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Übersetzung aus dem Englischen von Barbara Schaden
ISBN 978-3-492-97978-8
© Piper Verlag GmbH, München 2017
© Felix Licensing BV, 1993, 1995, 1999, 2000, 2001, 2003
Die Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel »Loot, and other Stories« bei Farrar, Straus & Giroux
© der deutschsprachigen Ausgabe: Berlin Verlag GmbH, Berlin 2003
Covergestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: FinePic®, München
Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe
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[1] »Catch As Catch Can«, Los Angeles Times Book Review (5. Dezember 2002), Rezension über Mark Honigsbaum: The Fever Trail (Farrar, Straus and Giroux 2002), von Dr. Claire Panosian Dunavan.
[2] Andrew Marvell, To his Coy Mistress; übersetzt von Paul Celan: An seine stumme Geliebte.
[3] A. P. Sinnett, The Occult World (Kessinger Publishing 1981).
[4] The American Heritage Dictionary of the English Language.
[5] Many times man lives and dies, / Between his two eternities / That of race and that of soul. W. B. Yeats, »Under Ben Bulben«.
[6] National Geographic (3/1/32), zitiert von Ruth White, Karma & Reincarnation (Weiser Books 2001).
[7] Ich war stets Teil davon, und vielleicht ist kein Entrinnen aus dem Vergessen und Wiederkehren, Leben um Leben, wie ein Insekt im Gras: W. B. Yeats.
[8] Amos Oz, Allein das Meer, (Suhrkamp 2002, Übersetzung von Frank Heibert nach der englischen Fassung von Nicholas de Lange, S. 180).
[9] Harry Mulisch, Die Prozedur, (Hanser 1999, aus dem Niederländischen von Gregor Seferens).
[10] W. B. Yeats, »On Woman«.
[11] T. C. Lethbridge, Witches (Lyle Stuart 1969), zitiert von Ruth White, Karma & Reincarnation, a. a. O.
[12] Ebda.
Es war einmal, irgendwann in unserer Zeit, ein Erdbeben: Aber dieses ist das stärkste, das je registriert wurde, seitdem die Erfindung der Richter-Skala apokalyptische Warnungen für uns messbar gemacht hat.
Es kippte einen Festlandssockel. Erschütterungen solcher Art verursachen häufig Fluten; dieser Koloss bewirkte das Gegenteil, er zog den Ozean zurück wie ein tiefes Atemholen. Die geheimste Ebene unserer Welt lag enthüllt: der Meeresboden mit allem Versunkenen – Schiffswracks, Häuserfassaden, Kerzenlüster, Toilettenschüssel, Piratentruhe, Fernsehapparat, Postkutsche, Flugzeugrumpf, Kanone, Marmortorso, Kalaschnikow, Blechgehäuse einer Busladung Touristen, Taufbecken, Spülmaschine, Computer, Schwerter in Scheiden aus Entenmuscheln, versteinerte Münzen. Der verblüffte Blick raste über alle diese Dinge hinweg; die Bevölkerung, die aus ihren einstürzenden Häusern in die Hügel hinter der Küste geflohen war, lief hinab. Wo das Brüllen und Krachen der Erde sie zu Tode erschreckt hatte, war jetzt blankes Schweigen. Der Speichel des Meeres glitzerte auf diesen Gegenständen; sicher ist, dass hier unten die Zeit nicht existiert, nie existiert hat, wo die Dinge der Vergangenheit und der Gegenwart, wie sie liegen, keine chronologische Ordnung haben, alles ist eins, alles ist nichts – oder alles ist auf einmal besitzbar.
Die Leute rannten hin, um zu nehmen; nehmen, nehmen. Dies war – wann, irgendwann, jederzeit – wertvoll, jenes könnte nützlich sein, was war dies, nun, irgendwer wird es wissen, jenes hat bestimmt jemand Reichem gehört, jetzt gehört es mir; wenn du dir nicht holst, was dort drüben liegt, wird es ein anderer tun, Füße rutschten und schlitterten auf Seetang und versanken im nassen Sand, nach Luft ringende Meerespflanzen gafften sie an, niemand bemerkte, dass keine Fische da waren, die lebenden Bewohner dieser Unerde waren mit dem Wasser mit- und davongerissen worden. Der gewöhnliche Anlass für Plünderungen von Geschäften, während der politischen Unruhen für die Leute reine Routine, war damit nicht zu vergleichen. Orgiastische Freude verlieh Männern, Frauen und ihren Kindern die Kraft, um aus Schlamm und Sand alles Mögliche hervorzuzerren, von dem sie nicht gewusst hatten, dass sie es haben wollten, beschleunigte ihre wankenden Schritte, während sie umherstreiften, und das war mehr als ein Ausnutzen des Zufalls: Sie beraubten die Macht der Natur, vor der sie hilflos geflohen waren. Nehmen, nehmen; während sie zulangten, konnten sie die Zerstörung ihrer Häuser und den Verlust vergänglicher Besitztümer vergessen. Sie hatten die Stille mit ihren hin und her fliegenden Rufen zerrissen, und unter ihrem Geschrei, das wie das Geschrei der abwesenden Möwen war, hörten sie nicht, dass aus der Ferne ein Geräusch näher kam und anschwoll wie ein großer Wind. Und dann kehrte das Meer zurück und verschlang sie alle, um sie seiner Schatztruhe einzuverleiben.
So viel ist bekannt; aus Fernsehberichten, die in Wahrheit nichts zu zeigen hatten als die blaugraue Haut über der Tiefe, aus Radiointerviews mit den wenigen Gebrechlichen, Schüchternen oder Vorsichtigen, die nicht aus den Hügeln herabgekommen waren, und aus den Zeitungsartikeln über die Toten, die, vom Meer aus unbekanntem Grund zurückgewiesen, irgendwo entlang der Küste angeschwemmt wurden.
