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Dahlenberger

Die Arbeit an diesem Roman wurde durch ein Stipendium der Kunststiftung Baden-Württemberg gefördert.

Ein verlagsneues Buch kostet in ganz Deutschland und Österreich jeweils dasselbe. Das liegt an der gesetzlichen Buchpreisbindung, die dafür sorgt, dass die kulturelle Vielfalt erhalten und für die Leser bezahlbar bleibt. Also: Egal ob im Internet, in der Großbuchhandlung, beim lokalen Buchhändler, im Dorf oder in der Stadt – überall bekommen Sie Ihre verlagsneuen Bücher zum selben Preis.

Coverillustration: Blexbolex

© 2015 Verlagshaus Jacoby & Stuart, Berlin
Vermittelt durch die Literaturagentur im Verlag der Autoren, Frankfurt am Main
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-946593-58-4
Unsere Trailer auf www.youtube.com/jacobystuart

Florian Wacker

DAHLENBERGER

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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

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Es gibt nur diesen einen Sprung. Ich bewege mich noch etwas weiter vor, soweit, dass meine Zehen schon über den Rand des Bretts stehen, halte die Arme am Körper und weiß, dass es beim ersten Mal klappen muss. Ich sehe aufs Wasser hinunter, sehe die dunklen Linien der Bahnmarkierungen auf dem Beckengrund, die zu einer schwarzen Fläche verschwimmen und fixiere die Stelle, wo ich eintauchen werde. Ich habe schon Hunderte Sprünge hinter mir, Salti, Schrauben, Backflips, mit Anlauf und aus dem Stand, und trotzdem ist es diesmal anders. Ich kenne das Wasser nicht, und ich kenne das Brett nicht. Ich spüre ein Kribbeln in Armen und Beinen, und je länger ich hinunterstarre, desto heftiger wird es. Ich muss springen, irgendwie. Noch schlimmer als ein verkorkster Sprung ist der Abstieg vom Brett, wenn einem die Knie wie verrückt zittern, wenn alle Platz machen müssen und keiner ein Wort sagen muss, weil es alle längst wissen: Da kneift einer, da bringt einer nicht den Mumm auf, und man weiß, dass man keine zweite Chance mehr bekommt. Also muss ich da runter. Zweifacher rückwärts. Ich gehe wieder einen Schritt zurück, lege eine Hand aufs Geländer und schließe die Augen. Dann spüre ich es: als würde jemand hinter mir stehen und mir sanft in den Nacken blasen.

Ich fliege durch die Gerüche eines langen, überhitzten Freibadnachmittags. Es fühlt sich vertraut an, mein Körper gehorcht mir. Nach dem zweiten Salto sehe ich das Wasser, es ist schon ganz nah, ich kann es bereits riechen und schließe die Hände über dem Kopf. Mit einem dumpfen Schlag tauche ich ins Becken. Die Wucht des Aufpralls macht mich für Augenblicke blind, ich überstrecke, kann dem Druck aber nicht standhalten und öffne die Beine. Lichtdiagonalen schneiden durchs Wasser, ich tauche zwischen ihnen hindurch, dem Grund entgegen. Mit den Fingern berühre ich den Boden, das Adrenalin macht mich benommen. Ich schlucke gegen den Wasserdruck, über mir fällt die Fontäne wieder in sich zusammen. Ich werde ruhig, ziehe die Beine an den Körper und drücke Blasen aus den Nasenlöchern. Ihre Beine baumeln am Beckenrand im Wasser, sie suchen das Becken nach mir ab, stoßen sich an. Krasser Sprung. Kennt ihr den? Nie gesehen. Wo ist er? Ich blähe die Backen, arbeite nicht mehr gegen den Auftrieb und lasse mich langsam an die Wasseroberfläche tragen.

Kapitel 1

Alles war, wie es sein sollte. Ich liebte das Dahlenberger, ich liebte den Sommer. Aber gleichzeitig fühlte sich in diesem Jahr alles komisch an, so, als ob ich ein Bonbon lutschen würde, an dem noch ein Aluminiumschnipsel klebt. Ein mechanisches Klicken riss mich aus meinen Gedanken. Es war unser Zeichen. Das Gittertor zum Dahlenberger öffnete sich mit einem leisen Quietschen und rastete ein. Ich griff nach meiner Tasche und sah auf meine Flipflops. Noch bewegten wir uns nicht, standen im Schatten des Fahrradunterstands und sahen mit zusammengekniffenen Augen hinüber zum Kassenhäuschen. Jonas stieß mich mit der Schulter an und grinste, und ich konnte den Duft des Weichspülers riechen, nach dem seine Bettwäsche roch.

