Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel «Greatest Hits» bei Weidenfeld & Nicolson, UK.
Zitat aus Virginia Woolf, «Mrs. Dalloway». Aus dem Englischen von Kai Kilian. Anaconda Verlag, Köln, 2013
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juli 2018
Copyright © 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«Greatest Hits» Copyright © 2017 by Laura Barnett
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Redaktion Johanna Schwering
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Umschlagillustration Holly Wilmeth, Getty Images
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ISBN Printausgabe 978-3-499-27323-0 (1. Auflage 2019)
ISBN E-Book 978-3-644-30020-0
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-30020-0
Natürlich für Andy
Jeder Song ist ein Leben. Diese Songs sind die Erinnerungen.
STEVIE NICKS
Man singt nicht, um sich besser zu fühlen. Man singt, um das Leben zu verstehen.
AUGUST WILSON, Ma Rainey’s Black Bottom
Also war’s gar kein Misserfolg!, es würde alles in Ordnung kommen – mit ihrer Gesellschaft. Es hatte angefangen. Es war in Gang gekommen. Doch noch stand es auf der Kippe.
VIRGINIA WOOLF, Mrs. Dalloway
Der Tag hat langsam und sanft begonnen, tastet sich vorsichtig herauf. Der Morgen ist noch voller Dunstschleier, schmale Nebelbänder ziehen sich zum blassblauen Himmel hinauf. Die tiefstehende Sonne verspricht schon einen warmen Tag, sorgt aber vorläufig nur für lange, dunkle Schatten.
In Cass Wheelers Garten, den eine hohe Trockensteinmauer gegen die Tunbridge Road abgrenzt, sind zwei schlanke Füchse mit ihren schmalen Raubtiergesichtern aus ihrer Höhle hinter dem Schuppen herausgekommen und haben sich auf einem sonnenbeschienenen Rasenfleck zusammengerollt. Vor der schmalen Sackgasse, die zu Cass’ Haus führt, bleibt ein Mann, der erst seit kurzem im Dorf wohnt, beim Spaziergang mit seinem Hund einen Moment lang stehen. Das Schild mit dem Namen des Hauses, Home Farm, ist von dichten Efeuranken beinahe verdeckt. Kurz schimmert eine unbestimmte Erinnerung in dem Mann auf. Dann geht er weiter und versenkt sich wieder in die stets wechselnden Sorgen des Augenblicks, von seinem Hund wie von einem Schatten gefolgt.
Cass hat nichts von alldem mitbekommen. Sie hat ihren Wecker überhört und sich nur widerstrebend aus dem Schlaf gelöst, ist noch im verschwommenen Bild eines Traums gefangen. Irgendein Saal – nicht besonders groß, vielleicht eine Schulaula. Glänzendes Parkett und der Geruch von Kreide. Schwarze Kunststoffstühle, zu erwartungsvollen Reihen aufgestellt. Vom metronomartigen Ticken einer Wanduhr gleichmäßig zerteilte Stille. Das beklemmende Gefühl, dass sie eigentlich anderswo sein müsste, etwas anderes tun, aber sie weiß nicht, wo und was es ist.
Wieder klingelt der Wecker. Sie schlägt die Augen auf und verabschiedet sich von dem geisterhaften Bild des Saals. Hier ist ihr Schlafzimmer, hier steht ihre Frisierkommode, und hier spürt sie die Wärme ihres Katers Otis, der sich mit sanftem Druck gähnend zu ihren Füßen rekelt. Hier fühlt sie das kühle Kopfkissen an ihrer Wange. Es ist noch nicht lange her, da ruhte dort morgens Larrys Kopf, und wenn er aufwachte, drehte er sich um und zog sie an sich. Sie gab sich dann entzückt der Fremdheit seines schlanken Körpers hin, seinen warmen Händen, nachdem sie so viele Jahre allein geschlafen hatte, allein aufgewacht war.
Sie denkt: Wo ist Larry?
Sie denkt: Chicago.
Sie denkt: Ich könnte den Tag heute doch canceln, oder? Einfach liegen bleiben. Mir die Bettdecke über den Kopf ziehen und schlafen.
Und dann denkt sie: Nein. Du hast schon viel zu viel geschlafen. Heute ist der Tag, an dem du wieder aufwachst.
Unten in der Küche kocht sie sich Kaffee. Macht sich einen Toast. Dann steht sie kauend am Fenster – noch immer hat sie die Stimme ihrer Mutter im Ohr: «Setz dich jetzt endlich hin, man könnt ja meinen, du wärst im Stall geboren» – und beobachtet zwei Füchse auf dem Rasen, die mit ihren schwarzen Nasen und den langen Schwänzen in einem schwachen Sonnenstrahl dösen. Einer von ihnen hebt den Kopf und begegnet ihrem Blick. Schaut gleichmütig aus dunklen Pupillen. Es liegt etwas eigenartig Menschliches in seinem Blick, denkt Cass. Sie wendet sich ab und trinkt ihren Kaffee. Als sie sich wieder umdreht, sind beide Füchse verschwunden.
Kim hat einen Zettel auf die Küchentheke gelegt, sie muss ihn geschrieben haben, als Cass schon im Bett war. Kim war zum Abendessen geblieben und hatte Lasagne gemacht. Wie oft habe ich ihre Lasagne schon gegessen, denkt Cass, und trotzdem werde ich ihrer niemals überdrüssig. Wobei: An einem der schlimmsten Tage hat Cass eine Auflaufform mit Lasagne aus dem Kühlschrank geholt und den Geruch so widerlich gefunden, diese schleimige, schwabbelige Pampe, dass sie ihn plötzlich nicht mehr ertrug. Sie hat die Schale fallen und die ganze Sauerei samt Scherben liegen lassen. Kim wischte später alles einfach nur kommentarlos auf. Heute können sie darüber lachen – so wie gestern Abend, als Kim zwei Teller mit der dampfend heißen Speise auf den Esszimmertisch gestellt hat.
«Die zerdepperst du aber nicht, oder, Cass?», hat sie gefragt, und Cass hat ihnen beiden ein Glas Wein eingeschenkt und mal wieder gespürt, wie lieb und teuer ihr Kim ist: diese Frau, die so viel gesehen hat und nie davor zurückgeschreckt ist. Die Cass’ Anblick auch dann noch ertrug, als er Cass selbst unerträglich geworden war.
Hoffentlich hast du gut geschlafen, hat Kim geschrieben. Ich bin so gegen drei zurück. Falls du mich brauchst, ich hab mein Handy an. Callum ruft um zehn wegen des Masters an – er versucht es übers Festnetz im Studio. Die Caterer kommen um fünf, aber um die kümmere ich mich. Ansonsten hast du deine Ruhe. Genieße es, Cass, okay? Lass dir Zeit. Alles Liebe, Kim.
