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Impressum

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel «Kin» bei Jo Fletcher Books/Quercus, London.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2018

Copyright © 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Kin» Copyright © 2018 by Snorri Kristjánsson

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Redaktion Nadia Al Kureischi

Umschlaggestaltung HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich

Umschlagabbildungen Christophe Dessaigne/Trevillion Images; Bihrmann/Shutterstock.com

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN E-Book 978-3-644-40374-1

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-40374-1

Karl

Sie tauchte ihre Hand in das Fass mit eiskaltem Wasser. Eine Weile hielt sie still, während sie beobachtete, wie sich die Härchen an ihrem Unterarm aufstellten. Zuerst prickelten ihre Fingerspitzen, dann wich alles Gefühl aus der Hand, bis sich diese nur noch wie ein Stück Fleisch anfühlte, das von unbarmherziger Kälte umschlossen pulsierte – doch sie zog die Hand nicht heraus, zwang sich dazu, die Finger so langsam wie möglich zu einer Schale zu krümmen. Sie nahm einen tiefen Atemzug und betrachtete ihr gebrochenes Spiegelbild auf der Wasseroberfläche. Eine junge Frau starrte zurück, entschlossen sah sie aus, mit zusammengekniffenen Augen, hohen Wangenknochen und einem verbissenen Gesichtsausdruck. Das verlieh ihr Ähnlichkeit mit einem herabstürzenden Greifvogel.

«Helga!»

Sie atmete aus und spritzte sich das kalte Wasser ins Gesicht. «Ich komme!»

Als sie um die Ecke der Scheune bog, tat sich das weite Land vor ihr auf. Durch die Baumspitzen und darüber hinweg konnte sie bis hinunter zum Langhaus am Fluss blicken. Die alte Scheune war gerade noch zu sehen, die anderen Gebäude wurden von den Bäumen verdeckt. Ihr Blick folgte dem

«Bist du fertig?» Einars Stimme schallte zu ihr herauf. Sie konnte sich genau vorstellen, wie er dort unten am Fuß des Hügels beim Seitentor stand. Selbst mit seinen fünfundzwanzig Wintern hatte er noch immer das Gesicht eines Jungen. Natürlich musste er sich verändert haben, seit jenem Tag vor elf Wintern, als sie zu Unnthor und Hildigunnur auf den Hof gekommen war, um mit ihnen zu leben, aber es kam ihr nicht so vor. Sie erinnerte sich noch daran, wie er damals an ihr vorbeirannte, weil er hinter Unnthors Tochter Jorunn her war und versuchte, sie mit Wasser nass zu spritzen. Seit Jorunn fortgezogen war, um zu heiraten, hatte Helga ihn zwar nicht mehr hinter Mädchen herlaufen sehen, aber für sie würde er immer der Junge von damals bleiben. Sie lächelte still vor sich hin.

«Ja», rief sie zurück. Das Heu war dort aufgeschichtet, wo es hingehörte, und für die Schafe war ein Pfad frei geräumt worden. Sie würden erst etwas später zusammengetrieben werden, aber je länger sie diese Aufgabe vor sich herschoben, desto wilder wucherte das Gestrüpp. Erledige alles schnell und zweckmäßig. Das hatte ihre Mutter ihr beigebracht.

«Wag es ja nicht, meine Arbeit zu überprüfen, Einar Jakason», murmelte sie vor sich hin. Er musste sie gehört haben, denn er hielt an, sah ihr bloß entgegen und wartete geduldig, überlegte sich vermutlich irgendeine witzige Bemerkung. Helga lächelte. Er versuchte regelmäßig, bei ihren Wortgefechten die Oberhand zu gewinnen, bislang ohne Erfolg. Sie war zwar nicht Hildigunnurs leibliche Tochter, aber sie lernte schnell, und die Spitzzüngigkeit ihrer Ziehmutter hatte genug auf sie abgefärbt.

Als sie aus dem Wald trat, wartete Einar noch immer auf sie. Über der Schulter trug er eine Rolle Seil. «Was brauchst du denn so lange? Hast du noch vom Heu genascht?»

«Mädchen fressen kein Heu, Einar», schoss sie zurück. «Und das bedeutet, wer immer sich dieser Tage als dein Mädchen ausgibt, ist in Wahrheit wohl ein Pferd.»

Sobald sie in seine Reichweite kam, schlug er mit dem Seil nach ihr. «Du bist eine Hexe.»

«Gar nicht», erwiderte Helga. «Wenn ich eine wäre, hätte ich dich doch schon längst in etwas halbwegs Gutaussehendes verwandelt.»

«Pff.» Einar grinste.

Einar verdrehte die Augen. «Ja, Vater», rief er zurück, dann wandte er sich erneut Helga zu. «Komm, wir müssen den alten Kuhstall herrichten.»

«Warum?» Helga rührte sich nicht.

«Anscheinend werden Bjorn und seine Familie dort schlafen.»

«Damit die Brüder voneinander getrennt sind?»

Einar nickte. «Warum sonst ist der Hüne wohl nach Osten gezogen, während Karl nach Süden gegangen ist? Sie sollen sich früher jeden Tag gestritten haben – Karl hat seine Brüder ständig verdroschen, bis Bjorn stark genug war und sich endlich wehrte. In jener Zeit ist Hildigunnur noch besser darin geworden, Wunden zu behandeln.»

«Da können wir uns ja auf etwas gefasst machen, was?» Sie seufzte.

Einar zuckte mit den Schultern und stieß sich vom Zaun ab. «Das wird schon», sagte er, während er voranging. «Ich bin mir sicher, die Alten werden sie im Zaum halten.»

 

Im alten Kuhstall roch es ein wenig nach Tieren und modrigem Heu. Sonnenschein sickerte durch Ritzen in der Wand, wo das Holz sich verformt hatte, aber der Großteil des Raums war in ein blasses Zwielicht zwischen Halbdunkel und Schatten getaucht. Nur ein heller Lichtkegel drang durch die offene Tür herein und zeigte das Skelett eines ehemals zweckmäßigen Gebäudes, das nun mit einem Sammelsurium aus

«Ganz schön klein», sagte Helga.

