nach allem, was man hört, haben es die sogenannten Ostdeutschen, also die Kommunisten, abgerissen – und nach oben an meinen Schreibtisch im Morddezernat zu laufen. Dieser Tage arbeite ich als Concierge im Grand Hôtel du Saint-Jean-Cap-Ferrat. Das ist ein wenig wie Polizist sein, wenn man darunter versteht, den Verkehr zu lenken, und ich muss es ja wissen. Es ist genau fünfunddreißig Jahre her, seit ich zum ersten Mal eine Uniform anhatte, als Verkehrspolizist am Potsdamer Platz. Aber ich kenne auch das Hotelgeschäft von früher; nach der Machtergreifung war ich für eine Weile Hausdetektiv im berühmten Berliner Hotel Adlon. Die Arbeit eines Concierge ist eine ganz andere. Hauptsächlich ist man damit beschäftigt, Reservierungen für das Restaurant anzunehmen, Taxis zu bestellen, Boote zu buchen, Gepäckträger zu organisieren, Prostituierte zu verscheuchen – was nicht so einfach ist, wie es sich vielleicht anhört; dieser Tage können sich nur Amerikanerinnen leisten, wie Prostituierte auszusehen – und einfältigen Touristen, die keine Karten lesen und kein Französisch können, Wegbeschreibungen zu geben. Nur hin und wieder gibt es einen ungebärdigen Gast oder einen Diebstahl, und ich träume davon, der einheimischen Sûreté dabei zu helfen, eine Serie von tollkühnen Juwelendiebstählen aufzuklären, von der Sorte, wie ich sie in Alfred Hitchcocks Über den Dächern von Nizza gesehen habe. Aber natürlich ist es das, was es ist: nichts als ein Traum. Ich würde mich nie im Leben freiwillig anbieten, der örtlichen Polizei zu helfen. Nicht weil es Franzosen sind – auch wenn das an und für sich ein guter Grund wäre –, sondern weil ich unter falschem Namen und mit falschem Pass hier lebe, und nicht irgendeinem falschen Pass, sondern einem, den ich von niemand anderem als von Erich Mielke persönlich habe, dem gegenwärtigen stellvertretenden Chef der Stasi, der ostdeutschen Geheimpolizei. An so einem Gefallen haftet in der Regel allerdings ein ziemlich hoher Preis, und ich rechne fest damit, dass Mielke eines Tages anrufen und mich darum bitten wird, ihn zu bezahlen. Was aller Wahrscheinlichkeit nach der Tag sein wird, an dem ich wieder auf Reisen gehe. Verglichen mit mir war der Fliegende Holländer so sesshaft wie der Felsen von Gibraltar. Ich nehme an, meine Frau wusste dies, denn sie kannte Mielke – besser, als ich ihn kannte.
Wo es mich von hier aus hinzieht, weiß ich noch nicht; man hört, dass Nordafrika sehr kulant sein soll, was Deutsche auf Fahndungslisten betrifft. Es gibt eine Fähre der Fabre Line, die täglich von Marseille nach Marokko verkehrt. Das ist im Übrigen genau die Art von Wissen, über die ein Concierge verfügen sollte, auch wenn wahrscheinlich mehr von den gutbetuchten Hotelgästen aus Algerien hierher geflohen sind, als es Leute gibt, die dorthin flüchten wollen. Seit dem Massaker an den pieds noirs in Philippeville im vergangenen Jahr läuft der Krieg gegen die Nationale Befreiungsfront in Algier auf französischer Seite gar nicht so gut. Die Kolonie wird mit härterer Hand regiert als je zuvor, seit die Nazis sie der zarten Barmherzigkeit der Vichy-Regierung überlassen haben.
Ich bin nicht sicher, ob der lässig attraktive dunkelhaarige Mann, der am Tag vor meinem Suizidversuch in eine der besten Suiten des Hotels eincheckte, auf irgendeiner Fahndungsliste stand, mit Sicherheit war er jedoch Deutscher und ein Krimineller. Er sah mindestens wie ein wohlhabender Bankier oder Filmproduzent aus, und er sprach ein so exzellentes Französisch, dass außer mir wahrscheinlich niemand bemerkte, dass er Deutscher war. Er reiste unter dem Namen Harold Heinz Hebel und nannte eine Adresse in Bonn, doch sein richtiger Name war Hennig, Harold Hennig, und während der letzten Kriegsmonate war er Hauptmann beim SD, dem Geheimdienst der SS, gewesen. Nun, mit Anfang vierzig, trug er einen edlen, leichten, maßgeschneiderten grauen Anzug sowie schwarze, wie ein neuer Centime glänzende Maßschuhe. Derartige Dinge fallen einem auf, wenn man an einem Ort wie dem Grand Hôtel arbeitet. Dieser Tage erkenne ich einen Savile-Row-Anzug von der anderen Seite der Lobby aus. Seine Manieren waren so glatt wie die seidene Hermès-Krawatte um seinen Hals, die ihm sicher angenehmer war als die Henkersschlinge, die er mehr als verdient hatte. Er bedachte die Gepäckträger großzügig mit Trinkgeld aus einem Bündel neuer Scheine, das so dick war wie eine Scheibe Brot, und die Boys behandelten ihn und seine Louis-Vuitton-Koffer mit mehr Vorsicht als eine Vitrine voll Meißener Porzellan. Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, hatte er zufälligerweise ebenfalls teures Gepäck bei sich gehabt, gefüllt mit Wertgegenständen, die er und sein damaliger Boss, der ostpreußische Gauleiter Erich Koch, in Königsberg geplündert hatten. Das war im Januar 1945 gewesen, während der furchtbaren Schlacht um die Stadt. Er war an Bord der Wilhelm Gustloff gegangen, dem deutschen Kreuzfahrtschiff, das von einem russischen U-Boot versenkt worden war. Mehr als neuntausend Zivilisten hatten damals ihr Leben verloren, doch er war eine der wenigen Ratten gewesen, denen es gelungen war, von dem sinkenden Schiff zu entkommen – eine wirkliche Schande, schließlich war er an dessen Versenkung nicht ganz unbeteiligt.
