Amiel, Henri-Frederic; Ingold, Felix Tag für Tag

PIPER

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Übersetzt auf dem Französischen von Eleonore Frey

Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Felix Philipp Ingold

 

ISBN 978-3-492-97999-3

© Piper Verlag GmbH, München 2017

© Pendo Verlag GmbH, Zürich 2003

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic, München

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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Vorwort zur russischen Erstausgabe


Vor anderthalb Jahren bekam ich zum erstenmal Amiels Buch »Auszüge aus dem Seelentagebuch« (Fragments d’un Journal intime) zu lesen. Ich war erschüttert von der Bedeutsamkeit und Tiefe des Inhalts, von der Schönheit der Darlegung, hauptsächlich aber von der Aufrichtigkeit dieses Buches. Beim Lesen strich ich darin jene Stellen an, die mich besonders erschüttert hatten. Meine Tochter [Marija] übernahm es, diese Stellen zu übersetzen, und so wurden die Auszüge aus den Fragments d’un Journal intime zusammengetragen, d.h. Auszüge von Auszügen aus dem ganzen vielbändigen, noch ungedruckten Tagebuch Amiels, das er Tag für Tag während 30 Jahren geführt hat.

 

Henri[-Frédéric] Amiel wurde 1821 in Genf geboren und war schon früh ein Waisenkind. Nach Abschluß seiner Gymnasialausbildung begab sich Amiel ins Ausland und verbrachte dort, an der Heidelberger und Berliner Universität, mehrere Jahre. In seine Heimat zurückgekehrt, erhielt er 1849, als erst 28jähriger Mann, eine Professur an der Genfer Akademie, zunächst für Ästhetik, dann für Philosophie, und er behielt diesen Posten bis zu seinem Tod.

 

Amiel verbrachte sein ganzes Leben in Genf, wo er denn auch im Jahre 1881 starb, ohne daß er sich von den zahlreichen ganz gewöhnlichen Professoren unterschieden hätte, die ihre Vorlesungen mechanisch aus den letzten Neuerscheinungen ihres Fachgebietes zu kompilieren pflegten, um sie ebenso mechanisch ihren Hörern vorzutragen, ganz zu schweigen von den noch zahlreicheren inhaltslosen Verseschmieden, welche ihre zwar nutzlose, aber doch immer noch verkäufliche Ware bei Zehntausenden von Zeitschriften abliefern.

 

Amiel hatte weder auf wissenschaftlichem noch auf literarischem Gebiet den geringsten Erfolg. Als er fast schon im Greisenalter war, schrieb er für sich die folgenden Worte nieder: »Was vermochte ich denn also aus den Talenten zu gewinnen, die mir gegeben waren, aus den besonderen Bedingungen meines ein halbes Jahrhundert dauernden Lebens? Was habe ich diesem Boden entnommen? Ist denn nicht meine ganze Schreiberei, mein Briefverkehr, sind nicht all diese Tausenden von intimen Seiten, meine Vorlesungen, meine Artikel, meine Gedichte, meine diversen Notizen bloß welke Blätter? Wem und wozu bin ich jemals nützlich gewesen? Wird mich mein Name auch nur um einen Tag überdauern, wird er für irgend jemanden von Bedeutung sein? Was für ein nichtiges, leeres Leben! Vie nulle

 

Über Amiel und sein Tagebuch schrieben erst nach seinem Tode zwei bekannte französische Schriftsteller: sein Freund, der bekannte Kritiker E[dmond] Scherer, und der Philosoph [Elme-Marie] Caro. Interessant ist der mitleidvolle, mitunter auch herablassende Ton, dessen sich diese beiden Schriftsteller gegenüber Amiel befleißigen, im Bedauern darüber, daß es ihm an all jenen Eigenschaften gefehlt habe, die man zur Vollendung eines wahrhaftigen Werkes unbedingt brauche. Indessen werden die wahrhaftigen Werke jener beiden Schriftsteller – die kritischen Arbeiten Scherers wie auch die philosophischen Caros – ihre Autoren wohl kaum für länger überleben, wohingegen das unverhoffte, unzeitgemäße Werk Amiels, sein Tagebuch, für alle Zeit ein lebendiges Buch bleiben wird, das den Menschen nützlich sein und fruchtbringend auf sie einwirken kann.

 

Denn ein Schriftsteller kann uns nur in dem Maße teuer und nützlich sein, wie er uns seine innere Seelenarbeit eröffnet, selbstverständlich aber nur dann, wenn diese Arbeit neuartig ist und nicht bereits früher geleistet wurde. Was auch immer er geschrieben haben mag: ein Drama, eine wissenschaftliche Abhandlung, eine Erzählung, einen philosophischen Traktat, ein lyrisches Gedicht, eine Kritik, eine Satire – am Werk des Schriftstellers zählt für uns einzig diese innere Arbeit seiner Seele, und nicht jenes architektonische Gehäuse, dem er meistenteils, vielleicht sogar immer seine Gedanken und Gefühle einpaßt, wobei er sie auch noch entstellt.

 

Alles, was Amiel in eine vorgegebene Form gegossen hat: Vorlesungen, Traktate, Gedichte, all das war tot; sein Tagebuch jedoch, in dem er, ohne an die Form zu denken, einzig mit sich selber sprach, ist voller Leben, Weisheit, Lehrhaftigkeit, Trost, und es wird für immer eines jener besten Bücher bleiben, die uns unverhofft hinterlassen wurden von Menschen wie Marc Aurel, Pascal, Epiktet.

 

Pascal sagt: »Drei Arten von Menschen gibt es: die einen, die Gott dienen, weil sie Ihn gefunden haben; die anderen, die bemüht sind, Ihn zu suchen, weil sie Ihn nicht gefunden haben; die dritten, die leben, ohne Ihn zu suchen und ohne Ihn gefunden zu haben. Die ersten sind vernünftig und glücklich, die letzteren sind töricht und unglücklich, die dazwischen sind unglücklich und vernünftig.«

 

Ich glaube, daß der Unterschied, den Pascal zwischen ersteren und letzteren herstellt, zwischen denen also, welche, wie er an anderer Stelle sagt, Gott finden und von ganzem Herzen Ihm dienen, und denen, welche, ohne Ihn jemals zu finden, mit ganzem Herzen Ihn suchen, keineswegs so groß ist, wie er dachte, daß er vielmehr überhaupt nicht existiert. Ich glaube, daß jene, die mit ihrem ganzen Herzen leidvoll (en gémissant, wie Pascal sagt) nach Gott suchen, Ihm allein schon damit auch dienen. Dienen insofern, als sie kraft solch leidvollen Suchens auch anderen Menschen einen Weg zu Gott weisen und eröffnen, so wie Pascal selbst es in seinen »Gedanken« und auch Amiel zeit seines Lebens in seinem Tagebuch getan hat.