«Damals hatten sie nur vier Kühe … Hildigunnur liegt Unnthor schon lange in den Ohren, dass er aus dem Stall etwas machen soll. Aber ständig gibt es Wichtigeres für ihn», sagte Einar. «Sie können sich nicht entscheiden, den Stall abzureißen oder ihn irgendwie anders zu nutzen.»

«Ich weiß gar nicht, ob ich jemals hier drin gewesen bin», sagte Helga und sah sich neugierig um. «Die Schmiede ist der Bereich deines Vaters, und das hier schien immer Unnthors Reich zu sein.» Sie trat gegen ein Stückchen Holz, und es flog in eine Ecke. «Was müssen wir jetzt machen?»

«Als Erstes sollten wir all das hier rausschaffen, denke ich – wir brauchen Platz, damit wir Schlaflager für Bjorn und seine Familie herrichten können …»

«Was? Warum denn das …?» Helga war alles andere als begeistert.

«Na, die Geschichten sind größtenteils wahr. Seit seinem zwölften Winter ist Bjorn zu groß fürs normale Lager. Und Volund kommt ganz nach seinem Vater.» Einar dachte einen Moment nach. «Ach, stimmt ja – du hast sie noch nie gesehen, oder?»

«Nein», sagte Helga, «ich kenne weder Bjorn noch Karl. Ich glaube, vor fünf Sommern wurden sie hier erwartet …»

«Wie könnte ich ihn vergessen? Er hatte zwei kleine Kinder und einen Drachen von einer Frau dabei. Kommt sie diesmal auch?»

«Fürchte schon», sagte Einar.

Helga schauderte. «Da wär mir ein wütender Bär lieber.»

«Ich weiß, was du meinst.»

«Und dann sind da noch Jorunn und Sigmar. An Jorunn erinnere ich mich einigermaßen, aber Sigmar kenne ich noch nicht.»

«Nein», sagte Einar und machte sich an einem kaputten Balken zu schaffen. Er schien an dem Gespräch auf einmal nicht mehr sonderlich interessiert.

Helga griff nach einem Spaten mit gebrochenem Stiel. «Kann mich nicht erinnern, den hier schon mal gesehen zu haben.»

«Das ist alles altes Zeug.» Einar räumte einen Pflug aus dem Weg, an dem sich nur ein einziger Sterz befand. «Unnthor will das schon eine ganze Weile reparieren, aber weißt du, was ich denke?»

«Du denkst?» Helga tat überrascht.

«Ach, halt doch die Klappe», sagte Einar über die Schulter hinweg und schaffte den alten Pflug zur Stalltür. Als er zurückkam, machte er ein verschmitztes Gesicht. «Ich denke, der alte Mann ist so zufrieden damit, wie der Hof läuft, dass er es sich schlicht leistet, kaputtes Werkzeug zu besitzen – wenn es kaputtgeht, lässt er es einfach liegen, und Vater bringt es dann hierher.» Er sah sich in dem Gerümpel um. «Das ist die Schatzkammer eines tapferen Kriegers.»

«Das ist wirklich schwer zu glauben», wiederholte Helga und fügte mit einem Grinsen hinzu: «Hildigunnur würde ihm das nicht durchgehen lassen!»

«Kann sein», sagte Einar, «aber sie lebt schon so lange mit dem alten Bären zusammen … Ich schätze, sie wird wissen, wann es sich lohnt, mit ihm zu streiten und wann sie besser ein Auge zudrückt. Sie sind beide stur, einer wie die andere.»

«Wahrscheinlich sind sie gerade deshalb immer noch miteinander verheiratet», sagte Helga und räumte ein paar beschädigte Vorschlaghämmer beiseite. «Irgendwann wird die

«Aber es wird eine gute Geschichte sein. So wie Unnthors Geschichte ‹Die Eroberung von Hildigunnur›. Die gefällt mir immer noch, auch wenn ich sie schon mindestens so oft hören musste, wie ich Sommer erlebt habe.»

«Das wäre dann also – was, zwölfmal?»

Einar schaute sie an, schnitt eine Grimasse und bückte sich, um einen großen, rauen Schleifstein hochzuhieven. «Unnthor Reginsson ist losgezogen, um sich eine Frau zu suchen. Er wollte Hildigunnur, aber ihr Vater, der alte Heidrek, war ein Halbtroll …»

Helga mühte sich damit ab, einen Bretterstapel aus dem Weg zu räumen. «Nur ein halber? Die Alten hatten wohl noch nicht allzu viel getrunken, als sie dir die Geschichte das letzte Mal erzählt haben. Ich dachte, er wäre …»

«Fast zwei Mann groß. Und der Bastard hat sich die Zähne gefeilt», ertönte eine schroffe Stimme von der Stalltür: Unnthor von Flussfeste, der Häuptling vom Ren-Tal und Herrscher über alles, was er sehen konnte, warf seinen gewaltigen Schatten in den Raum. Seine Schultern füllten den Türrahmen fast vollständig, sein graues Haar war noch so voll, dass er es flechten konnte, und ihm wuchs ein dichter und ordentlich gestutzter Bart. Mit seinen zweiundsechzig Sommern machte er noch immer einen ehrfurchtgebietenden Eindruck. «Der hat regelmäßig Bären getötet, nur so zum Spaß.»

«Und du bist auf ihn zugegangen», sagte Helga.

«Und hast ihm den Schenkelknochen eines Ochsen gegen den Schädel gehauen», sagte Einar.

Einar grinste. «Und da hat er gesagt …»

«Da hat der mürrische alte Troll gelacht und gemeint: ‹Nur zu. Sie schlägt noch fester zu als ich.› Und das war nicht gelogen», sagte Unnthor. «Nein», unterbrach er sich an Einar gewandt, «die nicht.»

