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ISBN 978-3-492-97981-8
Übersetzung aus dem Englischen von Susanne Höbel
© Piper Verlag GmbH, München 2017
© Nadine Gordimer 1997
Die Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel »The House Gun« bei Farrar, Straus & Giroux
© der deutschsprachigen Ausgabe Berlin Verlag GmbH, Berlin 1998
Covergestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: FinePic®, München
Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe
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Etwas Schreckliches ist geschehen.
Sie verfolgen es auf dem Bildschirm, neben sich den Kaffee nach dem Abendessen. Es ist Bosnien oder Somalia oder das Erdbeben, das eine japanische Insel wie ein Hund zwischen apokalyptischen Zähnen schüttelt; eine Katastrophe der Gegenwart. Als es läutet, sehen sie einander mit freundlichem Zögern an: geh du, du bist dran. Das gehört zu den Abmachungen des Zusammenlebens. Erst vor kurzem haben sie den Entschluß gefaßt, das Haus zu verkaufen und in diesen Wohnpark zu ziehen, wo die Anlagen gepflegt werden und der Eingang von einer Sicherheitsanlage überwacht wird, und sie haben sich noch nicht daran gewöhnt, oder vergessen vielmehr vorübergehend, daß es nicht Robbies Bellen und das altmodische Klingeln an der Haustür ist, das sie aufmerken läßt. Haustiere sind in der Siedlung nicht erlaubt. Zum Glück konnte ihr Sohn, der ein Cottage mit Garten hat, den Hund aufnehmen.
Er, sie – das Zucken eines Lächelns, er stemmte sich mit demonstrativer Trägheit hoch und ging zur Sprechanlage. Wer, hörte sie ihn mit halbem Ohr fragen, halb folgte sie dem Kommentar, der die Bilder begleitete. Wer? Es konnte jemand sein, der sie für eine religiöse Sekte gewinnen wollte oder der ihnen eine Strafanzeige wegen falschen Parkens zustellte, Gelegenheitsarbeiter machten so was, Schwarzarbeit. Er sagte etwas, was sie nicht verstand, aber sie hörte das Summen des elektrischen Türöffners.
Dann sagte er: Weißt du, wer das sein könnte, irgendein Julian? Freund von Duncan?
Er, sie – sie wußten es nicht, beide nicht. Daran war nichts Ungewöhnliches, Duncan, siebenundzwanzig Jahre alt, hatte seinen eigenen Bekanntenkreis, wie seine Eltern ihren, und diese Kreise schnitten sich nur gelegentlich da, wo die Interessen, die die Eltern dem Kind mitgegeben hatten, zusammentrafen.
Was will er denn?
Mit uns reden, hat er gesagt.
Beide waren im selben Moment alarmiert. Was gibt es zu befürchten im Rahmen des Lebens eines Siebenundzwanzigjährigen in dieser Stadt – ein Autounfall, ein Raubüberfall, ein Einbruch in seinem Cottage. Beide standen an der Tür und stellten sich diesen Möglichkeiten, stellten sich den Schritten, die sie auf ihrem Stück privaten Pflasterweg unter den gekreuzten Schwertern der Strelitzienblätter herannahen hörten, dem Ton des zweiten Summers, und diesem jungen Mann, der von? wegen? Duncan kam. Er hielt den Blick gesenkt, als er hereinkam, sie konnten seinem Gesicht nichts entnehmen. Er setzte sich ohne ein Wort.
Er, sie – wer war dran?
»Ist es ein Unfall?«
Sie ist Ärztin, sie sieht, was die Rettungswagen auf die Intensivstation bringen. Wenn etwas kaputt ist, kann sie abschätzen, ob es sich jemals wieder zusammenflicken läßt.
Dieser Julian zieht die Lippen zwischen die Zähne und schließt fest den Mund, einen Moment.
»Sozusagen … Nicht Duncan, nein, nein! Jemand ist erschossen worden. Er ist verhaftet worden. Duncan.«
Beide stehen auf.
»Großer Gott – wovon reden Sie – was soll das – wie verhaftet, weswegen –«
Der Überbringer der Botschaft wird angegriffen, er wird mürrisch, kann nicht ertragen, was er zu berichten hat. Das obszöne Wort kommt schüchtern aus seinem Mund. Mord.
Alles kommt plötzlich zum Stillstand. Ein Autounfall, ein Raubüberfall, ein Einbruch – das kann man verstehen.
Er/sie. Er macht ein paar Schritte und stellt den Fernseher ab. Und stößt heftig den Atem aus. Solange keiner sich bewegte, keiner sprach, konnten das Wort und die Tat in dem Wort nicht Wirklichkeit werden. Jetzt hat mit dem Druck auf einen Knopf und dem Ausstoßen des Atems eine neue Zeitrechnung begonnen. Der alte Gregorianische Kalender kann diesen Tag nicht aufzeichnen. Er existiert nicht in seinen Maßeinheiten.
Dieser Julian erzählt ihnen jetzt, daß ein Richter ›nach Dienstschluß‹ (er erwähnt dieses Detail mit dem Gewicht seines dringlichen Ernstes) gerufen wurde, um auf dem Polizeirevier die Anklage zu unterschreiben, Kaution wurde nicht gewährt. Das ist der praktische Zweck seines Besuchs: Duncan sagt, Duncan sagt, Duncan läßt ihnen mitteilen, daß es keinen Sinn hat, ihn jetzt zu besuchen, daß es keinen Sinn hat, Kaution zu beantragen, am Montag morgen wird er dem Gericht vorgeführt. Er hat einen Anwalt.
Er/sie. Seit dem Morgen hat sie das Datum ein dutzendmal auf Rezepten für Patienten niedergeschrieben, aber sie bemüht sich, eine Frage zu finden, die eine Art Antwort auf das von dem Boten ausgesprochene Wort gibt. Sie ruft aus:
»Was für ein Tag ist heute?«
Freitag.
Es war an einem Freitag.
Es ist anzunehmen, daß keiner der Lindgards je in einem Gerichtsgebäude gewesen war. Während des Wochenendes, der achtundvierzig Stunden des Wartens, waren sie alle möglichen Erklärungen durchgegangen. Sie konnten ja nicht mit ihm, ihrem Sohn, selbst sprechen. Gerade aufgrund der Unvorstellbarkeit des Vorwurfs gegen ihn hatten sie das Gefühl, seine Anweisung, ihn nicht zu besuchen, respektieren zu müssen. Das mußte ein Hinweis darauf sein, daß die ganze Sache lächerlich war, das war’s, entsetzlich lächerlich, seine eigene lächerliche Angelegenheit, die sich bald aufklären würde und die man am besten nicht dadurch noch bekräftigte, daß Mutter und Vater sie besorgt aufnahmen, in Begleitung ihres Anwalts im Gefängnis erschienen, die Gefühle in Aufruhr und so weiter. Das war die Lesart, die sie für seine Bitte, ihn nicht zu besuchen, fanden; eine Mischung aus Rücksichtnahme ihnen gegenüber – nicht nötig, die Eltern in die Angelegenheit zu verwickeln – und der Unabhängigkeit der Jugend, die ihm seit seiner Pubertät in beidseitigem Einverständnis gewährt und zugesichert worden war.