»Es ist nicht das Brett.« Jonas tippte mir gegen die Stirn. »Es ist alles da drin.«

»Es ist das Brett«, sagte ich.

»Es ist alles da drin«, wiederholte er.

Ich zuckte mit den Schultern.

»Du musst wissen, was du willst.« Er wandte sich ab, ließ seine Tasche baumeln. »Du musst nur wissen, was du willst. Dann geht es auch. Das hat nichts mit dem Brett zu tun.«

Ich sah mich nach Hank um. Er stand noch immer vor seinem Moped und versuchte mit einem Taschentuch die Schmiere von den Fingern zu bekommen. Natürlich stimmte, was Jonas gesagt hatte, dass es auf den Springer ankam und nicht aufs Brett, aber trotzdem klang es, als lese er aus einem dieser Ratgeber vor, die durch positives Denken das ganze Leben umkrempeln wollen. Aber dadurch wurde aus dem Brett kein Sprungturm, und wir kamen keinen Zentimeter höher. Hank fluchte leise und knüllte das Tuch zusammen. Klara hakte sich bei ihm unter, die beiden sprachen leise miteinander, einmal lachte sie hell, Hank grinste. Elli saß noch immer neben ihrem Rad im Schneidersitz und rauchte. Sie hatte sich ihre Haare straff nach hinten zu einem Zopf gebunden und blies den Rauch so aus, dass ihr Gesicht für Augenblicke hinter dem Dunst verschwand. Wir konnten die Königin leise summen hören.

»Du musst halt den richtigen Punkt treffen«, sagte Jonas. »Das ist alles.«

»Wenn’s so einfach wäre.«

»Es ist einfach. Konzentrier dich. Dann ist es einfach.«

Jonas erinnerte mich an den Trainer in der D-Jugend, der auch immer davon geredet hatte, dass wir uns konzentrieren müssten, dass es nur an uns und nie am Gegner läge, und ich erinnerte mich daran, dass wir ihn beim Duschen in der Kabine immer nachgemacht hatten und ein Spiel nach dem nächsten verloren. Vom Mühlenweg her näherten sich jetzt zwei der Weißen dem Dahlenberger. Rentner, die morgens mit uns ins Bad kamen und sich Apfelschnitze und geschälte Karotten in Plastikboxen mitbrachten. Die erste halbe Stunde bekamen sie das Becken, danach übernahmen wir, und sie hockten vor dem Kiosk und gerbten ihre dunkle Haut in der Sonne. Wir sahen ihnen dabei zu, wie sie ihre Räder anschlossen und sich die Helme vom Kopf zogen. Sie grüßten uns freundlich und gingen ans Drehkreuz, die Fahrradtaschen schlugen bei jedem Schritt rhythmisch gegen ihre gebräunten Beine. Endlich sprang das kleine Fenster auf, wir hörten die Stimme der Königin und die Stimmen der beiden Weißen, die sich kurz übers Wetter unterhielten. Jonas warf sich seinen Rucksack über, nickte mir zu, und wir schlenderten langsam hinüber zum Eingang, bedacht darauf, es aussehen zu lassen, als hätten wir es überhaupt nicht eilig. Dabei wusste ich, dass vor allem Jonas es kaum aushielt, endlich ins Wasser und aufs Brett zu kommen. Vor dem Tor blieben wir stehen, warteten, bis Klara, Hank und Elli zu uns aufgeschlossen hatten. Jeder von uns hatte eine Dauerkarte, und obwohl die Königin das wusste, obwohl sie uns in den Sommermonaten öfter zu Gesicht bekam als unsere Eltern, zog sie jeden Morgen die gleiche Nummer ab: Sie tat einfach so, als sei ihr einer unter uns völlig fremd, als versuche einer von uns, sich an ihr vorbei ins Dahlenberger zu schummeln. Sie fuhr aus ihrem Drehstuhl auf und lehnte sich nach vorn.

