Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel «A Traitor in the Family» bei Viking, Penguin Random House, UK.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, April 2018
Copyright © 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«A Traitor in the Family» Copyright © 2017 by NJS Creative Limited
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
Redaktion Werner Irro
Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt
Umschlagabbildung Alex Bonney/arcangel
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ISBN Printausgabe 978-3-499-27317-9 (1. Auflage 2019)
ISBN E-Book 978-3-644-30019-4
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-30019-4
Für C, immer
Die in diesem Roman dargestellten Geschehnisse und Figuren sind vollkommen fiktiv. Eventuelle Ähnlichkeiten zwischen seiner Handlung und den Handlungen wirklicher Menschen, einschließlich der Mitglieder gewisser illustrer, ehemals geächteter Organisationen, sind weder beabsichtigt noch rein zufällig, sondern unvermeidlich.
Während ihr Gatte sich anschickte, einen jungen Mann zu ermorden, dem er nie zuvor begegnet war, packte Bridget O’Neill die letzten Taschen für das Weihnachtsfest bei ihren Schwiegereltern.
Die Mince-Pies im Ofen, ihr Beitrag zum Festschmaus, machten ihr Sorgen. Bridgets Schwiegermutter war eine resolute Person, die schnell die Stacheln aufstellte. Grundsätzlich waren Bridgets Mince-Pies nicht so übel. Nie aus Blätter-, sondern stets aus süßem Mürbeteig gemacht und prall von Bridgets selbstgemachter Füllung. Nachdem Bridget jahrelang etwas gesucht hatte, das ihr keine schiefen Blicke und gehässigen Kommentare einbrachte, waren die Küchlein nun beinahe versehentlich so etwas wie Tradition geworden.
Marie O’Neill gab Heiligabend in der Küche stets die Märtyrerin. Sie seufzte geräuschvoll – und tat das gleich noch einmal etwas lauter, wenn sie fürchten musste, man habe sie im Wohnzimmer überhört – und zeigte sich von Zeit zu Zeit mit gerötetem Gesicht und auf der Stirn verklebtem grauem Haar. Das Weihnachtsessen fand bei den O’Neills immer schon an Heiligabend statt, um den nächsten Tag zum Feiern freizuhalten.
Dennoch war Marie O’Neill im Gegensatz zu Bridget alles andere als häuslich. Sie war mit den Entbehrungen des Zweiten Weltkriegs aufgewachsen und hatte auch danach noch schwere Zeiten überstehen müssen; vor wie nach ihrer Heirat hatte sie sich politisch engagiert. Die O’Neills waren eine hartgesottene Familie und Marie eine taffe Frau. Dass Bridget ihr keine Enkel schenkte, schien sie nicht im mindesten zu kümmern. Vor drei Jahren hatte sie ihren Erstgeborenen an die finsteren Mächte Englands verloren, als er in County Tyrone in einen Hinterhalt der SAS geraten und umgekommen war. Wenigstens in Bridgets Gegenwart ließ sie sich jedoch nie auch nur den geringsten Schmerz anmerken. Zäh war sie, kein Zweifel, und wachsam wie ein Luchs.
Während Bridget die Kohlen für die Nacht schaufelte, linste sie immer wieder besorgt zum Ofen. Morgen früh würde sie zu Fuß ins Dorf gehen, um von dort den Bus nach Dundalk zu nehmen. Dafür musste sie um halb sechs aufstehen, da Francis niemals dulden würde, dass sie zu spät zum Treffpunkt käme. Das war weiter nicht schlimm, denn Bridget schlief nur selten gut und saß um diese Zeit oft schon mit einer Tasse Tee in der Küche.
Schließlich klappte sie den Ofen auf. Die Pies sahen ganz ordentlich aus. Den goldbraunen Glanz bekam man mit Mürbeteig zwar nie hin, doch darüber tröstete die krümelig-buttrige Konsistenz hinweg. Die Deckel wölbten sich, ohne dass die Füllung unansehnlich braun über die Ränder triefte. Noch ein paar Minuten auskühlen, dann würde Bridget sie in Backpapier wickeln und in eine Tupperdose packen. Nicht ideal – sie könnten noch etwas mehr Luft vertragen –, aber es ging nicht anders. Es war schon spät, und morgen musste es schnell gehen.