Aber die Erzählerin kennt etwas, das sonst niemand kennt; die Gezeiten der Fantasie.
Also hört, da ist ein Mann, der sein Leben lang einen bestimmten Gegenstand haben wollte. Er hat eine Menge – Dinge –, von denen er manche häufig betrachtet, denen er also zugetan sein muss, während er andere nicht zur Kenntnis nimmt, absichtlich, wahrscheinlich hätte er sie gar nicht erst erwerben sollen, aber er kann sie nicht abstoßen, da ist eine Art-nouveau-Lampe, neben der er zu lesen pflegt, und hinter seinem Bett hängt ein japanischer Holzschnitt, ein Hokusai, »Die große Woge«, dabei sammelt er eigentlich nichts Asiatisches, obwohl das Bild, hätte es an der Wand ihm gegenüber gehangen, vielleicht mehr gewesen wäre als nur ein Teil der Einrichtung, aber es war jahrelang außer Sicht hinter seinem Kopf. Alle diese – Dinge –, aber nicht das Eine.
Er ist ein Mann im Ruhestand, seit langem geschieden, er hat sich eine alte, aber gut ausgestattete Villa in den Hügeln an der Küste als den Ort ausgesucht, von dem aus er dem Ansturm der Stadt den Rücken kehren kann. Eine Frau aus dem Dorf kocht und putzt und belästigt ihn sonst nicht mit Kommunikation. Sein Leben ist gesegnet frei von Aufregungen, er hatte genug Störungen dieser Art, angenehme und unangenehme, aber der Blick von seinem Aussichtsposten auf etwas, das nie hätte passieren, niemals hätte gewährt werden dürfen, ist wie ein Befehl. Er ist einer von denen, die hinunterhasten, hinaus auf den glitzernden Meeresboden, die bloßgelegte Vergangenheit – Trümmer = Schatz, ein und dasselbe.
Wie alle anderen Plünderer, mit denen er sich nicht gemein macht, nichts gemein hat, hastet er von Gegenstand zu Gegenstand, dreht bemalte Porzellanscherben um, die von Zerstörung, Preisgabe und Rost geschaffenen Skulpturen, die salzwassergereiften Weinfässer, ein versunkenes Rennmotorrad,
ein Zahnarztstuhl, und seine Schritte landen auf zerfallenen menschlichen Rippen und Mittelfußknochen, die er nicht erkennt. Doch im Unterschied zu den anderen nimmt er
nichts – bis: da, geschmückt mit Girlanden aus orangebraunem Seetang, eingeklemmt zwischen perlmutternen Muscheln und roten Korallenkrusten, ist das Objekt. (Ein Spiegel?) Es ist, als wäre das Unmögliche wahr geworden; er wusste, dass es dort war, auf dem Meeresgrund, deshalb wusste er nicht, was es war, hatte es vorher nicht finden können. Es konnte nur von etwas enthüllt werden, das nie zuvor passiert war, der größten Erschütterung unserer Erde, die je auf der Richter-Skala gemessen wurde.
Er hebt es auf, das Objekt – den Spiegel –, der Sand rieselt herab, das Wasser, der einzige klare Blick, der ihm geblieben war, rinnt von ihm ab, der Mann nimmt es mit, nimmt es endlich in Besitz.
Und hinter dem Kopfende seines Betts rollt die große Woge heran und nimmt ihn.
Sein Name, wohl bekannt in den Kreisen des früheren Regimes in der Hauptstadt, ist nicht unter den Überlebenden. Bei ihm und zwischen den Skeletten der jüngsten Opfer, bei den alten Piraten und Fischern, sind jene, die während der Diktatur aus Flugzeugen abgeworfen wurden, damit sie, das Meer ist Komplize, nie gefunden würden. Wer erkannte sie, an dem Tag, dort, wo sie liegen?
Es treibt keine Nelke, keine Rose.
Fünf Faden tief.
Es wurde immer viel gefeiert, am Wochenende, oben im Haus des Direktors. Am Montagmorgen machte sich einer vom Küchen- und Hauspersonal, der dafür zuständig war, auf den Weg, um mit der Bestellung des Herrn zu Fuß fünfzig Meilen zum Spirituosengeschäft in der Stadt zu gehen. Eine Kiste Scotch. Mit zwölf Flaschen Whisky auf dem Kopf ging der Mann wieder zurück und kam am Freitag an. Jeden Freitag. Der Kraftakt war eine berühmte Dinnerparty-Geschichte, jedes Wochenende: Das ist mein Mann – was für Köpfe sie haben, was, dick wie ein Holzklotz!
Roberta Blayne geborene Cartwright ist bei einer internationalen Hilfsorganisation beschäftigt, hat in der Genfer und in der New Yorker Zentrale gearbeitet und war mehrfach im Ausland stationiert. Ihren ersten Posten in Afrika bekam sie, als sie fast sechsundvierzig war und fand, dass sie auch so aussah; sie war einmal verheiratet gewesen, vor langer Zeit, schien ihr. Der Ehemann, ein Journalist, hatte sich während eines Einsatzes in Beijing in eine Chinesin verliebt; die Ehe war ohnehin eine sozusagen sporadische Angelegenheit gewesen, weil beide Teile des Paars meist irgendwo anders waren, und sie erlosch in aller Freundschaft. Ihr Bedürfnis, an der Veränderung der Welt mitzuwirken, das umgekehrt proportional zu jedem anderen emotionalen Bedürfnis wuchs, teilte er nicht. Es gab keine Kinder zur Erinnerung an die Ehe; nur die tragisch dreinblickenden, blähbäuchigen Kinder der Horde, die hier, dort auf Hilfe durch die bürokratischen Prozesse wartete, denen Roberta Blayne diente: nicht immer – oder nicht oft – auf direktem Weg, nämlich durch Fütterung der aufgesperrten Nestlingsschnäbel, sondern über Projekte der Politik, Infrastruktur, Telekommunikation, über Handelsabkommen, Ausbildung, Landverteilung, die Wege, auf denen Entwicklungshilfe jeden Hunger stillen sollte.