Aber das Unbekannte zieht immer Angst nach sich. Angst war eine Droge, die nicht aus ihrem Arzneimittelkoffer kam. Ruhig, ohne sich etwas zu sagen zu haben, gingen sie durch die Flure des Gerichtsgebäudes, und Harald trat mit der Höflichkeit eines Fremden für seine Frau Claudia zur Seite, als sie die richtige Tür fanden, eintraten und sich unbeholfen seitlich durch die Reihe zwängten, um auf einer der Bänke Platz zu nehmen.
Schon der Geruch war der eines fremden Landes, in das sie deportiert worden waren. Der Geruch von polierten Holzschranken und gebohnertem Fußboden. Die Fenster über Kopfhöhe, die nach unten gerichteten Scheinwerfer. Die Uniformen, in denen Männer mit der Unpersönlichkeit von Anhängern eines Kultes steckten, alle austauschbar. Die Anwesenheit von ein paar Gestalten, die in ihrer Nähe saßen, Leute, wie sie einen von Parkbänken anstarren oder mit dem Gesicht nach unten in öffentlichen Anlagen liegen. Der Verstand flieht die Dinge, die sich ihm entgegenstellen, wie ein Vogel, der in einen geschlossenen Raum hineinfliegt, es muß einen Weg ins Freie geben. Harald prallte mit einem Eindruck aus der Schulzeit zusammen, der so weit zurücklag, daß er sich nicht bewußt erinnern konnte. Es war der Geruch von öffentlichen Gebäuden zusammen mit dem harten Holz unter seinem Hintern. Selbst über den Namen eines Lehrers stolperte er; nichts aus der Vergangenheit konnte ferner sein als diese Gegenwart. Mit einem Aufblicken registrierte er, daß Claudia sich aus ihrer Starrheit löste, um den Pieper, der sie mit ihrer Praxis verband, abzuschalten. Sie spürte die Ablenkung und wandte den Kopf, um in seinem Blick zu lesen: nichts. Sie lächelte steif, wie man einen begrüßt, von dem man nicht genau weiß, ob man ihn kennt.
Er kommt zwischen zwei Polizisten die Treppe herauf. Duncan. Kann das sein? Es ist eine Rolle, die nicht zu ihm gehört, nicht so, wie sie ihn kennen, immer gekannt haben. Er trägt schwarze Jeans und ein schwarzes Baumwoll-T-Shirt. Das gleiche, was er sonst auch trägt, aber der Kragen eines weißen Hemdes ist ordentlich über den Halsausschnitt des T-Shirts heruntergeklappt. Beide bemerken das, es ist der unausgesprochene Brennpunkt der Aufmerksamkeit zwischen ihnen; es ist das Detail, die von einem Gericht erwartete symbolische Unterwerfung unter die Konventionen, wodurch eine Verbindung zwischen dem, den sie kannten, ihm, und diesem anderen, dem zwischen zwei Polizisten, hergestellt wird.
Eine Hitzewoge überlief Harald, eine Verwirrung wie Angst oder Wut, aber keins von beiden. Eine Reaktion, die wachzurufen es nie zuvor Veranlassung gab.
Duncan, ja. Er sah sie an und gab sich zu erkennen. Claudia lächelte ihm mit erhobenem Kopf zu, so daß alle es sehen konnten. Und er neigte den Kopf in ihre Richtung. Aber während der Verhandlung sah er seine Eltern nicht mehr direkt an. Nur einmal streifte sein kontrollierter, fast nachdenklicher Blick sie, als er über die Besuchergalerie wanderte, über die zwei schwarzen jungen Männer, die die Beine entspannt ausgestreckt hatten, über den alten weißen Mann, der nach vorn gebeugt dasaß, den Kopf in die Hände gestützt, und die Mitglieder einer Familie, die wahrscheinlich nur in den Saal gekommen waren, um die Zeit bis zu der sie betreffenden Verhandlung zu überbrücken, und im Flüsterton über ihre eigenen Angelegenheiten sprachen.
Der Richter hatte seinen Auftritt, alle rappelten sich hoch und sanken wieder auf die Bänke. Er war groß oder klein, kahlköpfig oder nicht – egal, man sah die hochgezogenen Schultern unter dem Stoff der Robe, den Oberkörper, der sich über die Akten beugte, die ihm gereicht wurden. Im Frageton machte er ein paar knappe Bemerkungen in Richtung der Tische im Zentrum des Saals, wo sich die Rücken derjenigen, die vermutlich Staatsanwalt und Verteidiger waren, der Besuchergalerie präsentierten. Unter den schräg nach unten gerichteten Lichtbahnen gingen Polizisten mit irgendwelchen Aufträgen geschäftig hin und her und konferierten in heiserem Flüsterton, nachdem die Formalitäten abgeschlossen waren. Die Verhandlung wurde auf einen Termin zwei Wochen später vertagt. Ein zweiter Antrag auf Kaution wurde abgelehnt.
Vorbei. Aber der Anfang. Die Eltern näherten sich der Schranke zwischen Besuchergalerie und dem Bereich der Anwälte und wurden nicht daran gehindert, Kontakt mit ihrem Sohn aufzunehmen. Beide umarmten ihn, während er den Kopf von ihren Gesichtern abgewandt hielt.
»Brauchst du was?«
»So geht das nicht«, sagte der junge Anwalt, »ich lege sofort Einspruch gegen die Ablehnung ein, Duncan. Damit kommt der Staatsanwalt nicht durch. Machen Sie sich keine Sorgen.«
Das letzte war an sie gerichtet, die Ärztin, in exakt dem gleichen beruhigenden Ton, den sie bei Patienten anschlug, wenn sie sich über die Diagnose nicht klar war.
Ihr Sohn wirkte ungeduldig, er hatte den unruhigen Blick eines Patienten, der wünscht, die Wohlmeinenden würden gehen; ein dringendes Bedürfnis, sich ganz seiner eigenen Angelegenheit widmen zu können. Sie konnten das als Selbstbewußtsein deuten; aufgrund seiner Unschuld – natürlich; oder es konnte auch eine Tarnung der Angst sein, verwandt der Angst, die sie gespürt hatten. Vielleicht verbarg er seine aus Stolz, weil er mit ihrer Angst nichts zu tun haben wollte. Er war jetzt offiziell Angeklagter, aktenkundig. Und der Angeklagte hat schließlich seine eigene Angst, mit der er sich auseinandersetzen muß.
»Nichts?«
»Ich kümmer mich um alles, was Duncan braucht« – der Anwalt drückte seinem Klienten die Schulter, schwang seinen Aktenkoffer herum und verschwand.
Wenn sie nichts tun konnten, dann …
Nichts. Nichts, was sie fragen konnten. Nicht: Was soll das denn alles, was hast du getan oder angeblich getan?
