Der schwarze Kondor

Band 1

Lucie Müller

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1. Auflage November 2017

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk darf - auch teilweise - nur mit

Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Lektorat:
Andrea el Gato

Umschlaggestaltung:
 Hannelore Nistor 

Illustrationen:
Hannelore Nistor

Verwendeter Font:
freeware – © Andrew McCluskey

ISBN (Taschenbuch):978-3-946049-21-1
ISBN (ePub): 978-3-946049-21-0

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„Nicht!“, rief der Kondor, als er den Taipan mit dem Schwert Richtung Hydra laufen sah. „Das ist die falsche Waffe für diesen Gegner!“

Doch zu spät. Edo war bereits heran und trennte dem Monster einen der Köpfe ab.

Ehe der Kondor sehen konnte, was geschah, schob sich die Sphinx in sein Gesichtsfeld.

Den Minotaurus hatte der Kondor mit gezielten Schlägen gegen dessen Energiepunkte zur Strecke gebracht. Da der Minotaurus den Körper eines Menschen besaß, hatte er auch einen Großteil dessen Physiognomie. Bei der Sphinx glaubte der Kondor diese List leider nicht anwenden zu können, denn er kannte die Kraftpunkte eines Löwenkörpers nicht. 

Er musste eine andere Lösung finden, um die Sphinx mit bloßen Händen zu erledigen. Ein wütendes Zischen und Fauchen bestätigte indessen seine Befürchtung, dass der Hydra ein weiterer Kopf gewachsen war. Er hörte Edo fluchen, als die Sphinx einen Ausfall machte. Krallen voran stürzte sie nach vorne, den Menschenkopf nach hinten biegend. Der Kondor spannte sich an und katapultierte sich nach vorne. Sein Schwung trieb ihn über die Tatzen der Sphinx. In der Luft wirbelte er herum und ließ seinen ausgestreckten Fuß mit dem Rist gegen den Hals der Sphinx knallen. Knirschend zerschlug er die Atem- und Speiseröhre. Wie ein Sack Mehl sackte die Sphinx zu Boden, während er elegant auf den Füßen landete. 

Noch während das Biest mit dem Löwenkörper und dem Menschenkopf nach Luft japste, war er heran, griff mit beiden Händen nach dem Hals und brach der Sphinx mit einer raschen Drehung das Genick.

Blieb nur noch die Hydra, die mittlerweile vier Köpfe hatte.

Edo hielt das Schwert unsicher vor sich hin. Ihm war klar, dass er es nicht mehr benutzen konnte, doch er wusste auch nicht, wie er sich sonst gegen vier Köpfe gleichzeitig verteidigen konnte.

Der Kondor trat zu ihm, die Fäuste als einzige Waffe erhoben. Die Köpfe zogen sich gleichzeitig zurück, die Schlünder aufgerissen, die Fänge darin, im gelben Licht aufflackernd. Sie stießen nieder, als plötzlich eine Feuerwalze über sie niederging.

Der Kondor spürte die Hitze und riss Edo instinktiv zu Boden. Als sie sich aufrappelten, sahen sie gerade noch, wie der verkohlte Kadaver der Hydra langsam zur Seite kippte. Das Fleisch gab einen eigentümlichen Gestank nach verbranntem Fisch ab.

„Was war das?“

Der Kondor suchte die Decke der Höhle ab, um nach einem weiteren Ungeheuer Ausschau zu halten.

„Der Drache!“, keuchte Edo und ließ das Schwert langsam sinken.

„Was? Unmöglich“, schnauzte der Kondor und blickte zu Mehret herüber. Der Kopf des Drachens war in ihre Richtung gewandt. Sein Maul war immer noch halb geöffnet und Rauch kräuselte zwischen den Reißern hervor. Doch etwas stimmte nicht.

Sein Blick war abwesend. Fast schon schien es, als starre er durch die beiden hindurch. Das Feuer in den goldenen Iriden schien seltsam dumpf. Es war noch nicht lange her, als der Kondor in ein ähnlich leeres Gesicht geblickt hatte – nämlich das seiner Schülerin, als Mehrets Geist in sie eingedrungen war. 

Doch wie konnte es möglich sein, dass etwas den Geist des Drachens übermannte?

„Katana!“, flüsterte er leise.

Der Kopf des Drachens zuckte. Beinahe war es, als konnte der Kondor den Kampf, der sich in dessen Innern abspielte, sehen. 

Er durfte keine Zeit vergeuden!

Den verdutzten Taipan stehenlassend, jagte der Kondor zum Zentrum der Höhle. Vor ihm wuchs die Felsnadel in die Höhe. Wie hoch sie war! Mehret warf unruhig den Kopf herum. Seine Krallen gruben sich tiefer in das Gestein und lösten Brocken aus dem Fels, die polternd niedergingen. Flink wie ein Affe begann der Kondor am Felsen empor zu klettern. Derweil ertönte ein tiefes Grummeln aus dem Brustkorb des Drachens. Der Kondor vermochte sich nicht vorzustellen, wie Katana es geschafft hatte, Kontrolle über den Geist des Drachens zu erlangen. Alles, was er wusste war, dass er dieses Zeitfenster nicht verschenken durfte.

Er kraxelte über den heißen Stein, dann über den glühenden Drachenkörper. Auch wenn er nicht länger als einen Herzschlag brauchte, um einen neuen Griff zu suchen, spürte er die brennende Hitze, die ihm die Finger verbrannte. Ein letztes Mal mobilisierte er seine Kräfte, denn bald würden seine Hände vor Blasen steif und unbeweglich sein. 

Bereits konnte er den blau leuchtenden Stein vor sich sehen, als er mit den blutenden Fingern ausrutschte. Nein!

Er grabschte mit der anderen Hand nach einem besseren Halt, doch auch dort fanden die zerstörten Fingerkuppen nichts, um sich festzukrallen. Wie ein Baum, der gefällt wurde, spürte er, wie ihn die Gravitation unnachgiebig nach unten zog. Zuerst langsam, dann immer schneller.

„Nein!“ schrie er seinen Frust heraus. 

Da berührte ihn plötzlich etwas am Rücken. Es schob ihn in die Höhe. Als er nach unten sah, erkannte er den mächtigen Kopf von Mehret. Mit seinen Nüstern schob der Drache den Kondor wieder hoch.