Lass dir Zeit. Take your time. Das ist doch ein Song, oder? Cass meint beinahe, ihn zu hören, als käme er aus einem leise klingenden Radio. Ein tiefer, wabernder Akkord und eine Männerstimme. Take your time, girl, it’s only you and me. Wer hat das noch mal gesungen? Ivors eindringlicher Tenor ist es jedenfalls nicht. Sie schließt die Augen. Die Antwort drückt sich in einem abgelegenen, verschatteten Winkel ihres Gehirns herum. So ist es inzwischen häufig: Die bunten Farbfotos im Gedächtnis verblassen zu Sepiabraun, und sie muss die Erinnerungen mühsam hervorlocken. Take your time, girl. Verdammt, sie kann es nicht greifen.
Cass knallt ihren Becher auf die Anrichte, und kalter Kaffee schwappt über. Otis, der am Fenster sitzt und sich methodisch putzt, wirft ihr einen geringschätzigen Blick zu.
Vergiss es, denkt Cass. Wahrscheinlich war der Song sowieso nicht gut.
Als sie sich in ihrem Schlafzimmer anzieht, ist die Antwort mit einem Mal da.
Ein schmuddeliger Pub, die Wände gespickt mit Zierplaketten, an den Tischen finster dreinblickende Männer über Biergläsern. Ein Sänger mit Gitarre, blasses, schmales Gesicht, lange Locken. Dicht neben Cass Ivors Körper. Und dann seine Stimme an ihrem Ohr: Wir sind als Nächste dran, Cassie. Schön ruhig bleiben.
Aber sie war furchtbar aufgeregt gewesen und hatte gespürt, wie die Angst mit jedem Schluck Alster ihre Kehle hinunterschwappte. Wenn der Song von dem Typen doch nur ewig dauern würde! Take your time, girl, hatte er gesungen, und am liebsten hätte sie gesagt: Nein, lass du dir Zeit – spiel einfach immer weiter und hör niemals auf. Aber er hatte aufgehört, und da hatte Ivor ihr die Hand auf die Schulter gelegt, und sie hatte nach ihrer Gitarre gegriffen. Die Gäste, die Tische und die Wände mit den Zierplaketten, alles wirkte verzerrt und schien sich im Kreis zu drehen, und Cass wäre am liebsten davongelaufen. Aber Ivor hatte sie sanft vorwärtsgeschoben, und der Dicke mit dem schwarzen Kinnbart hatte sein Bier abgestellt und war auf die Bühne getreten.
«Leute: Ivor Tait und Cass Wheeler», hatte er verkündet, und dann hatte es kein Zurück mehr gegeben.
Was hatten sie an jenem Abend gespielt? Sie erinnert sich nicht mehr. Wahrscheinlich Scarborough Fair. Oder vielleicht auch irgendwas von Joan Baez, falls sie sich besonders mutig gefühlt hatte. Am Ende hatte sich ihre Angst jedenfalls in Luft aufgelöst, wie fast immer, wenn sie sich auf den Hocker setzte und die Wölbung der Gitarre auf dem Knie spürte. Und Ivor an ihrer Seite, seine Stimme verwoben mit ihrer eigenen.
Cass schlüpft in ihre Schuhe. Mein Gott, was habe ich ihn geliebt, denkt sie.
Sie zieht die Vorhänge auf, um den Morgen hereinzulassen. Auf der anderen Seite des Gartens reflektieren die gestuften Glas- und Betonflächen des Studiodachs das Sonnenlicht und werfen längliche Muster auf den Rasen. Sie hat das Studio selbst entworfen und maßstabsgetreu auf Millimeterpapier gezeichnet. Bei der Durchsicht dieser Pläne hatte der Architekt Cass über den schwarzen Rahmen seiner Brille hinweg gemustert und «beeindruckend» gesagt.
Anna – damals zehn Jahre alt, mit zu weit auseinanderstehenden Vorderzähnen und zerzaustem Haar, die Knie unter den abgeschnittenen Jeans so mager, dass die Knochen knubbelig herausstanden – hatte gesagt: «Toll, Mum. Das sieht aus wie das Raumschiff Enterprise.»
Cass bleibt einen Augenblick am Fenster stehen, eine Hand haltsuchend auf die Frisierkommode gelegt. Unten auf dem Rasen kommt einer der Füchse hinter dem Schuppen hervor und hebt die Schnauze witternd in die Luft.
Cass denkt: Jetzt bin ich so weit.
Im Studio ist es kühl und ruhig, nur das stete elektronische Summen der Monitorlautsprecher stört die Stille. Callum und Gav haben den Aufnahmeraum ordentlich hinterlassen: aufgerollte Kabel und zusammengelegte Mikrophonständer. Weder Bierflaschen noch Aschenbecher stehen herum – aber die sind hier ohnehin kaum mehr zu sehen. Nicht einmal Gav trinkt viel. Sein einziges Laster besteht darin, sich im Laufe jeder Session durch ein Päckchen Golden Virginia Light zu qualmen. Cass hat in den letzten Monaten den Anblick seiner Silhouette hinter der Schiebetür zur Terrasse liebgewonnen, die Hand um die dünne, selbstgedrehte Zigarette gewölbt.
Die Computer im Regieraum stehen stumm da, das Mischpult schläft. Daneben liegt ein Zettel auf der Arbeitsplatte, Notizen in Callums eckiger, kindlicher Handschrift. When Morning Comes – Cello im Übergang zum Refrain 3 dB lauter. Gethsemane – Coda leiser wiederholen, dann ausfaden. Javier: LEISER.
Cass lächelt. Er ist tüchtig, dieser Callum: sorgfältig, behält alles im Blick. Alan hatte ihn ihr für die neue CD vorgeschlagen: Callum Sutherland habe selbst schon so einigen Dämonen in die Augen gesehen.
«Dämonen?», hatte sie gefragt und bei der Vorstellung gelächelt. Sie sah teuflisch grinsende Unholde mit peitschenden Schwänzen.
«Na ja.» Alan hatte zurückgelächelt. «Du weißt schon, was ich meine.»
Ja, Cass hatte genau gewusst, was er meinte. Und als Alan ihn zum Abendessen mitbrachte, konnte sie es sofort sehen. Callum war achtunddreißig und auf eine verwegene Art gut aussehend. Er war mit drei Grammys sowie einem glänzend neuen Producer of the Year Award ausgezeichnet worden.
Seine letzte Produktion war für ein amerikanisches Pop-Starlet gewesen – oder wie auch immer man die heute nannte. Auf dem Cover der CD war sie in einem hautengen weißen Catsuit abgebildet. Bei diesem Anblick war es Cass nicht gelungen, ihren Abscheu zu verbergen.
«Ich weiß, was du denkst», sagte Callum. «Aber sie hat mehr drauf, als du meinst. Sie weiß, was sie will, und sie zieht ihr Ding durch. Und du hättest mal ihre Stimme hören sollen, bevor ich mit ihr im Studio war.»
Cass inhalierte den Rauch ihrer Zigarette. «Wenigstens bist du ehrlich.»
«Immer», gab er zurück. «Das hab ich auf die harte Tour gelernt.»