Es hätte Indien sein können. Sogar die europäischen Länder, die durch Bürgerkriege in Dritte-Welt-Zustände geraten waren. Aber es war Afrika; ein Diensteinsatz, es war ein Land im Wandel wie die meisten anderen Länder des afrikanischen Kontinents. Sie bezog ein Haus in der Hauptstadt, das ihre Hilfsorganisation als Teil dessen, was dem Personal in mittlerer Position zustand, anmietete. Der Vorort stammte zweifellos aus Kolonialzeiten; eine um drei Seiten laufende Veranda verdunkelte Zimmer mit offenen Kaminen, die jetzt zugemauert und mit Elektroöfen verstellt waren, ein Garten, in dem sich Wollmispel und Bougainvillea, knorrig wie alte Eichen, über steiniger roter Erde ineinander verschlangen. Das Schlafzimmer, das sie sich aussuchte – es gab deren drei –, war offensichtlich das beste; dies bestätigten ihr die Aura der Benutzung durch ihren Vorgänger und seinen oder ihren Bettgefährten sowie die Kleiderbügel an den Stangen, die noch die Geister von Kleidungsstücken trugen. Deren Platz nahmen nun ihre Sachen ein; ihre Papiere und Bücher breiteten sich aus, wo andere beiseite geräumt und fortgeschafft worden waren. Sie war an diese Form der Übernahme gewöhnt. Was immer von der Anwesenheit anderer noch nachklang, wurde durch ihre eigene rasch ausgemerzt. Dies war eine Gewissheit, die sie das Wesen internationaler Arbeit gelehrt hatte und die ihr in Fleisch und Blut übergegangen war wie der Umgang mit dem Computer: Man muss in ständiger Verbindung mit der Zentrale stehen, dem Sitz der Organisation in New York oder Genf, und man quartiert sich in der bereitgestellten Unterkunft ein, wo andere vor einem waren und nach einem kommen werden – obwohl der schwarze Mann, der darauf besteht, einen morgens mit Tee zu wecken, und die Fußböden bohnert, und der andere, der sich niederkauert, um das Unkraut zu rupfen, das sich der Blumenbeete bemächtigt hat, alte koloniale Riten eines Zuhauses inszenieren.
Nach ihrem Titel war sie Assistentin des Direktors der Programme für dieses Land, die von Experten in New York und Genf gemäß den Leitsätzen der Organisation geplant wurden. Die Umsetzung bestand zu einem großen Teil darin, New York/
Genf so taktvoll wie möglich darauf hinzuweisen, dass der Plan, das Land zur Globalisierung hinzuführen, sich nicht ganz so verwirklichen ließ wie gedacht. Und darüber hinaus zu verheimlichen, dass sie und der Direktor behutsam und auf krummen Wegen erkundeten, wie in der Sache vorzugehen sei – nicht nach ihrem eigenen gut eingeübten theoretischen Modell, sondern in der auch von der Regierung selbst bevorzugten Weise. Denn das Land musste Reformen und Innovationen entsprechend den in New York/Genf oft unvorstellbaren Lebensumständen seiner Bevölkerung durchführen, und je nach den Erwartungen, Forderungen, Vorurteilen, politischen Rivalitäten, mit denen die Minister sich herumschlugen, um ihre Kabinettssitze zu behalten. Dies bedeutete nicht nur, in den Busch und Flüsse aufwärts zu fahren, um Gemeinden aufzusuchen, deren Dorfschule laut Entwicklungsplan mittels informationstechnologischer Ausstattung in die neue globale Welt katapultiert werden müsse – und wo der Direktor und seine Assistentin dann feststellten, dass es im ganzen Dorf keinen Strom gab –, sondern erforderte auch intensive soziale Kontakte mit Ministern und ihren diversen Stellvertretern, Beratern, häufig nicht näher definierten, aber unverkennbar einflussreichen Begleitpersonen, die eine vage Äußerung eines Ministers mitten im Satz aufzugreifen und energisch zu klären pflegten. Wer waren diese Männer – und sogar die eine oder andere Frau? Wie konnte man sie ansprechen, um interne Fakten und Hinweise zu erfahren oder Tipps zu bekommen, an wen man sich wenden musste, um in die Verallgemeinerungen eines Ministers, diese zugeschlagene Tür, mit der unerwünschte Wirklichkeiten ausgeblendet wurden, eine Bresche zu schlagen?