 

Amiels ganzes Leben, wie es sich uns in diesem Tagebuch darbietet, war erfüllt von dieser zutiefst leidvollen Gottessuche. Und die Betrachtung dieser Suche ist um so aufschlußreicher, als sie niemals aufhört, Suche zu sein, niemals haltmacht, niemals übergeht in das Bewußtsein, die Wahrheit erfaßt zu haben, und nie zur Lehre wird. Weder zu sich selbst noch zu anderen sagt Amiel: Jetzt kenne ich die Wahrheit, hört mir zu! Im Gegenteil, ihm will es, wie jedem aufrichtigen Wahrheitssucher, scheinen, daß er, je mehr Wissen er sich aneignet, desto mehr wissen müsse, und er tut unablässig alles, was ihm möglich ist, um mehr und mehr von der Wahrheit zu erfahren, und eben deshalb verharrt er unablässig in einem Gefühl des Nichtwissens. Er sinnt unablässig darüber nach, wie das Christentum und die Verfassung des Christenmenschen beschaffen sein müßten, wobei er keinen Augenblick beim Gedanken sich aufhält, das Christentum sei das, wozu er sich bekennt, und er selbst sei die Verwirklichung eines Christenmenschen. Doch gleichwohl ist sein ganzes Tagebuch erfüllt vom Ausdruck tiefsten christlichen Verstehens und Fühlens. Und dieser Ausdruck hat gerade durch seine Unabsichtlichkeit und Aufrichigkeit besonders starke Wirkung auf den Leser. Er spricht mit sich allein, ohne daran zu denken, daß man ihm zuhört, ohne überzeugen zu wollen durch etwas, von dem er selbst nicht überzeugt ist, und ohne sein leidvolles Suchen zu verbergen.

 

Es ist, als wohnte man ohne Wissen des Autors dessen geheimer, tiefer und leidenschaftlicher, dem Blick von außen zumeist entzogener innerer Seelenarbeit bei.

 

Man kann deshalb weit elegantere und sprachmächtigere Ausdrucksformen des religiösen Fühlens finden als diejenigen bei Amiel, aber es dürfte schwerfallen, etwas Beseelteres und Herzergreifenderes zu finden. Nicht lange vor seinem Tod, im Wissen, daß die Krankheit jeden Tag sein Ersticken herbeiführen könnte, schreibt er:

 

»Wenn man schon nicht mehr davon träumt, einige Jährchen vor sich zu haben, ein Jahr, einen Monat, wenn man bloß noch ein paar Dutzend Stunden abzählt und wenn jede bevorstehende Nacht zur Bedrohung und zur Ungewißheit wird, verzichtet man klarerweise auf die Kunst, die Wissenschaft, die Politik und begnügt sich damit, Selbstgespräche zu führen, was auch bis ganz zum Ende möglich ist. Das innere Selbstgespräch ist das letzte, was dem zum Tode Verurteilten und auf die Hinrichtung Wartenden noch bleibt. Er sucht Sammlung in seinem tiefsten Innern. Er will nicht mehr glänzen, er psychologisiert. Er handelt nicht mehr, er gibt sich der Betrachtung hin … Wie ein Hase kehrt er zum Sterben in seine Behausung zurück, und diese Behausung ist sein Gewissen, sein Denken. Solange er noch die Feder halten kann und über einen Augenblick des Alleinseins verfügt, sammelt er sich vor diesem Echo seiner selbst und kommt ins Gespräch mit Gott.«

 

»Das ist aber doch kein moralisches Examen, kein Akt der Zerknirschung, kein Hilferuf. Es ist nur ein Amen der Unterwerfung.«

 

»Mein Kind, schenk mir dein Herz.«

 

»Der Verzicht und die Zustimmung fallen mir weniger schwer als andern, denn ich will nichts. Ich möchte nur nicht leiden müssen, aber Jesus hat in Genezareth geglaubt, daß ihm das gleiche Gebet gestattet sei; fügen wir diese Worte dazu: ›Es soll aber dein Wille geschehen, nicht meiner‹, und warten wir ab.«

 

So ist Amiel am Vorabend seines Todes. Und er ist nicht weniger aufrichtig und ernsthaft im Verlauf seines ganzen Tagebuches, ungeachtet der Eleganz und der an manchen Stellen aufscheinenden Erlesenheit seines Stils, der ihm zur Gewohnheit geworden war. Im Verlauf der gesamten dreißig Jahre seines Tagebuches hält er das Gefühl für das wach, was wir alle zu vergessen suchen – dafür, daß wir alle zum Tode verurteilt sind und daß unsere Hinrichtung bloß aufgeschoben ist. Auch deshalb ist dieses Buch so aufrichtig, ernst und nützlich.

Leo Tolstoi

(aus dem Russischen von Felix Philipp Ingold)

Henri-Frédéric Amiel


Tag für Tag – Journal intime

Berlin, 16. Juli 1848. –– Es gibt nur eines, das notwendig ist: Gott besitzen. – Alle Sinne, alle Kräfte der Seele und des Geistes, alle äußeren Hilfsmittel sind nichts anderes als Lücken, die sich auf die Gottheit hin öffnen: verschiedene Arten, Gott zu kosten und zu verehren. Man muß sich lösen können von allem, was man verlieren kann, sich an nichts anderes absolut binden als an das Ewige und Absolute, und den Rest als Leihgabe, als Nutznießung betrachten … Verehren, verstehen, empfangen, fühlen, geben, handeln: das ist dein Gesetz, deine Pflicht, dein Glück, dein Himmel. Komme, was da will, sogar der Tod. Bring dich in Einklang mit dir selber, mach, daß du dir nichts vorzuwerfen hast, lebe in der Gegenwart und im Gespräch mit Gott, und überlasse die Herrschaft über deine Existenz den allgemeinen Mächten, gegen die du nichts vermagst. Wenn der Tod dir Zeit läßt, um so besser. Wenn er dich dahinrafft, ist es noch besser. Wenn er dich nur zur Hälfte tötet, noch viel besser, er verwehrt dir den Weg zum Erfolg und öffnet dir dafür den zum Heldentum, zum Verzicht und zur moralischen Größe. Jedes Leben hat seine Größe, und da es dir nicht möglich ist, aus Gott herauszutreten, ist es das beste, wenn du ihn bewußt zu deinem Wohnsitz machst.