»Hiergeblieben, junger Mann.« Ihre Stimme war scharf, aber nicht wütend. »Haben wir nicht was vergessen?«

Diesmal traf es mich. Ich atmete aus und überlegte einen Moment lang, durchs Fenster ins Kassenhäuschen zu greifen und an irgendetwas zu ziehen, was dann mit einem hellen Ratschen reißen würde. Aber dann öffnete ich nur meinen Rucksack und suchte nach meiner Karte. Ein Ventilator summte im Hintergrund, daneben standen kleine Spielzeugfiguren, ein Hündchen mit spastischem Grinsen, zwei Zwerge, die einen Stamm zersägten. Ich spürte ihren Blick und begann zu schwitzen. Die Prozedur war unangenehm, und sie wusste es. Aber sie war im Recht. Sie hatte die Befugnis dazu, uns nach unserer Dauerkarte zu fragen, und wir ertrugen ihre Überlegenheit schwitzend und rotköpfig. Ich zeigte ihr die Karte. Ich hielt sie ihr provozierend nah vor die Nase, so dass sie zurückzuckte. Ich wartete. Sie sagte kein Wort. Ich hielt die Karte ins Fenster, damit sie sich alles ganz genau einprägen konnte: meinen Vornamen, meinen Nachnamen, das Gültigkeitsdatum, den Stempel, den sie irgendwann im Mai selbst auf das Papier gedrückt hatte. Sie sollte sehen, dass ich Gast in ihrem Freibad war und mit dafür sorgte, dass sie morgens Butter und Kaffee auf dem Tisch hatte, dass sie ihren Nissan in die Werkstatt bringen konnte und es im Spätherbst für zwei Wochen Fuerteventura reichte. Die Königin lehnte sich zurück und schnaufte.

»Schon gut, schon gut.«

Ich steckte die Karte wieder ein und folgte den anderen. Jonas legte seinen Arm um meine Schultern und zog mich zu sich.

»Gut gemacht, Großer«, sagte er.

Wir bezogen in der Nähe des Kiosks unsere Plätze, im Schatten unter der Platane. Dort gab es eine Mulde, nicht tief, aber ausreichend, dass wir das Gefühl hatten, in einem Bett mit harten Kopfkissen zu liegen. An der Rückseite des Kiosks konnten wir Rainer sehen. Er wuchtete gestapelte Getränkekisten von einer Sackkarre in den Laden. Er trug immer das Trikot derjenigen Mannschaft, die in der abgelaufenen Saison die Meisterschaft geholt hatte, seit Wochen schon das Leibchen des FC Bayern. Wenn wir uns am Kiosk etwas holten, dann lächelte er immer so, dass er tatsächlich wie ein Trottel aussah: ein schiefes Grinsen, das sein Gesicht nach links in die Länge zog. Aber kurz bevor wir uns abwandten, zog er die Mundwinkel nach unten, die Haut über den Wangen straffte sich, seine Augen bekamen ein unnatürlich klares Leuchten. Es waren nur Sekunden, aber er sah uns dann wie einer an, der genau wusste, was man tun musste, um als Trottel durchzugehen. Ich schüttelte mein Handtuch aus und warf es mir über die Schulter. Elli rieb sich Arme und das Gesicht mit Sonnencreme ein, dann drückte sie etwas davon auf Klaras Rücken aus und verstrich es. Hank versuchte noch immer seine Hände sauberzukriegen. Er fluchte über sein Moped, es war seit Monaten dieselbe Leier: Er fuhr wie ein Henker und trieb die Hercules zum Äußersten, hatte aber für anstehende Reparaturen keine Kohle. Und wenn er Geld hatte, tankte er nur und fütterte mit dem Rest die beiden Spielautomaten im Borndorfer Grillhaus. Hank war seit einem halben Jahr achtzehn und genoss seine Freiheiten, und wir genossen es, dass wir jemanden hatten, der uns problemlos Bacardi Cola und Smirnoff besorgen konnte. Wir schlenderten hinüber zur Dusche. Das Abbrausen war die erste Herausforderung des Tages. Das Wasser war jetzt am Morgen noch eiskalt, würde aber bis zum Mittag zu einer warmen Brühe werden. Ich warf Jonas mein Handtuch zu, hielt die Luft an und schlug auf den Knopf. Es war wie eine kleine Explosion, als ob auf der Haut hunderte Sprengkörper gleichzeitig zündeten. Für Sekunden glaubte ich zu ersticken. Dann riss ich die Augen auf, spuckte Wasser aus und betrat den Badebereich. Wir blickten übers Becken. Das Wasser schillerte fremd und anziehend zugleich, die Nichtschwimmerleine hing schlaff über der blauen Fläche, drüben streckte sich das Brett in aufreizender Lässigkeit übers Wasser. Und neben dem Becken, in seinem Gartenstuhl unter dem Schirm, saß er, Hackenbarth. Gegen das Licht erkannten wir nur einen dunklen Schemen, die langen Beine, seinen Panamahut. Nie sahen wir ihn morgens ins Dahlenberger kommen, er war immer schon da, in seinem Stuhl unter dem Schirm. Wir wussten nicht, wie er mit Vornamen hieß und ob er wirklich Bademeister war, was wir aber ziemlich sicher wussten: Hackenbarth war der große Fisch im Becken, ein Wels mit langen Barteln ums Maul. Selbst die Königin betrat diesen Bereich selten und nur dann, wenn sie etwas an den Beeten zu tun hatte, die den Innenbereich von den Liegewiesen trennten. Ich hockte mich neben Jonas auf die Bank, streckte die Beine aus und wackelte mit den Zehen. Die Mädchen breiteten ihre Handtücher auf den Steinplatten aus und legten sich hin. Die Weißen zogen ihre ersten Bahnen. Wir hielten uns an das stillschweigende Übereinkommen mit Hackenbarth, das Becken für eine halbe Stunde den Weißen zu überlassen und nutzten die Zeit, um uns vorzubereiten. Jonas war auf die Bank gestiegen, er stand neben mir auf Zehenspitzen und hielt einige Augenblick das Gleichgewicht, dann sprang er ab und landete in der Hocke.