Sein Vater faßte sich ein Herz: »Ist der Anwalt wirklich gut? Wir könnten einen anderen besorgen. Egal wen.«
»Er ist ein guter Freund von mir.«
»Ich setz mich später mit ihm in Verbindung, ich will wissen, was er beim Staatsanwalt erreicht hat.«
Der Sohn weiß, daß der Vater Geld meint, er ist bereit, eine Sicherheit zu leisten für dieses unvorhergesehene Ereignis, das, für ihn unglaublich, zwischen sie getreten ist, Geld für die Kaution.
Er wendet sich ab – der Häftling, denn das ist er jetzt –, er wartet nicht auf die Aufforderung der Polizisten, er will nicht, daß sie ihn anfassen, er hat seinen eigenen Willen, und die Hände seiner Mutter bekommen nur seine Fingerspitzen zu fassen, als er schon geht.
Sie sehen, wie er die Treppe hinuntergeführt wird zu dem, was immer sich unter dem Gerichtssaal befinden mag. Als sie im Begriff sind, Saal B 17 zu verlassen, bemerken sie, daß der andere Freund, der Bote Julian, hinter ihnen gestanden hat, um Duncan seiner Anwesenheit zu versichern, aber ohne sich aufzudrängen. Er gehört nicht zur Familie. Sie begrüßen ihn und verlassen mit ihm den Saal, aber ohne zu sprechen. Er fühlt sich immer noch unbehaglich wegen seiner Mission in jener Nacht und eilt vor ihnen davon.
Als das Paar wieder das Foyer des Gerichtsgebäudes erreicht, die hohen Gewölbe, in denen das Flüstern der hier versammelten unterschiedlichen Bittsteller widerhallt, bricht Claudia plötzlich aus und verschwindet in Richtung der Schilder, die zu den Toiletten weisen. Harald wartet inmitten der Menschen, denen angesichts ihres Unglücks nur die Geduld bleibt. Für sie ist er einer von ihnen, einer unter den Ehefrauen, Ehemännern, Vätern, Geliebten, Kindern von Fälschern, Dieben und Mördern. Er sieht auf die Uhr. Die ganze Angelegenheit hat genau eine Stunde und sieben Minuten gedauert.
Sie kommt zurück, gemeinsam gehen sie hinaus.
Laß uns noch einen Kaffee trinken.
Oh … in der Praxis warten Patienten auf mich.
Laß sie warten.
Sie hatte es nicht bis zur Toilette geschafft und sich in ein Waschbecken im Vorraum übergeben. Es gab keine Vorwarnung; als sie mit all den anderen unglücklichen Menschen nach draußen strebte, mit dem gleichen besorgten und niedergedrückten Gang, spürte sie plötzlich den Krampf im Magen und wußte, was passieren würde. Als sie zurückkam, sagte sie nichts, und er mußte annehmen, daß sie den Ort zum üblichen Zweck aufgesucht hatte. Medizinisch gesehen gab es eine Erklärung für eine solche Attacke ohne vorherige Übelkeit. Äußerste Anspannung konnte einen muskulären Krampf auslosen. ›Sich die Seele aus dem Leib kotzen‹: mit den Worten hatten einige Patienten das Symptom geschildert. Sie hatte das immer trocken als dramatisch ungenau aufgenommen.
Laß sie warten.
Was er damit sagte, war, zum Teufel mit ihnen, den Patienten, wie kann man ihre Schmerzen und Leiden und Schwangerschaften mit dem hier vergleichen? Alles war zum Stillstand gekommen, an jenem Abend; alles ist jetzt zum Stillstand gekommen. In dem Café summte ein androgyner Kellner mit langem, lockigem, im Nacken zusammengebundenem Haar und Tennisballbizeps vergnügt zu der Musik aus den Lautsprechern. In der Leichenhalle lag die Leiche eines Mannes. Sie bestellten einen Kaffee (Harald) und einen Cappuccino (Claudia). Des Mannes, der mit einem Kopfschuß tot aufgefunden worden war. Warum sollte es überraschend sein, daß es ein Mann war? War das nicht schon ein Eingeständnis, ein Bekenntnis, daß die Tat überhaupt begangen worden sein konnte? Anzunehmen, daß das Opfer eine Frau war, die üblichste Form der Tat, ein Verbrechen aus Leidenschaft in den Sensationsnachrichten der Sonntagszeitungen, bedeutete, die Möglichkeit zu akzeptieren, daß es begangen worden und überhaupt in einen Lebenszusammenhang getreten war. Seinen. Die ziellose Gewalt der nächtlichen Straßen, von der sie im Gesicht des Boten zu lesen erwartet hatten, das war die Gefahr, die dorthin gehörte, ebenso wie das ewig Gegebene, die Gefährdung durch Krankheit, das Scheitern von Ambitionen, der Verlust von Liebe. Wer Verantwortung für ein Leben trägt, weiß, daß es diese Risiken sind, denen er es aussetzt. Eine Frau aus Eifersucht umzubringen – diesen Gedanken überhaupt zuzulassen, bedeutete, die Banalität der Zeitungsmeldungen auf das eigene Leben zu übertragen, bedeutete, zuzugeben, daß so etwas auch den eigenen Lebenskreis erreichen konnte.
Wir sind kein bißchen klüger als zuvor.
Sie antwortete nicht. Sie zog die Augenbrauen hoch und griff nach den Zuckertütchen. Ihre Hand zitterte ein wenig nach den Krämpfen ihres Körpers kurz zuvor. Falls er es bemerkte, sagte er nichts.
Jetzt begriffen sie, was sie von ihm erwartet hatten: Empörung angesichts dieser grotesken Sache, dieser Anschuldigung, die da gegen ihn vorgebracht wurde. Angesichts der Tatsache, daß er zwischen zwei Polizisten dem Richter vorgeführt wurde. Sie hatten erwartet, daß er bei ihrem Anblick auf sie zustürzen – darauf waren sie vorbereitet gewesen – und ihnen sagen würde: was? Was immer er sagen konnte, innerhalb der Beschränkungen dieses Raumes, mit den beiden Polizisten, die nicht von seiner Seite wichen, den Justizbeamten, die ihre Akten zusammenkramten, und den dort herumlungernden Schaulustigen. Wie verrückt es war, daß er dort war, daß sie ihn sofort rausholen, bei den Behörden vorstellig werden, protestieren sollten – wogegen? Daß er ihnen etwas sagen würde. Ihnen etwas sagen würde. Irgendeine Erklärung. Wie konnte man den Gedanken zulassen, daß diese Situation möglich war.
Ein guter Freund.
Der Anwalt war ein guter Freund. Und das war alles. Sein Rücken, als er die Treppe hinunterging, rechts und links ein Polizist. Jetzt, während Harald ein Bein ausstreckte, um an die Münzen in seiner Hosentasche heranzukommen, war er in einem geschlossenen Raum, den sie noch nie gesehen hatten, einer Zelle. Die Leiche eines Mannes lag in der Leichenhalle. Harald legte für den summenden jungen Mann ein Trinkgeld auf den Tisch. Die kleinen Rituale des Lebens gehen weiter, sie legen sich wie ein Nebel über das, was zum Stillstand gekommen ist.