Da war er, der glitzernde Saxeus, die Macht einer ganzen Welt, gebündelt an einem Ort. Der Kondor warf einen letzten Blick in die trüben Augen des Drachens. „Danke Katana!“, murmelte er, dann spannte er sich an, stieß sich ab und griff nach dem Saxeus.

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

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Wir nannten ihn den schwarzen Kondor. Er war unser Held und Beschützer, blieb aber stets unnahbar. Mit Menschen ließ er sich nur ein, wenn sie ihn um Hilfe baten – so wie meine Mutter es an diesem schicksalhaften Tag tat. Obwohl der schwarze Kondor nicht ausschließlich für seine Heilkunst bekannt war, wusste jeder, dass er auch auf diesem Gebiet ein Meister war.

Als meine zwei älteren Brüder mich in die Hütte schleppten und meine Mutter meinen desolaten Zustand sah, zögerte sie nicht lange und rief ihn.

Ich war schon oft in Prügeleien verwickelt worden, obwohl ich damals noch ein kleines Kind war. Die ließen sich nun mal nicht vermeiden, wenn man so aussah wie ich. Meine Familie stammte von ehemaligen Sklaven ab. Unsere Hautfarbe war einige Nuancen dunkler, als die der gebürtigen Einwohner. Gewisse Idioten hatten immer noch nicht begriffen, dass wir seit einigen Generationen gleichberechtigt waren. Prügeleien waren also nichts Neues für mich. Niemals hätte ich jedoch damit gerechnet, dass einer meiner Gegner ein Messer dabeihaben könnte. Ich weiß noch, wie der Stahl aufgeblitzt war. Anstatt mich wegzuducken, erstarrte ich einfach – wie ein Hase der sich plötzlich einem Fuchs gegenübersah. In Zeitlupe sah ich die Klinge vorschnellen und in meinen Leib verschwinden. Die Schmerzen setzten nicht sofort ein. Kurz starrte ich auf die Waffe, die bis zum Handgriff in mir steckte. Pure Agonie überrollte mich. Völlig von Sinnen riss ich die Klinge aus meinem Unterleib, nicht ahnend, dass ich damit einen noch größeren Schaden anrichtete. Blut floss warm und klebrig aus der Wunde. Das war der Moment, in dem meine Peiniger das Weite suchten, denn sie hatten ihr Exempel an mir statuiert. Keiner von ihnen wollte von den Stadtwachen erwischt werden. Diese nahmen das Gesetz in unserem Viertel zwar nicht so ernst, aber bei schweren Verletzungen mussten sie eingreifen, um zumindest einen Schein von Ordnung zu wahren.

Zu meinem eigenen Glück fanden mich meine Brüder in einer immer größer werdenden Blutlache noch vor den Wachen. Sie zogen mich hoch auf die Beine und schleppten mich nach Hause. Der Weg war die reinste Tortur, meine Sinne flackernd, die Schmerzen allumfassend. Allmählich bereitete sich Kälte von der Wunde aus. Obwohl noch jung, war mir bewusst, dass dies kein gutes Zeichen war.

Mit fahrigen Bewegungen kritzelte meine Mutter die Rune, die den Kondor rief, mit weißer Kreide an die Tür und wartete. Was dann passierte, weiß ich, weil es eine der Lieblingsgeschichte meines ältesten Bruders Yaniks war. Er sah sich selbst als Held darin und erzählte sie gerne, da er mich nach Hause geschleppt hatte und mir mein Leben genauso gerettet hatte, wie der Kondor es in Kürze tun würde.

Während meine Mutter ein Gebet nach dem anderen stammelte, starrten die beiden Jungs versteinert auf die Tür. Eine Ewigkeit verging, bis der schwarze Kondor schließlich kam. Er stand in der Tür wie ein Schatten, wobei der bauschende schwarze Mantel das Sonnenlicht von draußen komplett aussperrte. Das Gesicht blieb im Dunkel unter der übergroßen Kapuze verdeckt. Unter dem Stoff war seine Statur nicht zu erkennen, aber mein Bruder bestand darauf, dass er der größte Mann war, den er je gesehen hatte. Wortlos sei er zu meiner Pritsche gehuscht. Fachkundig wie ein Heiler vom Lazarett sei er gewesen und gemurmelt habe er wie ein Hexenmeister. Meine Mutter und Brüder hielten respektvoll Abstand. Bevor ich ohnmächtig wurde, konnte ich ihn erstaunt murmeln hören: „Ein Mädchen!“


Ich weiß noch genau, dass ich wütend über diese Feststellung gewesen war. Bevor ich ihm jedoch etwas entgegenschleudern konnte, schwanden mir endgültig die Sinne.


Mein Leben ging weiter und der schwarze Kondor verschwand daraus.

Ich lernte meine Lektion und wurde vorsichtiger. Wann immer es ging, versuchte ich Schlägereien aus dem Weg zu gehen. Ab und zu konnte ich an den Türen der Häuser das verblassende Zeichen des Kondors sehen. Irgendwie musste ich dann immer grinsen. 

Einige Jahre waren vergangen, als die Götter unser nächstes Treffen planten. Dieses Mal lag jedoch meine Mutter auf der Pritsche, leichenblass und krank. Eine Weile schon fühlte sie sich nicht mehr ganz bei Kräften. Doch immer, wenn ich sie darauf ansprach, brachte sie es fertig, mich abzulenken. Eines Tages hatte sich ihr Zustand so verschlechtert, dass ihr die Kräfte fehlten, um aufzustehen. Wir konnten es uns nicht leisten, einen örtlichen Heiler kommen zu lassen; diese Halsabschneider verlangten zu viel. So kritzelte ich mit einiger Mühe die Rune an die Tür, setzte mich neben das Bett meiner Mutter und wartete. Mein Bruder Yanick, lebte schon seit einiger Zeit nicht mehr zu Hause und Berick trieb sich irgendwo in der Stadt herum. Die Erschöpfung der letzten Tage lastete schwer auf mir. Ich hatte meine Mutter so gut ich konnte gepflegt. Aber mit den begrenzten mir zur Verfügung stehenden Mitteln konnte ich nicht viel ausrichten. Hilflos kauerte ich neben ihrer Pritsche und musste zusehen, wie das Leben langsam aus ihr wich. Meine Hände lagen gefaltet im Schoß, trotzdem zitterten sie. Den Kopf gesenkt, betete ich zum mächtigsten Gott, den ich kannte: Catadon. Bitte mach, dass er kommt!