»Du musst einfach nur weit genug hochkommen«, sagte er und drehte sich zu mir um. »Es ist egal, ob‘s ein Einer oder ein Dreier ist. Wenn du gut wegkommst, kriegst du‘s auf jeden Fall hin.«

»Ich mach heute nur Backflips«, sagte Hank und beugte sich vor. »Eigentlich ganz einfach.«

»Total einfach.« Ich linste zu Jonas hoch. Er sah mich ernst an, verschränkte die Arme vor der Brust und zuckte leicht mit den Schultern. Ich spürte die Hitze über meinen Haaren. Es fühlte sich an, als klettere mir eine ganze Armada Ameisen den Rücken hinauf und durch die Ohren unter die Kopfhaut krabbeln. Ich rubbelte mir das Wasser aus den Haaren und folgte Jonas ans Becken. Wir hielten unsere Füße ins Wasser, hörten es in der Überlaufrinne glucksen. Jonas lehnte sich an mich, ich spürte die Wärme seiner Schulter. So saßen wir eine Weile regungslos nebeneinander und ließen uns von den Spiegelungen des Wassers blenden.

Ich legte den Kopf in den Nacken und atmete aus. Hinter mir konnte ich die Knirpse ungeduldig flüstern hören, hörte auch, wie sich Hackenbarth den Hut vom Kopf zog und sich über den Schädel wischte. Alles war mir vertraut wie sonst kaum etwas, die Bewegungen, Gerüche und Geräusche. Sie machten das Dahlenberger zu einem Ort, der unabhängig von seiner Umgebung existierte und den es nur gab, weil wir ihn so erschaffen hatten. Ich nahm Anlauf, kam ziemlich optimal an der Spitze des Brettes noch einmal auf und ließ mich vom Drall nach vorn schleudern. Ich rollte mich zusammen, wusste, dass ich die Drehung schaffen würde und streckte dann meine Füße seitlich aus. Ich spürte den Aufschlag, den Druck des Wassers und sah noch die Fontäne aufsteigen, bevor ich untertauchte und alles um mich weiß wurde. Es war kein großer Sprung gewesen, keiner, der bei Hank oder Jonas Anerkennung hervorrief, allenfalls ein paar Knirpse standen wahrscheinlich mit offenem Maul neben dem Brett und glotzten in meine Richtung. Prustend zog ich mich am Beckenrand aus dem Wasser und hockte mich neben Jonas und Hank. Wir schwiegen und blickten aufs Wasser.

In den Videos, die wir uns abends manchmal noch auf meinem Rechner ansahen, kamen die besten Sprünge von den Türmen. Klar gab es auch ein paar Profis, die vom Einer ganz ordentliche Bomben und Backflips hinbekamen, aber die wahren Schönheiten begannen erst ab drei Metern. Vom Fünfer gab es schon beachtliche Sprünge, grazil, technisch sauber und mit beeindruckenden Fontänen. Wer aber wirklich an die Spitze wollte, kam um den Zehner nicht herum. Weder Hank noch Jonas oder ich waren jemals aus dieser Höhe gesprungen, obwohl Jonas behauptete, vor zwei Jahren im Spanienurlaub einen Salto von einem Turm gesprungen zu sein. Aber er legte sich in der Höhe nicht genau fest und dadurch, dass er es nur ein-, zweimal erwähnt hatte, war Hank und mir schnell klar geworden, dass es wahrscheinlich nur ein Dreier, maximal ein Fünfer gewesen war.