 

20. Juli 1848 (Berlin). –– Unsere Epoche auf dem Hintergrund der Universalgeschichte zu beurteilen, die Geschichte vor dem der geologischen Perioden und die Geologie vor dem der Astronomie, ist eine Befreiung für das Denken. Wenn einem die Lebensdauer eines Menschen oder eines Volkes so mikroskopisch vorkommt wie die einer Mücke und, im Gegensatz dazu, die einer Eintagsfliege so unendlich wie die eines Himmelskörpers mit all seinem Staub von Nationen, fühlt man sich sehr klein und sehr groß, und man überragt um die volle Höhe der Sphären seine eigene Existenz und all die kleinen Wirbel, die unser kleines Europa aufregen.

 

Eigentlich gibt es nur einen Forschungsgegenstand: die Formen und die Verwandlungen des Geistes. Alle anderen Gegenstände führen auf diesen zurück, alle anderen Forschungen führen zurück zu dieser einen.

 

3. Mai 1849 [1]. –– Du hast nie die innere Sicherheit des Genies verspürt, weder das Vorgefühl des Ruhms noch des Glücks. Du hast dich nie als groß, als berühmt gesehen, nicht einmal als Ehemann, Vater oder als einflußreichen Bürger. Diese Gleichgültigkeit der Zukunft gegenüber, dieses umfassende Mißtrauen sind ohne Zweifel als Zeichen zu nehmen. Was du träumst, ist unbestimmt, unbestimmt; du darfst nicht leben, weil du im Augenblick dazu kaum imstande bist. – Halte dich in Ordnung; laß die Lebenden leben und nimm deine Ideen wieder auf, mach das Testament deines Denkens und deines Herzens: das ist das Nützlichste, was du tun kannst. Verzichte auf dich selbst und nimm deinen Kelch an, mit seinem Honig und seiner Galle, wie immer. Laß Gott in dich hinabsteigen, hülle dich im voraus in seinen Wohlgeruch, mach aus deiner Brust einen Tempel für den Heiligen Geist; tue gute Taten, mach die andern glücklich und besser.

Laß den persönlichen Ehrgeiz, und du wirst dich damit versöhnen, zu leben und zu sterben, wie es sich gibt.

 

27. Mai 1849. –– Verkannt sein sogar von denen, die man liebt, das ist der bittere Kelch und das wahre Kreuz des Lebens; das ist es, was zu unserer Verwunderung dieses schmerzliche und traurige Lächeln auf die Lippen hervorragender Männer bringt; das ist die grausamste Prüfung, die den Männern bestimmt ist, die sich aufopfern; es ist das, was wohl am häufigsten das Herz des Menschensohns zusammenzog, und wenn Gott leiden könnte, wäre das der Kummer, den wir ihm antun würden, und das Tag für Tag. Auch er, er vor allem ist der große Verkannte, der in höchstem Maß Unverstandene. Ach! Ach! Nicht ermüden, nicht sich abkühlen, geduldig sein, mitfühlend, wohlwollend; auf die Blume achten, die aufblüht, und auf das Herz, das sich öffnet; immer hoffen, wie Gott; immer lieben, das ist die Pflicht.

 

Die Pflicht hat die Eigenart, uns die Realität der wirklichen Welt fühlen zu machen und zugleich uns von ihr loszureißen.

 

30. Dezember 1850. –– [Die Beziehung zwischen dem Denken und dem Handeln hat mich oft beschäftigt, gleich nach dem Aufwachen, lange, bevor ich aufstand, und diese seltsame, halb nächtliche Formulierung hat es mir angetan: Die Tätigkeit ist nichts als das verdichtete Denken, das konkret, dunkel, unbewußt geworden ist. Mir schien, daß bereits unsere geringsten Tätigkeiten wie Essen, Gehen, Schlafen der Niederschlag einer Vielfalt von Wahrheiten und Gedanken seien und daß der Reichtum der darin enthaltenen Ideen zur Gewöhnlichkeit der Tätigkeit in einem direkten Verhältnis stehe (so wie der Traum um so lebendiger ist, je tiefer man schläft). Das Geheimnis umgibt uns, und der größte Teil des Geheimnisses liegt in dem, was man jeden Tag sieht und tut. Aus eigenem Antrieb leisten wir demnach eine Arbeit, die der der Schöpfung entspricht: unbewußt in der einfachen Tätigkeit; bewußt in der intelligenten, moralischen Tätigkeit. Im Grund ist das der Satz von Hegel[2], aber noch nie ist er mir so einleuchtend, so faßbar erschienen. Alles, was ist, ist Denken, aber nicht ein bewußtes und individuelles Denken. Die menschliche Intelligenz ist nichts als das Bewußtsein des Seins. Das habe ich früher so formuliert: Alles ist Symbol eines Symbols, und Symbol wovon? Des Geistes.

 

… Ich habe eben die gesammelten Werke von Montesquieu durchgeblättert und kann mich noch nicht sehr gut über den Eindruck äußern, den dieser eigenartige Stil in seiner kokettierenden Ernsthaftigkeit, seinem gefaßten Sichgehenlassen, seiner überfeinen Kraft, seiner schlauen Kälte auf mich macht; ein Stil, der gleichzeitig so distanziert und so seltsam, zerhackt ist, holprig wie zufällig hingeworfene Notizen, und dennoch gewollt. Mir scheint, es sei hier eine naturgemäß ernsthafte und strenge Intelligenz am Werk, die sich in konventioneller Weise geistvoll gibt. Der Autor will ebensosehr aufreizen wie lehren. Der Denker ist auch ein Schöngeist, der Rechtskonsulent gibt sich den Anschein eines Kleinmeisters, und dem Gericht von Minos hat sich eine Spur der Wohlgerüche von Knidos beigemengt. Es ist die Strenge, wie sie in dem Jahrhundert in der Philosophie und in der Religion üblich war. Bei Montesquieu liegt die Forschung, wenn es denn eine solche gibt, nicht in den Worten, sie liegt in den Gegenständen. Die Sätze eilen ungehemmt und formlos dahin, aber der Gedanke läßt aufhorchen.]

 

Jede Knospe kommt nur einmal zur Blüte, und jede Blüte kennt nur einen Augenblick vollkommener Schönheit, und so hat auch im Seelengarten jedes Gefühl gewissermaßen seine Hochblüte, das heißt einen einzigen Augenblick zauberhafter Entfaltung und königlichen Glanzes.

Jeder Stern überquert nur einmal des Nachts den Meridian über unseren Köpfen und erstrahlt dort auch nur für einen Augenblick; und so gibt es auch im Himmel der Vernunft für jeglichen Gedanken, wenn man das so ausdrücken darf, einen einzigen Augenblick im Zenit, während dessen er seinen Glanz und seine königliche Majestät entfaltet. Ob Künstler, Dichter oder Denker – erhasche deine Gedanken und Gefühle in diesem bestimmten, wenn auch flüchtigen Augenblick, um sie festzuhalten, sie zu verewigen, denn dies eben ist ihr Höhepunkt. Vor diesem Augenblick gab es für dich lediglich wirre Andeutungen oder dunkle Vorahnungen davon; danach werden bloß abgeschwächte Erinnerungen und ohnmächtige Zerknirschung übrigbleiben. Jener Augenblick ist der Augenblick des Ideals.