Mein Gebet wurde erhöht.

Ich weiß noch, dass ich ihn anstarrte, als wäre er der Göttervater persönlich. Er war in ein langes, schwarzes Gewand gehüllt, das um ihn flatterte wie eine Fahne im Wind. Die tief ins Gesicht gezogene Kapuze verdeckte sein Gesicht. Nur die Spitze einer großen Nase war ins Licht getaucht und aus den tiefen Höhlen blitzen zwei graue Augen hervor. Wahrscheinlich ging er wie jeder normale Mensch, doch da die flatternde Robe seine Füße verdeckte, sah es so aus, als ob er zum Bett schwebte. Er glitt zu uns hinüber und blickte meine Mutter nachdenklich an. Ernst streckte er eine Hand aus und hielt sie über ihren Kopf. In dieser Position verharrte er so lange, bis ich langsam ungeduldig wurde.

„Es tut mir leid, ich kann nichts mehr für sie tun“, sprach er aus der Dunkelheit der Kapuze hervor.

Ich hörte die Worte, brauchte jedoch einen Moment, bis ich ihre Bedeutung verstand. Ein riesiger Eisklumpen umschloss mein Herz.

„Das stimmt nicht! Ihr lügt!“, schrie ich und starrte ihn herausfordernd an. Leider beeindruckte ihn meine jugendliche Wut nicht. Kommentarlos wandte er sich zum Gehen. Plötzlich hielt er jedoch inne.

Hoffnungsvoll stand ich auf. Konnte er meine Mutter vielleicht doch noch retten?

„Vor 6 Jahren, das verletzte Mädchen mit der Messerwunde, das warst du, oder?“

Ich nickte erstaunt, bevor ich jedoch eine Frage stellen konnte, war er weg.

Aufgewühlt kehrte ich neben die Pritsche meiner Mutter zurück. Eine Weile saß ich verstört da. Warum wollte er ihr nicht helfen? In Gedanken versunken fiel mir plötzlich auf, wie still es war. Zu still. Die mühsamen Atemzüge meiner Mutter hatten aufgehört. Sie war gestorben.


In den darauffolgenden Jahren hielt mich eine tiefe Wut auf den Kondor gefangen. Jedes Mal, wenn ich nun die Rune an den Türen sah, stieß ich Verwünschungen und Flüche aus. Es war so herrlich einfach, ihm die Schuld am Tod meiner Mutter zu geben und ihn für mein Unglück verantwortlich zu machen. Seit jenem schicksalhaften Tag lebte ich bei Onkel und Tante. Tante Yasmin wusste, dass ich meine Mutter vergöttert hatte und versuchte gar nicht erst, mit ihrer verstorbenen Schwester in Konkurrenz zu treten. Onkel Rohan interessierte sich weder für seine Frau, noch für das zusätzliche Maul, das er füttern musste. Ihm war es am liebsten, wenn man ihn mit seiner Flasche Schnaps alleine ließ. Während ich Berick noch ab und an zu Gesicht bekam, blieb Yanick verschollen. Obwohl ich mich dagegen wehrte, fing sein Gesicht in meinen Erinnerungen langsam an zu verblassen, und mit ihm die Erinnerungen an unser trautes Familienleben. 

Ich kam gerade vom Markt, als sich mein Weg und der des Kondors erneut kreuzten. An diesem Tag war ich guter Dinge. Dank meiner Überredungskünste hatte ich ein Suppenhuhn zu einem unverschämt günstigen Preis erworben. Ich hoffte, dass sich die Laune meiner Tante hob, wenn ich ihr mehr Wechselgeld als erhofft in die Hand legte. Catadon wusste, es gab nicht viel, dass diese Frau zum Lächeln brachte. 

Ich war so unbeschwert, dass ich nicht bemerkte, wie sich jemand hinter mich schlich und mir so hart auf den Kopf schlug, dass ich ohnmächtig war, bevor ich auf dem Boden aufschlug.

Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich in einem riesigen Bett. Es war groß genug, dass ich auch quer hätte darin liegen können. Eine Weile lag ich einfach da, die Augen geschlossen, das wohlige Gefühl auf einer Wolke zu liegen, genießend. Obwohl Tante und Onkel mehr Geld als meine Familie hatten, musste ich mich bei ihnen mit einem Strohsack begnügen.

Der Gedanke an meine Verwandten ernüchterte mich sofort. Ich begann mir Sorgen zu machen. Wer hatte mich hierhergebracht? Wo war hier überhaupt? Und noch wichtiger: Wer hatte mich angegriffen? Keiner der räudigen Straßenbengel, die ich kannte, konnte sich ein solches Bett leisten. Die hätten mich einfach in der Gosse liegen lassen. Wer also hatte sich die Mühe gemacht, mich hierher zu bringen?

Verwirrt schälte ich mich aus den Bettlaken und sah mich im Raum um. Der Raum war weitaus prächtiger als das Bett allein. Ich erblickte mehrere wunderschön geschnitzte Kommoden, Wandteppiche und sogar einen Spiegel, in dem ich mich erst einmal gründlich begutachtete. Ein eher kurz geratenes Mädchen sah mir verwirrt entgegen. War das wirklich ich? Ich hatte mir immer vorgestellt, dass ich eine kleinere und jüngere Version meiner Mutter sei. Aber ich war bei weitem nicht so hübsch wie sie. Ich hatte ihr blauschwarzes Haar geerbt, das mir bis zu den Schultern reichte. Für ein Mädchen hatte ich ziemlich breite Schultern, die eher zu einem Jungen passten. Weibliche Rundungen waren kaum zu erkennen, doch das war mir damals recht. Ein üppiger Vorbau kann einem zusätzliche Probleme aufbürden – und ich spreche jetzt nicht irgendwelche Haltungsfehler an. Während meine Mutter ein hübsches, ovales Gesicht mit gleichmäßigen Zügen gehabt hatte, waren mir meine Augen zu groß und meine Nase zu flach. Ob ich diese Eigenschaften von meinem Vater hatte? Da ich den Bastard nie gesehen hatte, konnte ich über sein Aussehen nur Vermutungen anstellen.