Hackenbarth pfiff, dann stellte er das Schild aufs Brett und baute sich neben der Leiter auf. Wir hatten jede Stunde ein Zeitfenster von rund fünfzehn Minuten, um zu springen. Sonst blieben uns nur die Startblöcke, die aber zu nicht viel mehr als ein paar Übungssprüngen taugten, um die Bewegungsabläufe durchzugehen und Sicherheit zu gewinnen. Ich spürte Jonas’ Arm an meinem, wir wiegten ganz leicht hin und her im Rhythmus der kleinen Wellen, die an unsere Shorts schwappten. Der Himmel war wolkenlos, seit drei Wochen. Von meinem Kinn tropfte das Wasser, ich bewegte die Füße, die wie geschwollen aussahen. Das Brett im Dahlenberger hatte seine besten Tage längst hinter sich, es knarzte und zitterte bei jedem Sprung, und obwohl ich jeden Morgen wie die anderen die drei Stufen hinaufstieg und für ein paar Augenblicke das Kitzeln des Belags an den Fußsohlen genoss, war mir doch irgendwie klar, dass wir nie den Doppelten hinbekommen würden, egal wie sehr wir uns anstrengten.

»Vom Einer kannst du‘s doch echt vergessen«, murmelte Hank.

»Dann bau uns halt einen Turm«, sagte Jonas und rutschte vom Beckenrand zurück ins Wasser. »So fünfzehn Meter hoch. Von da setz ich dir einen Vierfachen ins Becken.«

Er tauchte unter. Ich sah nur noch seinen Schatten, dann war er ganz verschwunden. Plötzlich spürte ich einen heftigen Zug an meinem Bein, und noch ehe ich mich festhalten konnte, zog es mich unter Wasser. Ich wusste, dass es Jonas war, trotzdem genoss ich den kurzen Schock und tauchte nicht gleich auf. Letztes Jahr hatten wir Der weiße Hai geschaut und selbst Jonas war am Tag danach drüben im Nichtschwimmerbereich ins Wasser gegangen und langsam bis zur Leine vorgewatet, ehe wir wieder tauchten und sprangen. Ich berührte den Grund mit den Füßen, stieß mich ab und tauchte wieder auf. Jonas war noch immer verschwunden. Hank nervte die Mädels, indem er seine Shorts über ihren Rücken ausdrückte. Ich kraulte zur Leine und zog mich bis zum Bauch aus dem Wasser. Jonas tauchte neben mir auf.

»Ist was mit dir?«

Ich antwortete nicht, schwamm hinüber zum Beckenrand.

»Schlecht geschlafen?« Jonas drehte sich auf den Rücken.

»Kann sein.« Ich zog mich aus dem Wasser, ließ mich wieder zurückfallen. Jonas schaukelte in den Wellen, hielt sich fast regungslos auf dem Rücken und trieb mit geschlossenen Augen langsam auf mich zu. Er achtete nicht auf die anderen Schwimmer, tat so, als gehöre das Becken ihm alleine. Ich wartete, bis er nah genug war, begann mit den Beinen zu strampeln und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Er schluckte Wasser, strampelte mit den Armen.

»Machen wir weiter«, rief ich und kraulte langsam hinüber zu den Startblöcken.

Der Doppelte rückwärts war unser heiliger Gral: Man sprang nach vorne ab, musste aber gleichzeitig weit und hoch vom Brett wegkommen, um die Beine anzuziehen und dann zwei Rückwärtssaltos zu schaffen. Es gab dieses Video von einem Typen, der mit Anlauf genau den richtigen Punkt trifft, optimal wegkommt und fast die dritte Drehung hinbekommt, bevor er ins Wasser einschlägt. Wir schafften gerade einmal eineinhalb Drehungen und schlugen dann meist mit dem Gesicht zuerst auf, warum wir nach einer Weile ziemlich Kopfschmerzen bekamen. Jonas war fest davon überzeugt, dass es nur eine mentale Sache war, etwas, das nichts mit dem Brett oder dem Wasser zu tun hatte. Bei Hank war ich mir nicht sicher: Er sprang zwar, zeigte aber seit Beginn der Ferien nicht mehr die ganz große Begeisterung, nickte meist nur, wenn Jonas und ich uns unterhielten, oder er brummte irgendwelche Sachen, die wir nicht richtig verstanden. Obwohl auch ich nicht daran glaubte, jemals einen Doppelten ins Becken zu setzen, blieb ich trotzdem dran. Es war so, als zwänge mich jemand oder etwas, jeden Tag aufs Neue aufs Brett zu steigen und zu springen, als müsse es einfach getan werden.