Sie genoss die Exkursionen: Sie misstraute der Abstraktion. »Dann arbeitest du für den falschen Laden.« Ihr Direktor, ein Kanadier, machte sich über sie lustig; aber sie kamen gut miteinander aus. Er hatte seine Frau und seinen halbwüchsigen Sohn bei sich, der Junge besuchte eine lokale Schule zum Beweis dafür, dass der Direktor fest entschlossen war, an jedem Einsatzort am Leben der einheimischen Bevölkerung teilzunehmen. Als Junggesellin (seine Frau nannte sie so mit gespieltem Neid) war Roberta eingeladen, jederzeit zu ihnen zu kommen und mit ihnen zu essen, in dem Haus, in dem dieselbe Art Teekocher und Fußbodenbohnerer ein Kumpel des Schuljungen geworden war, ihm traditionelle afrikanische Musik auf der Gitarre beibrachte und dafür in die neueste Popmusik eingeweiht wurde. Zusätzlich zu den offiziellen Versammlungen und Botschaftspartys war das Haus des Direktors der Ort, an dem Minister und andere Regierungsbeamte, Parlamentsmitglieder, die Honoratioren der Hauptstadt, Richter, Anwälte, Geschäftsleute bewirtet wurden, um Informationen zusammenzutragen, die dem Auftrag der Organisation eventuell dienlich sein konnten. Wenige brachten ihre Gattinnen mit; die Wohlfahrtsministerin und zwei weibliche Parlamentsmitglieder waren in der Regel die einzigen anwesenden schwarzen Frauen, und sie waren gnadenlos schrill in ihren Einbrüchen in männliche Gespräche, was sie auch sein mussten, um sich von den zu Hause gelassenen Ehefrauen abzuheben. Roberta Blayne, der Direktor und seine Frau Flora empfanden ihre weiße Hautfarbe in dieser Gesellschaft nicht besonders stark; alle drei hatten im Zuge ihrer Arbeit überall auf der Welt mit schwarzen, gelben, allen Rassen zusammengelebt und akzeptierten die eigene physische Besonderheit wie den Unterschied zwischen Augen mit und ohne Mongolenfalte, zwischen vorstehenden und platten Nasen. Sie waren sich auch bewusst, dass sie umgekehrt bei all den bedeutenden anwesenden Schwarzen nicht immer akzeptiert waren – den ehemaligen Herren fällt es leichter, die Masken abzulegen, hinter denen sich ihre Menschlichkeit verbarg, als den ehemaligen Sklaven, die Gesichter darunter zu erkennen. Oder darauf zu vertrauen, dass die Gesichter nun keine neue Maske tragen.
In den ersten paar Monaten richteten weder die Minister noch ihre Trabanten ein Wort an Roberta Blayne, abgesehen von der üblichen allgemeinen Begrüßung, die damals zumindest schon ihren Namen einschloss – der nicht sehr schwer zu behalten war: jemandes Assistentin, einheimisch oder importiert, eine Gattung, die ignoriert werden kann. Doch da ihr Direktor, Mr. Alan D. Henderson, häufig im Plural-»Wir« sprach und sie aufforderte, bei einem Interview ihre Auslegung bestimmter Punkte, ihre Beobachtungen auf einer Exkursion zu äußern, begannen die Würdenträger sie zwar nicht auf der Ebene von Wohlfahrtsministerinnen und weiblichen Parlamentsmitgliedern zu sehen – ihr Auftreten war nicht schrill –, aber als Teil einer Delegation, als eine der Honoratioren. Auf ihren Status verwies die Beobachtung, dass sie statt des Biers, das die Begleiter bekamen, mit den Ministern Whisky trank. Ein Tischherr mochte sich mit den üblichen Fragen obligatorischen Interesses an sie wenden – woher kam sie? – natürlich Engländerin? – wie denkt sie über unser Land? – je in Afrika gewesen – das erste Mal? »Das erste Mal. Indien, Bangladesch, Afghanistan – aber nicht hier.« – »Sehen Sie, Sie sind willkommen, wir Afrikaner sind freundliche Menschen, finden Sie nicht.« Da war ein Anwalt, der geistreich und direkt war und mit seinen Anekdoten und Parodien über Begegnungen mit Funktionären von Hilfsorganisationen den Direktor und seine Assistentin zu selbstironischem Gelächter veranlasste. »Wovon ihr Entwicklungsspezis keine Ahnung habt, das ist die neue Sorte von Witzen, zu denen ihr uns inspiriert habt.« Der Direktor war dem Geplänkel gewachsen. »Es ist ein gutes Zeichen, wenn über einen Witze gemacht werden, das heißt, man ist akzeptiert.«
Der Anwalt, die Lippen erwartungsvoll zu einem Grinsen auseinander gezogen, sah, dass die Assistentin etwas sagen wollte: »Als was? Als Teil der Gemeinschaft? Oder als Teil des Theaters, das zwischen Spender und Empfänger aufgeführt wird?«
»Ah, sie hat Recht, Mann!« Der Anwalt warf sich entzückt in seinem Stuhl zurück. »Ist es eine Seifenoper, ein Mehrteiler mit IWF und Weltbank in den Hauptrollen?«
Der Direktor amüsierte sich. »Oh, doch nicht immer dieselben Schurken.«
Vergnügliche Wortwechsel dieser Art setzten erst ein, nachdem das Klopfen am Glas signalisiert hatte, dass der Gastgeber, Minister oder Vorsitzende, zu einer Begrüßungsrede ansetzte, und die Darstellung der jüngsten Bekanntgaben oder »bevorstehenden« Bekanntgaben (Entwicklungsthemen haben ihre eigene ausweichende Lingua franca) über Handelstarife, dem Parlament vorzulegende Gesetzesentwürfe über die Landreform, Berichte von Mercasur, SADEC, der EU respektvoll angehört oder (falls die Zuhörer sich vordrängten, um selbst gehört zu werden) angezweifelt worden waren, während das Talent praktiziert wurde, zu essen und zu trinken und dabei so auszusehen, als wäre man sich dieser profanen Tätigkeit ganz und gar nicht bewusst.
Erst dann entließen die Getränke, die jedermann sich einverleibt hatte, das Offizielle ins Individuelle; mit der Geselligkeit nahm die Lautstärke zu. Die Assistentin des Direktors spürte eine Hand auf ihrem Arm oder begegnete einem taxierenden Lächeln – gar nicht so schlecht, diese Entwicklungshelferin, die leichte Röte an der Stelle, wo die Brüste die Haut über das Kleid hinausheben.