Schmalzige Weihnachtslieder plärrten aus dem Radio, als sie sich dem Stadtrand von Calais näherten, unterbrochen vom eigentümlichen Schnellfeuer-Enthusiasmus der französischen Moderatoren. Thema der Stunde war das erste Weihnachtsfest der beiden Deutschlands seit dem Fall der Mauer. Später gäbe es womöglich anderes zu berichten.
Ein guter Fahrer, dieser John Boy. Umsichtig. Er hielt sicheren Abstand zu den roten Heckleuchten vor ihnen, obwohl andere Fahrer, die es um diese Zeit schon furchtbar eilig hatten, ständig überholten und sich dazwischendrängelten. Geduldig ging John Boy ein ums andere Mal vom Gas und ließ die Lücke wieder größer werden. Pausenlos geschah das, doch John Boy konzentrierte sich unbeirrt auf die Straße. Zu Hause war er Fahrlehrer, und nach den Feiertagen würde er wieder mit derselben Geduld neben jungen Schülern sitzen, die seinen Austin Maestro abwürgten.
Deutschland hatte keine Überraschungen geboten. In aller Ruhe hatten sie den Stützpunkt Rheindahlen ausgespäht, mit dem in Essen gestohlenen Auto. Noch so eins von John Boys Talenten. Auch Brian wusste sich nützlich zu machen. Dank seiner deutschen Mutter war er zweisprachig, sodass er das Reden übernahm. Gute Nerven hatte er obendrein. Obwohl dies sein erster richtiger Einsatz war, bewahrte er ruhig Blut. Francis hatte ihn weit weniger an der Hand nehmen müssen als erwartet.
Vom Stützpunkt hatten sie genaue Pläne gezeichnet und sorgfältig auf Millimeterpapier übertragen, mit veränderter Beschriftung. Aus der Offiziersmesse wurde das Maschinenhaus, aus dem Paradeplatz der Musterungsplatz und so weiter. Alles passte zu ihrer von einem staatlich geprüften Vermesser aus Dublin gedeckten Tarngeschichte. Heute, an Heiligabend, hätte die allerdings ohnehin niemand überprüfen können, denn das Büro des Vermessers war geschlossen. Eine gute Übung war es allemal.
Mit Hilfe seiner Sprachkenntnisse und seines jugendlichen Charmes hatte Brian ein Häuschen im Taunus aufgetan, das sie ganz nach Bedarf mieten konnten. Ohne Papierkram, bar auf die Hand. Ein Glücksfall, meinte Brian, wurde Bürokratie in Deutschland doch gewöhnlich groß geschrieben. Entdeckt hatte er das Haus in den Kleinanzeigen einer Frankfurter Lokalzeitung. Der Besitzer hatte es von seinem Vater geerbt und war besorgt wegen der Steuer. Sie einigten sich, dass Brian im neuen Jahr anrufen sollte, sobald seine Pläne zur Vogelbeobachtung festere Gestalt annähmen. Von den britischen Stützpunkten war das Haus genau richtig entfernt. Die drei konnten sich zurückziehen und ausruhen, dank der Autobahnen aber auch im Nu ihre Ziele erreichen.
Sie stellten den deutschen Opel in Nimwegen ab und fanden rasch einen großen, unauffälligen Ford, der ihren Zwecken genügte. Damit fuhren sie zum Hafen von Calais.
Es war zwanzig vor fünf und noch immer stockfinster. Perfekt, dachte Francis, da kommen die Streber, die früh zu Hause sein wollen. Sie näherten sich dem Wartebereich zur Einschiffung, und John Boy parkte in der Nähe der Zufahrt lässig rückwärts ein. Außer ihnen war kaum jemand da. Während der Motor tickend abkühlte, stieg in Francis die Spannung. In allen dreien. Konzentriert spähten sie in die Finsternis, als hielten sie Ausschau nach Sinn, nicht nach Bedrohungen. Francis kurbelte das Fenster herunter und ließ den Blick über den nassen Asphalt schweifen. Flutlicht erhellte die Hauptzufahrt bei den Zoll- und Tickethäuschen, die bald für die 6.30-Uhr-Fähre öffnen würden. Weiter hinten rollten Lastwagen mit heulenden Motoren aufs Schiff.