Eine Stimme in meinem Kopf erinnerte mich daran, dass ich herausfinden sollte, wo ich gelandet war. Beruhigt stellte ich fest, dass ich immer noch meine alten Sachen trug. Das bedeutete, dass niemand mich angerührt hatte. Vorsichtig schob ich die Tür einen Spaltbreit auf und spähte auf den düsteren Gang hinaus. Es war Nacht. Hinter den hohen Fenstern herrschte absolute Dunkelheit. Barfuß tappte ich in den Flur hinaus. Links den Flur hinunter fiel mir ein flackerndes Licht auf. Er war der einzige Anhaltspunkt, den ich hatte, darum näherte ich mich ihm vorsichtig. Langsam wurde ich nervös. Ja, ich gebe zu: In meinem ganzen bisherigen Leben hatte ich nie mein armes und heruntergekommenes Stadtviertel verlassen. Das größte Gebäude in unserem Bezirk war der Catadon-Tempel. Doch hier sah es nicht wie im Tempel aus. Gab es in den anderen Quartieren solche Schlösser? Oder befand ich mich gar nicht mehr in Yuard? Bei letzteren Gedanken spürte ich meine Hände klamm werden. Ich wusste sehr wohl, dass es außer der Stadt, in der ich aufgewachsen war, noch mehr gab: leere unbewohnte Flächen, Wald, Wiesen und Berge. Konnte es sein, dass ich in einem Schloss auf dem Land gelandet war? Ich beschloss, es endlich herauszufinden und schritt nun zügiger voran. Der Lichtschein kam von einer sich am Ende des Ganges öffnenden Halle. Ich befand mich im zweiten Stock, sodass sich mir eine schöne Aussicht hinunter bot. Wieder konnte ich Luxusgüter erkennen. Aber dieses Mal hatte ich keinen zweiten Blick für diese übrig. Der an einen Tisch lehnende Mann nahm meine ganze Aufmerksamkeit ein. Er war groß und hager. Ein schwarzes Gewand fiel um seinen schlanken Körper. Genau in dem Moment als ich an die Balustrade trat, hob er seinen Kopf. Dunkelgraue kurze Haare rahmten ein kantiges Gesicht ein, in dessen Mitte eine große, markante Nase prangte. Ich versuchte sein Alter zu schätzen, musste jedoch bald aufgeben. Irgendwie wirkte er zeitlos, wie er so dastand und zu mir hochstarrte. Moment, ich wollte nicht, dass er mich so anstarrte!

„Wer seid Ihr?“, rief ich hinunter.

„Willst du nicht nach unten kommen? Das wäre höflicher“, entgegnete er, meine Frage ignorierend. Diese Worte verärgerten mich. Ich hielt nicht viel von Höflichkeitsfloskeln und dass ich ihn mit Ihr angesprochen hatte, grenzte schon fast an ein Wunder. Aber schließlich sah ich ein, dass es für beide von uns mühsam werden würde, ein Gespräch über diese Distanz hinweg zu führen. Langsam stieg ich die Treppe hinunter und ließ ihn dabei nicht aus den Augen. Allmählich fragte ich mich, ob er hier alleine lebte, denn bis jetzt hatte ich noch keine andere Menschenseele erblickt. Er musterte mich ebenfalls, als ich mich langsam näherte. Unter dem kritischen Blick aus diesen grauen Augen schrumpfte meine Selbstsicherheit wie Eis an einem heißen Tag in der Trockenzeit. Ein Gedanke schoss mir durch den Kopf, als ich seine grauen Augen sah. Konnte es sein, dass ich tatsächlich dem schwarzen Kondor höchstpersönlich gegenüberstand?

„Guten Abend, Katana“, begrüßte er mich und verzog seinen dünnen Mund zu einem Lächeln.

„Mein Name ist Mariana!“, grollte ich und fragte mich, woher diese giftige, in mir brodelnde Wut plötzlich kam.

„Von nun an bist du Katana. Mariana war ein Niemand, Katana wird etwas Größeres werden.“

„Ich bin kein Niemand“, fauchte ich und funkelte ihn wütend an. Dummerweise schien er davon nicht sonderlich beeindruckt zu sein.

„Wann hast du das letzte Mal etwas Selbstloses getan? Wann jemandem geholfen oder jemanden gerettet?“

Ich setzte zu sprechen an, klappte meinen Mund aber wieder zu. Mein erster Instinkt sagte mir, dass ich diese Frage schnell beantworten sollte, aber plötzlich herrschte in meinem Kopf gähnende Leere.

Deswegen versuchte ich es von einer anderen Seite: „Nur, weil ich in der letzten Zeit niemandem geholfen habe, heißt das noch lange nicht, dass ich ein Niemand bin. Was bringt es, wenn ich anderen Menschen das Leben einfacher mache, es mir selbst aber nicht gutgeht?“

Statt einer Antwort schenkte er mir ein breites Grinsen. „Für einen ungeschulten Flegel argumentierst du schon ganz gut. Du hast Potenzial, Katana. Darauf kann ich aufbauen.“ Erwartungsvoll sah er mich an.

Erwartete er Freudensprünge von mir? „Ich weiß doch nicht einmal wer Ihr seid! Warum soll ich mich mit Euch einlassen?“, entrüstete ich mich.

Die Worte schienen ihn zu treffen. Seine sorgfältig neutrale Maske bekam einen Sprung. Die zwei Falten auf seiner Stirn vertieften sich und seine Lippen wurden noch dünner.

„Wenn du bis jetzt nicht herausgefunden hast, wer ich bin, dann habe ich dich vielleicht doch falsch eingeschätzt, Mädchen“, knurrte er.

Mädchen.

Beim Klang dieses Wortes rieselte eine Gänsehaut meine Wirbelsäule hinunter.

„Ihr seid es tatsächlich!“, stieß ich ungläubig heraus. Plötzlich war mir klar, woher der giftige Stachel in mir kam. Es war mein sorgfältig gepflegter Hass gegen den schwarzen Kondor.

Ich taumelte einige Schritte von ihm weg. Mein erster Instinkt war, die Beine in die Hand zu nehmen. Stattdessen zischte ich: „Warum habt Ihr sie nicht gerettet? Ihr hättet sie heilen können!“

Nun hatte er sein Gesicht wieder unter Kontrolle. Allerdings überlegte er erst, bevor er erwiderte: „Sie stand bereits an der Schwelle des Todes. Von da hole ich niemanden mehr zurück. Manchmal muss ich dem Schicksal seinen Lauf lassen.“

Noch während er sprach, spürte ich Hitze in mir aufsteigen. Mein Herz schlug doppelt so schnell und ich verspürte den überwältigenden Drang, ihn zu schlagen. Ich konnte mich gerade noch so zurückhalten. Nicht, weil ich ihn nicht schlagen wollte, sondern weil ich in den letzten Jahren gelernt hatte, dass Austeilen selten die richtige Methode war, um einen Konflikt zu lösen – insbesondere dann, wenn der Gegner mehrere Köpfe größer war.