Aber es gab nicht viele solche Momente, sie wurde nicht von Männern behelligt; und das war vielleicht nicht schmeichelhaft. Bei früheren Einsätzen, in anderen Teilen der Welt war das anders gewesen. Das Auftreten, das sie eingeübt hatte, um unerwünschte Mitmenschen auf Distanz zu halten, ohne jemanden zu kränken (die Arbeit bei einer Hilfsorganisation bedeutete in erster Linie Diplomatie, persönliche Gefühle mussten hinter der Philosophie gleichberechtigter Partnerschaft zwischen Spenderorganisation und dem Volk eines Empfängerlandes zurückgestellt werden): diese Verteidigung wurde hier selten benötigt; nicht diesmal; nicht mehr.
Es gab sogar einen Mann – unklar, wer er war, Assistent eines stellvertretenden Ministers oder Staatssekretärs im einen oder anderen Portefeuille –, der sie nicht grüßte, wenn er an einem Konferenztisch saß; einer jener Amtsinhaber, die unwichtige Personen nicht bemerken: ein schlichter Sehfehler. Weshalb sie sich auch nicht nach der Stimme umdrehte, weil sie dachte, jemand anders im Korridor sei angesprochen, als derselbe Mann sagte, sobald er sie eingeholt hatte: »Gehen Sie mit mir was trinken?« Nach einer Pause fügte er ihren Namen hinzu: »Sie sind Miss Blayne.« Als bestätigte er eine Identität.
»Entschuldigung … ich wusste nicht …«
Sie wurden von höflich hastenden Menschen mitgeschwemmt, Hölzstöcke in der Strömung eines Flusses. »Hier ist die Bar.«
Sie war so unvorbereitet, dass sie mit dem Mann mittrottete wie ein aufgerufenes Schulmädchen. Er und sein Anhängsel wurden mit der speziellen Aufmerksamkeit begrüßt, mit der Kellner und Barmänner unterschiedslos jedes Gesicht empfangen, das mit der Regierung in Verbindung gebracht wird. Er lehnte einen Ecktisch ab und wurde unverzüglich zu einer Auswahl weiterer Tische geführt; nur die Barhocker an der Theke waren besetzt. Sie konnte sich nicht an seinen Namen erinnern und wusste nicht, wie sie ein Gespräch anfangen sollte, wozu sein Schweigen sie aufzufordern schien. Der Kellner kam, der Mann sah sie an: Sie bestellte ihre übliche Marke Scotch, und er machte daraus: »Zwei Doppelte und was da ist – Chips, Nüsse.« Die Chips ließ er zurückgehen, weil sie abgestanden waren. Dann begann er zu reden, sie anzusprechen – ja, er hatte sie angesprochen, sprach sie jetzt an –, mit Fragen zu ihren Bemerkungen, die sie, von ihrem Direktor aufgefordert, während der soeben beendeten Konferenz geäußert hatte. Wenn er sie bei diesen offiziellen Sitzungen keines Blickes würdigte oder keine Notiz von ihrer Anwesenheit nahm, so hörte er – während sie seine Aufmerksamkeit so wenig bemerkt hatte wie er anscheinend ihre Existenz – ihren gebührend organisationskonformen Ausführungen offenbar doch sehr genau zu. Es hatte eine lebhafte Diskussion über das Verhältnis zwischen Subsistenzanbau und Erwerbsanbau, insbesondere bei Früchten mit Exportpotential, in der ländlichen Entwicklung gegeben. Er wollte wissen, wie die Organisation zu der von ihr empfohlenen Ausgewogenheit gelangen wolle und wie in anderen Entwicklungsländern die ländliche Bevölkerung davon überzeugt werden könne, dass dies (er hatte den Begriff aus dem ungeschriebenen Leitfaden der Regierung parat) der Weg nach vorn sei.
Sie saß in einer Bar mit diesem beherrschten, unpersönlichen Mann, aber sie ließ sich von zwei großzügigen Schluck Whisky verleiten, über seine Distanz hinwegzulächeln. »Natürlich. Versuchen Sie mal, jemandem einzureden, gesundes Getreide und Kartoffeln zu pflanzen, wenn er Tabak anbauen will, um sich einen Fernseher zu leisten oder genügend Kohle für ein altes Auto, neue Klamotten zu verdienen! Und was ist mit dem großen Geld aus dem Drogenanbau, Marihuana …«
Von seiner Seite aber wurde die Konversation in dem nach Bier riechenden, schmuddeligen, aus Nostalgie nach einem englischen Pub von den Kolonialherren erbauten Lokal als Fortsetzung der nachmittäglichen Sitzung geführt, auf der die Agenda der Organisation (die verdeckte Agenda, wie das Lehrbuch sie definiert) und der entsprechende Gegenentwurf der Regierung mühsam aufeinander zugeschoben worden waren. Über den Kontext seiner Fragen gelang es ihr herauszufinden, dass er Stellvertreter des Staatssekretärs im Ministerium für Landangelegenheiten war, Handlanger-des-ministeriellen-Handlangers. Als der Kellner sich wieder über sie beugte, verscheuchte er ihn mit einem Wink über die beiden geleerten Whiskygläser hinweg; sie fragte sich, ob er von ihr erwartete, dass sie die Sitzung als beendet betrachtete und aufstand, oder ob das überheblich wirken würde – das Organisationsprotokoll verlangte, dass man bei solchen Entscheidungen der offiziellen Seite den Vortritt ließ. Allerdings konnte sie taktvoll andeuten, dass es Zeit sei zu gehen: Es lag etwas annehmbar Abschließendes darin, als sie ihren Gastgeber an ihren Direktor verwies: »Ich weiß, dass sich Mr. Henderson nur zu gern mit Ihnen über unsere Erfolge unterhalten würde – und über unsere Probleme! Afghanistan, Kolumbien … nichts, was er noch nicht erlebt hat.«
Sie verließen die Bar gemeinsam. Der Korridor hatte sich geleert wie die Whiskygläser; sie wünschten einander einen guten Abend, und dann, als erinnerte er sich an die elementarste Höflichkeitsregel, reichte er ihr die Hand.