Einar hielt inne. Er war kurz davor gewesen, die Steinsäule aufzuheben. «Warum?»

«Sie zu verrücken würde Unglück bringen. Das würde den Göttern missfallen. Sie steht dort seit dem Tag, als wir uns hier niedergelassen haben», antwortete Unnthor. «Lass sie einfach stehen.» Einar zuckte mit den Schultern und ging stattdessen auf das Bauholz zu. «Stapelt die Bretter dort drüben in der Ecke. Ihr müsst jetzt die Plätze für Bjorn und Thyri herrichten.»

«Der kleine Volund ist inzwischen zwölf Winter», sagte Helga, «und er ist schon eine ganze Weile nicht mehr klein, sagt Mutter.»

Unnthor schnaubte und machte eine wegwerfende Handbewegung. «Wenn ich sage, er ist klein, dann ist er das auch», sagte er. «Einar, geh und hol das Werkzeug deines Vaters.»

Einar nickte, legte die Bretter auf den Boden und verschwand. Das restliche Gerümpel aus dem alten Kuhstall

«Mein eigenes Fleisch und Blut hat es auf mich abgesehen, Helga», sagte Unnthor leise.

«Was meinst du damit, Vater?»

Der alte Mann wandte ihr sein Gesicht zu. Im Halbdunkel wirkte er äußerst müde. «Mein eigenes Fleisch und Blut», sagte er, «mit Finsternis im Herzen. Ich habe es im Traum gesehen.»

Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Metallscheppern kündigte Einars Rückkehr an. Unnthor straffte den Rücken; und von einem Augenblick zum anderen wurde aus dem müden alten Mann wieder der furchteinflößende Häuptling.

Trotz der Hitze bekam Helga eine Gänsehaut.

 

Am Mittag dröhnte Jakis Stimme über den Hof: «Reiter!»

Helgas Anspannung wuchs. Unnthors seltsames Verhalten im Stall ließ sie nicht mehr los, obwohl sie sich Mühe gab, nicht daran zu denken. Irgendetwas wird passieren. Auch wenn ihr Alltag beruhigend sicher war, übte dies eine gewisse Anziehungskraft auf sie aus: Die Welt kam auf sie zu.

Sie rannte ans Haupttor, von dem man bis hinunter ins Tal blicken konnte. Jaki und Einar waren schon dort.

«Sie schonen die Pferde nicht», stellte Jaki fest.

«Wann hat Karl jemals etwas geschont?», fragte Einar.

Der stämmige Mann packte seinen Sohn unsanft am Arm. «Du wirst dich mit solchen Kommentaren gefälligst zurückhalten», knurrte er. «Hast du verstanden?»

Jaki ließ ihn los. «Wenn’s geht, dann sag einfach gar nichts, klar?» Er warf einen Blick zu Helga. «Das gilt auch für dich, Mädchen.»

Helga nickte. «Natürlich.» Sie starrte zu den Reitern hinunter. Sie konnte gerade eben ihre Umrisse ausmachen: «Sind sie zu dritt?»

«Kann ich auf diese Entfernung nicht erkennen», murmelte der alte Mann.

«Schon möglich …» Einar wirkte verwundert. «Aber wen haben sie dann zurückgelassen?»

Hildigunnurs Stimme hallte zu ihnen hinüber. «Helga? Ich brauche deine Hilfe …»

Sie warf noch einen letzten Blick auf die Reiter, dann wandte Helga sich um und rannte auf das Langhaus zu, ein eindrucksvolles Gebäude, dessen Wände knapp zweimal so hoch waren wie ein ausgewachsener Mann. Die Frau, die in der Hintertür stand, wirkte vor dieser Kulisse fast wie ein dünner, kleiner Zweig, aber Helga hatte schnell gelernt, sie nicht nach ihrer Statur zu beurteilen. Hildigunnur, die Helga inzwischen als ihre Mutter betrachtete, war zäher als die meisten Männer. Sie mochte weder groß noch breit sein, aber sie bewegte sich mit einer Leichtigkeit, die über ihre fünfundfünfzig Sommer hinwegtäuschte, und sie konnte noch immer einen halben Tag lang rennen, ohne anzuhalten. So unglaublich das auch schien, sie war Unnthor in jeder Hinsicht gewachsen. Die letzten dreißig Sommer waren sie der Mittelpunkt dieses Tals gewesen und auch des nächsten und übernächsten. Frauen

«Nun mach schon, Mädchen», rief sie. «Mir wächst sonst noch ein Bart.»

«Würde dir sicher gut stehen, Mutter.»

«Schmeicheleien bringen dir bloß Ärger ein.» Hildigunnur lächelte. «Die Töpfe warten. Die Reisenden müssen etwas essen. Ihr habt also die Lager hergerichtet – ist das alles erledigt?»

«Schon lange», sagte Helga. «Einar war ziemlich schnell.»

«Ach, das ist schon ein Guter», sagte Hildigunnur. Ihre Augen funkelten. «Und sieht auch recht hübsch aus.»

«Mutter!», sagte Helga. «Bäh! Das ist nicht dein Ernst?»

«Für dich ist er vielleicht wie ein Bruder», sagte Hildigunnur und führte Helga ins Langhaus, «aber jeder sieht die Dinge auf seine Weise.» Sie warf einen Blick über ihre Schulter, bevor sie die Tür schloss. Unnthor hatte sich zu Jaki und Einar ans Tor gesellt.

 

Als die Reiter nah genug waren, dass die drei Männer die Pferde erkennen konnten, breitete sich tiefe Stille zwischen ihnen aus.

Schließlich ergriff Jaki das Wort. «Wie ich sehe, hat Karl sich ganz gut gemacht.»

Unnthor brummte.