Wir lagen nebeneinander auf dem Rücken. Jonas zeichnete Sprungfolgen in die Luft, ich versuchte ihm zu folgen, verlor aber schon nach kurzer Zeit den Überblick. Ich rollte mich auf den Bauch und legte das Kinn auf die Arme, sah zu Elli, die mir gegenüber auf dem Rücken lag und hinauf in die Baumkrone sah. Ich wollte etwas sagen, wusste aber nicht was. Sie wirkte abwesend in letzter Zeit, als beschäftige sie irgendetwas, sie saß da und schaute über die Liegewiese oder hinauf ins Laub der Platane, blätterte in einer Zeitschrift herum ohne zu lesen und sah manchmal mit zusammengezogenen Brauen zu uns auf, als überprüfe sie etwas. Ich hatte den Geschmack von Chlorwasser auf der Zunge, schmatzte ein paarmal und stemmte mich hoch. Elli drehte sich um, lächelte müde und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht.

»Alles klar?«, fragte ich.

» Kopfweh«, sagte sie.

»Willst du ne Aspirin?«

»Geht schon. Ich versuche mal zu schlafen.« Sie drehte sich wieder um, rollte sich in ihr Handtuch. Ich sah sie ruhig und gleichmäßig atmen, hörte hinter mir Jonas und Hank miteinander leise reden, Klara döste. Ich zog die Knie an, sah über die Liegewiese und versuchte mir vorzustellen, was die Leute sonst taten, wenn sie nicht auf ihren Handtüchern in der Sonne fläzten. Sie wohnten irgendwo, hatten einen Job, hatten sich irgendwann mal für dieses Leben entschieden. Vielleicht hatten sie sich aber auch gar nicht entschieden, sondern es war einfach passiert, sie hatten jemanden kennengelernt, waren mitgenommen worden und hatten sich gar nicht gefragt, ob sie es wollten oder nicht. Hank lachte hinter mir schrill auf.

»Spast«, raunzte Jonas.

Ich drehte mich um, sah die beiden voreinander knien, Jonas wedelte mit seinem Handtuch und ließ das Ende gegen Hanks Arm fitzen.

»Ist das schon alles«, sagte er und verzog keine Miene.

»Willst du Nachschlag?«

Ich hatte keine Ahnung, worum es ging, wahrscheinlich um die Sprünge. Hank rührte sich nicht, dann schoss er plötzlich auf Jonas zu und packte ihn. Die beiden kugelten keuchend über Jonas’ Tasche und verhedderten sich in den Handtüchern. Hank kriegte Jonas in den Schwitzkasten und drückte ihn auf seinen Rucksack. Beide lachten krächzend.

»Willst du noch mehr, oder was«, schnaufte Hank. »Willst du noch mehr?«

Die beiden verharrten eine Weile im Halbschatten, wie zwei in Stein gemeißelte Kämpfer. Schließlich lockerte Hank die Umklammerung und ließ sich auf den Rücken fallen. Jonas bewegte sich nicht und gluckste leise vor sich hin. Die Sonne stand jetzt fast senkrecht über dem Dahlenberger, der Schatten der Platane bestand nur noch aus kleinen Klecksen, und über dem Dach des Geräteschuppens flimmerte die Hitze. Wir waren da, wo wir hingehörten: im Dahlenberger. Hackenbarth patrouillierte am Becken, die Königin schwitzte im Kassenhäuschen, Rainer schuftete in seiner Bude. Wir kannten hier jeden Winkel, wussten, wie es in den Umkleiden roch und welche Farbe die Urinsteine in den Pissbecken hatten. Ich sah Hank und Jonas, Elli und Klara, und plötzlich kam es mir so vor, als würden wir uns nicht kennen, als lägen wir hier nur zufällig nebeneinander, über uns bewegte sich das Laub im warmen Wind, unter uns welkte das Gras und jemand versuchte einen Zweifachen vom Brett.