Beim Kaffee hatte sie Callum zu ihrer nächsten Bandprobe eingeladen. Und ein paar Tage später hatte sie zu Alan gesagt, dass Callum vielleicht wirklich der Mann sei, den sie suche. Ein Mensch, der sie selbst feinfühlig behandeln würde und ihre neuen Songs erst recht.
«Okay», hatte Alan geantwortet und mit betonter Lässigkeit das Handy aus der Hosentasche geholt. Heutzutage war er wie mit diesem Ding verwachsen – er sagte, er könne sich überhaupt nicht mehr vorstellen, wie er es früher, ohne Handy, jemals geschafft habe, irgendjemanden oder irgendetwas zu managen. Und doch war man so lange Zeit wunderbar ohne dieses ganze Zeugs ausgekommen. Briefe, Telegramme und Ferngespräche, LPs, Hitparaden und junge Menschen, die vor Schallplattenläden Schlange standen. Heute lebten die Leute in einer anderen Welt. Wie hatte Callum noch mal Cass’ eigene Zeit genannt? Eine analoge Welt. Dahin gehörte sie. Sie hatte keinen Schimmer, warum diese glänzende, neue Welt irgendetwas mit ihr und ihrer Musik anfangen können sollte.
Als sie zusah, wie Alans dicke, schwielige Finger mit unverhoffter Anmut über das Display des Smartphones tanzten, spürte sie, wie diese Angst wieder in ihr aufstieg und an Macht gewann: Was, wenn keiner sie mehr brauchte, wenn sie völlig überflüssig geworden war? Wenn ihre neuen Songs, die so leise und schüchtern in ihr aufgestiegen waren, dieses unerwartete, kostbare Geschenk, im derben, rücksichtslosen Lärm der Jugend einfach untergehen würden?
Sie hatte nichts davon laut ausgesprochen, doch Alan hatte sie angeschaut und war ihrem Blick begegnet.
«Du musst das nicht machen, Cass», sagte er leise. «Keiner zwingt dich. Die Greatest Hits und auch die neuen Songs – das eilt doch alles nicht. Und wenn du nicht willst, lässt du es komplett bleiben. Es liegt ganz bei dir.»
Sie hatte seinen Blick festgehalten, eine Sekunde lang, zwei und noch eine dritte.
«Nein», hatte sie dann gesagt. «Ich möchte das machen. Ich brauche es, Alan.»
In der Tür des Regieraums bleibt Cass einen Augenblick stehen. Alan und Kim haben alles für sie vorbereitet: der Stapel Schallplatten auf dem Tisch, die Mineralwasser-Flaschen ordentlich aufgereiht im Kühlschrank und die sauberen Becher, die zum Anwärmen auf der Kaffeemaschine stehen. Auf den Schallplatten entdeckt Cass noch einen Zettel von Kim. Viel Spaß. Wie gesagt, lass dir Zeit. Alles Liebe.
Daneben liegt ein quadratischer weißer Umschlag. Cass öffnet die Lasche mit dem Finger und holt eine Hochglanzkarte mit dem Foto einer Skulptur von Henry Moore heraus. Zwei sitzende Frauen. Neben einer von ihnen steht ein kleines Kind, das die Hand auf den Oberschenkel der Mutter gelegt hat. Innen eine Nachricht in Larrys übergroßer, kantiger Handschrift: Finde heute einen Weg, ihr zu verzeihen. Vielleicht findest du dann einen Weg, dir selbst zu verzeihen.
Er muss die Karte bei Kim zurückgelassen oder sie aus Chicago geschickt haben. Cass steht mit der Nachricht in der Hand reglos da und ruft sich Larrys Gesicht vor Augen. Er war der Erste, dem sie von der Idee erzählt hatte, die allmählich in ihrem Kopf herangereift und schließlich zu einem festen Entschluss geworden war. Sie trage sich mit dem Gedanken, parallel zu dem neuen Material ein Greatest-Hits-Album zu veröffentlichen, erzählte sie ihm. Nicht die offensichtlichen Erfolge – so eine Platte hatte ihr Label längst herausgegeben. Vielmehr die Werke, die ihr selbst am meisten bedeuteten. Lieder, die den Bogen ihres Lebens nachzeichneten.
Sie hatten nach dem Essen nebeneinander auf der Couch im Wohnzimmer gesessen und gemeinsam eine Flasche Pinot Noir getrunken. Es war ein Abend im Oktober gewesen, und sie hatten die Lampen noch nicht eingeschaltet: Die Farben verflüchtigten sich mit jeder Minute stärker, und die Schatten wurden dunkler, aber sie waren beide so vertieft in das Gesicht des anderen gewesen, dass sie es gar nicht bemerkt hatten.
Sie hatte Larry von der Idee erzählt, all ihre Songs an einem einzigen Tag anzuhören und dann die Auswahl zu treffen. Die Schlichtheit dieses Plans gefiel ihr. Kein Theater, nichts Feierliches, einfach nur ein begrenzter Zeitraum, der dem Akt des Zuhörens gewidmet sein würde. Und am Abend eine Party. Sie hatte alte Freunde, Musiker, Journalisten eingeladen – Weggefährten, denen sie die neuen Songs vorstellen wollte, so wie sie auch sich selbst nach so vielen Jahren des Rückzugs wieder neu vorstellen musste.
Sie hatte Larry gesagt, sie wolle das, wolle das alles, und trotzdem habe sie auch Angst davor. Angst vor dem, was sie aus der Vergangenheit heraushören würde: aus diesen Songs, mit deren Klängen sie so zuversichtlich ihr Verständnis all dessen in Form gefasst hatte, das sich letztlich als nicht verständlich erwies. Sie hatte Angst davor, dem Pfad zu folgen, der sie mit Sicherheit zu all dem führen würde, was geschehen war. Zu allem, was sie gewonnen, und zu allem, was sie verloren hatte.
Larry hatte die ganze Zeit aufmerksam und stumm zugehört. Als er spürte, dass sie alles gesagt hatte, hatte er sein Glas geleert, sich vorgebeugt und sie in den Arm genommen. Sie hatten einander gehalten, zwei einsame, alte Menschen, die sich in der Dunkelheit fest umarmten. Und Cass hatte begriffen, dass das die einzige Antwort war, die sie gebraucht hatte.
Und nun, an diesem klaren, frischen Aprilmorgen, legt Cass Larrys Karte vor dem LP-Stapel auf den Tisch. Sie nimmt die oberste Schallplatte herunter, legt sie auf den Plattenteller und macht sich bereit zum Zuhören.