Falls Harold Hennig mich erkannte, ließ er sich nichts anmerken. In unseren schwarzen Mänteln sahen wir vom Empfangspersonal alle mehr oder weniger gleich aus. Abgesehen davon hatte ich in der Zwischenzeit zugenommen und Haare auf dem Kopf verloren, und meine Haut war leicht gebräunt, was mir, wie meine Frau zu sagen pflegte, ausgesprochen gut stand. Für einen Mann, der soeben versucht hat, sich das Leben zu nehmen, bin ich überhaupt in bemerkenswert guter Form, wenn ich das so von mir selbst sagen darf. Alice, eines der Zimmermädchen, auf das ich ein Auge geworfen habe, seit Elisabeth mich verlassen hat, meint, man könnte mich leicht für zehn Jahre jünger halten. Was mir eigentlich egal ist, denn meine Seele kommt mir vor, als wäre sie fünfhundert Jahre alt, mindestens. Sie hat so oft in den Abgrund gestarrt, dass sie sich anfühlt wie Dantes Gehstock.
Harold Hennig sah mir geradewegs ins Gesicht. Ich begegnete seinem Blick nicht länger als eine oder zwei Sekunden, doch mehr war auch nicht nötig – als ehemaliger Polizeibeamter vergesse ich niemals ein Gesicht, schon gar nicht das eines Massenmörders. Neuntausend Menschen – Männer, Frauen und viele, viele Kinder – sind eine Menge Gründe, um sich ein Gesicht wie das von Harold Heinz Hennig einzuprägen.
Ich muss zugeben, ihn wiederzusehen, so offenkundig wohlhabend und vor Gesundheit strotzend, betrübte mich sehr. Es ist eine Sache zu wissen, dass es Leute wie Eichmann und Mengele gibt, die mit den entsetzlichsten Verbrechen davongekommen sind. Aber es ist etwas ganz anderes, wenn man mit etlichen der Opfer eines solchen Verbrechens befreundet gewesen ist. Es hat Zeiten gegeben, da hätte ich vielleicht versucht, an Ort und Stelle Vergeltung zu üben, doch diese Zeiten sind lang vorbei. Dieser Tage ist Rache etwas, über das ich mit meinen Spielpartnern im La Voile d’Or, dem einzigen anderen guten Hotel in Cap Ferrat, am Ende oder vielleicht auch am Anfang einer Partie Bridge plaudere. Dieser Tage besitze ich nicht einmal mehr eine Waffe. Hätte ich eine, wäre ich wahrscheinlich nicht hier. Ich bin ein sehr viel besserer Schütze als Autofahrer.
Cap Ferrat liegt zwischen Nizza und Monaco, ein pinienbewachsener Felssporn, der in das Meer hinausragt wie das vertrocknete und nahezu nutzlose Sexualorgan eines alten französischen Lüstlings – ein mehr als passender Vergleich angesichts des Rufs der Riviera als ein Ort, wo hohes Alter und frühreife Schönheit Hand in schrumpliger Hand gehen, üblicherweise zum Strand, zu den Boutiquen, zur Bank und dann ins Bett, nicht immer unbedingt in dieser Reihenfolge. Die Riviera erinnert mich oft an Berlin unmittelbar nach dem Krieg, nur dass weibliche Begleitung hier eine ganze Menge mehr kostet als einen Riegel Schokolade oder ein paar Zigaretten. Hier unten ist es Geld, das redet, selbst wenn es nicht viel mehr zu sagen hat als Voulez vous oder S’il vous plaît. Die meisten Frauen ziehen es vor, Zeit mit Monsieur Gateau zu verbringen, anstatt mit Mister Right, obwohl sich diese beiden wenig überraschend oftmals als ein und dieselbe Person erweisen. Hätte ich mehr Geld gehabt, ich hätte sicherlich ebenfalls eine hübsche junge Begleiterin gefunden, die ich hätte verwöhnen und mit der ich mich hätte zum Narren machen können. Ich bin heute weise genug, um zu wissen, dass ich nicht das besitze, was so gut wie sämtliche Frauen an der Côte d’Azur suchen – abgesehen von Wegbeschreibungen nach Beaulieu-sur-Mer oder dem Namen des besten Restaurants in Cannes (es ist das Da Bouttau) oder vielleicht zwei übriggebliebenen Eintrittskarten für die Opéra Nice Côte d’Azur. Wir sehen eine Menge Messieurs Gateau mit ihren grünlichen, rheumatischen Augäpfeln hier im Grand Hôtel, doch sie haben ihre Komplizen im nahegelegenen La Voile d’Or, einem kleineren, gleichermaßen eleganten Hotel auf einer hochgelegenen Halbinsel mit Ausblick auf die blaue Lagune und den malerischen Fischerhafen von Saint-Jean-Cap-Ferrat. Die dreistöckige Villa – ehedem das Park Hotel – war 1925 von einem englischen Golf-Champion namens Captain Powell erbaut worden, was möglicherweise die alten Holz-Putter an den Wänden erklärt. Entweder das, oder sie haben ein sehr anspruchsvolles Loch in dem äußerst eleganten Salon des Hotels. Das ist der Raum, in dem ich üblicherweise sitze, Gimlets trinke und Bridge spiele mit meinen drei einzigen Freunden, zweimal die Woche, ohne Ausnahme.