 

Je mehr du dein Kreuz von dir weist, desto schwerer wird dessen Last für dich sein.

 

Nichts ist dem Hochmut so ähnlich wie die Mutlosigkeit.

 

Verdruß ist Bosheit, die fürchtet, entdeckt zu werden: ein ohnmächtiges Wüten, das sich seiner Ohnmacht bewußt ist.

 

Für die Lebensführung bedeuten die Gewohnheiten mehr als die Grundsätze, weil die Gewohnheit ein lebendiger Grundsatz ist, der in Fleisch und Blut übergegangen ist. Seine Grundsätze ändern bedeutet nichts, heißt nur den Titel des Buches ändern. Neue Gewohnheiten annehmen ist alles, denn das trifft das Leben in seiner Substanz. Das Leben ist nur ein Gewebe von Gewohnheiten.

 

6. April 1851. –– [Wie verletzlich ich doch bin? Wenn ich Vater wäre, wieviel Kummer könnte mir ein Kind machen! Als Ehemann gäbe es für mich tausend Arten zu leiden, weil es tausend Bedingungen für mein Glück gäbe. Die Haut meines Herzens ist zu dünn, die Vorstellungskraft unruhig, ich verzweifle leicht, und dafür halten sich meine Empfindungen um so länger. – Was sein könnte, verdirbt mir das, was ist, die Trauer über das, was sein müßte, nagt an mir. Auch stoßen mich die Wirklichkeit, die Gegenwart, das Unwiderrufliche, das Nötige ab, oder sie erschrecken mich sogar. Ich habe zuviel Phantasie, zuviel Gewissen und Scharfblick und zuwenig Charakter. Nur in der Theorie ist das Leben hinreichend dehnbar, unendlich, wiederherstellbar; vor dem praktischen Leben schrecke ich zurück.

Und trotzdem zieht es mich an, brauche ich es. Das Familienleben vor allem, in seinem Zauber, in seiner zutiefst moralischen Haltung, stellt seine Forderung an mich, beinahe wie eine Pflicht. Sein Ideal verfolgt mich manchmal geradezu. Eine Gefährtin meines Lebens, meiner Arbeiten, meiner Gedanken und meiner Hoffnungen; ein Kult der Familie, Wohltätigkeit nach außen, die Aufgabe der Erziehung, usw. usw., die tausendundeine moralische Beziehung, die sich um die eine, ursprüngliche dreht, alle diese Bilder berauschen mich oft. Aber ich schiebe sie beiseite, denn jede Hoffnung ist ein Ei, aus dem ebensogut eine Schlange wie eine Taube ausschlüpfen kann; weil jede versäumte Freude ein Messerstich ist; weil jede Saat, die man dem Schicksal anvertraut, einen Samen Schmerz enthält, den die Zukunft zum Sprießen bringen kann.]

Ich mißtraue mir selber, dem Glück, weil ich mich kenne. Das Ideal vergiftet mir jeden unvollkommenen Besitz. Alles, was die Zukunft beeinträchtigt oder meine innere Freiheit zerstört, unterwirft mich den Dingen, oder es zwingt mich, anders zu sein, als ich sein möchte und sollte, alles, was an meine Idee des vollkommenen Menschen rührt, geht mir ans Herz, es verkrampft mich, es tut mir weh auch im Geist, auch schon im voraus. Ich verabscheue die Reue, die unnütze Zerknirschung. Die Schicksalhaftigkeit der Folgen, die jede unserer Taten mit sich bringt, diese wesentliche Idee des Dramas, dieses finstere tragische Element des Lebens, hält mich sicherer zurück als der Arm des Komturs. Ich handle nur wider Willen und beinahe nur unter Zwang.

Abhängig zu sein ist mir unerträglich; aber abhängig zu sein von etwas, das sich nicht wiedergutmachen läßt, von der Willkür, vom Unvorhergesehenen und vor allem abhängig zu sein aus eigenem Verschulden, abhängig zu sein von einem Irrtum, das heißt, meine Freiheit, meine Hoffnung zu verscherzen, den Schlaf und das Glück zu töten, das ist die Hölle!

Alles, was notwendig, von der Vorsehung bestimmt, kurz unumgänglich ist, könnte ich, glaube ich, mit starker Seele ertragen. Aber die Verantwortung macht aus dem Kummer ein tödliches Gift. Nun ist eine Tat im wesentlichen freiwillig. Im übrigen handle ich so wenig wie möglich.

Die letzte Zuckung des Eigenwillens, der sich aufbäumt und verbirgt, der Ruhe sucht, Befriedigung, Unabhängigkeit! Liegt nicht doch ein Rest von Eigennutz in dieser Gleichgültigkeit? In dieser Angst? In dieser müßigen Empfindlichkeit?

Du möchtest gern die Pflicht erfüllen, aber wo ist sie? Was ist sie? Hier meldet sich wieder die Neigung und legt das Orakel aus. Die letzte Frage ist diese: Ist es Pflicht, seiner Natur zu folgen, der besten, der geistvollsten, oder aber sie zu besiegen?

Ist das Leben im wesentlichen die Erziehung des Geistes und der Intelligenz oder des Willens? Und der Wille, beweist er sich in der Kraft oder im Verzicht? Wenn das Ziel des Lebens in der Entsagung liegt, sind Krankheiten, Hindernisse, Leiden jeder Art willkommen. Wenn es sein Ziel ist, den Menschen vollständig zur Geltung zu bringen, ist seine Unversehrtheit zu schonen. Die Prüfung herausfordern heißt, Gott versuchen. Im Grund verschleiert mir der Gott der Gerechtigkeit den Gott der Liebe. Ich zittere, statt daß ich vertraue.

Jede Stimme, die doppelt, geteilt oder im Gewissen bestritten ist, ist noch nicht die Stimme Gottes. Steige noch tiefer in dich hinab, bis du nur noch eine einfache Stimme hörst, eine Stimme, die jeden Zweifel aufhebt, die Überzeugung, Klarheit und Heiterkeit mit sich bringt. Die sind glücklich, sagt der Apostel, die im Einklang sind mit sich selbst und die nicht sich selber verdammen in der Partei, die sie ergreifen. Diese innere Identität, diese Einheit der Überzeugung, ist um so schwieriger, je mehr der Geist unterscheidet, zerlegt, voraussieht. Der Freiheit fällt es überaus schwer, zur freimütigen Einheit des Instinkts zurückzufinden.