By Cass Wheeler
From the album The State She’s In
It was early morning when she left
And the city under a grey sky was still sleeping
A note left on the table lying flat
Held the secrets she’d been keeping
We have no common ground, my love
We have no common ground
So I am leaving with the dawn, my love
And I never will be found
Ooooooooooooooooooooooo
Crossing that dirty green London common
As the sky turned from grey to blue
A suitcase, a long distance airfare
And a life to start living new
We have no common ground, my love
We have no common ground
So I am leaving with the dawn, my love
And I never will be found
Ooooooooooooooooooooooo
released September 1971
recorded June 1971 at Union Studios, London NW10
genre Folk rock
label Phoenix
writer(s) Cass Wheeler
producer(s) Martin Hartford
engineer(s) Sean O’Malley
Sie wurde als Maria Cassandra Wheeler im hinteren Schlafzimmer des Pfarrhauses geboren, das am Rand eines kleinen Parks stand, gegenüber der hohen weißen Kuppel der Kirche, zu der es gehörte.
Es war April 1950. Während der drei furchtbaren Tage, in denen sie in den Wehen lag, betrachtete Margaret, die Mutter des Babys, die Blüten, unter denen die Zweige des Apfelbaums vor dem Fenster sich bogen, und betete um Erlösung von diesen Qualen. Doch als ihr Wunsch endlich in Erfüllung ging, war der Preis dafür hoch: Da lag ein kleines, hässliches Geschöpf mit feuchtem Kopf. Es hatte rote Flecken und verzog das Gesicht.
«Ihre Tochter», sagte die Hebamme und legte Margaret das warme Bündel in die Arme.
«Sie ist wunderschön», sagte Margaret, aber das dachte sie keineswegs. Sie schloss die Augen. All diese Qualen für das da.
Francis, der Pfarrer, nahm seiner Frau das Neugeborene aus den matten Armen.
«Cassandra», sagte er leise. So hatte seine Mutter geheißen, und er hätte diesen Namen gerne an seine Tochter weitergegeben, doch ein christlicher Taufname erschien ihm passender. Das wurde zweifellos von der Gemeinde erwartet. Einige ihrer weiblichen Mitglieder waren jetzt gerade unten, kochten Tee und taten all die rätselhaften Dinge, die bei solchen Anlässen Frauensache waren. Lebhafte, geschäftige Frauen und Mütter, ein ganzer lärmender, plappernder Schwarm mit Hüten auf dem Kopf. Vor drei Tagen, als Margarets Prüfung begonnen hatte, hatten sie darauf bestanden, dass er sich in sein Arbeitszimmer zurückzog.
«Sie brauchen sich nicht die geringsten Sorgen zu machen, Reverend», hatten sie wie aus einem Munde gesagt. Aber wie könnte er sich keine Sorgen machen? In sein Zimmer verbannt, tigerte er zwischen den Wänden hin und her, während die Schreie seiner Frau durch den dicken Teppichboden zu ihm heraufdrangen.
Jetzt aber war sie da: seine Tochter. Gesund und wohlbehalten – auch wenn er ihre Gesichtsfarbe ein wenig beunruhigend fand. Das Baby bewegte sich und schlug die Augen auf.
Hallo, Kleines, sagte er lautlos, und er spürte etwas, worauf er nicht wirklich vorbereitet gewesen war: zunächst natürlich Liebe – heftiger und instinktiver als seine Liebe für Margaret, obgleich auch die ihre eigene, ganz besondere Würze hatte. Und klarer und konzentrierter als seine Liebe zu Gott. Aber da war auch Angst. Die entsetzliche Furcht, dass er allein nicht stark genug sein würde, dieses Kind zu beschützen.
«Ich lege die Kleine jetzt schlafen, Reverend», sagte die Hebamme, und Francis blickte überrascht zu ihr auf. Einen Augenblick lang hatte er ganz vergessen, dass sie da war. «Ihre Frau muss sich jetzt ausruhen.»
«Natürlich.» Er übergab ihr seine Tochter, und obgleich das Gewicht des Kindes so leicht gewesen war, kamen ihm seine Arme plötzlich überflüssig vor. «Ich gehe hinunter. Es sind Frauen da …» Er verlor den Faden, da ihm nicht recht klar war, wieso deren Anwesenheit erforderlich war. «Falls Margaret irgendetwas braucht.»
«Jawohl, Reverend.» Die Hebamme wandte sich bereits ab. «Wir schaffen das schon, nicht wahr, kleine Maria?»
Cassandra, dachte er, seiner Gemeinde einen Augenblick lang untreu, und verließ das Schlafzimmer. Sie heißt Cassandra. Und dann ging Francis wieder in sein Arbeitszimmer hinunter, wo eine noch unfertige Predigt auf ihn wartete.
Maria wuchs rasch heran. Mit sechs Monaten krabbelte sie und mit zehn zog sie sich überall hoch und stand dann auf unsicheren Beinchen da.
Der Schlaf war ihr verhasst – sie widersetzte sich allen Bettgehzeiten und fand in dem Maße, wie ihre motorischen Fähigkeiten es zuließen, immer einfallsreichere Mittel, aus ihrem Bettchen zu entkommen und ihre Mutter zum Aufstehen zu zwingen. Margaret – halb wahnsinnig vor Erschöpfung und ihrer geheimen Qual – verlor zunehmend die Geduld mit ihrer Tochter. Sie ließ vor der Kinderzimmertür einen Riegel anbringen und legte ihn vor, sobald sie das Kind zu Bett gebracht hatte.
«Geh nicht hin, Francis», sagte Margaret, wenn sie nachts von dem weinenden Kind geweckt wurden, das mit seinen winzigen Fäustchen an die verschlossene Tür hämmerte. «Das wächst sich aus.»
Meistens vergrub Francis den Kopf tiefer in den Kissen und folgte ihrem Wunsch. Aber in den frühen Morgenstunden ertrug er es manchmal nicht länger, und dann schlich er aus dem Schlafzimmer über den Flur. Wenn er die Tür öffnete, stand seine Tochter heiser und erschöpft da, die Wangen nass von Tränen. Dann nahm er sie auf den Arm wie damals an jenem ersten Aprilmorgen, ging vor dem Fenster, dessen Vorhang zugezogen war, mit ihr auf und ab und erzählte ihr die Geschichten, die er dumpf aus seiner eigenen Kindheit in Erinnerung hatte. Mogli im Dschungel mit dem Panther Baghira oder Tom, der Schornsteinfeger, der in den Fluss fiel und von da an bei den Ottern im Schilf lebte.
Maria beruhigte sich jedes Mal und sah ihn an. Diese Minuten in der Nacht – sein eigenes, leises Flüstern, die aufmerksamen Augen seiner Tochter und ihre winzigen Händchen, die sich wie die Knospen einer eigenartigen, exotischen Pflanze öffneten und schlossen – wurden Francis so kostbar, dass er manchmal selbst dann zu ihr ging, wenn sie gar nicht weinte.
Auch tagsüber konnte Maria nicht still sitzen. Ihre frisch gewaschenen Kleidchen waren nach wenigen Stunden schmutzig, voller Grasflecken (nur zu gerne wälzte sie sich auf der Rasenfläche vor der Kirche herum) oder mit ausgespucktem Essen verkleckert. Wenn man sie in der Kirche sich selbst überließ, rannte sie im Kirchenschiff herum, warf die bestickten Kniekissen auf den Boden und lallte den lauten, unartikulierten Gesang ohne Wörter, der sie seit dem Alter von elf Monaten überallhin begleitete.