Allmählich waren die Gestalten zu erkennen. Eine Dogge sprang mit heraushängender Zunge neben dem wetteifernden Reitertrio. «Allerdings ist es nicht Karl, der dieses Rennen gewinnt», sagte Unnthor mit Genugtuung in der Stimme.

Der Reiter, der in Führung lag, erhob sich im Sattel und boxte mit der zur Faust geballten Hand triumphierend in die Luft, dann zügelte er sein Pferd und ließ es langsamer laufen, bis die anderen Reiter es ihm gleich taten. Als die Kapuze des ersten Reiters zurückfiel, kamen langes blondes Haar und vor Aufregung gerötete Wangen zum Vorschein.

«Großvater!», rief das Mädchen. Neben ihm stieß der Hund ein kräftiges, kehliges Bellen aus, wie um den Gruß zu unterstreichen.

«Gytha!», antwortete Unnthor. «Du reitest, wie ich’s dir beigebracht habe!»

«Besser, will ich doch meinen», brummte der größere der zwei nachkommenden Reiter. Karl Unnthorsson war kräftig gebaut: Sein Brustkorb war breit und muskulös, und er war so geformt, dass Karls Figur an einen Baumstamm erinnerte. Ein ungleichmäßiger schwarzer Bart stand von seinem Kinn ab wie eine schlecht gebundene Bürste, und seine linke Wange wies Kampfnarben auf. Dichte dunkle Augenbrauen verliehen seinem Gesicht einen mürrischen Ausdruck. Um den Hals

«Karl», sagte Unnthor. «Willkommen daheim.»

«Und ich bin wohl unsichtbar, was?» Flink glitt der dritte Reiter vom Pferd. Mit einer schnellen Handbewegung schlug eine große, schlanke Frau ihre Kapuze zurück. Über ihrer rechten Schulter lag ein blonder Zopf, der reichlich mit Silberfäden durchflochten war. Sie war ganz unverkennbar die Mutter ihrer Tochter.

«Willkommen, Agla», sagte Unnthor. «Du bist als Gast immer gern gesehen in meinem Haus.»

«Du lügst, wie du tanzt, alter Bär», sagte die Frau, «äußerst unbeholfen. Aber es ist schön, dich zu sehen.»

Jaki ließ das Tor aufschwingen, und die drei Reiter führten ihre Pferde auf den Hof.

«Prächtige Tiere», sagte Unnthor.

«Sie sind recht gut», stimmte Karl ihm zu, «aber ich brauche ein kräftigeres für mich. Sie kommen alle vom selben Züchter und tragen in etwa das gleiche Gewicht. Gytha hat bloß gewonnen, weil sie leichter ist.»

«Gar nicht», schoss Gytha zurück. «Ich bin einfach besser als du.»

«Der Übermut der Jugend», schnaubte Karl. «Dir werd ich schon noch eine Lektion erteilen.»

«Dazu müsstest du mich erst mal fangen.» Gytha tänzelte außer Reichweite ihres Vaters.

«Nimm besser die Beine in die Hand, denn wenn ich dich

«Dann würde ich dich umbringen, während du schläfst», sagte Agla.

Karl lachte kurz und schrill auf.

«Einar, übernimm du die Pferde», sagte Unnthor. «Ich werde unsere Reisenden zu einer kleinen Stärkung ins Haus bringen.»

Karl sah sich um. «Das ist neu», sagte er und wies mit einem Nicken auf die Stallungen.

«Haben wir vor sechs Sommern gebaut.» Unnthor sah Jaki fragend an. «Sechs?»

«Sieben», berichtigte Jaki ihn.

«Ist ja schon eine Weile her», sagte Karl.

«Lasst die Pferde hier. Deine Mutter hat etwas zu essen auf dem Feuer.» Unnthor führte die zänkische Familie auf das Langhaus zu.

Sobald sie außer Hörweite waren, sah Jaki Einar an. Neben ihm schnaubte Karls Stute und stampfte mit dem Huf auf. «Ich hab’s dir ja gesagt», murmelte der alte Mann, «wenn du all deine Gliedmaßen behalten willst, sag besser nichts.»

 

Helga beobachtete, wie sich ein Lächeln auf dem Gesicht ihrer Mutter ausbreitete. Die Stimmen wurden lauter. Und einen Augenblick später öffnete sich die Tür. Die grauhaarige Frau warf einen Blick zum Topf hinüber, und Helga verstand den Wink. Sie konzentrierte sich darauf, mit dem Holzlöffel gleichmäßig den Eintopf umzurühren.

«Agla! Gytha!» Hildigunnur durchquerte eilig die Halle des Langhauses und riss die zwei Frauen in einer Umarmung an sich. «Seid willkommen, meine Lieben.»

«Danke, Großmutter», sagte Gytha, während ihre Mutter sich aus Hildigunnurs Armen befreite. «Du siehst so jung aus wie eh und je.»

«Ach, Unsinn», sagte Hildigunnur, «ich bin alt und schwach, und meine Knochen sind es auch.»

«So hat sich das gerade aber nicht angefühlt», sagte Agla und rieb sich die Schulter. «Wenn du deinen Ehemann auch so in den Arm nimmst, ist es ja kein Wunder, dass er berüchtigt dafür ist, schlechte Laune zu haben.»

«Und Karl ist wohl ein sanftes Lämmchen», sagte Hildigunnur mit funkelnden Augen.

Gytha lachte. «Ha! Die alte Hündin kann immer noch beißen!»

«Gytha!» Karls Stimme zerteilte die Luft wie ein Peitschenhieb. «Komm hierher, sofort …»

Das Mädchen presste die Lippen aufeinander und verkniff sich eine Bemerkung, die ihr schon auf der Zunge zu liegen schien. «Ja, Vater», brachte sie schließlich mürrisch heraus. Sie ging zu Karl hinüber, der bei Unnthor stand.