Ach! Man muß tausendmal die bereits erstiegenen Berge von neuem besteigen, die erreichten Spitzen von neuem bezwingen, man muß πολεμειτ πολεμοτ. Das Herz unterzeichnet demnach wie die Könige unter der Form eines dauernden Friedens nur einen Waffenstillstand. Das ewige Leben ist demnach in Ewigkeit von neuem zu gewinnen. Ach ja! Sogar der Friede ist ein Kampf, oder es ist eher so, daß der Kampf, die Tätigkeit Gesetz sind. Wir finden Ruhe nur in der Anstrengung, wie die Flamme ihre Existenz nur im Feuer finden kann. O Heraklit! Das Bild des Glücks ist demnach das gleiche wie das des Leidens; die Unruhe und der Fortschritt, die Hölle und der Himmel sind demnach gleich beweglich. Der Altar der Vesta und die Martern des Beelzebub brennen im gleichen Feuer. – Nun ja, das ist das Leben, das doppelgesichtige und zweischneidige Leben. Das Feuer, das erhellt, ist auch das, das verzehrt; das Element der Götter kann zu dem der Verdammten werden.

 

15. August 1851. –– Bereit sein zu können ist etwas Großes! Eine kostbare Fähigkeit, die Berechnung, Überblick und Entschlußkraft voraussetzt. Man muß fähig sein zu entscheiden, denn man kann nicht alles entflechten; man muß das Wesentliche herauslösen können, das Wichtige aus den Kleinigkeiten, die es umgeben, denn man kann nicht alles gleichzeitig angehen, mit einem Wort, sein Leben, seine Pflichten, seine Geschäfte, vereinfachen. Bereit sein heißt mit seinem Gepäck bereit sein.

Es ist erstaunlich, wie sehr wir gewöhnlich verheddert, verwickelt sind in tausendundein Verhinderungen und Pflichten, die gar keine sind und die uns doch wie Spinnweben umhüllen und die Bewegung unserer Flügel beeinträchtigen. Es ist die Unordnung, die uns zu Sklaven macht. Die Unordnung von heute verbraucht im voraus die Freiheit von morgen.

Das Überhandnehmen steht dem freien Gefühl entgegen, und das Überhandnehmen geht hervor aus dem Aufschieben. Bereit sein zu können heißt, abschließen zu können. Nichts ist getan, solange es nicht abgeschlossen ist. Die Dinge, die wir hinter uns herschleppen, türmen sich später vor uns auf und versperren uns den Weg. Wenn jeder unserer Tage das in Ordnung bringt, was anfällt, seine Geschäfte erledigt, den Tag achtet, der ihm folgt, dann werden wir immer bereit sein. Bereit sein heißt eigentlich – sterben können.

 

6. September 1851. –– [Tocquevilles Werk gibt dem Geist viel Ruhe, aber es hinterläßt auch einen gewissen Überdruß. Man anerkennt die Notwendigkeit von dem, was kommt und das Unvermeidliche beruhigt; aber man sieht auch, daß in jeder Hinsicht ein Zeitalter der Mittelmäßigkeit beginnt, und das Mittelmaß friert jedes Verlangen ein. Die Gleichheit führt zur Gleichförmigkeit, und man befreit sich vom Bösen, indem man das Vorzügliche, das Bemerkenswerte, das Außerordentliche opfert. Alles wird weniger grobschlächtig, aber alles ist gewöhnlicher.]

Die Zeit der großen Männer geht zu Ende; die Epoche des Ameisenhaufens, des vielfachen Lebens fängt an. Das Jahrhundert des Individualismus läuft Gefahr, falls die abstrakte Gleichheit überhandnimmt, wahrhaftige Individuen aus dem Blick zu verlieren. Durch die ständige Nivellierung und die Aufteilung der Arbeit wird die Gesellschaft zu allem werden und der Mensch zu nichts.

Wie die Talgründe sich aufwerfen als Folge der Rodung und Abtragung der Berge, so wird sich das Mittelmaß auf Kosten jeglicher Größe erheben. Die Ausnahme wird verschwinden. Eine Hochebene ohne Kontraste, ohne Gegensätze, die mehr und mehr ihre Erhebungen verliert, wird so einförmig sein wie die künftige menschliche Gesellschaft. Der Statistiker wird wachsende Fortschritte registrieren und der Moralist einen schrittweisen Niedergang; Fortschritt der Dinge, Niedergang der Seele. Das Nützliche wird den Platz des Schönen einnehmen, die Industrie den der Kunst, die politische Ökonomie den der Religion und die Arithmetik den der Poesie. Der Spleen wird die Krankheit des Zeitalters der Gleichheit sein.

Ist wohl dies das verhängnisvolle Geschick, das dem Zeitalter der Demokratie beschieden sein wird? Heißt es nicht, das allgemeine Wohlergehen zu teuer zu erkaufen, wenn man diesen Preis dafür bezahlt? Wenn die Schöpfung zunächst dazu neigte, zahllos Unterschiede herauszustellen und zu vervielfachen, geht sie nun den umgekehrten Weg, indem sie einen nach dem anderen wieder aufhebt. Und die Gleichheit, die am Anfang noch Erstarrung ist, Trägheit und Tod, wird sie schließlich zur natürlichen Form des Lebens werden? Oder ist es möglich, daß sich über der ökonomischen und politischen Gleichheit, die die Demokratie, sei sie sozialistisch oder nicht-sozialistisch, anstrebt, indem sie sie allzu häufig zum Ziel ihrer Anstrengungen macht, ein neues Reich des Geistes herausbilden wird, eine Kirche als Zuflucht, eine Republik der Seelen, wo über das reine Recht und die grobe Nützlichkeit hinaus auch das Schöne, die Verehrung, die Heiligkeit, der Heroismus, der Enthusiasmus, das Außerordentliche und das Unendliche einen Kult und eine Stätte haben werden? Der utilitaristische Materialismus, die trockene, egoistische Legalität, die Vergötterung des Fleisches und des Ichs, des Zeitlichen und des Mammon, sind das die Ziele unserer Anstrengungen? Der ganze Lohn für all ihre Mühen, der unserer Rasse versprochen war? Ich glaube es nicht. Das Ideal der Menschheit liegt um einiges höher. Aber das Tier stellt als erstes seine Forderungen, und man muß zuerst das unnötige Leiden sozialen Ursprungs beseitigen, bevor man sich auf das Geistige einlassen kann.