Heute nachmittag werde ich herausfinden, was das alles zu bedeuten hat.
Durch den Strom der Stadt gingen sie zu ihrem Wagen. Auf dem Bürgersteig, der mal enger, mal breiter war, wurden sie durch die anderen Passanten, die ihrer Wege gingen, auseinandergedrängt und wieder zusammengebracht. Sie wichen den ausgebreiteten Angeboten der Straßenhändler aus: Kleine Gemüsepyramiden, Kaugummi, Sonnenbrillen und Secondhandkleider, die Gasflammen, über denen Würste wie gerollte menschliche Gedärme brieten.
Am Nachmittag konnte sie sie nicht warten lassen. Es war der Tag, an dem sie Dienst in der Klinik hatte. Von niedergelassenen Ärzten wurde erwartet, daß sie nach Bedarf überall dort in der Stadt und den ehemals vornehmen weißen Vororten einsprangen, wo es in den letzten Jahren einen großen Zustrom gegeben und die Bevölkerung gewachsen war und sich vermischt hatte. Sie war dieser Verpflichtung immer nachgekommen, und auch jetzt trieb sie ihr Pflichtbewußtsein an, trotz allem, was zum Stillstand gekommen war. Sie ging in die Klinik, statt Harald zum Anwalt zu begleiten. Vielleicht tat sie es auch, um an der Überzeugung festhalten zu können, daß das, was geschehen war, nicht sein konnte? Dies war nicht der Tag, an dem man Motive überprüfen sollte. Am besten folgte man ohne nachzudenken dem Terminkalender. Sie zog den weißen Kittel über (sie hat eine Funktion, wie der Richter in seiner Robe) und betrat den ihr vertrauten, institutionellen Bereich mit dem dampfenden Sterilisator und der Reihe präziser Instrumente, für jede Aufgabe eins, der vor Effizienz tänzelnden jungen Bezirkskrankenschwester mit ihrer puppenhaften, gestärkten Haube, die auf ihren Dreadlocks festgesteckt war. Manche der Patienten waren nicht in der Lage, auf englisch auszudrücken, was ihnen ihrer Meinung nach fehlte. Wo nötig, dolmetschte die Krankenschwester, sie übersetzte die Fragen der Ärztin, sprang leicht zwischen der einen Muttersprache und der anderen, die sie mit den Patienten gemeinsam hatte, hin und her, und meldete ihre Antworten.
Die Prozession des Fleisches zog vor der Ärztin vorbei. Dies war das Medium, in dem sie arbeitete, die dicken schwarzen Oberschenkel, die sich vor Sittsamkeit nur zögernd öffneten (die Schwester schalt die Frauen, Mama, Frau Doktor ist doch auch eine Frau wie du), die weiß behaarten Brustwarzen der alten Männer unter dem Stethoskop. Ihre Handflächen glitten über die zarten Bäuche der Kleinkinder; vorwurfsvolle Tränen traten in ihre Augen, wenn sie eine Nadel in das weiche Fleisch ihres Oberarms, wo sich noch keine Muskeln entwickelt hatten, stechen mußte. Sie tat es, wie sie alle Aufgaben verrichtete, mit all ihrer Fähigkeit, Schmerz zu vermeiden.
War das nicht der Sinn ihrer Arbeit?
Es gibt reichlich Schmerz, der von innen her kommt. Diese Frau mit einem wachsenden Tumor im Hals, den die erfahrenen Finger leicht ertasten, und dann der allwöchentliche Aufmarsch der von Arthritis gekrümmten Rentner.
Aber der Schmerz, der von außen kommt – die Verletzung des Fleisches, ein Kind, das sich mit heißem Wasser aus einem umgestürzten Topf verbrüht hat, der Stich eines Messers. Eine Kugel. Das Durchbohren des Fleisches, die Gewalt, das Eindringen tief in den Körper, eine Stahllegierung, die Knochen zersplittern läßt, als wären sie eine Teetasse – sie ist keine Chirurgin, aber in dieser gewalttätigen Stadt hat sie gesehen, wie man auf Operationstischen nach solchen Klumpen gräbt, wie man sie herausschält, sie behalten die Stromlinienform der Geschwindigkeit bei, kein Element im menschlichen Körper kann sie aufhalten oder auch nur verformen, die Kugel – die Überlebenden schildern den Schmerz unterschiedlich, aber alle stimmen darin überein: es ist wie ein schrecklicher Schlag. Der Schmerz, der das Produkt des Körpers, seiner Fehlfunktion ist, gehört zum Ich. Irgendwie – es ist ein Geheimnis, das die medizinische Wissenschaft nicht erklären kann – ist das Ich dafür verantwortlich. Aber dies – die Kugel: das reine Zuschlagen des Schmerzes.
Die Lebensaufgabe einer Ärztin ist es, den Körper vor der Gewalt des Schmerzes zu schützen. Sie steht auf der anderen Seite der Kluft denjenigen gegenüber, die ihn verursachen. Die letztgültige Kluft, die zwischen Tod und Leben.
Dieser Körper, dessen Inneres sie mit ihrer in einem Plastikhandschuh steckenden Hand erforscht, wie mit einer Wünschelrute, die unwillkürlich zur Wasserquelle führt, hat einen Fötus, ein drei Monate altes Leben in sich.
»Ich sag Ihnen, bei den andern war mir nie so übel. Jeden Morgen, hundeelend.«
Man kotzt sich die Seele aus dem Leib.
»Meinen Sie, das heißt, es ist ’n Junge, Frau Doktor?« Die Patientin spricht mit der gespielten Koketterie, die Frauen oft im Gespräch mit dem Arzt annehmen. Das Untersuchungszimmer ist ihre Bühne, ihre seltene Chance für eine kleine Vorführung. »Ag, das ist mein Mann, der wär aus’m Häuschen. Aber ich hab ihm gesagt, wenn es diesmal nicht klappt, dann kannst du machen, was du willst, ich geb dann auf.«
Die Ärztin geht auf sie ein, lacht mit ihr.