In der Nähe hörte Francis englische Stimmen. Die Leute aus drei Autos standen beisammen und ließen eine Thermosflasche herumgehen. Kinder rannten aufgeregt im Kreis und in Achtern um die Autos und die Erwachsenen. «Schaut auf die Straße», rief einer der Väter. Doch die Gefahr war gering. Vielleicht neun Autos verteilten sich über die riesige Fläche, einschließlich dem von Francis, John Boy und Brian.
Ein kleiner Nissan fuhr auf den Parkplatz und hielt ein Stück von den anderen Fahrzeugen entfernt. Das Lenkrad war rechts, das Nummernschild exakt, wonach sie suchten. Drei Buchstaben, zwei Ziffern, hinten ein B. Britische Streitkräfte in Deutschland.
Der Fahrer stieg aus und streckte sich. Auf der Beifahrerseite klappte seine Frau den Sitz vor und angelte ein in einen leuchtend blauen Schneeanzug gepacktes Baby vom Rücksitz. Vielleicht ein Jahr alt, dachte Francis. Der Mann ließ auf seiner Seite ein mürrisches kleines Mädchen aussteigen. «Daddy, ich hab Hunger», quengelte die Kleine. Vermutlich etwa vier.
Auf dem Rücksitz seufzte Brian.
Francis drehte sich zu ihm um. «Alles okay?»
«Ja», antwortete Brian leise, angespannt und mit blitzenden Augen.
Francis nickte John Boy zu, worauf der den Motor anließ. Gleichzeitig stiegen Francis und Brian aus dem Wagen und schlossen leise die Türen. Sie blickten sich um. Offenbar hatte niemand sie bemerkt. Sie nickten einander zu und zogen die Sturmhauben übers Gesicht.
Gemächlich, Brian einen Schritt hinter Francis, näherten sie sich der Familie mit dem Nissan. Francis konzentrierte sich voll auf sie; Brian sollte sich umsehen und Francis vor möglichem Ärger warnen. Der junge Soldat sah asiatisch aus. Für Francis machte das keinen Unterschied.
Das Mädchen bemerkte ihn als Erste. Aus großen braunen Augen blickte sie ihn an. Obwohl sein Gesicht unter der Sturmhaube verborgen war, setzte Francis unwillkürlich ein beruhigendes Lächeln auf. Er hielt die Pistole in der Hand, spürte, wie Brian sich umdrehte, um nach hinten zu sichern, genau, wie sie es geübt hatten.
Es lief völlig undramatisch ab. Francis schob das Mädchen brüsk beiseite, schritt auf den Soldaten zu und setzte ihm, noch ehe er reagieren konnte, die Mündung an die Schläfe. Er drückte ab, hörte den üblichen, stets etwas enttäuschenden, trockenen Knall. Im Freien war das immer so. In geschlossenen Räumen klang es ganz anders. Den Rückschlag allerdings, den spürte er, wie er durch die angespannte Hand jagte, entlang des gestreckten Arms über Schulter und Hals ins Hirn – ein Hochgefühl, von dem ihm die Augen blitzten. Aus der anderen Seite des Soldatenkopfs spritzten wie erwartet Hirnmasse und Blut, dann sackte der Mann zusammen. Erledigt.
Francis blickte zu der Frau mit dem Baby. Sie starrte ihn mit offenem Mund an, und er bemerkte ihr schmutzig blondes Haar. Er zuckte die Achseln, was eher Machtlosigkeit als Gleichmut ausdrücken sollte.
Bei den anderen Autos war Tumult ausgebrochen. Ein paar Männer rannten auf sie zu. Doch da war schon der Ford, und Francis und Brian stiegen in aller Seelenruhe ein. John Boy fuhr an, schnell, aber nicht hektisch. Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte kurz vor fünf.