 

18. November 1851. –– Die energische Subjektivität, die sich im Selbstvertrauen äußert, die nicht davor zurückschreckt, etwas Besonderes, etwas Bestimmtes zu sein, und das, ohne sich ihrer subjektiven Illusion bewußt zu sein oder zu schämen, ist mir fremd. Ich bin, wo es um intellektuelle Ordnungen geht, im wesentlichen objektiv, und es ist meine ausgesprochene Spezialität, daß ich jeden Standpunkt einnehmen, mit jedermanns Augen sehen kann, was heißt, daß ich nicht eingeschlossen bin in irgendeinem individuellen Gefängnis. Daher die Eignung zur Theorie und die Unfähigkeit in der Praxis; daher das kritische Talent und die Schwierigkeit der spontanen Produktion; daher auch Unsicherheit in den Überzeugungen und Meinungen, solange meine Begabung Instinkt blieb, aber jetzt, wo sie bewußt ist und sich im Griff hat, kann sie ihrerseits Schlüsse ziehen und sich behaupten, so daß sie, nachdem sie mir so lange Unruhe gebracht hat, endlich den Frieden bringt. Sie sagt: Für den Geist gibt es Ruhe nur im Absoluten, für das Gefühl nur im Unendlichen, für die Seele nur im Göttlichen. Nichts Endliches ist so wahr, so interessant, so würdig, daß es mich halten könnte. Alles, was besonders ist, ist exklusiv, und was exklusiv ist, stößt mich ab. Nicht exklusiv ist nur das Ganze; in der Vereinigung mit dem Wesen und durch alle Wesen liegt mein Ziel. Im Licht des Absoluten wird dann jeder Gedanke wert, daß man ihm nachgeht; im Unendlichen jede Existenz wert, daß man sie respektiert; im Göttlichen jede Kreatur wert, daß man sie liebt.

 

2. Dezember 1851. –– Laß dem Geheimnis in dir Raum, bearbeite dich nicht immer ganz und gar mit dem Pflug der Prüfung, sondern lasse in deinem Herzen einen kleinen Winkel brachliegen für die Samen, die der Wind bringt, und lasse einen Winkel im Schatten für die Vögel, die vorüberziehen; halte in deiner Seele einen Platz frei für den Gast, den du nicht erwartest, und errichte einen Altar für den unbekannten Gott. Und wenn in deinem Gehölz ein Vogel singt, komme ihm nicht allzu rasch nahe, um ihn zu zähmen. Und wenn sich im Grund deines Wesens etwas Neues regt, ein Gedanke oder ein Gefühl, sollst du es nicht gleich beleuchten oder betrachten; stelle den werdenden Keim in den Schutz des Vergessens, umgib ihn mit Frieden, erlaube ihm, sich auszubilden und zu wachsen, und plaudere dein Glück nicht aus. Als ein heiliges Werk der Natur muß jede Empfängnis mit dem dreifachen Schleier der Scham, des Schweigens und des Schattens umhüllt werden.

 

Die Güte ist das Prinzip des Takts, und der Respekt vor anderen die erste Bedingung des Anstands.

 

Wer schweigt, wird vergessen; wer sich enthält, wird beim Wort genommen; wer nicht mehr vorwärtsgeht, fällt zurück; wer einhält, wird überwältigt, überholt, vernichtet; wer zu wachsen aufhört, schwindet bereits; wer verzichtet, dankt ab; das Stehenbleiben ist der Anfang vom Ende, ist das furchterregende Symptom und der Vorläufer des Todes. – Leben ist also ein unaufhörlicher Triumph, ist Selbstbehauptung gegen die Zerstörung, gegen die Krankheit, gegen die Aufhebung und Zerstreuung unseres physischen und moralischen Seins. Leben heißt demzufolge, unablässig zu wollen oder seinen Willen täglich zu erneuern.

 

Nicht die Geschichte ist es, die dem Gewissen die Aufrichtigkeit lehrt, es ist das Gewissen, das sie der Geschichte beibringt. Das Faktum ist trügerisch, wir korrigieren es, indem wir an unserem Ideal festhalten. Die Seele moralisiert die Vergangenheit, um nicht von ihr demoralisiert zu werden. Wie die Goldmacher des Mittelalters, so findet auch sie im Schmelztiegel der Erfahrung das Gold, das sie hineingegeben hat.

 

26. April 1852. –– [Heute abend, erschöpft von der Leere: Zukunft, Einsamkeit, Pflicht, all diese feierlichen oder dringlichen Gedanken sind zu Besuch gekommen. Ich habe mich gesammelt, wie es unerläßlich ist gegen die Verzettelung und Zerstreuung, die die Tage und die Einzelheiten mit sich bringen. Einen Teil von Krauses[3] Buch gelesen, Urbild der Menschheit, 1811, das aufs Beste meinem Denken und meinem Bedürfnis entspricht; ganz allgemein übt dieser Philosoph auf mich eine wohltuende Wirkung aus; seine intime und religiöse Heiterkeit gewinnt und nimmt mit. Er gibt mir Frieden und ein Gefühl des Unendlichen.

Und doch vermisse ich etwas: den Gottesdienst, die bejahende und gemeinsame Frömmigkeit. Wann wird die Kirche, der ich von ganzem Herzen anhänge, gegründet werden? Ich kann mich nicht wie Scherer damit begnügen, ganz allein recht zu haben. Ich brauche ein weniger einsames Christentum. Meine religiösen Bedürfnisse bleiben unbefriedigt, nicht anders als meine gesellschaftlichen und gefühlsmäßigen Bedürfnisse. Wenn ich sie nicht mehr in Schläfrigkeit vergessen kann, wachen sie auf in einer Art von schmerzhafter Bitterkeit… Ich schwanke zwischen der Lustlosigkeit und der Langeweile, der Zersplitterung im unendlich Kleinen und der Sehnsucht nach dem Unbekannten oder Fernen. Es ist die Geschichte des Lebens in der Provinz, das die französischen Romanautoren so häufig behandelt haben; nur daß die Provinz hier alles ist, worin die Seele keine Heimat hat, jeder Ort, an dem sich das Herz fremd fühlt, unbefriedigt, unruhig und durstig. Ach! Genaugenommen ist dieser Ort die Erde, diese erträumte Heimat der Himmel. Dieses Leiden ist das ewige Heimweh, der Durst nach Glück.]

In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister, sagt Goethe. – Männliche Resignation, sie ist auch der Wahlspruch der Meister des Lebens: männlich, das heißt mutig, tätig, entschlossen, ausdauernd – Resignation, das heißt Verzicht, Entsagung, Konzentration, Beschränkung. Gefaßte Energie ist die Weisheit der Söhne der Erde, das ist die Heiterkeit, die in diesem Leben voll Streit und Kampf möglich ist. Es ist die einzige in diesem Leben der Mühsal und des Kampfes mögliche Seelenruhe; es ist der Friede des Märtyrers und das Versprechen des Triumphs.