Um ehrlich zu sein, sie sind nicht das, was die meisten Leute Freunde nennen würden. Dies hier ist schließlich Frankreich, und echte Freunde sind spärlich gesät, insbesondere wenn man Deutscher ist. Abgesehen davon, man spielt nicht Bridge miteinander, um Freundschaften zu schließen oder zu pflegen, und manchmal hilft es sogar, wenn man seine Gegner nicht leiden kann. Mein Bridgepartner Antimo Spinola, ein Italiener, ist Manager des Casinos von Nizza. Glücklicherweise ist er ein viel besserer Spieler als ich – das heißt, unglücklicherweise für ihn. Wir spielen normalerweise gegen zwei Engländer, ein Ehepaar namens Mr. und Mrs. Rose, die eine kleine Villa in den Hügeln oberhalb von Èze besitzen. Ich würde nicht sagen, dass ich sie oder ihn nicht mag, aber sie sind ein typisches englisches Ehepaar insofern, als dass beide nie irgendwelche Emotionen zeigen, am wenigsten füreinander. Ich habe Siamesische Kampffische gesehen, die liebevoller miteinander umgegangen sind. Mr. Rose war ein angesehener Herzspezialist in der Londoner Harley Street und hatte ein kleines Vermögen mit der Behandlung eines griechischen Multimillionärs gemacht, bevor er sich im Süden von Frankreich zur Ruhe setzte. Spinola sagt, er spiele gerne mit Rose, denn falls er einen Herzanfall erleide, wisse Jack, was zu tun sei. Ich bin mir da nicht so sicher – Rose trinkt noch mehr als ich, und außerdem weiß ich nicht, ob er überhaupt ein Herz besitzt, was mir die Grundvoraussetzung für seine Art von Arbeit zu sein scheint. Seine Frau Julia war ehemals seine Empfangsschwester und ist eine viel bessere Spielerin als er – mit einem Gefühl für den Tisch und einem Gedächtnis wie ein Elefant, der zugleich das Tier ist, dem sie am meisten ähnelt, wenn auch nicht wegen ihrer Leibesfülle. Sie wäre eine gutaussehende Frau, hätte sie nicht derart riesige, im rechten Winkel vom Kopf abstehende Ohren. Sie spricht nie über das Blatt, das sie gerade gespielt hat, als wolle sie Spinola und mir keine Hinweise geben, wie wir gegen die beiden spielen sollten.
Daran kann man sich ein Vorbild nehmen, wenn man in ein Gespräch über den Krieg verwickelt werden sollte. Soweit bekannt war Walter Wolf – das ist der Name, unter dem ich in Frankreich lebe – ein ehemaliger Hauptmann bei der Generalintendantur in Berlin mit dem Verantwortungsbereich Naturalverpflegungs-, Reise- und Vorspannangelegenheiten. Genau das, was man erwartet von jemandem, der den größten Teil seines Lebens in guten Hotels gearbeitet hat. Jack Rose ist der festen Meinung, sich von einem früheren Aufenthalt im Hotel Adlon an mich zu erinnern. Ich frage mich manchmal, was die Roses denken würden, wenn sie wüssten, dass ihr Gegenüber eine SS-Uniform getragen hat und ein enger Vertrauter von Leuten wie Heydrich und Goebbels gewesen ist.
Ich glaube, Spinola wäre nicht sonderlich überrascht herauszufinden, dass es Geheimnisse in meiner Vergangenheit gibt. Er spricht beinahe genauso gut Russisch wie ich, und ich bin mir ziemlich sicher, dass er Offizier bei der 8. Italienischen Armee in Russland war und zu den Glücklichen gehört, die nach der verheerenden Niederlage in der Schlacht von Nikolajewka davongekommen sind. Er redet natürlich nicht über den Krieg. Das ist das Großartige an Bridge – niemand redet sonderlich viel. Es ist das perfekte Spiel für Leute, die etwas zu verbergen haben. Ich habe versucht, es Elisabeth beizubringen, aber sie hatte keine Geduld für die Strategien, die ich ihr zeigen wollte und die eine bessere Spielerin aus ihr gemacht hätten. Ein anderer Grund, warum sie das Spiel nicht mochte, war, dass sie kein Englisch spricht – und das ist die Sprache, in der wir spielen, weil es die einzige Sprache ist, die die Roses beherrschen.
Einen oder zwei Tage nach Hennigs Ankunft im Grand Hôtel ging ich zum La Voile d’Or, um mich mit Spinola und den Roses zum Bridgespiel zu treffen. Wie üblich waren sie zu spät, und ich fand Spinola allein an der Bar sitzend vor, wo er mit leerem Blick die Tapete anstarrte. Er war in einer düsteren Stimmung und rauchte eine Gauloise nach der anderen mit seiner kurzen elfenbeinernen Zigarettenspitze, während er Americanos trank. Mit seinen dunklen Locken, dem ungezwungenen Lächeln und dem durchtrainierten guten Aussehen erinnerte er mich stets ein wenig an den Schauspieler Cornel Wilde.
«Was machen Sie da?», fragte ich ihn auf Russisch. Miteinander russisch zu sprechen hielt uns in Übung – es kamen kaum jemals Russen in das Hotel oder ins Casino.
«Ich genieße die Aussicht.»
Ich wandte mich um und deutete auf die Terrasse und den Blick auf die Bucht und den Hafen. «Die Aussicht ist in der anderen Richtung.»
«Die kenne ich schon. Außerdem ziehe ich diese hier vor. Sie erinnert mich nicht an irgendwas, woran ich mich lieber nicht erinnere.»
«Wieder so ein Tag, hm?»
«Hier unten sind alle Tage so. Finden Sie nicht?»
«Sicher. Das Leben ist beschissen. Aber verraten Sie es niemandem hier in Cap Ferrat. Die Enttäuschung würde die Leute glatt umbringen.»
Er schüttelte den Kopf. «Ich weiß alles über Enttäuschungen, glauben Sie mir. Ich war mit dieser Frau zusammen, und jetzt bin ich es nicht mehr. Es ist eine Schande, aber ich musste es beenden. Sie war verheiratet, und es wurde kompliziert. Wie dem auch sei, es hat ihr ziemlich zugesetzt. Sie hat gedroht, sich zu erschießen.»