Den Weg zur Autobahn hatten sie vorher ausgekundschaftet. Keine vier Minuten später waren sie auf der A26 nach Südosten unterwegs.
Brian wiederholte unablässig: «Scheiße, scheiße, scheiße, scheiße.» Langsam wurde das lästig.
«Alles okay, Bri?», fragte Francis.
«Scheiße», kam die Antwort.
John Boy warf einen Blick in den Rückspiegel, sagte jedoch nichts. Er fuhr einfach gelassen weiter, hatte nur Augen für die Straße.
«Das erste Mal ist immer am schwersten», sagte Francis. «Müssen jetzt die Köpfe unten halten.»
«Hab’s mir nicht so vorgestellt. Scheiße.»
«Tut keiner. Ist immer ein Schock. Du kommst drüber weg. Wir müssen uns an den Plan halten. Kriegst du das hin?»
«Glaub schon», sagte Brian.
«Wenn nicht, sag’s lieber gleich.» Francis und John Boy hofften, derartige Komplikationen blieben ihnen erspart.
«Doch, wird schon», versicherte Brian.
«Gut. Keine Sorge. Ist ganz normal. Nimmt dir keiner übel.»
Zwei Stunden lang sprachen sie kaum ein Wort, nur das Autoradio lief. Als die Nachrichten zum ersten Mal etwas darüber brachten, waren sie schon fast am Bahnhof Villepinte. Dort angekommen, zogen Francis und John Boy ihre Overalls und Stiefel aus, packten sie in den Koffer auf dem Rücksitz zu den bereits darin verstauten Sturmhauben, Waffen und Handschuhen und schlüpften in normale Schuhe. Brian hielt unterdessen Ausschau nach neugierigen Passanten.
Francis zog die Krawatte zurecht und kämmte sich, prüfte, ob er Pass, Geldbeutel und Ticket auch wirklich eingesteckt hatte. Dann nickte er Brian zum Abschied zu und betrat mit John Boy den Bahnhof. Brian würde das Auto zu der vorher ausgewählten abgelegenen Lichtung bei Eindhoven bringen, den Innenraum mit Benzin aus dem Kanister hinterm Vordersitz begießen und es in Brand stecken. Dann würde er knapp drei Kilometer zu Fuß zum nächsten Bahnhof gehen, den Elf-Uhr-Zug nach Düsseldorf nehmen und dort problemlos seinen Anschlusszug nach Stuttgart erwischen. Weihnachten würde er auf dem Bauernhof seiner deutschen Großeltern verbringen, wo er außerdem die Klamotten verbrennen und die beiden Pistolen verstecken sollte.
Francis und John Boy spazierten in den Bahnhof und kauften am Automaten Tickets zum Flughafen Charles de Gaulle. Brüssel wäre von Calais aus einen Tick näher gewesen, aber der Flughafen war kleiner, und es gab weniger Flüge nach Irland. Im Terminal warteten sie schweigend in der Schlange und checkten als Michael Brennan, staatlich geprüfter Vermesser, und dessen Kollege Patrick O’Leary für den Flug um 8.45 Uhr mit Aer Lingus nach Dublin ein. Besondere Sicherheitsmaßnahmen fielen ihnen nicht auf.
In Dublin wurden sie von einem Fahrer abgeholt. Auf der Autobahn ging es nach Norden. Bei Dundalk, wo Bridget O’Neill ihren Mann mit den Koffern erwartete, fuhren sie ab. John Boy stieg aus, Bridget ein, und die Fahrt ging weiter nach Belfast. Dort würden sie Weihnachten mit Francis’ Eltern verbringen, in dem kleinen Reihenhaus in einer Seitenstraße der Falls Road, in dem er aufgewachsen war. Um halb zwölf kamen sie dort an, sodass Francis noch Zeit für eine Tasse Tee mit seiner alten Ma blieb, bevor er, den Nachbarn seiner Eltern freundlich zuwinkend, zu Finnegan’s Bar schlenderte. In der Bar zeigte er sich in lautstarker Höchstform, spendierte Leuten Pints, die er seit Jahren nicht gesehen hatte. Die Spitzel, die sich mit Sicherheit in der Bar aufhielten, sollten nicht umhinkommen, seine Anwesenheit zu bemerken. Zweifellos würde er auch den einen oder anderen von ihnen auf ein Bier einladen.