 

28. April 1852 (Lancy [4] ). –– Frühjahrssehnsüchte, da seid ihr wieder, nachdem ihr lange ausgeblieben seid, besucht ihr mich noch einmal! Heute früh Poesie, Vogelgesang, ruhige Sonnenstrahlen, Sicht auf die grünenden Felder, alles ist mir zu Herzen gegangen. Nunmehr ist überall Schweigen. O Stille, wie erschreckend du bist! Erschreckend wie die Stille des Ozeans, die den Blick in seine unauslotbaren Abgründe zieht; du läßt uns in uns selber Tiefen erblicken, die uns schwindlig machen, unauslöschliche, unendliche Bedürfnisse, Schätze von Leiden und von Reue. Sollen sie kommen, die Stürme! Sie bringen wenigstens die Oberfläche dieser Wellen mit ihren schrecklichen Geheimnissen in Bewegung. Sollen sie wehen, die Leidenschaften! Indem sie die Wogen der Seele aufwühlen, verhüllen sie ihren grundlosen Schlund. Uns allen, uns Kindern der Erde, uns Söhnen der Zeit, haucht die Ewigkeit eine unwillkürliche Angst ein und das Unendliche einen geheimnisvollen Schrecken. Es ist, als ob wir ins Reich des Todes eintreten würden. Armes Herz, du willst Leben, du willst Liebe, du willst Illusionen, und du hast schließlich recht, das Leben ist heilig.

Wie doch das Leben anders aussieht in diesen Augenblicken von Vertrautheit mit dem Unendlichen! Wie alles, was uns sonst beschäftigt, beunruhigt, begeistert und erfüllt, plötzlich vor unseren Augen kindisch, nichtig und eitel wird. Wir kommen uns vor wie Marionetten, die im Ernst eine phantastische Parade aufführen und Tand für einen Schatz halten. Wie dann alles sich verändert und alles anders erscheint! Berkeley und Fichte haben offenbar recht, Emerson ebenso; die Welt ist nur eine Allegorie; die Idee ist wirklicher als das Faktum; die Märchen, die Legenden sind ebenso wahr wie die Naturgeschichte und sogar mehr noch, denn sie sind als Sinnbilder durchsichtiger; die einzige Substanz überhaupt ist die Seele; was aber ist alles andere?… Schatten, Vorwand, Figur, Symbol und Traum; unsterblich, dauernd, als einziges vollkommen wirklich ist das Bewußtsein; die Welt ist nur ein Feuerwerk, eine erhabene Phantasmagorie, bestimmt dazu, die Seele zu erfreuen und zu bilden. Das Bewußtsein ist ein Universum, seine Sonne ist die Liebe…

[Schon falle ich in das allgemeine, objektive Leben des Denkens zurück, es befreit mich von (ist das das Wort?), nein, es entzieht mir das intime Leben des Gefühls, die Reflexion löst die Träumerei auf und versengt deren zarte Flügel. Darum gibt uns die Wissenschaft keine Männer, sondern sie macht sie zu Wesenheiten, Abstraktionen; ah!, fühlen, leben wir doch, analysieren wir doch nicht immer. Laß uns naiv sein, bevor wir anfangen nachzudenken. Laß uns Erfahrungen machen, bevor wir studieren. Überlassen wir uns dem Leben… Werde ich denn niemals das Herz einer Frau haben, auf das ich mich stützen könnte? Einen Sohn, in dem ich wieder aufleben könnte, eine kleine Welt, in der ich alles erblühen lassen könnte, was ich in mir verberge? Ich weiche zurück und habe Angst, Furcht, meinen Traum zu zerbrechen; ich habe so viel auf diese Karte gesetzt, daß ich sie nicht mehr auszuspielen wage. Träumen wir weiter…

Tue dir selber keine Gewalt an und bringe den Schwingungen deines Gefühls Respekt entgegen, das ist dein Leben und deine Natur: Einer, der weiser ist als du, hat sie gemacht. Liefere dich nicht ganz und gar dem Instinkt und dem Willen aus; der eine ist eine Sirene, der andere ein Tyrann. Sei weder der Sklave deiner augenblicklichen Regungen und Empfindungen noch der eines abstrakten, allgemeinen Plans. Öffne dich dem, was das Leben bringt, von innen und von außen, und öffne dich dem Unvorhergesehenen; gib deinem Leben Einheit, und führe das Unvorhergesehene zurück auf die Zeichnung deines Plans. Erhebe die Natur zum Geist, auf daß dann der Geist Natur werde. Nur unter dieser Bedingung kann dein Leben harmonisch sein, kann Himmelsfriede von deiner Stirn leuchten; immer unter der Bedingung, daß du deinen Frieden gemacht und deinen Leidensweg hinter dich gebracht hast.

 

(Nachmittag). –– Könnte ich mich nicht in einige dieser wunderbaren Träumereien zurückversetzen, die mich manchmal beglückt haben: beim Morgengrauen, als Jüngling, in den Ruinen des Schlosses von Fauchigny sitzend; unter der Mittagssonne einmal, in den Bergen, oberhalb von Lavey, in Gesellschaft dreier Schmetterlinge unter einem Baum liegend; eines Nachts am sandigen Strand der Nordsee, mit dem Rücken auf dem Sand und mit dem Blick in der Milchstraße umherirrend – eine dieser grandiosen, unsterblichen, welterschaffenden Träumereien, in denen man die Welt in seiner Brust trägt, in denen man an die Sterne heranreicht, in denen einem die Unendlichkeit gehört? Göttliche Augenblicke, Stunden der Ekstase, in denen der Gedanke von Welt zu Welt fliegt, das große Geheimnis durchdringt, so weit, so ruhig, so tief atmet wie die Atmung des Ozeans, heiter und ohne Grenzen wie das blaue Firmament; Besuche der Muse Urania, die die Stirn derer, die sie liebt, mit dem phosphoreszierenden Nimbus der kontemplativen Kraft bekränzt und die in ihr Herz die ruhige Trunkenheit des Genies gießt, wenn nicht seine Autorität; Augenblicke unwiderstehlicher Eingebung, in denen man sich groß fühlt wie das Universum und ruhig wie ein Gott? – Von den Himmelskugeln bis zum Moos oder den Muscheln, auf denen ich ruhte, war mir die ganze Schöpfung unterworfen, lebte in mir und vollendete ihr ewiges Werk mit der Regelmäßigkeit des Schicksals und mit der leidenschaftlichen Glut der Liebe. Was für Stunden, was für Erinnerungen! Die Spuren, die uns davon bleiben, sind genug, um uns mit Respekt und mit Begeisterung zu erfüllen wie Erscheinungen des Heiligen Geists. Und dann wieder zurückfallen von diesen Gipfeln mit ihren grenzenlosen Horizonten in die schlammigen Bahnen der Gewöhnlichkeit! Welcher Sturz! Armer Moses! – Auch du hast in der Ferne die reizenden Hügel des gelobten Lands liegen sehen und hast deine müden Gebeine in einem Grab in der Wüste zur Ruhe legen müssen! – Wer von uns hat nicht sein gelobtes Land, seinen Tag der Ekstase und sein Ende im Exil? Wie ist doch das wirkliche Leben ein blasser Abklatsch des geahnten, und wie machen doch die flammenden Blitze unserer prophetischen Jugend die Dämmerung unseres mißmutigen und eintönigen Mannesalters noch trüber!]