Roberta Blayne sagte ihrem Direktor, dass der Stellvertreter des Staatssekretärs im Ministerium für Landangelegenheiten mit einigen zusätzlichen Fragen zur Debatte Subsistenzanbau – Erwerbsanbau an sie herangetreten sei; Henderson meinte, sie könnten es sich zur Aufgabe machen, den Mann zu kultivieren, in der Debatte am Nachmittag habe er sich nicht weiter hervorgetan, überhaupt komme nicht viel von ihm, auch nicht bei anderen Sitzungen, bei denen man eigentlich erwarten könne, dass er was sagt, hm? – aber man wisse ja nie, wer in den Kabinettskulissen einflussreich sei oder nicht. Wie hieß er noch mal?
An einem Samstag zehn Tage später, als sie ihr Haar fönte, läutete das Telefon und eine Sekretärinnenstimme teilte ihr mit, dass der Stellvertretende Staatssekretär im Ministerium für Landangelegenheiten auf dem Weg zu ihr sei; ob sein Besuch gelegen komme. Aber das war eine Aussage, keine Frage. Sie hatte gerade ihr Haar ausgekämmt und war barfuß in Sandalen geschlüpft, als sie eine Hupe hörte und von ihrem Fenster aus den Mann sah, der sie mit Tee weckte und die Fußböden bohnerte; seine Fersen flogen in die Höhe, als er zum Tor lief. Ein schwarzer Wagen der Luxusklasse, wie sie für Regierungsbeamte knapp unterhalb der ministerialen Ebene vorgesehen war, rollte knirschend über den Kies, setzte den Stellvertretenden Staatssekretär für Landangelegenheiten vor der Eingangstür ab und wurde vom Hausmann zum Hinterhof dirigiert.
Sie hatte die Tür offen gelassen: Da stand er, der Stellvertretende Staatssekretär Gladwell Shadrack Chabruma, immer noch wie zu offiziellen Anlässen gekleidet, im dunklen Anzug, obwohl Samstag war. Sie reichten einander wieder die Hände. Sie führte ihn ins Wohnzimmer. »Sie waren vielleicht schon früher in diesem Haus – als Chuck Harris unser Mann hier war, mit seinem Team? Dann kennen Sie sich wahrscheinlich aus.«
»Danke. Nein, ich hatte noch nicht die Gelegenheit, dieses spezielle Haus zu besuchen, aber natürlich kannte ich Mr. Harris und seine Leute. Damals war ich im Landwirtschaftsministerium.«
»Das muss ja eine ideale Vorbereitung für die Landangelegenheiten gewesen sein! Ich lasse uns Tee kommen – oder ist Ihnen Kaffee lieber?«
»Egal. Es ist eine gute Voraussetzung, da stimme ich Ihnen zu, aber die Probleme sind anders, ja, in der Landwirtschaft – sie fangen erst an, wenn die Frage der Besitzverhältnisse geklärt ist.«
Sie stand am Durchgang zur Küche. Aber wenn dieser Mann, der bei Arbeitsfrühstücken und Sitzungen so wortkarg war, schließlich doch das Wort ergriff, erwartete er, nicht unterbrochen zu werden. Sie musste stehen bleiben, wo sie war.
»Das Ministerium, in dem ich … eingesetzt war … vorher – die Landwirtschaft, da stießen wir ständig an diese Probleme. Es gab sehr gute Gelegenheiten, was die Entwicklung besserer Agrarmethoden betrifft, Einführung neuer Sorten und so weiter – die besten Fachleute aus anderen Ländern, Hilfsorganisationen und das alles. Aber um das auf winzigen Parzellen umzusetzen, überall im ganzen Land, die für alles andere als reine Subsistenzwirtschaft viel zu klein sind – wo ist das Land dafür.«
»Oh, wir verstehen das nur zu gut in unserem Laden, wie mein Boss zu sagen pflegt – wir wissen, dass die größeren landwirtschaftlichen Projekte, die wir beraten, nicht über das Stadium der Begeisterung hinauskommen, solange das Land, das Ihnen in Kolonialzeiten weggenommen wurde, nicht zurückgegeben wird … Nicht einmal Ihre Projekte, falls wir Sie überzeugen, dass sie gut sind … Aus diesem Grund müssen wir uns mit den Projekten befassen, die wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt anschieben können. Die Gemeinschaftsprojekte, an denen die Eigentümer dieser winzigen Parzellen zusammenarbeiten können – ach, das haben Sie ja alles schon gehört.«
Sie machte sich los, um den Tee zu bestellen, und die Worte wehten hinter ihr her.
In der Küche fand sie einen uniformierten Fahrer sowie zwei Männer mit den breiten Schultern, Pistolengurten und diskreten Sprechfunkgeräten im Ohr – dem Gepränge des Leibwächters, wie der aufgefächerte Schwanz das Gepränge des Pfaus ist –, die am Küchentisch saßen und schon beim Tee waren; sie tranken aus den großen Bechern des Hausmanns. Der Hausmann scharwenzelte beschwingt um sie herum, ließ aber sofort alles stehen und liegen und breitete das Relikt eines gestärkten Spitzendeckchens auf einem Tablett aus, um die andere Bedienung vorzubereiten, den Tee für sie und das festliche Ereignis ihres distinguierten Gastes, eines Mannes der Regierung.