Kapitel 2

Das Dahlenberger bestand aus einem fünfundzwanzig Meter langen und zehn Meter breiten Becken und hatte an den vier Ecken vier silbrig glänzende Einstiegsleitern. Es war ein durch und durch gewöhnliches Schwimmbad, begann bei einer Wassertiefe von 80 Zentimetern und fiel hinter der Nichtschwimmerleine bis auf 3,20 Meter ab. Dort befanden sich auch die Startblöcke und, etwas nach links versetzt in der Nähe von Hackenbarths Platz, das sanft federnde, melodisch knarzende Einmetersprungbrett. Hackenbarth hatte zusammen mit der Königin und Rainer das Dahlenberger vor fünfzehn Jahren übernommen. Bis dahin hatte das Bad jahrzehntelang ein trübes Dasein gefristet, aufgegeben und verwahrlost, im Becken schwammen Enten und auf den Liegewiesen wucherten Brennnesseln und Brombeeren. Es gab Fotos aus dieser Zeit im Gemeindehaus, Bilder von den Renovierungsarbeiten. Eine Zeitlang lebten die Hackenbarths neben dem Geräteschuppen in einem Wohnwagen, kochten auf einem kleinen Gasherd und nutzen die Dusche am Beckenrand, aus der eiskaltes Wasser schoss. Es gab Bilder von den ersten Badeversuchen, Rainer in knallroten Shorts, Hackenbarth beim Fliesenlegen, von der Königin, die Rosen pflanzt, dann von der Eröffnung, bei der der Bürgermeister die erste Bahn kraulte und sich bei der Drehung so den Kopf stieß, dass er leicht benommen aus dem Wasser gezogen werden musste. Und es gab ein Bild, das mich am meisten faszinierte, eins, das nicht zu den Sommermonaten, zum Geruch nach Chlor und gemähtem Rasen passte: das Dahlenberger im Winter, Mitte Februar. Das Becken ist mit einer Plane abgedeckt, es schneit, und auf einer der Bänke sitzt Hackenbarth im dicken Mantel, er trägt Ohrenschützer und streut den Vögeln Futter aus.

Dieser Sommer war heiß und staubig. Seit anderthalb Wochen waren Ferien, und seit anderthalb Wochen trafen wir uns jeden Morgen um kurz vor halb neun am Fahrradunterstand. Jonas war meistens zuerst da, den Rucksack über die Schulter geworfen, das Haar stumpf vom Wasser und der Sonne. Auch Hank wartete schon, wenn ich vom Mühlenweg in den Parkplatz einbog. Wir hockten dann meist zusammen, redeten wenig und warteten auf die Mädchen, die jeden Moment vom Mühlenweg her kommen mussten. Wir sahen ständig hinüber zum Mühlenweg, aber es waren nicht Klara und Elli, auf die wir warteten, sondern auf die Königin. Sie saß in ihrem maroden Nissan auf dem Parkplatz – mit geschlossenen Fenstern und laufendem Motor, ihr rannen Schweißtropfen die flaumigen Wangen hinab, sie hielt das Lenkrad umfasst und starrte auf ihre Armbanduhr. Sie war die Königin des Dahlenberger, Hackenbarths Frau, auf sie kam es an. Von ihrer Laune hing ab, wann wir zu unseren ersten Sprüngen kamen. Jonas hatte einmal vorgeschlagen, sie abzulenken, um an ihren Schlüssel für das Eingangstor zu kommen. Eine schnelle, geheime Aktion: Jonas und ich streiten mit ihr über die hygienischen Zustände in den Umkleiden, Hank schnappt sich derweil den Schlüssel, den sie immer aufreizend lässig neben der Kasse ablegt. Dann schicken wir Hank nach Borndorf zum Schlüsselmacher, wir erwarten ihn bei den Altglastonnen am Sportplatz und beschließen, es noch in der Nacht auszuprobieren.