«Sie ist die reinste Wilde, Francis», sagte Margaret. «Sie bringt mich zur Verzweiflung.»
Und so war es. Auch die Damen aus der Kirchengemeinde äußerten ihre Sorge und schickten fast jeden Morgen eine Abordnung zum Pfarrhaus, die darauf bestand, sich ein paar Stunden um Maria zu kümmern, «damit die arme Margaret sich einmal ausruhen kann».
Unter der Obhut der Gemeindedamen war Maria wie ausgewechselt. Die meisten von ihnen waren selbst Mütter und selbstbewusste, tüchtige Hausfrauen. Ganz anders als Margaret, deren lang gehegte Sorge, ihr könne ein entscheidender Bestandteil des Mutterinstinkts fehlen, sich mit jedem Tag mehr bestätigte. Wenn diese Frauen sich um Maria kümmerten, saß sie still und in ein Spiel versunken da: ein Abakus, eine Puppe, eine Kiste voll Bauklötze. Manchmal brachten die Frauen auch ihre eigenen Kinder mit, und dann spielten sie zusammen – Maria und der andere Knirps, der an diesem Tag gerade dabei war.
«Sehen Sie», sagten die Frauen dann. «Mit ihr ist alles in Ordnung. Sie braucht einfach nur andere Kinder zur Gesellschaft. Wenn sie vielleicht ein Brüderchen oder ein Schwesterchen bekäme …»
Aber die Ankündigung einer zweiten Schwangerschaft blieb aus. Insgeheim hegten die Damen den Verdacht, dass es auch niemals dazu kommen würde. Es gab Gerüchte, dass es in der Ehe des Reverends nicht gut lief und dass er und Margaret getrennte Betten hatten. Das stimmte nicht – das freie Schlafzimmer wurde nicht benutzt und blieb Gästen vorbehalten, aber selbst der kleinen Maria (die ein solches Wissen natürlich noch nicht in Worte kleiden konnte) war klar, dass das Glück in dieser Ehe fehlte. Und auch Margaret selbst entzog sich: Die Mutter schien vor ihrer Tochter zurückzuschrecken und überhaupt kein Interesse an ihr zu haben. Und so ergriff Maria die Initiative, um dieses Interesse zu wecken – forderte es auf die einzige Weise ein, die ihr zur Verfügung stand.
Als Mrs. Harrison eines Morgens mit einer frischen Tasse Tee aus der Küche des Pfarrhauses zurückkehrte, musste sie feststellen, dass ihr Sohn Daniel, den sie gerade erst zum Spielen neben Maria gesetzt hatte, aus Leibeskräften brüllte. Auf seiner Wange zeichnete sich ein roter Fleck ab, der unverkennbar zeigte, dass Maria ihn gebissen hatte. Das war zu viel: Mrs. Harrison rief die Pfarrersfrau aus dem Schlafzimmer. (Margaret schlief dort nicht, sie lag einfach nur still da, sah zu, wie die Schatten über die Decke wanderten, und fragte sich, wie viel länger sie dieses Leben überhaupt noch ertragen könnte. Es muss doch irgendwo noch etwas anderes für mich geben, dachte sie. Etwas Besseres.)
Unten angekommen, stellte Margaret ihre Tochter zur Rede. «Hast du Daniel gebissen, Maria?»
Das Kind stand wie erstarrt da, den Blick auf seine Mutter gerichtet, die dunklen, reuigen Augen weit aufgerissen, voller Fragen, für die sie noch keine Worte hatte: Warum spielst du nie mit mir? Warum fasst du mich nie an? Was ist verkehrt mit mir? Was mache ich falsch?
Margaret trat vor und verpasste ihr mit der rechten Hand eine kräftige Ohrfeige.
«Du bist ein böses kleines Fräulein», sagte sie. «Und ich wünschte, ich hätte dich nie geboren.»
Im Zimmer herrschte einen Augenblick Stille – das Mädchen, auf dessen Haut sich bereits ein greller roter Fleck ausbreitete, riss erschrocken den Mund auf. Daniel reckte verwirrt die Arme nach seiner Mutter, die vollkommen verstummt war. Dann heulte Maria los, Daniel schloss sich an, und Margaret machte auf dem Absatz kehrt, rannte nach oben und schlug die Tür krachend hinter sich zu.
Als Francis später von der Abendandacht nach Hause kam, fragte er seine Frau, was mit dem Gesicht ihrer Tochter geschehen war.
«Ich habe sie geschlagen, Francis», antwortete Margaret. «Soll ich dir vielleicht etwas anderes vorspielen?»
Die Lage schien sich zu verbessern, als Maria in die Schule kam. Es gefiel ihr dort, und jeden Morgen trippelte sie widerspruchslos zu dem imposanten viktorianischen Gebäude mit den hohen, schmalen Fenstern davon, in dem immer der Geruch von Bohnerwachs und der Dunst von gekochten Karotten hing.
Sie hatte eine Lehrerin namens Miss Meller, die jung, blass und nervös war und mit einer leisen, melodischen Stimme sprach. Als einmal die Flaggen der Länder der Welt auf dem Unterrichtsplan standen, erzählte Miss Meller der Klasse, dass sie nicht in England geboren war, sondern in einem weit entfernten Land namens Polen.
Die Kinder dachten darüber nach.
«Warum sind Sie dann hier?», fragte ein Junge. Er hieß Stephen Dewes. Maria fand ihn doof und langweilig. Er trug immer einen ordentlich gebügelten Blazer, und einmal hatte er in die Erzählstunde eine Stabheuschrecke mitgebracht. Ein ganz schön blödes Haustier, hatte Maria gedacht. Wenn ich ein Haustier haben dürfte, wäre es ein Tiger.
«Der Krieg», antwortete Miss Meller, und dabei sah sie so unglücklich aus, dass selbst Stephen Dewes – dessen Onkel, wie so viele, im Krieg geblieben war – klug genug war, nicht weiter nachzuhaken.
Fortan war Maria von Miss Meller fasziniert. Von ihren rot geränderten Nasenlöchern (sie schien stets erkältet zu sein) und von den feinen Fäden, die aus den Ärmeln ihrer Strickjacke heraushingen. Miss Meller trug das Haar in einem Knoten, der den Tag immer oben auf dem Kopf begann und dann langsam, der Schwerkraft gehorchend, nach unten wanderte, bis er zu Beginn des Nachmittagsunterrichts auf dem Kragen auflag. Sie mochte «Kunst» – sie sprach das Wort stets mit großartiger Emphase aus – und gab den Kindern große Bogen dicken, rauen Papiers, auf die sie ihre Familie, ihr Haustier oder Ereignisse aus den Ferien malen sollten.
Maria malte Tiger, Fähren nach Frankreich und eine lächelnde Phalanx von Brüdern und Schwestern.