Stattdessen schrie ich mit überschlagender Stimme: „Schön, dass Ihr so verdammt hehre Prinzipien habt, an die Ihr Euch halten könnt! Euer Schicksal könnt Ihr Euch sonst wohin schieben!“ Bebend wandte ich mich ab. Heiße Tränen stiegen mir in die Augen. Bei Catadon, es war lange her, dass ich geweint hatte. Halb blind stolperte ich die Treppe hinauf und torkelte in mein Zimmer zurück. Mittlerweile schüttelten Schluchzer meinen Körper. Ich warf mich auf das Bett und vergrub mein Gesicht in den Kissen. Noch nie hatte der Verlust meiner Mutter so schwer auf mir gelastet. Ich fühlte mich völlig allein und hilflos.

Schließlich schlief ich erschöpft ein.

Den gesamten nächsten Tag blieb ich in meinem Zimmer. Es gab einen Nachttopf, den ich benutzen konnte, und irgendwann erschien wie von Zauberhand ein Tablett mit Essen. Hungrig fiel ich darüber her. Danach verkroch ich mich wieder im Bett. Ich schlief schlecht und wälzte mich von einer Seite auf die andere. So konnte es nicht weitergehen, dessen war ich mir bewusst. Am nächsten Morgen musste ich mich wieder dem Kondor stellen. Entweder er ließ mich gehen oder ... ja was eigentlich? Was hatte er mit mir vor? Er hatte von meinem Potenzial gesprochen. Aber was hieß das? Die Lösung dieses Rätsels schien naheliegend, doch ich weigerte mich, diese in Betracht zu ziehen. Ich wollte nicht hoffen. Denn in den letzten Jahren hatte ich damit aufgehört und mich damit abgefunden, dass mein Leben unbedeutend sein würde. Ich hatte nicht das Glück, in eine reiche Familie hineingeboren worden zu sein, und ich hatte auch keine besonderen Talente. Wahrscheinlich würde ich nie aus Yuard herauskommen – das hatte ich zumindest angenommen, bis der Kondor mich hierher entführt hatte. Wo auch immer hier genau war.

Mein eigenes Selbstmitleid und die Abgestumpftheit ekelten mich an, doch ich fand keinen Weg hinaus. Seit dem Tod meiner Mutter war ich antriebslos. Wut regte sich wieder in mir. Wie konnte dieser Fremde es nur wagen, mir eine bessere Zukunft vorzugaukeln? Ich musste weg hier!

Abrupt stand ich auf und tappte barfuß zur Tür. Schwungvoll riss ich sie auf. In dem Moment wurde mir bewusst, dass ich keine Ahnung hatte, wo der Ausgang war. Aber davon wollte ich mich nicht aufhalten lassen. Bestimmt stapfte ich Richtung große Halle. Von dort musste die Tür sicher zu sehen sein.

Anstatt auf das Tor zur Freiheit, stieß ich am Fuße der Treppe auf den schwarzen Kondor. Er hatte die gleichen Sachen an wie bei unserer ersten Begegnung – aber das hatte ich auch. Der Unterschied war lediglich, dass ich mittlerweile nicht mehr nach Rosen duftete.

„Katana“, begrüßte er mich.

Ich wollte ihm bereits eine scharfe Entgegnung entgegenschleudern, als ich mich daran erinnerte, dass ich gehen wollte. Warum also einen Streit mit ihm anfangen? Es wäre verschwendete Energie.

„Zeigt mir den Ausgang! Ich kehre nach Yuard zurück.“

Halb erwartete ich, dass er mich zurückhalten wollte. Als er einen Schritt zur Seite trat, spürte ich einen Stich der Enttäuschung durch meine Brust rasen.

„Folge dem Korridor dort. Du wirst zwei Tage brauchen, bis du wieder in der Hauptstadt bist“, meinte er lediglich.

„Zwei Tage?“, japste ich entsetzt.

Wie würde ich die Hauptstadt wiederfinden? Würde ich überhaupt zwei Tage lang laufen können?

„War ich so lange ohnmächtig, sodass Ihr mich hierherbringen konntet?“, überlegte ich laut.

„Nein“, sprach der Kondor amüsiert. „Ich habe dich mit Magie ins Schloss geholt.“

Er musste das Zucken in meinem Gesicht gesehen haben, als er das Wort ‚Magie‘ ausgesprochen hatte, denn er fügte an: „Ich kann dich Magie lehren; und noch vieles mehr, wenn du hierbleibst.“

Da war sie wieder, diese vermaledeite Hoffnung. Ein Teil von mir schmachtete danach, wie ein verdurstendes Blümchen in der Wüste sich nach Wasser sehnte.

Abwesend begann ich mit den Fingern mein schwarzes Haar zu kämmen. „Ihr habt meine Mutter getötet“, stellte ich schließlich fest.

„Ich habe sie sterben lassen“, widersprach er.

„Das macht es nicht besser.“

Er seufzte. „Nein.“

Mehr hatte er dazu offenbar nicht zu sagen. Dieser Umstand besänftigte mich auf wundersame Weise. Hätte er versucht, seine Tat schönzureden, wäre ich sicher wieder wütend geworden. Aber so blieb mir nichts anderes übrig als ihn für seine Ehrlichkeit zu respektieren.

„Kann ich überhaupt Magie lernen? Muss man dafür nicht ... besonders sein?“, stellte ich endlich die Frage, die mich seit seiner Enthüllung beschäftigte.

„Jeder kann Magie lernen. Aber nicht jeder hat die gleiche Affinität dafür, sprich; nicht jeder ist gleich gut darin.“

„Und ich werde gut sein? Ich habe dieses Affini-Dings?“

„Du wirst viel lernen müssen. Es wird nicht einfach. Aber schlussendlich denke ich, dass du gut darin sein wirst, ja.“

Diese Worte ließ ich erst einmal sacken. Der mächtigste Magier der Welt hatte das Gefühl, ich könnte eine Magierin werden – und dazu noch eine gute?