Tiefe Furchen durchzogen das von Zorn verdunkelte Gesicht des Mannes. «Du wirst meinem Namen Ehre machen, wenn du als Gast in einem anderen Hause bist.»

«Aber …»

«Nichts aber», knurrte Karl.

«Ich fand es lustig», sagte Hildigunnur.

Einen Moment lang sagte niemand etwas.

«Nun.» Hildigunnur brach das Schweigen. «Wenigstens wissen wir jetzt, dass dir das Kind nicht untergeschoben wurde.»

Karls finstere Miene verwandelte sich beinahe in ein Grinsen. «Das hat sie alles von ihrer Mutter.»

«Von wegen! Sie ist stur wie ein Esel. Ich nicht. Ich bin sehr vernünftig», sagte Agla.

Helga sah, wie Unnthor hinter Karl ein Lachen unterdrückte.

«Nein, bist du nicht», sagte Karl. «Du musst immer deine Meinung durchsetzen.»

«Stimmt ja gar nicht!»

«Doch, so ist es.»

«Halt bloß den Mund – ich bin äußerst vernünftig!»

«Karl, hör auf, sie zu ärgern», sagte Hildigunnur.

Helgas Mut sank, als ihre Mutter sich zu ihr umdrehte und Karls und Aglas starre Blicke sich auf sie richteten. Es war kein angenehmes Gefühl.

«So, ich muss euch noch unser Mädchen Helga vorstellen – sie ist, etwa zwei Winter nachdem du ausgezogen bist, zu uns gekommen. Sie könnte deine Schwester sein, nur dass

Karl neigte seinen Kopf zum Gruß.

Agla musterte sie flüchtig, als wäre sie ein Pferd, und schien sie für uninteressant zu halten.

Im nächsten Augenblick war Helga wieder unsichtbar.

«Möchtet ihr zwei eine Schüssel Eintopf essen, oder wollt ihr lieber weiterstreiten?»

Trotz Hildigunnurs humorvollem Ton starrte Agla ihren Mann finster an. Helga suchte in ihrem Gesicht nach einem verräterischen Zwinkern, einem Lächeln oder einem Anzeichen von Zuneigung, fand jedoch nichts.

«Ja, bitte», sagte Agla.

Hildigunnur sah eindringlich zu Helga hinüber, als würde sie ihr einen harschen Befehl erteilen. Und Helga gehorchte sofort. Ihre Hände bewegten sich wie von selbst, während sie die Holzschüsselchen unter den Bänken an der Seite hervorholte und sie mit Eintopf füllte. Der Dampf umspielte ihre Hände und erhitzte ihre Haut. Sie änderte den Griff um die Schüsseln und eilte zum Tisch hinüber, an dem Agla sich neben Unnthor niedergelassen hatte. Hildigunnur war verschwunden, und Helga wusste, dass sie sich irgendwo dort eine Tätigkeit gesucht hatte, wo sie ihrer Enkelin begegnen musste. Sie würde sie für ein kurzes Gespräch anhalten, den Kopf schieflegen, eine Augenbraue hochziehen – und ihr mit diesem verschwörerischen Blick versichern, dass nur sie beide den Witz verstanden –, und kurz darauf würde Gytha ein Kichern unterdrücken, und ihre Augen würden vor Entzücken über den Scharfsinn ihrer Großmutter strahlen. Helga konnte

Fast ohne es zu merken, stand Helga schon neben Karl, der schweigend am Tisch saß. «Bitte schön», stieß sie hervor und verhaspelte sich auch noch dabei.

Er hob den Kopf und starrte sie an. Seine braunen Augen funkelten, Lachfalten bildeten sich auf seinem Gesicht. Er muss sich stark zurückhalten, um sich nicht die Lippen zu lecken, dachte sie. Wie ein Wolf. «Danke schön. Vielen lieben Dank», sagte er und grinste sie an.

«Bedank dich bei Mutter», sagte Helga, spitzer, als sie es beabsichtigt hatte. «Es ist ihr Eintopf.»

Doch Karl hörte nicht auf zu grinsen, im Gegenteil, sein Lächeln wurde noch breiter. «Sieht auf jeden Fall … recht schmackhaft aus.»

Selbst nachdem sie sich wieder an ihren Platz in den Schatten zurückgezogen hatte, spürte sie seinen Blick noch lange auf sich.

 

Einar führte die Pferde der Neuankömmlinge zum hinteren Ende der Stallungen. Er hatte einen Moment lang darüber nachgedacht, die Boxen neben Unnthors und Hildigunnurs eigenen Stuten zu nehmen, aber die zurückgelegten Ohren der Tiere und ihr Schnauben überzeugten ihn schnell davon, dass das keine gute Idee war. So sollten sie eben im hinteren Teil stehen. Er widmete sich zuerst Karls Pferd, bürstete dessen Flanken mit sanften, gleichmäßigen Zügen. Dabei stellte er bald fest, dass die große schwarze Stute ein wildes

«Schhhh, Mädchen», murmelte er, «du wirst dich besser fühlen, wenn ich fertig bin.» Die Stute warf den Kopf ungehalten herum und schnaubte, schnappte aber nicht noch einmal nach ihm. «So ist’s gut», flüsterte er, «gleich bist du mich wieder los.»

«Wie kommst du darauf, dass sie dich loswerden will?» Einar sprang erschrocken zurück, nur einen Moment, bevor die gelben Pferdezähne nach seiner Hand schnappten. Er wich den stampfenden Hufen der Stute aus und drehte sich um. Gytha stand an der Stalltür.

«Es geht ihr gut», sagte sie und kam näher. Die Stute reagierte auf die vertraute Anwesenheit Gythas mit einem Schnauben und legte den Kopf an. «Schau. Gib mal her», sagte Gytha und streckte ihre Hand nach der Bürste aus.

Einar reichte sie ihr wortlos.

Gytha begann, das Pferd zu striegeln, und verfiel dabei in einen gleichmäßigen Rhythmus. «Du hast deine Sache gut gemacht», bemerkte sie.