»Wir können einen einfachen Test machen, wenn Sie wissen wollen, ob’s ein Junge oder ein Mädchen ist.«
»Nein, nein, das ist Gottes Wille.«
Als nächstes kommen die üblichen Geschichten, Herzschwäche und Bronchialkatarrh. Das Leben holpert dahin, angetrieben von den verbrauchten Bälgen der Lungen alter Leute und dem zart sichtbaren Pochen zwischen den Rippen eines mageren kleinen Jungen. Bei einigen Patienten, die diese Woche wie jede Woche in die Klinik gekommen sind, liegen die Augen schmal im groben Fettgewebe ihrer Gesichter, andere haben immer noch die Hautinfektionen, die auf Unterernährung zurückgehen. Entweder essen sie zuviel, oder sie haben nicht genug zu essen. Es ist verhältnismäßig leicht, Maßnahmen gegen das erste zu verordnen, denn die liegen in der Macht der Menschen selbst. Der zweiten Gruppe wird das, was verschrieben wird, durch Umstände verwehrt, die außerhalb ihrer Kontrolle liegen. Grünes Gemüse und frisches Obst – sie sind zu arm für den Luxus dieser Heilmittel; in die Klinik sind sie gekommen, um sich eine Flasche Medizin zu holen. Das weiß die Ärztin, aber sie hat einen Stapel mit Diätplänen bereitliegen, Rezeptvorschläge für Gerichte mit verschiedenen Hülsenfrüchten, gewissermaßen als Ersatz für das, was sie essen sollten. Ein Blatt reicht sie freundlich einer Frau, die mit ihren zwei Enkelinnen in die Sprechstunde gekommen ist. Die vernarbten Beine mit dem grauen Film darauf sind nackt, aber die Augen der Mädchen beobachten die Ärztin unter dicken Wollmützen hervor, die die entzündeten Stellen auf ihrem Kopf bedecken und bis zu den Augenbrauen heruntergezogen sind. Die Frau braucht die Dolmetschkünste der Krankenschwester nicht, sie kann das Blatt lesen und studiert es mit ausgestrecktem Arm, wie es ältere Leute, die weitsichtig werden, tun. Sie faltet es sorgfältig zusammen. Ihre Zeit ist um. Sie dankt der Ärztin. »Ich weiß nicht, was ich davon bekommen kann. Vielleicht kann ich ein paar Sachen ausprobieren. Der Vater, der ist noch im Gefängnis. Mein Sohn.«
Die Anklageschrift. Harald versucht einen Zustand kühler Konzentration aufrechtzuerhalten, um trennen zu können, was Beweislage und was die Interpretation dieser Beweise war. Die Beweislage: an jenem Tag, jenem Abend, am Freitag, dem 19. Januar 1996, wurde ein Mann tot in einem Haus, das er mit zwei anderen Männern bewohnte, aufgefunden. David Baker und Nkululeko ›Khulu‹ Dladla kamen um 19.15 Uhr nach Hause und fanden die Leiche ihres Freundes Carl Jespersen im Wohnzimmer. Er hatte eine Schußwunde am Kopf. Er lag halb auf der Couch, halb war er heruntergeglitten, als sei er (Interpretation) überrascht worden, als auf ihn geschossen wurde, und habe noch versucht, sich zu erheben. Er trug Riemensandalen, von denen eine verdreht von seinem Fuß herabbaumelte, und unter dem Frotteebademantel war er nackt. Auf einer afrikanischen Trommel neben der Couch standen Gläser. In einem befanden sich die Reste eines Getränks, wahrscheinlich eine Bloody Mary – eine leere Dose Tomatensaft und eine Flasche Wodka standen auf dem Fernsehgerät. Anscheinend waren die anderen Gläser unbenutzt, auf dem Boden neben der Trommel stand ein Tablett mit einer verschlossenen Flasche Whisky und einem Kübel mit halb geschmolzenem Eis. (Beweise und Interpretation vermischt.) Es herrschte keine ungewöhnliche Unordnung im Zimmer – es handelt sich um einen locker geführten Junggesellenhaushalt. (Interpretation.) Das Zimmer war dunkel, abgesehen von der Kontrollampe des CD-Players, auf dem eine CD abgespielt und der danach nicht ausgeschaltet worden war. Die Haustür war verschlossen, aber die Glastüren, die vom Wohnzimmer in den Garten führten, standen offen, wie das im Sommer, auch nach Einbruch der Dunkelheit, üblich war.
Im Garten befindet sich ein Cottage. Dort wohnt Duncan Lindgard, ein Freund des Toten und auch der beiden Männer, die die Leiche fanden. Nachdem sie Jespersen entdeckt hatten, liefen sie zu ihm. Lindgards Hund schlief draußen vor dem Cottage, und anscheinend war niemand zu Hause. Die Polizei traf zwanzig Minuten später ein. Ein Mann, ein Hilfsarbeiter bei einer Installationsfirma namens Petrus Ntuli, der als Gegenleistung für Gartenarbeit auf dem Grundstück in einem Nebengebäude wohnen durfte, wurde befragt. Er sagte aus, daß er gesehen habe, wie Lindgard auf die Veranda getreten sei und etwas fallen gelassen habe, als er den Garten auf dem Weg zum Cottage durchquerte. Ntuli wollte den Gegenstand aufheben, um ihn Lindgard wiederzugeben, konnte ihn aber nicht finden. Er rief nach Lindgard, aber der war schon im Cottage. Ntuli hatte keine Uhr. Er konnte nicht sagen, wann genau das gewesen war, aber die Sonne war schon untergegangen. Die Polizei durchsuchte den Garten und fand eine Pistole in einem Farngesträuch. Baker und Dladla identifizierten sie sofort als die Waffe, die man zum Schutz vor Einbrechern im Haus hatte. Keiner von beiden konnte sich erinnern, auf wessen Namen sie zugelassen war. Die Polizisten gingen zum Cottage hinüber. Auf das Klopfen an der Tür kam keine Antwort, aber Ntuli beharrte darauf, daß Lindgard im Cottage war. Die Polizisten verschafften sich gewaltsam Zutritt durch die Küchentür und fanden Lindgard im Schlafzimmer. Er schien benommen. Er sagte, er habe geschlafen. Auf die Frage, ob er wisse, daß auf seinen Freund Carl Jespersen geschossen worden sei, wurde er bleich (Interpretation) und fragte: »Ist er tot?«
Dann protestierte er dagegen, daß die Polizei sein Cottage betreten hatte, und bestand darauf, mehrere Anrufe zu machen, von denen einer seinem Anwalt galt. Der Anwalt riet ihm offenbar, sich der Verhaftung nicht zu widersetzen, und kam zur Polizeiwache. Es gab keine eindeutigen Fingerabdrücke auf der Waffe, da der Farn erst kürzlich gegossen worden war und die feuchte Erde die Abdrücke verwischt hatte.
Dies ist kein Kriminalroman.
Harald muß sich davon überzeugen, daß die Dinge, die in so einem Roman vorkommen, Realität sein können.
Dies ist der Handlungsablauf, der zu einer Anklage wegen Mordes führt. Als er Claudia berichtet, was er von dem Anwalt gehört hat, wiegt sie bei jedem neuen Detail den Kopf, unterbricht ihn aber nicht. Er hat den Eindruck, daß sie erst alles hören will, aber auch als er fertig ist, sagt sie nichts. Ihr Schweigen sagt ihm, daß er nichts berichtet hat, nichts mitgebracht hat, das etwas erklärte. Duncan ist aus dem Haus des Mannes gekommen und hat auf dem Weg zum Cottage etwas im Garten fallen gelassen. Eine Waffe wurde gefunden. Duncan sagte, er habe geschlafen und weder seine Freunde noch die Polizei gehört, als sie an die Tür klopften. Nichts davon sagt ihnen mehr, erklärt mehr, als sie bei der Begegnung im Gericht über die Schranke hinweg erfahren haben. Seine knappe Umarmung mit abgewandtem Gesicht. Seine Antwort auf die Frage, ob er etwas brauche: Nichts. Claudias Reaktion zeigt Harald, daß das, was er sich und ihr erzählt hat, tatsächlich nur eine grobe Kriminalgeschichte ist.