«Das ist sehr französisch. Sich zu erschießen, meine ich. Es ist die einzige Sorte französischer Treffsicherheit, auf die man zählen kann.»
«Sie sind so unglaublich deutsch, Walter.» Er spendierte mir einen Drink und sah mich an. «Manchmal, wenn ich Ihnen über den Bridgetisch hinweg in die Augen schaue, sehe ich eine ganze Menge mehr als eine Hand voller Karten.»
«Sie wollen mir sagen, dass ich ein schlechter Spieler bin.»
«Ich will Ihnen sagen, dass ich einen Mann sehe, der nie bei der Generalintendantur gewesen ist.»
«Sie haben noch nie mein Essen probiert, Antimo.»
«Walter, wie lange kennen wir uns nun schon?»
«Ich weiß nicht. Ein paar Jahre.»
«Aber wir sind Freunde, richtig?»
«Ich hoffe doch.»
«Nun denn. Spinola ist nicht mein richtiger Name. Während des Krieges hatte ich einen anderen Namen. Offen gestanden, mit einem Namen wie Spinola wäre ich nicht lange am Leben geblieben. Das ist ein jüdisch-italienischer Name. Ich war nie die Sorte Italiener.»
«Es ist mir egal, was Sie sind, Antimo. Ich war nie die Sorte Deutscher.»
«Ich mag Sie, Walter. Sie reden nicht mehr, als Sie müssen. Und ich spüre, dass Sie ein Geheimnis für sich behalten können.»
«Erzählen Sie mir nichts, was Sie mir nicht erzählen müssen», warnte ich ihn. «In meinem Alter kann ich es mir nicht leisten, einen Freund zu verlieren.»
«Ich verstehe.»
«Ich kann mir nicht mal leisten, Leute zu verlieren, die mich nicht mögen. Dann würde ich mich nämlich richtig allein fühlen.»
Auf dem Tresen neben meinem Gimlet stand eine Zigarrenkiste mit Partagas. Spinola legte eine Hand darauf.
«Würden Sie mir einen Gefallen tun?», fragte er.
«Was muss ich tun?»
«Hier drin ist etwas, auf das Sie für mich aufpassen müssten. Nur für eine Weile.»
«Einverstanden.»
Ich drehte mich nach dem Barmann um, und als ich sah, dass er draußen auf der Terrasse bediente, hob ich den Deckel der Kiste an und spähte hinein, auch wenn ich schon vorher geahnt hatte, was darin war. Keine Zigarren jedenfalls. Die sechshundertfünfzig Gramm einer Walther-Polizeipistole haben etwas an sich, das ich im Schlaf erkenne. Ich nahm sie aus der Kiste. Sie war voll geladen, und wenn es nach meiner Nase ging, erst kürzlich abgefeuert worden.
«Nicht dass es mich etwas anginge», sagte ich, während ich den Deckel wieder zuklappte. «Aber sie riecht, als hätte sie gearbeitet. Ich habe selbst Leute erschossen, und es geht mich nichts an … so was passiert gelegentlich, wenn Waffen im Spiel sind.»
«Das ist ihre Pistole», erklärte er.
«Sie muss eine tolle Frau sein.»
«Das ist sie. Ich habe sie ihr abgenommen. Nur um sicherzugehen, dass sie keine Dummheiten macht. Und ich will sie nicht in meinem Haus haben, für den Fall, dass sie zurückkommt. Zumindest so lange nicht, bis sie mir meinen Hausschlüssel wiedergegeben hat.»
«Kein Problem. Ich passe darauf auf. Ein guter Bridgepartner ist schwer zu finden. Abgesehen davon hat mir eine Pistole in meiner Wohnung gefehlt. Ein Zuhause fühlt sich irgendwie leer an, wenn keine Feuerwaffe dort wohnt. Ich bringe sie eben raus in den Wagen, okay?»
«Danke, Walter.»
Ich ging nach draußen, schloss die Pistole in mein Handschuhfach ein und wollte gerade wieder zurückgehen, als ich die Roses in ihrem cremefarbenen Bentley-Cabriolet vorfahren sah. Ich wartete einen Moment und öffnete dann instinktiv die schwere Wagentür für Mrs. Rose, damit sie aussteigen konnte. Er fuhr den Wagen immer nach La Voile d’Or, und sie fuhr ihn zurück, weil sie sich lediglich zwei Gin Tonic gestattete im Gegensatz zu ihm mit seinen sechs oder sieben Whiskys.
«Mrs. Rose», sagte ich freundlich und hob galant den grünen Chiffonschal auf, den sie beim Aussteigen fallen lassen hatte. Er passte farblich zu dem Kleid, das sie trug. Grün war zwar nicht ihre Farbe, allerdings hatte ich nicht vor, das zwischen mich und mein Spiel kommen zu lassen. «Wie schön, Sie wiederzusehen.»
Sie antwortete mit einem Lächeln, doch ich beachtete es kaum – meine Gedanken waren immer noch bei der Pistole von Spinolas Freundin, während mein Blick von zwei Männern angezogen wurde, die am anderen Ende der Hotelterrasse in Streit geraten waren. Einer der beiden war ein rotgesichtiger Engländer, der sich oft im La Voile d’Or herumtrieb. Der andere war Harold Hennig. Ich hielt Mrs. Rose automatisch die Hoteltür auf, bevor ich mir gestattete, einen zweiten Blick auf Hennig und den Engländer zu werfen, und erkannte, dass es weniger ein Streit war als vielmehr ein grinsender Hennig, der dem Engländer sagte, was er zu tun hatte, und das mögen Engländer prinzipiell nicht besonders. Er hatte mein Mitgefühl. Ich hatte selbst nie gerne Befehle von Harold Hennig angenommen. Doch ich verdrängte den Gedanken rasch und folgte Jack und Julia Rose nach drinnen. Zum ersten Mal seit langem schlugen Spinola und ich die beiden, was alle anderen Vorkommnisse des Abends in den Schatten stellte. Bis ich zur Arbeit ins Grand musste, um unseren Nachtportier zu vertreten, der sich mit einer Sommergrippe krank gemeldet hatte – was auch immer das ist. Ich hatte gut zwei Jahre lang eine Wintergrippe in einem russischen Gefangenenlager gehabt, und die war schlimm genug gewesen. Eine Sommergrippe klingt absolut furchtbar.