Weihnachten verlief hier völlig anders als zu Hause. Ein dehnbarer Begriff war das: Zuhause. Bridgets Zuhause war ja wohl der Ort, an dem Francis und sie die vergangenen acht Jahre gelebt hatten, das kalte, immer leicht feuchte Häuschen außerhalb des Dorfs, mitten im Grün der Border Counties. Wo die Räuber hausten, wie es hieß. Doch da ihr Mann eine Art Räuberhauptmann war, hatte sie wohl Glück. Für Bridget allerdings bedeutete Zuhause – wie, so nahm sie an, für viele Frauen ihres Alters, die im Leben weder Frieden noch Zufriedenheit gefunden hatten – immer noch ihr Elternhaus, obgleich sie sich auch dort oft eingesperrt gefühlt hatte.
Als Bridget noch klein gewesen war, hatte ihre Mutter vormittags immer das Weihnachtsessen zubereitet, während ihr Vater teilnahmslos auf seinem Sessel vor dem Fernseher saß: Prominente, die in knalligen Pullovern Kinderkliniken besuchten, und Trickfilm-Wiederholungen. Bridget und ihre Schwester durften ihre Geschenke auspacken, dann mussten sie das Papier ordentlich entsorgen und ihrer Mutter beim Gemüseschälen helfen. Um halb zwölf ging der Vater ins Pub, das es im Ort damals noch gab, und Bridget wartete mit Mutter und Schwester darauf, dass die Großeltern mütterlicherseits von der anderen Seite des Dorfs herüberkamen; er mit leuchtenden Augen und einem Lächeln, dass ihre Mutter immer für etwas idiotisch hielt, sie allzeit bereit, an allem herumzumäkeln. Manchmal kam auch Bridgets Tante aus dem Süden zu Besuch, mit ihrem schweigsamen Mann, den zwei Söhnen – einer in Bridgets Alter, der andere zwei Jahre jünger – und allerlei Geschichten vom süßen Leben in Arklow. Zu einem Gegenbesuch in deren geräumigem Einfamilienhaus kam es nie.
Das Leben war so anders gewesen, damals, es ließ sich fast nicht mehr erinnern, dabei ging es bloß um die späten Sechziger, kurz vor diesen finsteren Zeiten, die offenbar nie enden wollten. South Armagh hatte fernab allen Trubels gelegen, vom Leben bloß gestreift, noch nicht belagert. Und das war nicht etwa bloß die Verklärung einer Kindheit, die es so nie gegeben hatte. Die Gegenwart war ein erbitterter Kampf, ringsum belauert von unsichtbaren Augen.
Irgendwann kehrte ihr Vater damals dann immer aus dem Pub zurück, war weniger streitlustig als sonst und zeigte sich von seiner besten Seite, und man ging zum Ritual eines feierlichen, stillen Mahles über. Waren die Gäste fort und der Abwasch erledigt, sah man gemeinsam fern.
Aus diesen Erinnerungen wurde Bridget von ihrer Schwiegermutter gerissen, die im Wohnzimmer Hof hielt, Cola-Rum trank und theatralisch wie ein Filmstar an ihrer Zigarette zog.
«Ich schwöre, ich trink euch Mannsbilder alle unter den Tisch», grölte Marie O’Neill und fuchtelte mit dem Finger.
«Ja doch, sicher», erwiderte ein Nachbar, dessen Namen Bridget nicht wusste. «Mit dir legt sich keiner an, Marie.» Er lachte, fast ein wenig boshaft.
«Du kannst mich mal, Desmond», schnappte sie und rutschte von der Sofalehne fast auf den Schoß von Norman aus Haus Nummer sechs.
«Liebend gern», johlte Desmond zurück, «jederzeit.»
«Im Leben nicht. Keine Chance. ‹Wärst du auf der Welt der einz’ge Mann und ich die einz’ge Frau …›», trällerte sie, «dann würd ich mir ’n Strick nehmen!» Sie lachte schallend.