Der kleine Funke Hoffnung in mir loderte zu einer mächtigen Flamme auf. Eine angenehme Wärme breitete sich in meinem Körper aus und vertrieb die bleierne Schwere in meinen Gliedern.

Mir wurde klar, dass ich meine Entscheidung eben getroffen hatte. Es gab im Grunde nur eine akzeptable Reaktion auf dieses Angebot. 

„Ich werde eine Heldin“, flüsterte ich mehr zu mir als zu ihm.

Er nickte. „Ja, aber bis dahin hast du noch einen weiten Weg vor dir.“


„Katana, bist du wach? Ich erwarte dich unten in der Halle!“

Froh darüber, dass die Warterei endlich vorbei war, folgte ich seiner Aufforderung. In einer der Kommoden hatte ich eine Hemd-Hosen-Kombination entdeckt. Diese zog ich an, spritzte mir ein wenig Wasser ins Gesicht und ging hinunter. 

Der schwarze Kondor schien keine Abwechslung im Kleiderschrank zu mögen, denn er trug wie immer seine schwarze Robe.

„Guten Morgen“, begrüßte er mich.

„Morgen.“

Verlegen sah ich ihn an. Der Mann war ein Fremder, und ich hatte noch keine Ahnung wie ich ihn einschätzen musste. Doch sein Gesicht blieb neutral.

„Magst du einen Spaziergang machen?“, fragte er mich unerwartet.

Ich hätte lieber erst gefrühstückt, traute mich jedoch nicht, etwas zu sagen, deswegen nickte ich.

Die Umgebung wechselte so unvorbereitet, dass ich gewaltig erschrak. Ich verlor das Gleichgewicht und purzelte vornüber. Der Kondor schien sich darüber zu amüsieren. „Daran wirst du dich gewöhnen müssen, wenn du bei mir lebst.“

„Im Moment bereue ich meine Entscheidung“, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und gab mein Bestes, mich nicht über seine Schuhe zu übergeben. Meine Knie zitterten wie Espenlaub. Mühsam kämpfte ich mich wieder auf die Beine.

Er lachte. Es war ein nettes Lachen, das ihm gut stand und mir besser gefiel als seine emotionslose Maske.

Erst als ich meine Magensäfte wieder unter Kontrolle hatte, fiel mir auf, dass wir uns in einer erstaunlichen Landschaft befanden. Um uns erhoben sich Berge, die mit saftigen grünen Matten bedeckt waren. Wind strich darüber und das Gras kräuselte sich wie eine Seeoberfläche. Noch nie hatte ich solche intensiven Farben in der Natur gesehen. Entzückt drehte ich mich einmal im Kreis. Wir standen auf einem Hügel und genossen einen wunderschönen Rundumblick. Der blaue Himmel war mit lustigen Wölkchen gespickt, die einander wie kleine Schafe über das Firmament jagten. 

„Wir sind auf dem Land, in den Bergen!“, seufzte ich.

„Berge? Ich sehe keine Berge. Das sind die Hügel von Cimbri.“

Ich warf ihm einen säuerlichen Blick zu und meine Begeisterung legte sich wieder. Würde er mir meine Unwissenheit die ganze Zeit vorhalten? „Und was machen wir jetzt?“, fragte ich schließlich.

„Wir gehen spazieren, schauen uns die Gegend an. Dabei werde ich dir ein paar Dinge erklären.“

Ich nickte bereitwillig und machte eine übertriebene Geste in eine unbestimmte Richtung: „Nach Ihnen, werter Herr!“ Er musterte mich kurz verwirrt, bis ihm klar wurde, dass ich eben versucht hatte, lustig zu sein. Seine Mundwinkel zuckten, aber dieses Mal lachte er nicht. Wir mussten uns wohl noch aneinander gewöhnen.

Der Spaziergang war trotz meiner insgeheimen Befürchtungen alles andere als langweilig. Der Kondor wusste so unendlich viel: über die Pflanzen, die wir sahen, über Tiere, die wir entdeckten, ja sogar über das Land selbst erzählte er mir erstaunliche Geschichten, die mich in ihren Bann zogen. Im Laufe dieses Tages wurde mir klar, wie wenig ich doch über die Welt wusste. Bisher hatte diese lediglich aus meinem Viertel in der Stadt bestanden, und ich hatte schon dieses für groß gehalten. Während mir mein Meister von der Windkleie, ein Kraut mit heilenden Kräften, erzählte, freundete ich mich allmählich mit dem Gedanken an, bei diesem seltsamen Kauz – Kondor – zu bleiben. Klar, wir mussten erst noch lernen, miteinander auszukommen, aber schlechter als mein bisheriges Leben konnte es nicht werden. Was hatte ich zu verlieren, wenn ich bei ihm blieb? Tante und Onkel vermissten mich sicher nicht. Sie würden froh sein, dass sie mich nicht mehr durchfüttern mussten. Berick sah in mir auch bloß eine Bürde. Am liebsten wäre er ebenso verduftet, wie Yanick es getan hatte. Vielleicht hatte er seine Sachen auch bereits gepackt und war verschwunden.

Nein, das Leben in Yuard übte keinen großen Reiz auf mich aus. Beim Kondor hingegen konnte ich mehr sein als Mariana, das Waisenkind. Plötzlich verstand ich den Reiz des neuen Namens: Katana. Er implizierte Stärke, war eine Neugeburt und die Möglichkeit, eine Heldin zu werden. Der schwarze Kondor hatte mich ausgewählt. Mich.

Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, etwas Besonderes zu sein.


Am Abend brachte der Kondor uns wieder zurück in sein Schloss. Ich war müde, meine Füße taten weh und ich hatte einen Bärenhunger. Wir hatten unterwegs zwar kalte Wurst und Brot gegessen, die er bequemerweise herbeigezaubert hatte, aber das war bereits zu lange her. Anstatt in ein Esszimmer mit einem reich gedeckten Tisch, führte er mich auf einen Innenhof hinaus.

„Ich bin hungrig, müde und will ins Bett!“, protestierte ich Ungutes ahnend.

„Der Tag ist noch nicht vorbei. Dein Abendmahl musst du dir verdienen.“

„Wenn ich heute noch mehr lerne, platzt mein Kopf.“

„Das ist dann wohl dein Problem“, schränkte er ein und lächelte leicht. 