«Warum sagst du das?»

«Weil du noch alle deine Finger hast.» Gytha lächelte ihn an. «Das heißt, dass sie dich mag.» Als Einar nichts darauf erwiderte, runzelte sie die Stirn. «Soll ich mich um unsere Pferde kümmern?», fragte sie.

«Ich … ähm … wenn du willst.»

Gytha musterte Einar. «Du willst dich nicht mit mir unterhalten, oder?»

«Ich bin draußen, falls du mich brauchst», antwortete

Die Stute schnaubte.

«Hör bloß auf», sagte Gytha. «Du hättest dich auch nicht besser geschlagen.» Sie zog die Bürste mit kräftigen Bewegungen über den Rücken des Tieres. «Aber ich glaube, man kann Spaß mit ihm haben, und ich hab noch drei Tage.» Während sie sanft den Kopf der Stute streichelte, flüsterte sie dem Pferd ins Ohr: «Wir werden ja sehen, wer eher aufgibt.»

Bjorn

Unnthor saß reglos und still am Flussufer, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Der Fluss plätscherte leise vor sich hin, und im Buschwerk auf der anderen Seite sangen Vögel. Zu Unnthors Füßen glitzerte die Oberfläche des träge dahinfließenden Wassers im Sonnenlicht, als wäre sie aus Gold. Der alte Mann sah auf, als sich vom Langhaus her eine Gestalt mit gleichmäßigen, unbeirrbaren Schritten näherte.

«Jetzt geht’s los», murmelte Unnthor.

Als Karl nah genug war, hob er die Hand zum Gruß. «Mutter meinte, ich würde dich hier finden.»

«Stromaufwärts hat sich im letzten Sommer irgendetwas verändert. Und nun ist das hier ein richtig guter Platz geworden», sagte Unnthor. Er griff nach der Angelrute und zog die Leine ein, bis der Haken aus dem Wasser auftauchte. «Ich dachte, ich schau mal, ob ich nicht noch ein bisschen was für den Kochtopf ergattern kann.»

«Sie werden schon noch anbeißen», sagte Karl.

«Das tun sie meistens.»

«Dir geht es offenbar gut», sagte Karl.

«Ich komme zurecht.»

«Wie läuft es so in Glomma?»

Unnthor drehte den Kopf und blickte nach Westen, zu den

«Und das wäre?»

«Dass die Götter mit großer Wahrscheinlichkeit etwas Wichtigeres zu tun haben, als sich darum zu kümmern, wer nun wessen Tochter besteigt.»

Karl schmunzelte.

«Vor zwei Sommern hatten wir mal einen Viehdieb.»

«Ach ja?»

«Ein Reisender unten aus dem Süden. Dachte, er würde hier einfaches Bauernvolk vorfinden, leichte Beute machen.» Unnthor lächelte. «Das war kein weiser Mann.» Über Karls Gesicht huschte ebenfalls ein Lächeln, und einen Moment lang waren sich die beiden Männer bemerkenswert ähnlich. «Wie steht’s mit euch? Ich höre immer wieder Geschichten aus dem Süden, aber ich weiß nie, was ich davon glauben soll.»

«Wir haben uns ganz gut geschlagen», sagte Karl. «Ich bin mit einem Haufen harter Hunde zur See gefahren, die von einem Mann namens Sigurd Aegisson angeführt wurden.»

Unnthor pfiff anerkennend durch die Zähne. «Selbst hier oben haben wir schon von ihm gehört», sagte er. «Einer aus Skargrims alter Mannschaft? Hart wie Stein, der Kerl.»

Karl lächelte. «So hart, wie er sein musste. Wir haben uns im Land der Sachsen alles genommen, was möglich war, und das war eine ganze Menge – genug jedenfalls, dass ich mir dort unten im Süden einen Hof kaufen konnte.»

«Zwölf Paar Vieh», unterbrach ihn Karl.

Unnthor verstummte. «Zwölf Paar», wiederholte er. «Das ist … das ist beeindruckend.»

«Und zwanzig Paar Schafe. Vier Arbeiter, zwei davon mit Eheweib.»

«Dann hast du es zu mehr gebracht als ich.»

«Weil ich meinen Schatz nicht vergraben habe.»

«Ich bin der Überzeugung, dass ein Mann sich verdienen sollte, was er im Leben besitzt», blaffte Unnthor. «Und erzähl mir nicht, dass du immer noch an dieses Ammenmärchen glaubst.» Er starrte seinen Sohn an. «Es gibt keinen Schatz», sagte er gedehnt.

Karl starrte zurück. Dann wandte er den Blick ab und sah stromabwärts. «Das habe ich mir schon gedacht», murmelte er. «Ist ja bloß eine Geschichte.»

«So ist es», sagte Unnthor. Zu seinen Füßen trieb die Angelschnur in der Strömung, schlaff und reglos.

 

Das Messer schnitt kräftig und präzise ins Fleisch. Hildigunnur führte die Klinge langsam, bedächtig und geschickt durch das Lamm und durchtrennte die Sehnen, die Muskeln und Knochen zusammenhielten. Eine Armlänge von ihr entfernt schälte Helga Rüben und versuchte erneut, nicht aufzufallen.

Hinter ihnen stieß Agla einen Seufzer aus und setzte ihre Klagen fort. «Ich weiß einfach nicht, was ich mit ihr machen soll. Sie verhält sich …»

«Genau wie du, als du jung warst?» Hildigunnur klang nicht unfreundlich.

«Fehler sind gar nicht so schlimm», sagte Hildigunnur und riss dem Schlachtkörper mit einer Drehung ein Bein aus. «Durch sie wird man weise.» Sie wandte sich um und zwinkerte Agla zu. «Wie wir.»

Agla seufzte. «Ja. Vielleicht. Ich wünschte bloß, sie wäre … ich weiß auch nicht …»

«Leichter zu handhaben? Sanfter. Netter.»