Der Gast schien noch immer mit der im Durchgang zurückgelassenen Aussage beschäftigt und ignorierte ihr Ritual des Teeservierens, bevor er sprach. Es konnte Unbehagen gewesen sein oder das Selbstbewusstsein seines Status. Er hatte die Gabe des verschlossenen Gesichts, das Schwärze, ihrer Erfahrung nach, beneidenswert undurchsichtig macht. Die angebliche Unergründlichkeit der Chinesen konnte es damit nicht aufnehmen. Er war sehr schwarz, keine Spur von kolonialer Verwässerung im Blut.
»Sind Sie zufrieden mit dem Fortschritt?«
Meinte er den Fortschritt des Landes oder die Arbeit der Organisation? Sicherer war es, die Bemerkung auf die Organisation zu beziehen. »Wie könnten wir? Wir wollen immer noch mehr erreichen, haben immer das Gefühl, wir hätten mehr tun können. Es geht sehr langsam voran … Wir bemühen uns immer, herauszufinden, was gebraucht wird, direkt vor Ort.«
»Wie ist es im Vergleich?«
Also hatte er doch sein Land gemeint. War er von jemandem geschickt worden – eine weitere verdeckte Agenda –, um einer Frau Informationen zu entlocken, einer arglosen Person, die keine hohe Stellung hatte, aber Bescheid wusste, dem Verwalter der Gelder nahe stand.
Mit dieser hier wäre es nicht so leicht, würde er bald feststellen; und soll er sich ruhig fragen, ob sie zu unschuldig dumm war, um zu merken, worauf er aus war, oder aber zu abgebrüht und erfahren mit Winkelzügen solcher Art, um sich von ihm einwickeln zu lassen. Sie brachte die Standardantworten der Organisation vor, die Anerkennung der guten Zusammenarbeit mit der Regierung, ihre unbestreitbare Kenntnis ihres Volkes, die Bedeutung der Landesgeschichte, die jede Einflussnahme, jede Steuerung der Möglichkeiten der Gegenwart bestimmte et cetera. All dies, sagte sie, werfe ein ziemlich günstiges Licht auf das Land (die rasche Vorsicht ihrer Zunge hielt ein »sehr« zurück), gemessen an anderen Gebieten, in denen die Organisation bereits tätig gewesen sei.
»Und Sie waren immer mit ihm zusammen, also auch für Sie, Sie kennen seine Eindrücke.«
»Nicht immer. Aber in den letzten paar Jahren. Ich hatte das Glück, eine Menge von ihm zu lernen. Mit ihm zu erleben.«
Und während der nächsten knappen halben Stunde wurde das Thema – was immer es in Wirklichkeit war – nicht weiter vertieft. Es folgte die Einleitung des Abschieds: Zurechtzupfen der Manschette seines gestreiften Hemds, die in korrekter Länge aus dem Jackettärmel ragte, Blick auf die Uhr. »Ich habe einen Termin.«
Er nannte eine andere Provinz, zwei Stunden Fahrt entfernt.
Sie rief für ihn in die Küche, und in den kurzen Augenblicken der Stille, während sie zusammen zur Eingangstür gingen, konnten sie das laute und lachende Lebewohl zwischen Fahrer und Leibwächtern und ihrem Hausmann hören.
Schon im Begriff, in den Wagen zu steigen, der schwungvoll hinter dem Haus hervorkam, drehte er sich noch einmal um. »Ich hoffe, ich habe Ihr Wochenende nicht gestört.«
Das Protokoll fiel ihr instinktiv ein, sie kam von der Veranda herab, protestierend, die Hand nach der seinen ausgestreckt.
Das Wohnzimmer barg die gedrückte Leere nach einer flüchtigen Inanspruchnahme, während der keine Begegnung stattgefunden hatte: Die einzige war der politische Termin, zu dem der Mann eigentlich unterwegs war. Doch der Hausmann Tomasi war derart begeistert von den offiziellen Besuchern, die er bewirtet hatte, dass er ein Dauersummen im Bass von sich gab, während er seiner Arbeit nachging: irgendeiner ohrenbetäubend lärmenden Tätigkeit in der Küche.
Erst als sie am Sonntag mit den Hendersons zum Mittagessen fuhr, fiel es ihr plötzlich wieder ein: An jenem Nachmittag in der Bar nach dem exakt einen Glas Whisky hatte sie dem Mann gesagt, ihr Direktor werde sich nur zu gern mit ihm unterhalten; aber sie hatte Alan Henderson nicht gebeten, mit dem Stellvertretenden Staatssekretär einen Termin zu vereinbaren, und sie hatte ihn nicht daran erinnert. Das war die unausgesprochene Botschaft des Besuchs am Samstag!
Ihr und dem Direktor war von seiner Frau scherzhaft, aber streng untersagt worden, am Sonntag auf Organisationskram herumzureiten, wie sie sich ausdrückte, doch als die Assistentin und ihr Boss während eines gemischten Doppels beim Tennis einmal aussetzten, nahm sie die Gelegenheit wahr und erzählte ihm von dem samstäglichen Besuch – natürlich wollte der Mann wissen, weshalb der Direktor der Organisation sich nicht mit ihm in Verbindung gesetzt habe, und war gekränkt. Ihr Versäumnis, absolut! »Dafür bin ich schließlich da: darauf zu achten, dass du Andeutungen aufgreifst, die mir gemacht werden!«
Sie wurden auf den Platz gerufen. »Kein Entwicklungskram beim Doppel!« Ein Ausruf seiner Frau Flora. Mit demonstrativer Munterkeit sprangen sie auf.
Roberta Blayne beeilte sich, die eigentliche Sache zu erledigen, nämlich die Sekretärin des Stellvertretenden Staatssekretärs anzurufen und Tag und Stunde für den Besuch Hendersons bei ihm im Büro zu vereinbaren. Aber vielleicht sei dem Stellvertretenden Staatssekretär auch ein gemeinsames Mittagessen lieber? Ganz wie er wolle.