Der Antrag des guten Freundes, des so selbstbewußten Anwalts, auf Freilassung gegen Kaution ist abermals abgelehnt worden.
Aber warum? Warum? Sie kann sich nur an eine unumstrittene, allgemein akzeptierte Begründung erinnern, wonach jemand, der möglicherweise ein weiteres Verbrechen begehen würde, nicht gegen die bloße Hinterlegung einer Geldsumme freigelassen werden kann. Duncan, eine Gefahr für die Gesellschaft! Warum, um alles in der Welt?
Der Staatsanwalt hat etwas davon gehört, daß er verschwinden könne – weggehen.
Außer Landes?
Jetzt gehören sie zu der Kategorie derer, die sich von der gerechten Strafe freikaufen, weil sie sich eine Kaution und dann eine Geldstrafe leisten können. Er wußte nicht, ob ihr diese Bedeutung der Ablehnung klar war, für ihren Sohn und für sie selbst.
Wie kommt er auf die Idee?
Das Mädchen ist vernommen worden, anscheinend hat sie gesagt, er habe schon eine Weile damit gedroht, eine Stelle anzunehmen, die man ihm in einem Büro in Singapur angeboten hat. Ich weiß nicht – um von ihr wegzukommen, so hört es sich an. Sie hat das so nebenbei fallengelassen, vielleicht mit Absicht. Wer weiß schon, was sich zwischen ihnen abgespielt hat.
Wenn Claudia unzufrieden mit dem bißchen ist, was Harald zur Erklärung erfahren hat, hätte sie selber mehr erreichen können? Nun, soll sie es doch versuchen!
Ein Gefangener in Untersuchungshaft darf Besuch empfangen. Sie ist dran: Ich würde gern mit diesem Julian Sowieso sprechen, bevor wir gehen.
Harald weiß, daß sie beide einen irrationalen Widerwillen gegen eine Begegnung mit dem jungen Mann haben: Erschlag nicht den Boten, die Botschaft ist die Bedrohung.
Claudia ist nicht die einzige Frau, die einen Sohn im Gefängnis hat. Heute nachmittag hat sie das begriffen. Sie ist nicht mehr diejenige, die Trost spendet und Placebos gegen die Katastrophen anderer austeilt, selber sicher und unerreichbar, einer anderen Klasse angehörend. Und es sind nicht die gerechten Gesetze, die diese Art von Gleichheit hergestellt haben, es ist etwas ganz anderes. Es liegt auch keine Sentimentalität darin, und deswegen spricht sie mit keinem darüber, nicht einmal mit dem Vater, der einen Sohn im Gefängnis hat. Es könnte falsch verstanden werden.
Sie rief den Anwalt an, um von ihm die Telefonnummer des Boten zu erfahren, der zu den bewachten Toren des Wohnparks gekommen war nach dem Abendessen, als sie Kaffee tranken. Sie war unnachgiebig, Harald hörte es, als sie den Boten erreichte. Er solle heute zu ihnen kommen. Nicht morgen. Jetzt.
Als Harald dem Boten diesmal die Tür öffnet, reicht er ihm die Hand. Julian Verster. Claudia hatte sich seinen Namen notiert.
Welchen Eindruck machten sie auf ihn? Für die Situation gab es kein Muster, nach dem sie sich richten konnten, ein Höflichkeitsbesuch, eine Befragung, ein Appell – welche Form der Gastlichkeit ist gefragt, welche zeichensetzenden Vorbereitungen sind angemessen, so wie die Bereitstellung von Tee oder alkoholischen Getränken, die Plazierung von Aschenbechern und das Zurechtrücken von bequemen Sesseln, die bei anderen Gelegenheiten angemessen sind. Alles in dem Zimmer ist an seinem gewohnten Platz, das allein schon ist unangemessen, sogar bizarr.
Ihre Haltung ihm gegenüber hatte sich verändert; überwältigt von ihrem Bedürfnis, sahen sie in diesem jungen Mann die Möglichkeit einiger Antworten, vielleicht konnten sie sogar in seinem Äußeren etwas von dem Zusammenhang erkennen, in dem das, was geschehen war, geschehen konnte. Jeder trägt eine Uniform, mit der er zeigt, wie er sich sieht oder als wer er sich verkleidet. Klobige Sportschuhe mit komplizierten Verzierungen, hohen Zungen und dicken Sohlen, die Kabinettsmitglieder ebenso wie Bankangestellte oder Studenten derzeit tragen, die auch Harald in seiner Freizeit trägt; vernarbte Haut auf den Wangen, die Stammeszeichen einer pubertären Akne, weit auseinanderstehende, hundebraune Augen, von dicken Brauen verdunkelt, die im Gegensatz zu dem unsicheren Mund stehen, der sich bewegt, formt und neu formt, bevor die Worte kommen. Ein Gesicht, das auf eine dienstfertige und loyale Persönlichkeit hindeutet – der ideale Gefolgsmann. Im Geschäftsleben ist Harald es gewohnt, solche Einzelheiten zu beobachten, wenn er potentielle Geschäftspartner kennenlernt.
»Es tut mir leid, daß wir Ihre Pläne für den Abend durcheinandergebracht haben, aber als Sie an dem Abend kamen, waren wir ganz … ich weiß nicht … wir konnten kaum etwas sagen. Es war schwer, überhaupt etwas zu begreifen. Als Freund von Duncan muß es Ihnen ähnlich gegangen sein – es muß Ihnen schwergefallen sein, zu uns zu kommen. Das wissen wir.«
Der junge Mann gibt mit einem Senken der Mundwinkel zu verstehen, daß sie ihm damit auf ihre Art die Hand reicht.
»Mir war schrecklich zumute – weil ich es so schlecht gemacht hab-, ich wußte nicht, wie sonst. Schrecklich. Und er hatte mich gebeten, er hatte es mir überlassen.«
Sie saßen jetzt als enge Gruppe beieinander. Claudia war ihm zugewandt, neben ihm auf der Couch, und Harald zog einen Sessel heran, bevor er sprach.
»Warum hat er uns nicht selbst angerufen.«
Aber das war eher ein Urteil als eine Frage.
»Harald … das liegt doch auf der Hand.«
»Er stand unter Schock, das können Sie sich nicht vorstellen.«
»Das war auf dem Polizeirevier?«
»Nein, im Haus, er hat mich über mein Handy erreicht, und ich bin mitten auf der Straße umgedreht, auf der Stelle … und er war noch mit der Polizei im Haus, im Cottage.«
Claudias Hände und Knie waren zusammengepreßt, eng aneinander, die Hände auf den Knien. »Sie sind zu dem Haus rübergegangen.«
»Ja. Ich hab’s gesehen. Ich konnte es nicht glauben.«
Für sie ist das, was er gesehen hat, der Mann in der Leichenhalle. (Claudia weiß, wie eine Obduktion aussieht, manchmal liegt die Leiche tagelang im Leichenhaus, bevor die Leichenöffnung vorgenommen wird.) Aber – es stand in seinem Gesicht – für Julian Verster war das, was er gesehen hatte, sein Freund, so wie Duncan sein Freund ist. Als sie das begriffen haben, können sie anfangen zu sagen, was sie von ihm wollen. Aufgrund einer instinktiven Verständigung hat keiner ein Vorrecht, sie stellen abwechselnd ihre Fragen. Sie waren noch nie in solch einer Situation, aber sie haben eine Formel gefunden, eine Struktur.