«Ja.»

Und von wem sollte sie diese Eigenschaften haben?, dachte Helga.

«So ist das eben manchmal mit jungen Frauen», sagte Hildigunnur. «Sie sind fürchterliche, männerverschlingende Monster. Wie Helga», fügte sie hinzu.

«Was? Bin ich gar nicht!», rief Helga aus.

«Oh, ich wette, das bist du», lachte die blonde Frau. «Bei dir stehen sie doch bestimmt alle Schlange, mit dem Schwert in der Hand.»

«Reihenweise», fügte Hildigunnur hinzu, «für den Kampf um die Ehre.» Mit einem Hüftschwung deutete sie an, wie Helgas imaginäre Freier um sie kämpften. Hinter ihnen kicherte Agla.

«Sehr witzig», sagte Helga, «aber ein bisschen zu geübt. Ich denke eher, du sprichst da aus eigener Erfahrung, Mutter.»

«Oho», rief Agla, «da hast du dir aber ein ganz schlaues Kind großgezogen, sie kommt ganz nach dir.»

«Ich weiß», sagte die ältere Frau und lächelte Helga an.

Während Karls Frau von Politik und Krieg erzählte, schaute Helga verstohlen ihre Mutter an und dachte an all die Momente, in denen sie Einar dabei beobachtet hatte, wie er so lange mit besonders sturen Stuten rang, bis sie sich ihm fügten. Auf Mutters Gesicht lag jetzt ein ganz ähnlicher Ausdruck: zufriedener Triumph.

«Mach weiter», ermahnte Hildigunnur sie leise, während Agla hinter ihnen schwatzte. «Das Essen bereitet sich nicht von allein zu.» Das Messer der älteren Frau durchtrennte zügig den Hals des Lamms.

 

Es war Jaki, der ihn zuerst entdeckte. «Das muss Bjorn sein.»

«Wo?» Einar lehnte sich gegen das Tor und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

«Da – unten an der Wegbiegung.» Jaki zeigte mit dem Finger zur Straße, und tatsächlich, etwa zehn Pfeilschüsse den Weg hinunter führten zwei Reiter ihre Pferde am Zügel, während ein dritter, weiter hinter ihnen, zusammengesackt auf dem letzten Tier im Sattel saß.

«Meinst du, der ist überhaupt geritten?», fragte Einar.

Die Gestalt auf der linken Seite, von durchschnittlicher Größe und Statur, bewegte sich mit ruhigem, gleichmäßigem Schritt vorwärts. Der Mann auf der rechten war gut anderthalb Köpfe größer und um vieles massiger und breiter, sodass das Pferd neben ihm eher wie ein Fohlen wirkte. Ein Hund trottete an seiner Seite.

«Er ist nicht in Eile», sagte Einar.

Jaki seufzte. «Das ist er selten, unser Bjorn.»

«Hast du sie vermisst?», fragte Einar nach einer Weile.

Jaki dachte ein paar Atemzüge darüber nach, bevor er antwortete. «Zumindest ist es hier ruhiger ohne ihr Geschrei, so viel steht fest.»

«Aber haben Bjorn und Karl sich nicht …?»

«Ach.» Jaki machte eine wegwerfende Handbewegung. «Sie waren zwar nie die besten Freunde – aber sie sind Brüder. Ein bisschen Reife und Abstand mildern solchen Unsinn. Aber alle vier Geschwister sind auf ihre eigene Weise gefährlich, und in letzter Zeit spüre ich eine Kälte in den Knochen.»

«Was meinst du damit?»

«Dass sich Ärger zusammenbraut», murmelte Jaki.

«Ach, nun komm aber, alter Bock! Muss ich etwa feststellen, dass mein Vater auf seine alten Tage zu einem abergläubischen Waschweib geworden ist? Was kommt als Nächstes – geträumte Vorzeichen?»

Jaki drehte sich zu Einar. Er sagte nichts, aber sein Gesicht wirkte starr, ein Ausdruck wie aus Stein gemeißelt.

Nach einer Weile wandte der junge Mann den Blick ab und sah Helga auf sie zukommen.

«Bjorn ist im Anmarsch.» Einar schob sie zur Straße hin.

«Zum ersten Mal wieder hier», sagte Helga. Neben ihr hob Jaki eine Augenbraue. «Er war gerade abgereist, als ich angekommen bin.»

«Hm», sagte Jaki, «das könnte hinkommen. Dann wären das …»

«Elf Winter», sagte Helga. «Glaube ich.»

Der alte Mann wirkte erschüttert. «Was? Elf? Wo ist nur die Zeit geblieben?»

«Grüßt euch!», donnerte eine tiefe Stimme; die Reisenden waren jetzt nah genug, sodass ihre Gesichter zu erkennen waren. Der große Mann winkte und rief: «Jaki – bist du das?»

«Wer sonst?», rief Jaki zurück und lächelte.

Auch ohne sie zu sehen, konnte Helga spüren, dass ihre Mutter sich näherte.

«Grüß dich, Sohn!», rief Hildigunnur. «Der Eintopf steht schon auf der Feuerstelle bereit!» Agla und Gytha kamen aus dem Langhaus und stellten sich hinter die alte Frau. Sie kennen bereits ihren Platz, dachte Helga.

«Gute Nachrichten für müde Reisende», sagte Bjorn.