Ein Winken seiner Hand reichte und ein gepolstertes Hemd fiel aus dem Nichts in meine Arme. Er gab mir zu verstehen, dass ich es überstreifen sollte und fragte: „Hast du Erfahrungen mit Waffen?“

„Nein. Ich habe nur mit meinen eigenen Fäusten gekämpft“, gestand ich.

„Dann lass uns sehen, wie gut deine Reflexe und Instinkte sind.“

Er warf mir einen Stock zu, den ich geschickt auffing. Das erwartete Lob kam jedoch nicht. Stattdessen sagte er trocken: „Du kannst deinen Stock von da oben herunternehmen. Dort nützt er dir nichts.“

Ich gehorchte und hielt ihn leicht schräg vor mich.

„Versuche dich einfach nur zu verteidigen.“

Ich wollte nicken, doch da griff er mich auch schon an. Sein Stock kam von oben, also riss ich meinen wieder hoch. Fließend wechselte er die Richtung und traf mich seitlich. Das gepolsterte Hemd nahm dem Aufprall die gröbste Wucht, trotzdem war er unangenehm. Einen Schlag konnte jeder vertragen, doch wenn es dann zwanzig und mehr wurden, hörte der Spaß schnell auf. Die Erschöpfung des Tages machte sich bemerkbar und ich wurde immer gereizter. Irgendwann ließ ich mich einfach auf den Boden plumpsen und weigerte mich, noch länger den Stock gegen ihn zu schwingen. Das einzige, was mir das jedoch brachte, waren einige blaue Flecken mehr.

Erst als mir schlicht und einfach die Kraft fehlte, ihm noch länger Stand zu halten, erhielt ich endlich mein lang ersehntes Essen. Leider war ich so erschöpft, dass ich den Gaumenschmaus nicht gebührend würdigte. Schnell schaufelte ich das Kartoffelpüree in mich hinein und spülte es mit Apfelsaft herunter. Beim Fleisch ließ ich mir ein wenig mehr Zeit. Es war lange her, seit ich rotes Fleisch gegessen hatte. Solche Delikatessen wurden lediglich bei besonderen Anlässen serviert. Onkel und Tante hatten jedoch nicht viel zu feiern gehabt und so war Geflügel das höchste der Gefühle gewesen. Als der Kondor mir ausdruckslos eine Schüssel mit Karotten, Blumenkohl und Erbsen hinschob, folgte ich seiner Aufforderung gerne. Ich aß bis mein Magen zu platzen drohte. 

In dieser Nacht schlief ich wie ein Stein. Ich konnte mich nicht einmal an meine Träume erinnern, was bei mir ziemlich ungewöhnlich war. Am nächsten Morgen weckte mich eine vertraute Stimme: „Ich erwarte dich in einer viertel Stunde in der Halle. Wir frühstücken zusammen.“

Während wir aßen, schwiegen wir beide. Meine Tante hatte die mühsame Angewohnheit gehabt, bereits frühmorgens schon vor sich hinzuplappern wie ein Papagei. Mir fiel das Aufstehen in der Früh zwar einfacher als meinen Brüdern, aber ich genoss die Ruhe der ersten Morgenstunden. Dass der Kondor es gleich hielt, freute mich. Gut möglich, dass ich etwas Unüberlegtes getan hätte, wenn er mich mit weiteren Lektionen eingedeckt hätte. Nachdem wir das Mahl beendet hatten, verschwanden die dreckigen Teller durch ein Winken seiner langen Hand.

„Komm, jetzt zeige ich dir, wie man den Stockkampf richtig anpackt.“

Diese Worte erstaunten mich sehr.

„Heißt das, Ihr habt es mich den ganzen letzten Abend kreuzfalsch machen lassen?“, empörte ich mich.

„Nur so konnte ich herausfinden, was du schon beherrschst und was nicht.“

„Und?“, wollte ich wissen, doch er gab mir keine Antwort und bedeutete mir, mich neben ihn zu stellen. Geduldig erklärte er mir alles von der Grundstellung bis zu den wichtigsten Hieben. Wenn ich einen Fehler machte, korrigierte er mich, ließ aber tadelnde Sprüche sein. Als er die Lektion beendete, sagte ich ihm, dass mir der heutige Unterrichtsstil viel besser gefalle. Als Antwort wuschelte er mir liebevoll durchs Haar. Die Geste überraschte mich und so blieb ich stehen. Dem Ausdruck in seinem Gesicht nach zu urteilen, wunderte er sich ebenfalls über seine Reaktion. Verlegen zog er seine Hand wieder zurück und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Er räusperte sich: „Nach dem Mittagessen wirst du deine erste Lesestunde bekommen.“ Ich nickte und folgte ihm treu wie ein Hündchen in die Halle. 

Den Rest des Tages achtete der Kondor sorgsam darauf, seine emotionslose Maske nicht fallen zu lassen. Ich hatte nicht viel Zeit, mich darüber zu wundern. Lesen war schwieriger als ich gedacht hätte, aber es war nichts im Vergleich zur nächsten Folter, die sich Mathematik nannte. Der Gedanke, was man alles mit Zahlen anstellen konnte, verursachte mir Schwindel. Dann doch lieber Buchstaben, beschloss ich. 

So verlief mein Tagesablauf einige Monate lang. Mit dem Stock machte ich gute Fortschritte. Als ich jedoch Schritte und Handarbeit kombinieren musste, wurde ich unsicherer. Der Kondor zeigte mir Abläufe, bei denen genau festgelegt war, wie der Kämpfer einem oder mehreren fiktiven Angreifern entgegentrat. Ich hatte Mühe, mir die Muster zu merken. Geduldig erklärte mein Meister, dass mein Problem im Kopf sei. Meine Arme und Füße wüssten schon, was zu tun sei, denn meine Muskeln hätten sich die Bewegungen mittlerweile eingeprägt. Wie schon so oft, bewahrheiteten sich seine Worte und bald hatte ich dieses Problem im Griff.

Nachdem ich mich mit den einzelnen Schriftzeichen vertraut gemacht hatte, fing ich an, Texte zu lesen. Meistens waren es Briefe von irgendwelchen Kaufleuten an irgendwelche Händler. In Mathematik stellte sich heraus, dass ich bei den sogenannten Kopfrechnungen nicht schlecht war. Sobald sich aber etwas über mein Vorstellungsvermögen erhob, war ich hoffnungslos verloren. Zum Glück hatte der schwarze Kondor nicht vor, mich zu einem Mathematikgenie zu machen.