Die ersten Weihnachten mit den O’Neills hatten Bridget einigermaßen geschockt. Mit den Jahren hatte das ein wenig nachgelassen. Übrig blieb blankes Unbehagen, das man ihr bestimmt deutlich ansah, egal, wie sehr sie lächelte. Und doch schien niemand etwas aufzufallen. Gut möglich, dass sie viel zu beschäftigt damit waren zu trinken, zu johlen, zu singen, einander zu begrapschen und zu streiten, um Bridgets nervöse Blicke zu bemerken. Oder sie war eine bessere Schauspielerin, als sie glaubte.
Wo ihr Schwiegervater steckte, konnte Bridget sich schon denken: die Straße runter, bei den Shaughnessys. Der Blick, den er mit Pauline Shaughnessy gewechselt hatte, kurz bevor diese aufgebrochen war, war Bridget nicht entgangen. Marie hatte ihn ganz sicher auch bemerkt, genau wie sie heute Vormittag bemerkt hatte, dass Sean ihr, Bridget, auf der dunklen Treppe an die Brust grapschte und sie ihn stumm abwehrte. Kurz hatte sie daran gedacht, Francis davon zu erzählen, doch der fände nur wieder eine Ausrede, um seinem Vater nicht die Stirn bieten zu müssen. «Ist doch nur Alberei zu Weihnachten, Bridget. Entspann dich.» So viel zu ihrem tapferen fenischen Krieger.
Bridget bemerkte, wie Liam ihre Bemühungen beobachtete, auf ihrem Hocker ganz im Eck des kleinen Zimmers voller Menschen nicht gar so unsicher zu wirken. Bei ihrer ersten Begegnung mit der Familie war Francis’ kleiner Bruder noch ein Kind gewesen. Inzwischen war er ein charmanter junger Mann, auch wenn Francis meinte, er gebe sich mit den falschen Leuten ab und habe daher Ärger mit den Jungs. Liam war ein Beobachter, und Bridget fühlte sich ihm merkwürdig verbunden. Sie erwiderte seinen Blick mit scheuem Lächeln, woraufhin er sich derart unbeeindruckt abwandte, dass sie nicht einmal mehr sicher war, ob er sie wirklich angesehen hatte.
Wie jeder wusste, war Liam das schwarze Schaf der Familie und die Schande der ganzen Straße. Mit seinen großen Brüdern hatte er nichts gemein, er war keiner von den Jungs, sondern bloß ein gewöhnlicher Krimineller. Kaum jemand verbarg seine Geringschätzung oder die Sorge, er könnte einem jederzeit einen Fünfer aus der Tasche stibitzen. Doch Bridget mochte ihn.
Die O’Neills hatten Truthahn und Plumpudding schon am Vorabend gegessen und hinterher die Mitternachtsmette in St. Ethelburga’s besucht. Bevor sie dorthin aufgebrochen waren, hatten sie aus den Fernsehnachrichten erfahren, dass Private Singh, der am Vormittag in Calais von der IRA niedergeschossen worden war, nicht tot war, sondern an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen im Koma lag. Die Berichte waren unklar. Möglich, dass man ihn in ein Militärkrankenhaus nach England verlegte, sobald sein Zustand stabil wäre, möglich, dass er dauerhaft im Wachkoma blieb. Sean O’Neill hatte Francis von der Seite angegrinst, doch der hatte bloß leicht gelangweilt gewirkt. Gesprochen hatte niemand.
Bald nach den von Marie als «nicht schlecht» befundenen Mince-Pies hatte Bridget gesehen, wie Liam eine dünne Jacke überzog und mit verstohlenem Blick über die Schulter aus der Tür schlüpfte wie ein unartiger Hund, der sich vor Strafe fürchtete. Nun bereitete er seinen nächsten heimlichen Aufbruch vor.
Francis saß auf dem Sessel in Gentleman Joes Büro und trank Whisky. Joe lehnte sich hinterm Schreibtisch auf dem Stuhl zurück und betrachtete versonnen sein Glas, die offene Flasche vor sich. Kenny, Joes Geldeintreiber, stand an der Tür.