«Aber du hast doch gar keine Geschwister», sagte Irene. Sie war sechs und hatte drei Brüder und einen Hamster namens Hammy. Sie war Marias beste Freundin.
«Egal», antwortete Maria. «Es muss ja nicht wahr sein.»
«Sie ist sehr kreativ», berichtete Miss Meller Margaret in der Elternsprechstunde. «Aber sagen Sie – neigt sie dazu, Dinge zu erfinden?»
Zu Hause packte Margaret Maria an diesem Abend am Handgelenk und führte sie vor den Spiegel in der Eingangsdiele.
«Siehst du dieses Gesicht, Maria?», fragte sie. «Das ist das Gesicht einer Lügnerin. Einer ungezogenen, kleinen Lügnerin. Lass dich von mir nie wieder bei einer Lüge erwischen.»
Die Hand der Mutter lag wie eine Klaue um Marias Arm. Maria begann zu weinen, und der Spiegel warf ihr unglücklich verzerrtes Gesicht zu ihr zurück: schmutzig blondes Haar und braune Augen, die unter dem ungleichmäßig geschnittenen Pony in Wasser schwammen. Als die Mutter sie losließ, floh sie nach oben ins Bett. Dort grub sie sich unter der Bettdecke ein Nest und weinte, bis keine Tränen mehr kamen. Danach holte sie ihren Malblock hervor und zeichnete ein Flugzeug, das mit den Flügelspitzen einem blauen Band Himmel und einem riesigen, lachenden Sonnenball entgegenstrebte.
Von da an zog Maria es vor, ihre Geschichten für sich zu behalten.
Irene lebte in einem Haus auf der anderen Seite des kleinen Parks. Es war bescheidener als das Pfarrhaus und besaß nur ein einziges Obergeschoss. Zwei von Irenes Brüdern teilten sich ein Kinderzimmer, und Irene und ihr dritter Bruder – Max, neun Jahre alt und immer matschverschmiert – schliefen in einem Stockbett. Ihr Vater arbeitete in einem Büro, und ihre Mutter war hübsch und freundlich. Wenn sie ihnen nachmittags eine Teemahlzeit herrichtete, setzte sie die beiden Mädchen auf die Anrichte und fragte sie, was heute in der Schule dran gewesen sei.
«Rechnen», antworteten sie dann oder «Rechtschreibung». Dann fragte Irenes Mutter gerne einmal, welches Fach ihnen das liebste sei. Irene antwortete immer: «Lesen», und Maria unabänderlich: «Kunst.»
Irenes Mutter besaß ein Klavier. Es stand im Wohnzimmer, das gelb gestrichen und nie wirklich aufgeräumt war. Bevor Irenes Vater am Abend nach Hause kam, durften die Mädchen sich manchmal aufs Sofa setzen, und dann spielte Irenes Mutter ihnen etwas vor.
Maria liebte dieses Zimmer: Sie liebte die Farbe der Wände, die ihr so vorkam, als hätte man das Sonnenlicht eingefangen und festgehalten. Sie liebte das etwas Unordentliche, das daher kam, dass Spielsachen auch einmal liegenbleiben durften. Und den braunen Kaminvorleger, der so dick und weich war wie ein Bärenfell und auf dem Irene und sie sich manchmal herumwälzen durften wie auf einem Flecken warmem Gras.
Mehr als alles Übrige aber liebte sie es, das Klavier von Irenes Mutter zu hören. Es klang ganz anders als das verstaubte Instrument, das der Kirchenorganist Mr. Raynsford in der Sakristei stehen hatte, und auch ganz anders als der Stutzflügel, auf dem die alte Mrs. Farley das Schulsingen begleitete. Irenes Mutter spielte keine Kirchenlieder, wie Maria sie kannte. Irenes Mutter spielte Musik ohne Worte. Musik, die aufstieg, dem Himmel entgegen, und dann zu nichts verklang. Musik, die wie von selbst aus ihren Fingern zu strömen schien, wenn diese über die Tasten glitten.
Wenn ihre Mutter spielte, wurde Irene oft unruhig. Sie zappelte auf dem Sofa herum oder beugte sich zu Maria hinüber und flüsterte ihr ins Ohr: «Komm, gehen wir nach oben und spielen mit Hammy.»
Aber Maria schüttelte den Kopf. «Nein, ich höre zu.»
Wenn Irenes Mutter geendet hatte, blieb sie manchmal noch ein paar Augenblicke mit geneigtem Kopf sitzen, an den kühlen Holzkörper des Klaviers gelehnt. Dann hätte Maria sie am liebsten gebeten, noch etwas zu spielen. Aber Irene wollte ein Eis, oder einer ihrer Brüder erschien in der Tür, und dann erhob sich Irenes Mutter vom Klavier und klappte den Deckel zu. Maria blieb mit einem eigenartigen Gefühl des Verlusts zurück, das zu begreifen sie noch zu klein war.
Eines Nachmittags wartete Maria auf Irene, die losgelaufen war, um die Puppen aus ihrem Kinderzimmer zu holen. (Sie besaß vier. Jede hatte eine andere Frisur und andere Kleider, und normalerweise erlaubte Irene Maria, mit der zweithübschesten von ihnen zu spielen, einem blauäugigen Blondschopf namens Sylvia.) Maria stand im Flur und betrachtete das Klavier durch die offene Tür des Wohnzimmers.
Plötzlich, ohne dass sie auch nur begriff, wie es dazu kam, trat sie ins Zimmer, klappte den Klavierdeckel auf und legte ihre kleine Hand gespreizt auf das kühle Elfenbein der Tasten.
Zunächst drückte sie sie aus Angst, dass man es hören könnte, nicht herunter – die Kinder durften das Klavier nicht anfassen und auch nicht allein ins Wohnzimmer gehen. Aber plötzlich schienen ihre Finger sich wie von selbst zu bewegen, und aus dem Bauch des Instruments drang ein verworrener Klangfetzen.
Maria sprang zurück. Irene, die mit den Puppen hereinlief, japste erschreckt: «Was machst du da?»
Und dann kam auch Irenes Mutter. Sie ging zum Klavier und klappte sanft den Holzdeckel zu.
Maria war zurückgetreten und wartete auf Schelte, aber Irenes Mutter beugte sich zu ihr hinunter und ergriff ihre Hand. «Ich hatte dich gebeten, das Klavier nicht anzufassen, Maria. Aber ich sehe, dass es dich zu ihm hinzieht. Möchtest du, dass ich dir das Spielen beibringe? Bei Irene und den Jungs habe ich es versucht, aber alle fanden es langweilig und haben aufgegeben.» Zu Irene gewandt, fügte sie hinzu: «Nicht wahr, mein Schatz?»
Irene zuckte mit den Schultern und machte ein verdrossenes Gesicht.
«Möchtest du das gerne, Maria?», fragte Irenes Mutter erneut. Sie hielt noch immer ihre Hand. Maria nickte, und in diesem Augenblick war sie von einer so reinen und innigen Liebe zu Irenes Mutter erfüllt, dass sie wünschte, sie könnte immer und ewig in dem gelben Zimmer bleiben, die warme Hand dieser Frau in ihrer.