»Können Sie uns erklären, wie Duncan überhaupt in so was verwickelt werden konnte, wie seine – wie soll ich es nennen? – seine Position als eine Art Mieter, seine Beziehung zu den Männern im Haus – diesen Freunden – zu dieser Beweislage führen konnte, die gegen ihn zu sprechen scheint? Ich war heute bei dem Anwalt. Sie gehören doch auch zu dieser Gruppe, oder? Wir kennen die alle nicht, ehrlich gesagt.«
Claudia wandte sich Harald zu und warf, ohne ihn anzusehen, ein: »Außer dem Mädchen, seiner Freundin, die hat er ein- oder zweimal hierher mitgebracht. Aber anscheinend war sie am Freitag nicht da. Sie wurde jedenfalls nicht erwähnt.«
»Können Sie uns etwas über die Freundschaft erzählen? Das Haus ist ja mehr oder weniger von allen geteilt worden, sie müssen sich gut verstanden haben, um den Entschluß zu fassen, so eng zusammenzuleben – was kann dazu geführt haben, daß Duncan einer so furchtbaren Tat beschuldigt wird? Sie müssen verstehen, wir, meine Frau und ich, Eltern und Sohn, haben als drei eigenständige Erwachsene gelebt, wir stehen uns nahe, aber wir erwarten nicht, in alles eingeweiht zu werden. In seine verschiedenen Beziehungen. Wir haben unsere mit ihm, er hat seine mit anderen. Das ging gut. Aber wenn so etwas auf einen herabstürzt – wir wissen, was diese – Rücksichtnahme, könnte man sagen, voreinander bedeuten kann. Wir wissen einfach zuwenig. Wer war dieser Mann? Was hatte Duncan mit ihm zu tun? Sie wissen es doch! Wir können Duncan nicht morgen besuchen und ihm diese Frage stellen, oder? In einem Besuchsraum im Gefängnis? Mit Wärtern, und wer weiß, wem sonst noch.«
»Wir sind alle seit langer Zeit befreundet, auf jeden Fall Dave, der hat mit Duncan zusammen Architektur studiert, und ich auch – ich arbeite mit Duncan in derselben Firma. Aber ich hab nicht mitgemacht, als sie das Haus und das Cottage gemietet haben. Khulu ist Journalist, ich glaub, Duncan hat ihn als erster kennengelernt, als Khulu aus Tembisa in die Stadt ziehen wollte. Carl, Carl Jespersen – (es ist schwer, im normalen Mitteilungston von einem Mann zu sprechen oder zu hören, der in einer Leichenhalle liegt) Jespersen kam, glaub ich, vor zwei Jahren mit einem dänischen – oder vielleicht war es ein norwegisches – Filmteam hierher, und irgendwie ist er hängengeblieben. Er arbeitet – er hat in einer Werbeagentur gearbeitet. Die drei haben das Haupthaus gemietet und Duncan das Cottage. Aber eigentlich wohnen alle überall. Ich mein, ich bin oft da, das Haus ist für jedermann offen, wir hatten viel Spaß da.«
Hemmungen müssen überwunden werden, seine Loyalität, das Vertrauen, das dem Boten von seinem Freund geschenkt wurde, einem Freund, den er bewundert oder der, vielleicht, im Beruf besser ist als er. Er erklärt umständlich seine Beziehung zu ihrem Sohn. Es ist schwer, nicht ungeduldig zu werden.
»Alle haben sich also verstanden, gut. Es gab keine wirklichen Spannungen, soweit Sie wissen? Wie schwerwiegend hätten die denn sein müssen, wenn wir glauben sollen, daß Duncan, Duncan …! Lassen wir das mit der Waffe, lassen wir das, was der Mann seiner Aussage nach im Garten gesehen hat! Gibt es niemanden, der einen Grund hatte, Jespersen anzugreifen? Oder der glaubte, einen Grund zu haben? Warum Duncan? Wissen Sie von jemandem?«
Haralds Gedanken kreuzten sich mit ihren.
»Wo war das Mädchen? Wo war sie am Freitag? Ist die Affäre zu Ende, waren sie und Duncan nicht mehr zusammen?«
»Sie sind noch zusammen. Natürlich, doch – sie war da. Am Tag davor, am Donnerstag abend. Wir haben alle im Haus gegessen. Carl und David hatten für alle gekocht.«
Gab es sonst nichts zu sagen? Was man von ihm erfahren konnte? Er ist der Bote, er darf nur den Text kennen, den man ihm aufgetragen hat.
Claudia ließ die Hände an der Seite herabfallen, die Finger bewegten sich.
»Erzählen Sie uns bitte von ihr.«
Harald stand auf.
Der junge Mann blickte von einem zum anderen, als suchte er Barmherzigkeit, und dann fing er an zu erzählen, auf die einzige Weise, die ihm zu Gebot stand, nämlich in dem teilnahmslosen, entschärften Ton desjenigen, der über die Umstände eines Verkehrsunfalls berichtet, bei dem keiner verletzt wurde: die Sachlichkeit, die in die Ecke getriebene Gefühle schützt.
»Letztes Jahr im Juni besorgte Carl ihr eine Stelle in der Werbeagentur, und sie fingen an, jeden Tag zusammen in ihrem Auto zur Arbeit zu fahren. Manchmal auch in seinem. Ich weiß nicht, wie sie das geregelt hatten. Und sie haben oft zusammen Mittag gegessen. Aber das war in Ordnung.«
»Was meinen Sie damit?« Harald blickte auf ihn herab.
»Es machte Duncan nichts aus. Er brauchte sich keine Sorgen zu machen.«
»Es machte ihm nichts aus, daß seine Geliebte den ganzen Tag mit einem anderen Mann verbrachte?«
»Na ja, Carl und David waren ein Paar. Die drei im Haus sind schwul, Khulu auch. Schwule sind oft gute Freunde für Frauen, sie stellen keine Bedrohung für den Partner der Frau dar, das wissen Sie ja, natürlich. Carl und Duncan und Natalie sind gute Freunde. Sie sind eng befreundet, innerhalb der Gruppe im Haus. Sie waren es.«
»Ach so.«
Aber Harald, dem bewußt ist, daß er hier ganz als heterosexueller Mann reagiert, versteht nicht, wie Duncan es nichts ausmachen konnte, daß seine Freundin jeden Tag mit einem anderen Mann verbrachte, egal, welches Geschlecht für diesen Mann attraktiv war. Seine einsilbige Antwort öffnet der Angst wieder den Weg zu ihm und Claudia, der Angst, die mit der Verkündung der ersten Botschaft an jenem Abend, an jenem Freitag, zu ihnen gekommen war.