Ab und zu unterbrach er den Alltag und wir unternahmen einen ausgiebigen Spaziergang, bei dem das Lernen natürlich nicht zu kurz kam.

Zwischendurch kam es immer mal wieder vor, dass mein Meister kurz verschwand. Er sagte mir nicht, wohin er ging, doch ich nahm an, dass er jeweils als der schwarze Kondor herumflatterte und den Menschen half. Meistens war er nach einer Stunde zurück und setzte den Unterricht fort, als wäre er gar nicht weg gewesen. Meine Fragen diesbezüglich ignorierte er stur. Da er mich stets beschäftigte, hatte ich nie lange Zeit, mich über seine kuriosen Charaktereigenschaften zu wundern. Anlass dazu gab er mir weiß Catadon genug. Ich bekam das Gefühl, dass er es gewohnt war, alleine zu sein. Sein Schloss war riesig und leer. Da er alles herbeizaubern konnte, brauchte er keine Bediensteten. Zudem hatte er jetzt mich. Immer wieder mal gab er mir eine Aufgabe, die er auch hätte mit Magie erledigen können. Wenn ich ihn darauf ansprach, hatte er stets eine Antwort bereit wie: „Das stärkt deine Armmuskulatur“ oder „Es macht aber viel mehr Spaß, dir dabei zuzusehen, wie du dich abmühst“.

Sein Humor war gewöhnungsbedürftig und meiner Meinung nach oft fehlplatziert, weil ich der Ursprung seiner Heiterkeit war. Je nachdem wie ich selbst gelaunt war, konnte ich mal besser, mal schlechter damit umgehen.

Auch sein Gemüt war wankelmütig. Obwohl es auch sein könnte, dass ich der Grund für seine Verstimmung war. Wenn ich eine Aufgabe erledigt hatte und ihn aufsuchte, sah er mich manchmal mit einem furchtbar gereizten Blick an und musste sich sichtlich kontrollieren, um nicht barsch zu reagieren.

Ich hatte Erfahrung mit genervten Erwachsenen. Meine Tante hatte ihre Unzufriedenheit mit sich selbst und der Welt gerne an mir ausgelassen und mich mit allerlei Schandnamen bezeichnet. Am Schluss hatten wir kaum mehr ein anständiges Wort miteinander wechseln können. Deswegen rechnete ich es meinem Meister hoch an, dass er versuchte, sich zu beherrschen und gab mir Mühe, es ihm recht zu machen.

Genauso auch an jenem Tag, als er verkündete, ich hätte mir einen freien Tag verdient und dürfe mit dem Hund spielen gehen. Ich nahm das Angebot freudig an, obwohl ich während meines ganzen bisherigen Aufenthalts keinen Hund im Schloss gesehen hatte. Als ich jedoch in die Halle hinunterging, kam mir ein hechelndes Ungetüm aus Fell entgegen. Der Kondor schärfte mir ein, ich solle ihn nicht verlieren und schon hatte er mich in eine hügelige Graslandschaft gebracht. Keine Ahnung, wie ein Ast hierher gelangen konnte, wo es doch weit und breit keinen Baum gab, doch der Ast lachte mich geradezu an und wollte unbedingt herumgeworfen werden. Der Hund, dessen Name ich nicht kannte, war ein schlanker Windhund mit seidigem, cremefarbenen Haar. Zur Schnauze hin verdunkelte sich der Pelz. Unter den langen Fransen blickten mich zwei warme, braune Augen an. Mein Glück über den unverhofft freien Tag kaum fassend, las ich den Stock auf und warf ihn ins Gras hinaus. Schnell wie ein Pfeil jagte der namenlose Hund hinterher und brachte mir seine Trophäe wieder. Diesen Ablauf wiederholten wir einige Male. Plötzlich blieb er knapp zwei Meter vor mir stehen, den Ast zwischen die Zähne geklemmt. Er betrachtete mich kurz, machte kehrt und lief davon.

„He! Nein, komm zurück!“ Einen Augenblick stand ich verdutzt da und starrte dem immer kleiner werdenden Hund nach.

„Verlier mir den Hund nicht!“, erklang die Stimme meines Meisters in meinem Kopf.

Ich fluchte noch einmal laut auf und setzte dem Köter nach.

Er ließ sich den ganzen Tag lang nicht fangen. Tatsächlich gelang es mir nicht, ihm auch nur näher als drei Meter zu kommen. Sobald ich aufholte, lief er wieder weg, nur, um erneut auf mich zu warten. So konnte er sich ausruhen, während ich mich zu Tode lief. Ich fragte mich, warum ich diese Strapazen überhaupt auf mich nahm. Ich hätte mich doch einfach hinsetzen und warten können, bis mich mein Meister zurück in sein Schloss geholt hätte. Doch mein Dickschädel sprach heftig gegen diese Lösung des Problems. Schließlich war es eine einfache Aufforderung gewesen: Verlier den Hund nicht. 

Ich wollte meinen Meister nicht enttäuschen oder gar wütend machen. Wer wusste schon, was der Hund ihm bedeutete? Also verfolgte ich die verdammte Töle den ganzen Tag lang, bis die Sonne unterging und ich mich plötzlich wieder im Schloss des Kondors fand. Mein Atem ging immer noch keuchend und ich musste mich erst einmal beruhigen.

„Diese Ausgeburt der Hölle ist mir einfach abgehauen“, brachte ich zwischen zwei japsenden Atemzügen heraus.

„Du meinst diese hier?“ Der Kondor tätschelte den schmalen Kopf des Hundes.

„Das … aber … ich ...“, stotterte ich.

„Wie bitte?“

„Sagt mir jetzt nicht, dass diese ganze Aktion geplant gewesen war!“, stöhnte ich, Ungutes ahnend. Er lächelte und nickte. Ich suchte vergeblich nach einem schuldbewussten Ausdruck in seinem Gesicht.

„Ich wollte, dass du deine Ausdauer ein bisschen trainierst.“

„Für was?“

„Weil es dir helfen könnte.“

„Bei was?“

„Bei dem, was auf dich zukommt.“

„Und was kommt auf mich zu?“

„Das wirst du schon noch erfahren.“

„Wann?“

„Geh jetzt schlafen!“

„Aber …“