Die Nachtschicht macht mir nichts aus. Es ist kühl, und das Summen der Zikaden ist ebenso beruhigend wie die Heckenkirsche, die die Wände hinter den ausgemergelten Statuen neben der Eingangstür ziert. Außerdem tauchen weniger Gäste mit dummen Fragen und Problemen auf, die ich lösen muss. Ich verbrachte die erste Stunde im Dienst damit, die Nice Matin zu lesen, um mein Französisch zu verbessern. Gegen ein Uhr morgens musste ich einem steinreichen Amerikaner, Mr. Biltmore, nach oben in seine Suite im vierten Stock helfen. Er hatte die ganze Nacht über Cognac getrunken und es geschafft, nicht nur eine Flasche, sondern auch die Bar mit seinen widerwärtigen Bemerkungen zu leeren, die hauptsächlich mit dem Krieg zu tun hatten und den französischen Versagern und damit, dass Vichy eine Nazi-Regierung gewesen sei, mit Ausnahme des Namens. Ich hätte ihm in keinem dieser Punkte widersprochen, außer natürlich, ich wäre ein Franzmann gewesen. Wie Napoleon vielleicht gesagt hätte (aber nicht gesagt hat), «die französische Geschichte ist die Version vergangener Ereignisse, über die das französische Volk sich einig zu sein beschlossen hat».
Ich fand Biltmore zusammengesunken in einem Sessel in der Lobby. Er war halb bewusstlos, was ich bei betrunkenen Hotelgästen vorziehe, doch er wurde laut und renitent, als ich ihm höflich beim Aufstehen helfen wollte. Er holte aus und schlug nach mir, und dann noch einmal, sodass ich gezwungen war, ihm mit der Faust ans Kinn zu tippen, gerade fest genug, um ihn zu betäuben und uns beide vor weiteren Verletzungen zu bewahren. Das bescherte mir ein neues Problem, denn der Kerl war groß wie eine Sequoia und genauso schwer über der Schulter zu tragen. Es kostete mich fast meine gesamte Kraft, ihn in den Aufzug zu verfrachten, und dann den Rest, um ihn aus dem Lift zu schleifen und auf sein Bett zu wuchten.
Ich zog ihn nicht aus.
Für einen Concierge ist ein besoffener Ami, der gerade dann wieder zu Bewusstsein kommt, wenn man ihm die Hose halb heruntergezogen hat, so ungefähr das Letzte, was man möchte. Amis mögen es nicht gerne, ausgezogen zu werden, ganz besonders nicht von einem anderen Mann. In einer solchen Situation verliert man nicht nur schnell mal ein paar Zähne, sondern auch seinen Job. An der Riviera ist ein Concierge – selbst ein guter, mit allen Zähnen – in null Komma nichts zu ersetzen, aber kein Hotel möchte einen Gast wie Mr. Biltmore verlieren, insbesondere, wenn er mehr als fünfzehnhundert Franc die Nacht zahlt für eine Suite, die er für drei ganze Wochen gebucht hat. Niemand kann es sich leisten, dreißigtausend Franc zu verlieren plus Getränkerechnungen plus Trinkgelder.
Bis ich Mr. Biltmore versorgt hatte, war ich so erhitzt wie die Bügelpresse eines Chinesen. Also ging ich nach unten in die Bar und ließ mir vom Barmixer einen eiskalten Gimlet aus dem guten Stoff machen – 57-prozentigem Plymouth Navy Strength Gin, dem Zeug, das sie den Matrosen in den Atom-U-Booten geben –, um den vier nachzuhelfen, die ich bereits im La Voile d’Or getrunken hatte. Ich kippte ihn hastig herunter, zusammen mit meinem Abendessen, bestehend aus ein paar Oliven und Salzgebäck.
Ich war soeben mit meinem Dinner fertig, als sich ein weiterer Gast am Empfangsschalter präsentierte. Und sie war in der Tat ein Präsent: leicht parfümiert, nüchtern und eng in Schwarz gewickelt – was eine ziemlich gute Ahnung von dem verschaffte, was sich unter dem Wickel versteckte – und vorne mit einer hübschen Schleife aus Diamanten versehen. Ich kenne mich nicht sonderlich gut aus mit Mode, aber ihre war eine Art hautenges Ballerinakleid, mit einer freien Schulter und nun, da ich einen zweiten Blick wagte, nicht mit einer Diamantschleife, sondern einer kleinen Diamantblume an der Taille. Mit den dazu passenden schwarzen Handschuhen und den schwarzen Pumps sah sie von Kopf bis Fuß so berauschend aus wie Christian Diors Bankguthaben.
Mrs. French war eine von unseren Stammgästen, eine reiche und betörend attraktive englische Dame in den Vierzigern mit einem berühmten Künstler zum Vater, der früher an der Riviera gelebt und gearbeitet hatte. Sie war angeblich selbst Schriftstellerin und hatte ein Haus in Villefranche angemietet, doch sie verbrachte einen Großteil ihrer freien Zeit hier im Grand Hôtel. Sie schwamm viel in unserem Pool oder las in der Bar, benutzte häufig das Telefon und nahm regelmäßig im Restaurant ein spätes Abendessen ein.