«Dann müssen wir deine Mutter um Erlaubnis bitten, wenn sie dich abholen kommt», sagte Irenes Mutter, und Maria sank der Mut. Gewiss würde ihre Mutter nein sagen. Und tatsächlich, als Margaret um sechs Uhr kam – sie begrüßte ihre Tochter kaum und wartete in der Eingangsdiele ungeduldig darauf, dass sie gehen konnten –, versuchte sie genau das.
«Also, das ist sehr nett von Ihnen, Mrs. Lewis», sagte Margaret. «Aber ich denke, mit Ihren vielen Kindern haben Sie genug anderes zu tun, oder?»
Maria schlug das Herz bis zum Hals.
«Oh, sicher, da ist immer viel los», antwortete Irenes Mutter leichthin. «Und ich kann nicht versprechen, dass ich aus Maria die nächste Myra Hess mache. Aber ich werde ihr ein paar Tonleitern beibringen. Falls es ihr Spaß macht, könnten Sie ja später vielleicht darüber nachdenken, ihr eine richtige Lehrerin zu suchen?»
Margaret lächelte müde. «Nun, wie gesagt, das ist sehr nett von Ihnen. Danke für das Angebot, falls Sie sich wirklich sicher sind, dass Sie die Zeit dafür aufbringen können.»
Als Margaret sie an diesem Abend zu Bett gebracht hatte, stellte Maria sich vor, nicht ihre eigene Mutter ginge über den Teppich davon und machte die Tür hinter sich zu, sondern Irenes Mutter: die Frau mit dem süßen Duft und der kühlen Haut, die wie eine Schleppe die leisen, perlenden Töne des Klaviers hinter sich herzog.
Maria beobachtete ihren Vater gern in der Kirche. Er kam ihr dort wie ein ganz anderer Mensch vor als der, der er zu Hause war, wo er mit Pantoffeln an den Füßen dasaß, die Lesebrille auf der Nase, und sich in den Daily Telegraph vertiefte. Im Gesicht hatte er den freundlich verwunderten Ausdruck, den er immer aufsetzte, wenn ihre Mutter in der Küche herumpolterte und -klirrte oder wenn sie in unnachgiebiges Schweigen verfiel und stundenlang reglos hinter der geschlossenen Schlafzimmertür ruhte.
Die Atmosphäre im Pfarrhaus wechselte mit Margarets unvorhersehbaren Stimmungen. Es gab auch Wochen, in denen sie jeden Morgen mit einer Melodie auf den Lippen erwachte und schwungvoll und tüchtig herumwirbelte. Dann pflügte sie sich durch Tage, die von Terminen und Pflichten bestimmt waren: das Treffen der Blumenschmuck-Gruppe, die Betgruppe der Frauen und die Versammlung des Kirchengemeinderats. In dem von den mütterlichen Stimmungsschwankungen dominierten Pfarrhaus wirkte Marias Vater verschwommen und nicht recht fassbar: ein stiller Mensch, der seine Frau beobachtete, wie man ein Tier im Auge behält, dessen Reaktionen man nie mit Sicherheit vorhersehen kann.
In der Kirche aber war Francis ganz anders. Hier wirkte er viel größer. An Sonntagen trug er ein weißes Chorhemd über der schwarzen Soutane und dazu eine weiße Stola mit goldenen Enden – er hatte Maria die korrekten Bezeichnungen beigebracht und ihr die Gewänder gezeigt, die gestärkt und mit festgestecktem Kragen in der Sakristei hingen. Sie beobachtete ihn, wie er durchs Kirchenschiff einzog, den Kopf zum Altar hin erhoben, über dem das große Nordfenster bunte Lichtsplitter auf die Gemeinde herabregnen ließ, und dann spürte sie Stolz in ihrer Brust.
Wenn er von der Kanzel sprach, war seine Baritonstimme klar und voll, und die Gläubigen blickten lauschend zu ihm auf. Maria, die mit den anderen Kindern aus Mrs. Harrisons Sonntagsschule in die Kirche geführt worden war, stand dann neben dem Bogenportal zur Kapelle, beobachtete ihren Vater und war überzeugt, dass er ganz allein zu ihr sprach.
Bewusst konnte sie sich nicht an die Nächte erinnern, in denen Francis sie als brüllendes Bündel mit rot geweintem Gesicht aus dem Bettchen gehoben hatte und mit ihr auf und ab gegangen war und ihr Geschichten erzählt hatte, die sie noch nicht verstand. Aber er las ihr immer noch gerne vor, selbst jetzt, da sie schon acht Jahre alt war und sich mit Begeisterung stundenlang selbst in Bücher vertiefte. Doch das Vorlesen war eine besondere Zeit, die nur Maria gehörte: Nach dem Nachmittagstee und den Hausaufgaben rief Francis sie zu sich in sein Arbeitszimmer, machte die Tür hinter ihnen zu und nahm das jeweilige Buch, das gerade dran war, aus dem Regal. Es waren Bücher für Erwachsene: Große Erwartungen von Charles Dickens, Die neununddreißig Stufen von John Buchan oder Die Pilgerreise von John Bunyan. Er las ihr vor, bis Maria fast die Augen zufielen und ihr Kopf gegen seine Brust sank, obgleich sie sich nach Kräften bemühte, sich nicht dem Sog des Schlafs zu ergeben.
Manchmal machte Margaret die Tür auf, blieb darin stehen und beobachtete sie.
«Ich verstehe nicht, warum du dir die Mühe machst, Francis», sagte sie dann. «Für diese Bücher ist sie doch noch viel zu klein. Sie versteht kein einziges Wort.»
Natürlich verstehe ich das, hätte Maria am liebsten gerufen, doch ihr Vater sagte nur milde: «Es bereitet mir ebenso viel Vergnügen wie dem Kind, Margaret. Lass uns nur.»
Einmal während einer dieser Vorlesestunden wagte Maria, ihrem Vater in dem kurzen Moment des Schweigens, der beim Umblättern einer Seite entstand, eine Frage zu stellen: «Warum mag Mummy mich nicht?»
Francis blickte auf sie hinunter, die Augen ehrlich und klar.
«Was für eine Frage, Cassandra», sagte er (er verwendete manchmal ihren zweiten Vornamen, wenn sie allein waren, und Maria betrachtete das als eine Art Privatcode). «Sie ist deine Mutter. Natürlich mag sie dich. Sie liebt dich. Aber sie empfindet die Dinge tiefer als die meisten Menschen. Ihre Haut ist … dünner. Sie ist nicht so stark wie andere, und so müssen wir für sie stark sein. Verstehst du das?»
Maria verstand es nicht, nickte aber und sagte nichts dazu, damit ihr Vater ihr weiter vorlesen konnte. Als er das tat, kuschelte sie sich an seine Brust und genoss die bedächtige Melodie seiner Stimme: ihre beruhigenden Kadenzen und ihr wohlklingendes Auf und Ab.