Alan Henderson war zu einem speziellen Briefing nach New York in die Zentrale geflogen, und sie hatte eine Woche erdrückender Arbeit hinter sich, hatte sich mit Aufgaben befasst, die sie, wie seit langem stillschweigend zwischen ihnen vereinbart, ebenso gut erledigen konnte wie er, und hatte Antworten auf Anfragen, die bis zu seiner Rückkehr warten mussten, hinausgezögert. Wann immer sie gehofft hätte, ein bisschen Schlaf zu bekommen, telefonierte sie mit ihm über den siebenstündigen Zeitunterschied hinweg. Der Bildschirm, Voice Mail, E-Mail, die Aufforderung des Mobiltelefons: Wenn sie endlich doch nach Hause kam, ertrug sie keine weiteren vier Wände mehr und ertappte sich dabei, wie sie kreuz und quer durch den Garten marschierte – der so bedrängend zugewachsen war, dass sie sich darin vorkam wie ein Tier in einem viel zu kleinen Auslauf. An diesem Samstagabend war sie mit Flora Henderson zu einer Party bei dem witzigen Anwalt eingeladen; sie war zu erschöpft, als dass sie sich ein Vergnügen davon versprach, aber sie wollte Flora nicht enttäuschen. Als sie morgens halbherzig ihren Kleiderschrank nach etwas Tragbarem für den Abend durchsuchte, läutete das Telefon. Frühmorgens auf der Südhalbkugel, mitten in der Nacht auf der anderen Seite der Welt; Alan war es nicht, Gott sei Dank.
Es war die Stimme, die immer jemand anderen anzusprechen schien: Doch, ich bin’s. Roberta Blayne, ja, am Apparat. Als könnte es jemand anders sein außer dem Hausmann Tomasi; oder denkt der Mann etwa, ich lebe nicht allein.
Ob sie Lust hätte, aufs Land zu fahren, etwas vom ländlichen Osten zu sehen. »Ich glaub nicht, dass Sie da schon mal waren.«
»Oh. Oh … Wann.«
»Heute. Ich kann Sie um halb zehn von zu Hause abholen. Oder um zehn. Wie es Ihnen passt. Es ist ziemlich weit, wir sollten nicht zu spät aufbrechen.«
Sein Treffen mit dem Direktor hatte vor Alans Abreise nach Amerika stattgefunden, das war also sicherlich genug Kontakt. Aber auf einmal die Aussicht, dem finsteren, verfilzten Garten zu entkommen, hinaus in die Weite, Gras und Himmel, Luft zu riechen und zu spüren, die nicht von Menschen zeratmet und von Klimaanlagen verwirbelt war – die angemessenen Worte kamen aus ihrem Mund, egal für wen. »Wunderbar, würde gern mal rauskommen, danke, sagen wir zehn? Ich habe nicht viel geschlafen letzte Nacht, bin spät aufgestanden …«
Statt der eleganten Seidenhose für die Party zog sie eine Jeans hervor, die weniger abgetragen war als ihre übliche Wochenendkluft; feste Lederschuhe statt Sandalen – »das Land« könnte auch Laufen im Gelände mit einschließen, das hoffte sie jedenfalls.
Er kam mit seinem Privatwagen. Ebenfalls ein Luxusmodell, aber ein älteres Baujahr, und er war allein. Den dunklen Dreiteiler hatte er abgelegt; Flora kannte die Frau des örtlichen Inders, Schneidermeister & Herrenausstatter, der mit der Maßanfertigung dieser jeweils nur geringfügig abgewandelten Parlamentarieruniform viel Geld verdiente. Der Stellvertretende Staatssekretär trug Khakihosen und ein blaues Hemd mit offenem Kragen, aber er war genauso formell wie vorher. Er hielt ihr die Beifahrertür weit auf, während sie plaudernd Platz nahm, und Tomasi, sichtlich entzückt über das neuerliche Erscheinen des bedeutenden Besuchers, stand daneben und sah zu, wie der Wagen sein Reich durch das Tor wieder verließ – denn es war sein Reich, ganz gleich, welche wechselnden Gäste von der Organisation es für eine Weile bewohnten.
»In Ihrem Land, Ihrer Heimat, drüben in England, wohnen
Sie auf dem Land, weil Sie das Landleben so lieben, Miss Blayne?«
Sie lachte. »Sie können mir nicht einen ganzen Tag Verschnaufpause gönnen und mich dabei ›Miss‹ nennen – bitte, ich heiße Roberta.«
Er probierte es erst aus, nachdem sie schon ein gutes Stück
Weg hinter sich hatten, und es war klar – sein Tonfall stellte es klar –, dass er keine plumpe Vertraulichkeit voraussetzte. Seine Vermutung, dass die Exkursionen mit dem Direktor sie nicht in die jetzt eingeschlagene Richtung geführt hatten, war richtig; das war eine angemessene Eröffnung für ihn, er konnte sie über die Gegend informieren, in die sie fuhren, über die Menschen, die dort lebten – Zuwanderung aus dem Westen wegen der Überschwemmungen ein paar Jahre zuvor, Zuwanderung aus dem Süden wegen einer Dürre noch jüngeren Datums, Weideland hier, Mais in der Ebene, Paviane, ja (sie meinte auf den Felsen eine Bewegung zu erkennen), und manchmal sogar ein Leopard, in den Hügeln. Aber die meisten abgeschossen.
»Pelzmäntel für europäische Damen?«
»Das würde ich nicht sagen. Wir haben die Wilderei in der Gegend hier ziemlich unter Kontrolle. Das Großwild war sowieso erledigt, schon lange, das war in der alten Zeit, als die Briten hier waren. Viele Jahre hindurch Jagdpartien ihrer Gouverneure.«