Oftmals kam sie allein, doch manchmal hatte sie Freunde dabei. Vor ein paar Wochen schien sie den französischen Verteidigungsminister umgarnen zu wollen, Monsieur Bourgès-Maunoury, der hier abgestiegen war, doch es wurde nichts daraus. Wie es schien, hatte der Minister andere Dinge im Kopf – beispielsweise die islamische Bedrohung durch die algerische FLN, ganz zu schweigen von Ägyptens billiger Hitlerkopie Gamal Abdel Nasser – und vielleicht der anonymen Dame, die im Zimmer gleich neben dem Minister logierte. Er sah nicht schlecht aus, schätze ich, dunkelhaarig, dunkeläugig, vielleicht ein wenig schmierig, ein wenig zu klein und offen gestanden ein paar Klassen unterhalb der Liga, in welcher Mrs. French spielte. Ich dachte, eine hübsche Brünette wie sie könnte etwas Besseres haben – andererseits heißt es, Maurice Bourgès-Maunoury könnte der nächste französische Premierminister werden.
«Guten Abend, Mrs. French», sagte ich zu ihr. «Ich hoffe, das Essen hat Ihnen gemundet.»
«Es war ganz gut, danke sehr.»
«Das klingt nicht annähernd so gut, wie es hätte sein sollen.»
Sie seufzte. «Es hätte in der Tat besser sein können.»
«Lag es am Essen? Oder vielleicht am Service?»
«Ehrlich gesagt, weder das eine noch das andere war zu bemängeln. Und trotzdem hat etwas gefehlt. Mit nichts als meinem Buch zur Gesellschaft – ich fürchte, das ist nichts, was irgendjemand hier im Grand Hôtel so leicht abstellen könnte.»
«Darf ich fragen, was Sie gerade lesen, Mrs. French?» Meine Manieren haben sich stark verbessert, seit ich wieder angefangen habe, in Hotels zu arbeiten. Manchmal klinge ich inzwischen richtig zivilisiert.
Sie öffnete ihre krokodillederne Handtasche und zeigte mir ihr Buch: Der stille Amerikaner von Graham Greene. Mein geschulter Blick fiel auf eine Flasche Mystikum, ein Bündel französischer Franc und eine kleine rote Blechdose, die eine Puderquaste hätte enthalten können, wahrscheinlicher aber der Aufbewahrungbehälter für ihr Pessar war.
«Das habe ich nicht gelesen», gestand ich.
«Nein. Aber ich denke, Sie haben mehr darüber vergessen, wie man einen betrunkenen Amerikaner halbwegs ruhigstellt, als Graham Greene je gelernt hat.» Sie lächelte. «Der arme Mr. Biltmore. Hoffen wir, dass er seine Kopfschmerzen morgen dem Alkohol zuschreibt und nicht Ihrer Faust.»
«Oh, Sie haben mich gesehen. Wie bedauerlich. Ich dachte, die Bar wäre leer gewesen.»
«Ich saß hinter einer Säule. Aber Sie haben das ganz hervorragend gemeistert. Wie ein Fachmann. Ich würde sagen, es war nicht das erste Mal, dass Sie so etwas gemacht haben. Sehr professionell.»
Ich zuckte die Schultern. «Das Hotelgewerbe bietet immer wieder neue interessante Herausforderungen.»
«Wenn Sie es sagen.»
«Vielleicht darf ich Ihnen ein anderes Buch empfehlen?», erbot ich mich in dem hastigen Bestreben, das Thema zu wechseln.
«Warum nicht? Obwohl es meiner Erfahrung nach die Kompetenzen eines Concierge übersteigt, den Literaturpapst à la Robert Benchley zu geben.»
Ich erwähnte ein Buch von Albert Camus, das mich beeindruckt hatte.
«Nein, den mag ich nicht», sagte sie. «Er ist viel zu französisch für meinen Geschmack. Und überdies zu politisch. Aber jetzt, da ich darüber nachdenke – vielleicht könnten Sie mir ein Buch über Bridge empfehlen. Ich würde das Spiel gerne lernen, und ich weiß, dass Sie häufig spielen, Herr Wolf.»
«Ich würde Ihnen mit Freuden eines von meinen eigenen Büchern ausleihen, Mrs. French. Irgendetwas von Terence Reese oder S.J. Simon sollte sich eignen, denke ich.»
«Besser noch, Sie könnten mir eigenhändig Unterricht geben. Ich würde Sie mit Vergnügen für ein paar Privatstunden bezahlen.»
«Ich fürchte, meine Pflichten hier im Hotel würden das nicht erlauben, Mrs. French … Wenn ich es recht bedenke, würde ich sagen, Sie fangen am besten mit Iain MacLeods Bridge Is an Easy Game an.»
Falls sie enttäuscht war, ließ sie es sich nicht anmerken. «Das klingt, als wäre es genau das Richtige. Würden Sie es mir morgen mitbringen?»
«Selbstverständlich. Ich bedaure allerdings, dass ich nicht hier sein werde, um es Ihnen persönlich zu überreichen, Mrs. French. Ich hinterlege es gerne bei einem meiner Kollegen.»
«Sie arbeiten morgen nicht? Wie schade. Ich mag unsere kleinen Plaudereien.»
Ich lächelte diplomatisch und machte einen Diener. «Stets zu Ihren Diensten, Mrs. French.»
Im Bridge nennt man das «Kein Gebot abgeben».
«Na, wenn das keine angenehme Überraschung ist! Nein, so ein Zufall, Sie hier zu treffen!»