Als er näher kam, konnte Helga nicht anders – sie musste ihn einfach anstarren. Denn alles an Bjorn Unnthorsson war gewaltig: grobe Gesichtszüge, Hände wie Schaufelblätter. Mit seinem blonden Haar und dem Bart sah er aus wie eine Art Hügelriese; selbst der Wolfshund an seiner Seite, ein riesiges Tier, wirkte neben ihm wie ein Welpe. Fast zwei Mann groß und hat sich die Zähne gefeilt, dachte Helga. Wenn Karl in seinen

Sie schlüpfte zwischen den Pferden hindurch. «Hast du Hunger?», fragte sie leise. Sie ging ihm nur bis zur Schulter, und der Junge sah mit wässrigen blauen Augen zu ihr herunter. Er spitzte die Lippen, als ob er etwas sagen wollte, zögerte einen Augenblick, als müsse er ihre Worte erst verarbeiten, und nickte dann. Helga lächelte. «Komm mit.» Sie zwinkerte ihm verschwörerisch zu. Er zögerte erneut, dann führte er sein Pferd hinter ihr her.

«Keine Sorge», sagte Hildigunnur. «Helga wird sich um ihn kümmern.»

«Der Junge ist ein Schwachkopf. Er braucht eher ein paar hinter die Ohren als jemanden, der sich um ihn kümmert», murrte Bjorn.

Helga warf einen Blick zurück zu den Neuankömmlingen. Bjorn nahm so viel Raum ein, dass sie Thyri nicht mal mehr sehen konnte. «Führ das Pferd dort hinein», sagte sie zu Volund und zeigte auf die Stallungen. «Einar wird es versorgen. Hattet ihr eine lange Reise?» Der Junge nickte mit gesenktem Blick, dann spähte er vorsichtig zu ihr, das Kinn noch immer auf der Brust. Helga lächelte. «Magst du Lammeintopf?» Der Junge nickte noch einmal, jetzt mit größerer Begeisterung, und Helgas Lächeln wurde breiter. «Dann lass uns mal die Töpfe plündern!» Sie marschierte davon, und als sie hörte, dass der Junge ihr folgte, war sie außerordentlich zufrieden – ein ungewohntes Gefühl. Volund schlurfte ein wenig, doch er lief ihr hinterher. Als sie das Langhaus betraten, empfing sie der Duft von kochendem Fleisch. Helga ging zum großen Topf hinüber, griff nach der Kelle und tischte eine großzügige Portion auf. Der Junge setzte sich sogleich nieder, kauerte sich über die Schüssel und machte sich daran, dass Essen in seinen Mund zu schaufeln. «Du solltest vielleicht etwas … äh – vorsichtig …», begann Helga, allerdings zu spät: Volund spuckte den Eintopf bereits zurück in die Schüssel.

Er sah überrascht zu ihr auf, als fühlte er sich verraten. «Das ist heiß

«Richtig», sagte Helga. «Genau so.»

Volund strahlte und aß, während seine Eltern eintraten und sich weiter mit Agla und Hildigunnur unterhielten.

«… ein gnädiger Winter gewesen», sagte Agla und reckte ihren Hals, um Bjorn ins Gesicht zu sehen. «Wir haben uns dort unten im Süden in eine ganz gute Lage gebracht. Wie laufen die Dinge bei euch?» Die Tür fiel hinter ihnen zu.

«Oh, die Täler sind zweifellos harte Arbeit», polterte Bjorn, «aber die Svear bleiben unter sich, und wir halten uns auf unserer Seite.» Der gewaltige Mann ließ sich auf einer Bank nieder, die unheilvoll knarrte. «Manchmal handeln wir mit ihnen. Einmal habe ich es geschafft, drei Wagenladungen von …»

«Bjorn!» Draußen auf dem Hof war plötzlich ein fürchterliches Knurren und Bellen ausgebrochen, in dem Einars Schrei beinahe unterging. Einen Augenblick lang waren alle irritiert, doch dann sprang Bjorn auf und lief trotz seiner Körpermasse überraschend schnell zur Tür. Helga wurde aus ihren Gedanken über Volund aufgeschreckt, ließ sich von der Aufregung mitreißen und folgte der Familie nach draußen.

«Nein!» Bjorn ging dazwischen und versetzte der Dogge einen brutalen Tritt.

«Was zum Teufel machst du da?», brüllte Karl und rannte über den Hof auf die kämpfenden Tiere zu. Bjorn schenkte ihm keine Beachtung, trat noch einmal nach der Dogge, direkt in die Rippen. Sie jaulte auf und ließ den Wolfshund los, der sich daraufhin mit gesenktem Kopf zurückzog. Immer noch bereit zum Angriff, ließ er jedoch die Dogge nicht aus den Augen.

Mit beiden Händen packte Karl seinen Bruder von hinten und drückte eine Ferse in dessen Kniekehle. Bjorn stürzte schreiend zu Boden.

«Bleib von meinem Hund weg!», grollte Karl, sprang über den großen Mann hinweg und griff der Dogge in den Nacken. Der Hund knurrte ihn an. «Beruhig dich, Erla», sagte Karl. Die Dogge antwortete mit einem Winseln.

Karl drehte sich zu Bjorn um, der sich inzwischen wieder hochgestemmt hatte und jetzt kniete. «Warum hast du deinen

«Ich habe überhaupt niemanden auf irgendwen losgelassen, schon gar nicht auf deinen Köter», knurrte Bjorn. «Einar hat gerufen, und ich bin rausgelaufen.»

«Und das soll ich dir glauben? Das hast du doch mit Absicht gemacht!»

«Hab ich nicht!», schrie Bjorn. «Nichts dergleichen – und wenn ich es getan hätte, dann weißt du ganz genau, dass ich es dir ins Gesicht gesagt hätte. Jedenfalls hätte ich dich nicht von hinten angegriffen wie ein jämmerlicher Feigling.»

Karl ballte die Fäuste, verlagerte sein Gewicht auf den vorderen Fuß, da krachte Unnthors Stimme wie eine Peitsche über ihre Köpfe hinweg. «Wenn ihr zwei Welpen nicht sofort damit aufhört, bekommt ihr beide von mir das, was ihr verdient habt», schnauzte er. Er ging mit großen Schritten auf die beiden Männer zu, die sich voreinander aufgebaut hatten. «Auseinander.»

«Aber er hat angefangen …», begann Bjorn.

«Sofort.»