Aber auch Jonas wusste, dass eine solche Aktion offenen Krieg bedeutete und niemand sagen konnte, wie sich die Königin in einem solchen Fall verhalten würde. Wir hatten von anderen Bädern gehört, in denen es Einlassverbote und Dauerkarteneinzug für weit weniger gesetzt hatte, als heimlich den Generalschlüssel zu klauen und zu kopieren. Im Dahlenberger gab es ein paar unumstößliche Regeln, die schon immer galten und immer gelten würden: Hackenbarths Hoheitsgebiet umfasste das Becken und die Bänke, und jenseits davon, auf der Liegewiese und vor dem Kiosk, hatten wir so ziemlich alle Freiheiten. Die Weißen waren unantastbar, ebenso die Rosenbeete der Königin. Wir waren die ersten, die das Bad betraten, und die letzten, die es verließen. So ging es schon ein paar Jahre. Im Dahlenberger hatte ich zuerst Jonas, dann Hank und die Mädels kennengelernt. Ich ging in Borndorf zur Schule, hatte aber mit den Leuten aus meiner Klasse so gut wie keinen Kontakt. Ich war aber kein Außenseiter und wurde auch nicht blöd angemacht, ich war sogar ziemlich beliebt, war ein Jahr lang Klassensprecher gewesen und hatte im ersten Jahr in Dahlenberg noch in Borndorf in der D-Jugend gespielt. Aber seit ich Jonas und die anderen kannte, waren Borndorf und meine Schule fast schon Ausland, in das ich ging, weil ich musste, aber nie länger als nötig blieb. In Dahlenberg hatte ich alles, was ich brauchte: ein paar gute Freunde, ein Becken und das Gefühl, die Dinge im Griff zu haben.

Die Königin hatte ihren alten Nissan wie immer direkt neben dem Eingang geparkt. Wir beobachteten sie mit wachsender Unruhe, lehnten am Geräteschuppen im Schatten und sagten nichts. Hank kam auf seiner Hercules über den Parkplatz geknattert, stieg ab und bockte sie auf. Er fuhr wie meistens ohne Helm, strich sich das Haar aus der Stirn und zog beim Anblick des Nissan eine Grimasse. Ich stieß mich von der Wand ab und ging ein paar Schritte über den Parkplatz. Schon jetzt war es ziemlich heiß, im Wetterbericht war seit Tagen die Rede von tropischen Nächten. Ich kickte einen Stein an und sah zu, wie er in Richtung des Nissan kullerte. Kurz bekam ich Panik, er würde die Karre treffen, was für uns alle, aber besonders für mich nichts Gutes bedeutet hätte. Aber im letzten Moment blieb er vor dem Hinterreifen liegen, ich spuckte auf den Asphalt. Langsam ging ich zu den anderen zurück, blieb neben Hanks Moped stehen. Er hockte vor seiner Maschine und fummelte mit zwei Fingern am Vergaser herum. Eigentlich sah es gar nicht mehr wie ein Moped, sondern schon wie eine richtige Crossmaschine aus, und Hank legte auch viel Wert darauf, dass wir nie Moped, sondern immer nur Hercules sagten.

»Irgendwas stimmt nicht mit den Zylindern«, sagte er ohne aufzusehen. Ich beugte mich etwas zu ihm herunter, hatte aber keinen blassen Schimmer, was er meinte.

»Bring sie halt mal in die Werkstatt«, sagte ich.

»Wenn du zahlst.« Er grinste schief, fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn.

»Den Sommer über muss sie noch durchhalten.« Er stand auf, warf sich seinen Rucksack über. »Wenn ich dan±n meinen ersten Lohn krieg, bekommt sie das volle Programm.«

Die Tür des Nissan flog ins Schloss. Wir sahen auf. Die Königin schritt in ihren Plastiksandalen langsam auf das Kassenhäuschen zu, ließ sich am Tor mit dem Schlüssel Zeit, die beiden Weißen kamen neben uns zum Stehen und schlossen ihre Räder an.

»Irgendwann wird ihr das leidtun«, flüsterte Hank.

»Wie meinst du das?«

»Wie sie uns behandelt. Irgendwann kapiert sie schon noch, wer wir wirklich sind.« Er ging los, folgte Jonas und Elli. Ich sah zu Klara, die noch immer im Schatten saß und den Kopf an die Wand gelehnt hatte. Ihr Mund stand offen, als versuche sie Fliegen zu fangen.

»Kommst du?«, fragte ich.

Sie stand langsam auf, griff nach meinem Arm.

»Hast du auch mal dran gedacht, was wäre, wenn es das Bad und Hackenbarth und die Königin nicht gäbe?«

»Dann würden wir woanders rumhängen.«

»Oder uns einfach nicht kennen.«

»Schon möglich.«

»Manchmal kotzt mich das Dahlenberger richtig an: Als ob es alles bestimmen würde.«

Ich zog meine Karte aus dem Rucksack, konnte schon das Radio hören, Elli nahm einen letzten Zug von ihrer Kippe.

»Besser das Dahlenberger als irgendwer anders«, sagte ich.

Dann warteten wir auf den Einlass.