Auf Margarets Frisierkommode stand ein Foto in einem versilberten Rahmen. Im Lauf ihrer Kindheit sah Maria es nur einige wenige Male, nämlich immer dann, wenn ihre Mutter ihr ausnahmsweise erlaubte, sich auf den Rand des Ehebetts zu setzen – es war noch ungemacht, und auf den Kopfkissen waren die Abdrücke zu sehen, die die Schlafenden hinterlassen hatten –, während sie mit Gesichtscreme, Puderquaste und Parfüm hantierte.
Diese Augenblicke waren so selten und besonders, dass Maria sie mit einer ungewöhnlichen Intensität wahrnahm. Jeder ihrer Sinne schien wacher als sonst, geschärft. Die süßliche, blumige Duftwolke und das vom Spiegel mit seinen beiden Flügeln dreifach reflektierte Gesicht ihrer Mutter. Auch das gerahmte Foto grub sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis ein. Eine schlanke, lächelnde Frau mit makelloser Haut in einem knielangen Baumwollkleid; weder sonderlich schön noch ungewöhnlich bezaubernd, aber mit großer Sorgfalt zurechtgemacht – das Haar säuberlich in ordentliche Dauerwellen gelegt und die Beine in glänzenden Feinstrumpfhosen. Margaret Lyall als Neunzehnjährige im Garten des elterlichen Hauses in Colchester im Liegestuhl, und links von ihr der Schatten eines Männerkopfes.
Jahrzehnte später fand Maria – oder besser gesagt Cass, wie sie inzwischen hieß – das Foto bei den Papieren ihres Vaters wieder und rätselte, wer diesen geisterhaften, körperlosen Schatten wohl geworfen haben mochte. Cass’ Vater? Ihr Großvater? Oder ein früherer Liebster Margarets, dem diese zugunsten des neuen Geistlichen Francis Wheeler den Laufpass gegeben hatte, obgleich dieser fast zwanzig Jahre älter war als sie?
Denn als Cass das Foto fand, wusste sie über die gescheiterte Ehe ihrer Eltern weit mehr, als sie als Kind geahnt hatte. Zu jenem Zeitpunkt war sie zweiunddreißig und konnte die beiden deutlich vor sich sehen. Margaret Lyall, das gewöhnliche Vorstadtmädchen, dem das Interesse des älteren Mannes, kein Geringerer als der Herr Pfarrer, den Kopf verdreht hatte. Zu ihm konnte sie aus der Kirchenbank aufblicken und sah sein schlichtes, nicht sonderlich attraktives Gesicht durch die zweifache Magie von Autorität und Überzeugung Größe erlangen. Francis Wheeler hatte sich nach einem nicht vom Glück begünstigten Jahrzehnt in London für die Priesterwürde entschieden und hielt nun Ausschau nach einer Frau, mit der zusammen er in einer Gemeinde, einem Zuhause und einer eigenen Familie Wurzeln schlagen könnte. Darauf folgten der Umzug des Paares nach London, die aufdämmernde Erkenntnis, wie schlecht sie tatsächlich zueinander passten, und schließlich das allmähliche Einsetzen von Margarets finsteren Launen, ihren Wutanfällen und ihrer Mattigkeit.
Das Leiden erhielt niemals einen Namen – zumindest nicht, wenn das Kind dabei war. Und so blieb Maria der Annahme überlassen, sie selbst sei die Ursache des Unglücks ihrer Mutter.
In jenen kostbaren Morgenstunden, in denen sie allein bei ihrer Mutter hinter der geschlossenen Tür des elterlichen Schlafzimmers sitzen durfte, machte Maria keinen Mucks und konzentrierte sich so sehr darauf, sich nicht zu rühren, dass ihr noch eine ganze Weile hinterher Arme und Beine weh taten. Es kam ihr so vor, als würde die Mutter sich mit jedem Tupfer der Puderquaste und jedem Tröpfchen Parfüm verwandeln – zurück in die junge Frau auf dem Foto: entspannt, unbelastet und frei.
In dem Jahr, als Maria neun wurde, vergingen ganze Monate, in denen Margaret sich nicht ins Bett zurückzog. Sie war wieder eifrig tätig, hatte sich in einen Strudel von Aktivitäten geworfen: Sitzungen und Gruppen, Kochen, Wäsche und Kirchenbasare. Und dann noch andere, persönliche Verpflichtungen, deren Gegenstand sie ihrer Tochter nicht enthüllte und die sie für immer längere Zeitspannen vom Pfarrhaus wegführten.
Mehrmals war bei Marias Heimkehr von der Schule niemand zu Hause. Sie war gezwungen, die verkehrsreiche Straße zur Kirche zu überqueren und ihren Vater oder Sam Cooper, den Hausmeister, zu suchen, damit sie ihr die Tür aufschlossen.
Nach dem dritten Mal gab Margaret ihrer Tochter einen Haustürschlüssel, festgebunden an einer langen Schnur.
«Sei ein liebes Kind», sagte sie und küsste Maria auf die Wange. «Du kannst dir doch nach der Schule selbst aufschließen, oder?»
Tatsächlich hatte Maria nichts gegen diese Nachmittagsstunden einzuwenden, in denen sie allein in der kühlen Küche saß und dicke Scheiben Weißbrot mit Butter und Erdbeermarmelade bestrich. Wenn ihre Mutter nicht da war, war es angenehm still im Haus, es gab keine Spannungen. Manchmal, wenn Margaret nicht rechtzeitig vor der Abendandacht zurückkam, bereiteten Maria und Francis eine improvisierte Mahlzeit zu – weichgekochte Eier mit Toaststreifen oder Schinken, Salat und Dressing. Das aßen sie dann am Küchentisch, als gäbe es etwas zu feiern – wie bei einem Picknick oder an einem Ferientag.
Wenn Margaret bei Marias Heimkehr von der Schule doch zu Hause war, war die Stimmung der Mutter heiter und sogar liebevoll.
«Nicht so schlimm», sagte sie, als Maria ihr ängstlich den Tintenfleck am Ärmel ihrer neuen Strickjacke zeigte. «Ich war in deinem Alter auch schrecklich schusselig.»
An einem anderen Nachmittag fand sie Maria in ein Buch vertieft im Wohnzimmer, blieb kurz in der Tür stehen und beobachtete sie. Als Maria befangen aufblickte, auf eine kritische Bemerkung gefasst, sah sie, dass die Mutter sie anlächelte.
«Meine kleine Leseratte», sagte sie.
Und an einem strahlend sonnigen Samstag im Spätherbst kündigte Margaret beim Frühstück an, dass sie mit Maria einen Einkaufsbummel machen würde.
«Nur wir beiden Damen», sagte sie. «Wird das nicht schön?»
Francis, der vom Daily Telegraph aufblickte, fing Marias Blick auf und lächelte. «Was für eine reizende Idee, Margaret.»