«Scheiß Weihnachten», sagte Kenny.
«Danke, ebenfalls frohe Feiertage, Kenny», erwiderte Joe. «Entspann dich. Wir brauchen alle mal eine Pause. Und es ist ein Höhepunkt des Kirchenjahres, nicht wahr, Francis?»
«Glaub schon», sagte Francis.
«Du glaubst schon», wiederholte Joe nachdenklich. «Na, ich glaube, ich glaube das auch.»
Zwei Jahre war es her, dass die Prods – die Protestanten – Joe Geraghty erwischt hatten. Auf dem Rückweg von einem Altenheim bei Dunmurry, in dem ein ehemaliger Freiwilliger aus den Vierzigern seinen Lebensabend zubrachte, war sein Auto in einen Hinterhalt geraten. Wenn Kenny was getrunken hatte, erzählte er davon oft lebhaft, doch zugleich professionell abgeklärt. Er hatte am Steuer gesessen, Colm Hawley auf dem Beifahrersitz. Colm war einer der Vordenker der Bewegung gewesen, sechsfacher Vater und Fürsprecher einer politischen Lösung, da der bewaffnete Kampf seiner Ansicht nach in eine Sackgasse führte. Abgesehen hatten es die Prods allerdings auf Joe, den dicken Fisch, und sie waren offenbar bestens informiert. Gut bewaffnet lagen sie im Hinterhalt, ein gestohlener Lastwagen blockierte die Straße. Kenny riss das Auto rutschend herum, sodass es zurück zur M1 zeigte, und schrie Joe an, er solle in Deckung gehen. Die Kugeln zerbarsten die Heckscheibe und blieben in den Vordersitzen stecken. Kenny war getroffen worden und blutete stark, behielt aber gerade noch die Kontrolle über das Fahrzeug und fuhr weiter. Colm war in sich zusammengesunken – tot.
Francis hatte zu den Männern gehört, die ausgesandt worden waren, um Rache an den beiden von Joes Sicherheitsteam identifizierten Schützen zu üben. Reine Routine, sobald sie wussten, wo die Drecksäcke ihr Bier tranken. Francis sollte draußen Schmiere stehen, während Mikey Sullivan und Peter Boyle sie kaltmachten. Ein zweites Team wurde ausgeschickt, um den Spitzel zu schnappen, der den Bullen von der Royal Ulster Constabulary von Joes Plänen erzählte hatte. Der Kerl endete in einem Straßengraben bei Newtonards. Die Nachricht überbrachte man Kenny ans Krankenhausbett, als kleinen Trost. Gott weiß, was Colms Frau davon hielt. Der Spitzel war nur allzu gern bereit gewesen, die Namen seiner Kontaktleute bei der RUC preiszugeben, die nun in Joes schwarzem Büchlein standen.
Seit damals galten Joe und Kenny als unzertrennliches Paar. Kenny war der Nörgler in der Beziehung.
«Weihnachten konnte ich noch nie leiden», sagte er.
«Was quatschst du da schon wieder für einen Unsinn?», sagte Joe. «Genug jetzt. Hast du nichts Besseres zu tun, als dich zu beklagen? Geh und mach dich irgendwo nützlich. Francis und ich haben was zu besprechen.»
«Ja, Boss», sagte Kenny und blickte in sein Glas, als berechnete er, mit wie vielen Schlucken er es leeren könnte.
«Wenn du so weitermachst, feiert man dich irgendwann als Helden», wandte Joe sich an Francis. «Ein Prinz bist du ja heute schon.»
«War nur ein Job», erwiderte Francis. «Sonst nichts.»
«Aber du bist gut darin. Warte mal … Kenny, machst du bitte die Tür hinter dir zu?»
«Ja, Boss», gehorchte Kenny.
«Also, Francis. Der Soldat ist noch am Leben.»
«Tut mir leid, Joe. Ich dachte, er sei erledigt.»