Villefranche-sur-Mer liegt nur ein paar Kilometer westlich von Cap Ferrat und ist ein wundersames altes Riviera-Städtchen voller Touristen, die sich an den hohen Mietshäusern, endlosen verwinkelten Treppen und dunklen, steil gewundenen Kopfsteinpflastergassen ergötzen. Es ähnelt ein wenig der gallischen Version von einem Fritz-Lang-Film, voller Schatten und Geheimnisse, voll heikler Weitwinkeleinstellungen, perfekt für einen entwurzelten, polizeilich gesuchten Mann, der im Verborgenen und unter falschem Namen lebt. Und so war es tatsächlich eine Überraschung für mich, vor einer Bar Mrs. French zu begegnen – ausgerechnet, von allen Orten, in der Rue Obscure, die wie eine Krypta komplett von einem Gewölbe überdacht ist und mich stark an das alte Berlin erinnert (was wahrscheinlich der Grund ist, warum ich so gerne dorthin gehe. Allein). Die La Darse Bar ist ein düsterer, heruntergekommener Laden mit Sägespänen auf dem Boden und klebrigen Holztischen, der aussieht, als wäre er seit den Zeiten von Charles V. nicht mehr renoviert worden – doch der offene Rosé, den sie dort in Tonkrügen servieren, ist fast trinkbar; ich bin also relativ häufig dort anzutreffen, falls mich je irgendjemand suchen sollte. Was bis jetzt noch nie der Fall war, und so konnte ich nicht anders, als zu mutmaßen, dass meine Begegnung mit Mrs. French in der Rue Obscure nicht ganz so zufällig war, wie sie behauptete.
Sie trug pinkfarbene Caprihosen, ein dazu passendes Kopftuch, einen weiten schwarzen Pulli und um den Hals eine Perlenkette sowie eine noch kostspieliger aussehende Leica. Es war genau die Sorte von sorglosem, lässigem Look, den zu erzielen Frauen eine ganze Menge Zeit vor dem Spiegel verbringen.
«Wohnen Sie hier in der Gegend, Herr Wolf?», wollte sie von mir wissen.
«So ähnlich, ja. Ich habe eine Wohnung am Quai de la Corderie. An der Strandpromenade.» Ich fragte mich, wer von meinen Kollegen im Grand Hôtel ihr verraten hatte, wo ich wohnte, und noch dazu meine Gewohnheiten, und kam relativ schnell auf Ueli Leuthard, der zum einen mein Boss war und zum anderen, wie ich wusste, mit Mrs. French befreundet.
«Wissen Sie, dass wir fast Nachbarn sind? Mein Haus steht an der Avenue des Hespérides.»
Ich musste grinsen. Mein Haus erinnerte mehr an das örtliche Gefängnis – die Häuser in der Avenue des Hespérides hingegen waren große, stattliche Villen mit mehreren Stockwerken, weitläufigen Gärten und einer teuren, unverbaubaren Aussicht auf das Meer. Uns als Nachbarn zu beschreiben war, wie einen Seeigel mit einem Riesen-Oktopus zu vergleichen.
«Ja, dann ist es wohl so, Mrs. French», sagte ich. «Aber was führt Sie in diese Straße? Sie heißt nicht ohne Grund ‹Obscure›.»
«Ich schieße Fotos, wie alle. Wenn ich nicht schreibe, fotografiere ich. Ich habe sogar einige meiner Fotos verkauft. Und nennen Sie mich doch bitte Anne. Wir sind hier nicht im Grand Hôtel.»
«Das stimmt allerdings. Wissen Sie, ich hätte nicht gedacht, dass hier genügend Licht ist, um Fotos zu schießen.»
«Genau darum geht es bei einem guten Bild. Mit dem verfügbaren Licht zu arbeiten und mit den Schatten. Definition und Bedeutung in Schwarz und Weiß zu finden, wo keine offensichtliche Bedeutung zu erkennen ist. Und vielleicht Licht in ein Geheimnis zu bringen.»
Das klang wie aus dem Mund eines Detektivs.
«Also, wollen Sie mich nicht auf einen Drink einladen?», fragte sie.
«Was denn, da drin?»
«Warum nicht?»
«Wenn Sie je durch diese Tür gegangen wären, wüssten Sie die Antwort auf diese Frage. Nein, lassen Sie uns woanders hingehen.» Ich neigte den Kopf in Richtung ihres Ohrs und sog hörbar Luft durch die Nase ein. «Das ist Mystikum. Ich würde es vorziehen, mich an diesem Duft zu erfreuen – und zwar, weil Sie ihn tragen, nicht weil er den Gestank von Fisch übertüncht.»
«Ich bin beeindruckt, Herr Wolf. Dass Sie mein Parfüm kennen.»
«Ich bin ein Concierge. Es ist mein Job, so etwas zu wissen. Abgesehen davon habe ich den Flakon in Ihrer Handtasche gesehen, gestern Abend, als Sie mir Ihr Buch gezeigt haben.»
«Sie haben scharfe Augen.»
«Nicht für sonderlich viele Dinge, fürchte ich.»
Sie nickte. «Ich habe nichts dagegen, woanders hinzugehen. Es riecht tatsächlich nach Fisch hier.»
«Gut.»
«Wohin wollen wir?»
«Wir sind in Villefranche. Es gibt mehr Lokale und Bars in dieser Stadt als Briefkästen. Was möglicherweise erklärt, warum die Post so langsam ist.»
«Ich habe eine bessere Idee. Warum gehen wir nicht zu Ihnen, und dann geben Sie mir gleich das Bridge-Buch?»
«Ich denke, ich habe Sie vielleicht in die Irre geführt, Mrs. French. Als ich sagte, ich hätte eine Wohnung, meinte ich in Wirklichkeit, es ist ein Hummerkorb.»
«Und Sie sind der Hummer, ja?»
«Wahrscheinlich. Da ist nicht viel mehr Platz als für mich und die Hand eines Fischers.»
«Also schön. Warum gehen Sie nicht nach Hause, holen das Buch und kommen damit zu mir? Avenue des Hespérides Nummer acht. Wir könnten dort einen Drink nehmen, wenn Sie mögen. Das Haus verfügt über einen sehr großen Weinkeller, den ich kaum angerührt habe, seit ich das Haus gemietet habe.»
«Hatte nicht der Garten der Hesperiden einen Baum mit goldenen Äpfeln, die von einem niemals schlafenden hundertköpfigen Drachen namens Ladon bewacht wurden?»