»Bitte erzählen Sie weiter.«
Es ist eine Totenglocke, die Claudia anschlägt.
»Am Donnerstag waren wir alle bis spät im Haus. Es waren noch andere Leute da, auch ein paar von Khulus Freunden. Als wir nach Hause wollten und Khulu mit seinen Leuten auch ging, hab ich Duncan zum Cottage begleitet. Natalie wollte Carl beim Abwasch helfen, David hatte ein bißchen zuviel getrunken und ging zu Bett. Aber anscheinend ist Natalie, nachdem in der Küche alles aufgeräumt war, nicht ins Cottage zurückgekommen. Duncan wachte so gegen zwei Uhr auf und sah, daß sie nicht da war. Er machte sich Sorgen, er dachte, daß ihr was passiert sein könnte, im Dunkeln im Garten, und ging zum Haus rüber. Ja. Sie lag mit Carl auf der Couch. Am nächsten Morgen kam Duncan nicht zur Arbeit und rief mich im Büro an. Er hat es mir erzählt. Er sagte, er hätte die beiden auf der Couch gesehen – auf derselben Couch, verstehen Sie? Was soll ich sagen. Es war nicht das erste Mal, daß Natalie sich mit einem anderen eingelassen hatte – ich weiß, wir alle wußten von einem, mindestens. Es liegt in ihrem Wesen, aber ich glaub, sie liebt ihn – Duncan. Auf ihre Art. Und er – er ist ihr absolut treu, sehr besitzergreifend, andere Frauen gibt es für Duncan nicht. Vorwürfe und Tränen – das Übliche – und dann kommt sie zu ihm zurück. Aber diesmal – Carl. Ein Mann, der keine Frauen liebt, aber auf Natalie abfährt. Um es grob auszudrücken. Mit Natalie macht er eine Ausnahme, läßt seinen Partner allein im Bett und schläft mit ihr auf der Couch. Duncan war – ich kann das gar nicht beschreiben – in einem furchtbaren Zustand. Sie wollte nicht ins Cottage zurück, wahrscheinlich hatte sie Angst vor ihm. Sie ist weggefahren. In ihr Auto gestiegen und mitten in der Nacht weggefahren, kam auch am Freitag nicht zurück. Sie war nicht da. Als das passierte. Mehr weiß ich nicht, und ich sage auch nicht, daß Duncan das getan hat, was ihm vorgeworfen wird, ich ziehe keine Schlüsse, ich will nicht, daß Sie denken, daß das, was ich erzählt hab, die ganze Geschichte ist, ich war nicht dabei, ich hab nichts gesehen, und obwohl ich Duncan, Ihren Sohn, gut kenne, weiß ich nicht, was in ihm vorgegangen ist…«
Alle drei sind jetzt aufgestanden, wieder ist es, als stünde etwas, wofür es keine Vorbereitung gibt, bevor. Der atmosphärische Druck jenes Hauses, in das Duncan eintritt, der andere Mann sitzt allein auf der Couch und trinkt eine Bloody Mary, entsteht in ihnen, überwältigt sie, wie Angst den Körper zu einem Schweißausbruch treiben kann. Aber man darf das nicht zugeben, es muß in etwas Verständliches umgewandelt werden, mit dem man kontrolliert umgehen kann. Der Bote ist im Begriff, sein Roß zu wenden und fortzureiten: das war’s. Er kann nicht mehr, er hat genug davon, von ihrer Not.
»Gehen Sie noch nicht.« Claudia appelliert an ihn, obwohl er noch gar keine Anstalten gemacht hat. Das also war es, was bevorstand: Er würde gehen und sie sitzenlassen. So weit, so gut. Sie öffnet die Hände, deutet mit einer Geste auf ihre Plätze und setzt sich wieder.
Um ihn festzuhalten, wenden sie sich praktischen Dingen zu. Die Möglichkeit eines weiteren Antrags auf Kaution, sobald der Fall zur ersten Anhörung kommt, die Haftbedingungen eines Untersuchungshäftlings. Es gibt viel, das weiß er, das wissen sie, was sie noch fragen könnten und was er ihnen erzählen könnte über das Haus mit der Couch, das Cottage, die Lebensspur ihres Sohnes dort, aber der junge Mann befindet sich offenbar im Konflikt zwischen dem, was sie als eine Verpflichtung ihnen gegenüber empfinden, und einem Verrat am Code der Freundschaft. Am ehesten können sie sich diesem Bereich nähern, indem sie fragen, ob Duncan in letzter Zeit unter einer gewissen Anspannung gestanden hat, zum Beispiel bei der Arbeit (was ja kein privater Bereich ist). War da etwas zu bemerken? Weiter konnte Harald nicht gehen in seiner Andeutung, daß Duncan vielleicht seit längerem unter psychischen Schwierigkeiten gelitten haben könnte.
»Duncan ist ein starker Mensch.«
Das mochte Harald zufriedenstellen, aber Claudia wandte das Gesicht abrupt von den beiden Männern ab. »Sie arbeiten mit ihm im gleichen Büro. Wollen Sie damit sagen, daß er seine Stimmungen und Gefühle verbirgt? Auch vor Ihnen? Er hat sie angerufen, mit Ihnen gesprochen, am Freitag.«
»Wenn wir etwas besprechen wollen, dann tun wir das. Wenn einer von uns es nicht möchte, dann lassen wir es. Wir lassen die Sache fallen.«
»Er war immer sehr zurückhaltend. Vielleicht war es besser gewesen, wenn er eher mit jemandem gesprochen hätte.«
»Zurückhaltend, wie kannst du das sagen, Harald – er war immer gefühlsbetont und offen –, du hast doch nicht erwartet, daß er seine Liebesaffären mit dir diskutiert?«
Sie sprachen von ihrem Sohn, dem Freund von Julian Verster, als wäre er tot. Im Gefängnis zu sitzen bedeutet, im Bewußtsein der Menshen draußen tot zu sein, nur in der Vergangenheit zu existieren. Ein betroffenes Schweigen trat ein. Harald warf Claudia einen Blick zu, der ihr auf vertraute Weise signalisierte, daß sie dem jungen Mann vielleicht etwas zu trinken anbieten sollten. Sie schien ihn nicht wahrzunehmen, wirkte unerreichbar. Er holte Gläser und Flaschen, Dosen mit Mineralwasser und Obstsaft, die üblichen Handreichungen der Gastfreundschaft. Die gefüllten Gläser gaben ihren Händen etwas zu tun. Wenn sie nicht sprechen konnten, konnten sie trinken.
»Ich kann mich nicht erinnern, daß er je Whisky getrunken hat.« Sie folgten ihr: zu der Flasche Whisky, dem unbenutzten Glas und dem Kübel mit Eis neben der Couch.
Bevor er ging, schien nichts dagegen zu sprechen, daß sie ihn fragten, ob er als Freund (allem Anschein nach ein enger Freund) einen Vorschlag habe, was sie bei ihrem Besuch am nächsten Tag mitbringen könnten.
Nichts, natürlich. Nichts.