«Nein, nein, keine Sorge. Wie hättest du das wissen sollen? Fast besser so. Jetzt bleibt er mindestens ein paar Tage in den Schlagzeilen. Schafft er’s, schafft er’s nicht? Ziehen sie den Stecker? Nein, nein. Könnten gar nicht zufriedener sein, die Jungs und ich. Ich soll dir in aller Form gratulieren. Kommt von oben. Von ganz oben. Du wirst noch mehr Arbeit bekommen, so viel ist klar.»
«Danke, Joe. Das bedeutet mir viel. Aber sag mal …»
«Was gibt’s?»
«Ich hab mich gefragt …»
«Ja?»
«Ich müsste mal ein bisschen raus. Bloß zwei Wochen.»
«Hm, ja. Ging dir nahe, was? Verstehe ich.»
«Nein, das nicht. Aber … Ich bin zu einer Hochzeit eingeladen.»
«Ach so. Und?»
«Tony Simons und Cheryl Maguire. Früher hatte ich mit denen viel zu tun.»
«Ja, da klingelt was. Leben die nicht irgendwo im Ausland?»
«Genau.»
«Verstehe. Amerika, hm?»
«Nein. Singapur.»
«Ah ja. Und sie wollen den Bund fürs Leben nicht zu Hause schließen?»
«Nein, Joe.»
«Soso.»
«Jedenfalls dachte ich …»
Joe Geraghty schüttelte den Kopf. «Schwierig, schwierig, Francis. Wirklich heikel. Du weißt ja, was ich allen Freiwilligen immer sage, besonders so wichtigen wie dir. Ihr müsst euch von jedem Verdacht reinhalten. Dürft keinem der Jungs einen Grund geben, an euch zu zweifeln. Der Kampf –»
«Ich weiß, Joe. Der Kampf hat Vorrang. Aber ich hab mich gefragt …»
«Ob ich ein Auge zudrücken könnte. Knifflig. Wenigstens willst du nicht nach Amerika. Das käme auf keinen Fall in Frage. Aber trotzdem …»
«Ich werde nicht betteln, Joe.»
«Das würde dir auch nichts nützen. Lass mich nachdenken.» Er blickte von seinem Glas zur Flasche und entschied sich dagegen, etwas nachzuschenken. «Pass auf, Francis, wir machen das so. Mir wäre es lieber, du würdest einfach hierbleiben. Aber das wirst du nicht, stimmt’s?»
«Nein.»
«Gut. Dann bleibt das unter uns, ja? Die Entscheidung liegt bei mir, aber ich müsste es melden. Und wir wissen beide, was dann los wäre. Das Exempel ist das Problem. Wenn bekannt wird, dass ich dich weglasse, was ist dann mit dem Nächsten, der fragt?»
«Ist klar, Joe.»
«Dann behalten wir’s also für uns. Nicht mal Kenny.»
«Geht in Ordnung.»
«Ich decke dich. Wenn ich was höre, sage ich, du seist in meinem Auftrag unterwegs.» Er blickte nachdenklich drein. «Muss ich mir eben irgendeine Räuberpistole aus den Fingern saugen. Aber das lass mal meine Sorge sein. Wie klingt das?»
«Großartig, Joe. Danke.»
«Sag nicht, ich sei nicht großzügig, Francis O’Neill.»
«Würde ich nie.»
«Natürlich nicht. Geld brauchst du keins?»
«Bisschen mehr schadet nie. Aber es reicht. Den Flugpreis kratze ich schon irgendwie zusammen.»
«Ich sehe mal, ob ich für den letzten Job ein bisschen was extra für dich auftreiben kann. Ich kümmere mich schließlich um meine Jungs, oder nicht?»
Über fünfzehn Jahre war es nun her, dass Francis’ Vater ihn im Club stolz dem großen Gentleman Joe Geraghty vorgestellt hatte. Francis, der damals noch ein Teenager gewesen war, erinnerte sich an jenen Tag – und die folgende Rekrutierung – lebhaft und mit Schaudern.
«Doch, Joe.»
«Gut, dann sei diskret. Sag niemandem, wann du gehst und wiederkommst. Niemandem, hörst du? Die Leute haben dich im Auge, denk dran, und nicht bloß unsere. Ich will nicht zu umständlichen Erklärungen gezwungen sein, falls dich unterwegs jemand sieht. Verstanden?»