«Wir hatten einen Wachhund, aber der ist gestorben. Ich habe nur einen Kater. Er heißt Robbie. Ich glaube nicht, dass Sie sich wegen ihm sorgen müssen. Aber falls Sie lieber nicht …»
«Die Vorstellung gefällt mir, Mrs. French, also verstehen Sie mich nicht falsch. Wir könnten schnell Freunde werden, aber was, wenn wir uns danach wieder trennen? Sie möchten, dass ich Ihnen Bridge beibringe. Da muss man üben. Hausaufgaben machen. Angenommen, ich würde Ihnen sagen, dass Sie keine fleißige Schülerin sind. Was dann? Angenommen, ich müsste grob werden, weil Sie Ihr Blatt völlig falsch ausspielen? Glauben Sie mir, das ist schon vorgekommen.» Ich zuckte die Schultern. «Es verhält sich einfach so, dass ich wie alle Hummer begierig darauf bin, nicht in heißes Wasser zu geraten. Dem Personal ist es nicht gestattet, sich mit Hotelgästen einzulassen, und ich will meine Stelle nicht verlieren. Es ist kein toller Job, aber es ist alles, was ich im Moment habe. Das Filmgeschäft läuft zäh, seit Alfred Hitchcock die Stadt verlassen hat.»
«Das ist kein Problem. Ich wohne nie im Hotel. Ich hasse es, in Hotels zu wohnen. Ganz besonders in Grandhotels. Es ist sehr einsam dort. Sämtliche Zimmer haben Schlösser an den Türen, und ich finde das klaustrophobisch.»
«Sie sind sehr beharrlich.»
«Ich möchte natürlich nicht, dass Sie sich unwohl fühlen, Herr Wolf.»
Sie war beinahe unmerklich zusammengezuckt. Ich spürte, dass ich der Grund dafür war, und ich fühlte mich schlecht deswegen. Das ist ein Problem, mit dem ich manchmal zu kämpfen habe – ich mag es nicht, wenn sich Leute schlecht fühlen wegen mir, insbesondere nicht, wenn sie aussehen wie Anne French.
«Walter. Bitte nennen Sie mich Walter. Und ja, ich würde liebend gerne zu Ihnen kommen. Sagen wir, in einer halben Stunde? Das lässt mir genügend Zeit, das Buch zu holen und mein Hemd zu wechseln. Das ist für einen Hummer immer noch der schmerzloseste Weg, die Farbe zu ändern.»
«Ich denke, Pink würde Ihnen stehen», sagte sie.
«Meine Mutter dachte das auch, als ich ein Baby war. Bis zu dem Moment, als sie herausfand, dass ich ein Junge bin.»
«Man kann sich kaum vorzustellen, dass Sie Eltern hatten.»
«Ich hatte sogar zwei davon, ob Sie es glauben oder nicht.»
«Ich meinte damit, Sie scheinen ein sehr ernster Mann zu sein.»
«Lassen Sie sich nicht täuschen, Mrs. French. Ich bin Deutscher. Und wie alle Deutschen lasse ich mich leicht vom richtigen Weg abbringen.»
Zu Hause in meiner Wohnung machte ich eine Menge mehr, als nur das Hemd zu wechseln. Ich wusch mich, kämmte mir die Haare und nahm sogar einen Spritzer Pino Silvestre, das ein Gast in seinem Hotelzimmer vergessen hatte. Auf diese Weise komme ich zu einer Menge meiner Sachen. Das Pino roch wie eine Mischung aus Mottenkugeln und Weihnachtsbaum, aber es wehrt Moskitos ab, welche hier unten ein echtes Problem darstellen, und es ist besser als mein natürlicher Körpergeruch, der dieser Tage oftmals ein wenig säuerlich ist.
Mrs. Frenchs Villa lag in einem wunderschönen Garten, bestehend aus Rasenterrassen an einem Hang in den Klippen oberhalb von Villefranche – er sah aus, als hätte ihn jemand aus Babylon erschaffen, der eine Vorliebe für Höhen hat. Das halb rustikale hellrosa gestrichene Stuckhaus besaß einen runden Eckturm und im ersten Stock eine elegante Terrasse mit einer großen Markise. Es gab einen Pool, einen Tennisplatz und ein Gästehaus sowie ein Haus für den Hausmeister mit einem leeren Hundezwinger, der nur wenig kleiner war als meine Wohnung. Ich warf einen Blick auf den Fressnapf und das Körbchen und überlegte, ob ich mich auf die freie Stelle bewerben sollte. Wir saßen auf der Terrasse, dem im Flutlicht liegenden aquamarinblauen Pool zugewandt, und sie reichte mir eine Flasche Tavel, die zur Farbe des Stucks passte und half, den Geruch meines Colognes zu überdecken.
Drinnen war das Haus voll mit Büchern und der Sorte Kunst, die zu sammeln oder zu malen ein Menschenleben dauert, je nachdem, ob man über Geschmack oder Talent verfügt. Da mir beides abging, stand ich lediglich davor und nickte dümmlich, sorgfältig darauf bedacht, mir nicht anmerken zu lassen, dass für mich alles aussah wie Picasso. Was sie durchaus als Kompliment hätte auffassen können – allerdings kann ich Picasso nicht ausstehen. Dieser Tage sahen all seine Porträts genauso hässlich aus wie meine Visage, und es kam mir unwahrscheinlich vor, dass die auch nur von geringstem Interesse sein könnte für eine Frau, die mindestens zehn Jahre jünger war als ich. Ich war mir nicht sicher, was sie im Schilde führte, zumindest noch nicht. Vielleicht wollte sie wirklich, dass ich ihr Bridge beibrachte, doch es gibt Schulen und Kurse dafür und Lehrer, selbst an der Französischen Riviera. Jedenfalls zeigte sie keinerlei echtes Interesse an dem Buch, das ich ihr mitgebracht hatte – es blieb die ganze Zeit unaufgeschlagen auf dem Tisch liegen, während wir eine Flasche leerten und dann eine zweite öffneten.