 

29. April 1852 (Lancy). –– Heute früh war die Luft ruhig, der Himmel leicht bewölkt. Ich wollte im Garten das Fortschreiten der Vegetation verfolgen; ich betrachtete Iris und Lilien, Blumenbeete und Hecken. Entzückende Überraschung! An der Biegung einer Allee war, inmitten eines der Polster, zur Hälfte verdeckt, eines dieser Pflänzchen mit den kleinen Blättern über Nacht aufgeblüht. Frisch und reizend wie ein Brautbouquet glänzte der Strauch vor mir mit der ganzen Anmut der erst beginnenden Blüte… All diese weißen Blütenblättchen, die, unmerklich sich entfaltend, einem wie Gedanken beim Aufwachen zulächeln, und wie schwärmende Bienen oder Tautropfen über das köstliche, jungfräulich grüne Blattwerk verteilt, diese frühlingshafte Unschuld, diese vornehme und schamhafte Schönheit hatten! – Mutter der Wunder, du geheimnisvolle und zarte Natur, warum leben wir nicht mehr in dir? Die poetischen Flaneurs von Töpffer, all seine Charles und Jules, Freunde und leidenschaftliche Liebhaber der geheimen Reize, all diese entzückten und verblüfften Beobachter tauchten auf in meiner Erinnerung wie ein Vorwurf und eine Lehre. Der bescheidene Garten eines Pfarrhauses, der enge Horizont einer Mansarde können ebenso lehrreich sein wie eine Bibliothek, selbst jene »meines Onkels«[5], für jemanden, der sehen und hören kann. – Ja, wir sind zu beschäftigt, zu betriebsam, zu belastet, zu tätig! Wir lesen zu viel! Man muß das Gepäck seiner Sorgen, Pedanterien und Gelehrsamkeiten über Bord werfen können, wieder jung, einfach, kindlich werden und von der Gegenwart leben, dankbar, naiv und glücklich! Ja, man muß müßig sein können, was nicht gleichzusetzen ist mit Faulheit. In der aufmerksamen und gesammelten Muße glätten sich die Falten unserer Seele, kann sie sich entspannen, entrollen, kann sie sich sanft erholen wie das zertretene Gras am Weg oder die gestutzte Hecke oder das zerknitterte Blatt, kann sie wieder natürlich, spontan, ehrlich, ursprünglich werden. Die Träumerei, nicht anders als der Regen in der Nacht, läßt die müde und blaß gewordenen Gedanken in der Wärme des neuen Tages wieder grünen. Sanft und befruchtend erweckt sie in uns tausend eingeschlafene Keime. In ihrem Spiel häuft sie Stoff an für die Zukunft und Bilder für das Talent. Die Träumerei ist der Sonntag des Denkens; und wer weiß, was für den Menschen das Wichtigste und das Fruchtbarste ist von dieser Anspannung der Arbeitswoche und von der belebenden Ruhe des Sabbats? Das Flanieren, das von Töpffer so geistreich besungen und gepriesen wird, ist nicht nur köstlich, sondern auch nützlich. Es ist ein Gesundbrunnen, der dem ganzen Menschen Kraft und Geschmeidigkeit zurückgibt; dem Geist wie auch dem Körper; es ist das Zeichen und das Fest der Freiheit; es ist ein fröhliches und wohltuendes Gelage, das Fest des Schmetterlings, der über die Auen und durch die Wiesen taumelt, um seinen Nektar zu sammeln. Denn auch die Seele ist ein Schmetterling.

 

2. Mai 1852 (Lancy, Sonntag). –– Heute morgen den Jakobusbrief gelesen, die Exegese von Cellérier[6] zu diesem Brief, und dann lang in den Pensées von Pascal, nachdem ich immerhin mehr als eine Stunde mit unseren zwei Spitzbuben im Garten war. Ich habe sie aus der Nähe die Blumen, die Sträucher betrachten, die Maikäfer, die Schnecken untersuchen lassen, um sie zur Beobachtung, zur Bewunderung und zum Wohlwollen anzuregen.

Wie wichtig sind doch die ersten Gespräche in der frühen Kindheit! Wie sehr habe ich die Heiligkeit dieses Auftrags gespürt! Ich übernehme ihn nur mit einer Art von religiösem Schauer. Die Unschuld und die Kindheit sind heilig. Der Sämann, der die Saat, der Vater, der das fruchtbare Wort aussät, beide erfüllen sie ein Priesteramt, und sie sollten es nicht anders als mit Frömmigkeit, mit Gebet und mit Würde ausüben, denn sie arbeiten am Reich Gottes. Jede Saat ist ein Geheimnis, ob sie in die Erde oder in die Seelen fällt. Der Mensch ist ein Landwirt; genau gesagt besteht sein ganzes Werk darin, daß er das Leben fördert, daß er es überall aussät; das ist die Aufgabe der Menschheit, und diese Aufgabe ist von Gott. Sie erfüllt sich hauptsächlich durch das Wort. Zu oft vergessen wir, daß die Sprache Aussaat und Offenbarung zugleich ist. Der Einfluß eines Wortes, zur richtigen Zeit ausgesprochen, ist nicht berechenbar. Oh, das Wort! Wie unergründlich es ist! Aber wir sind abgestumpft, weil wir Fleisch sind. Wir sehen die Steine und die Bäume am Weg, und dann die Möbel in unseren Häusern, alles, was dinghaft und materiell ist; aber die Armeen der unsichtbaren Ideen, die die Luft bevölkern und unaufhörlich um uns herumflattern, nehmen wir nicht wahr.

 

6. Mai 1852. –– Ähnlich der Gebirgsflora bestimmen die Frauen mit der größten Genauigkeit ihres Charakters die Gradation der übereinander sich erhebenden Schichten der Gesellschaft. Die Stufungen der Zivilisation finden in ihnen den schärfsten Ausdruck. Diese sind bei den Männern weniger scharf ausgeprägt. Bei den Frauen variieren sie mit der Regelmäßigkeit von Naturerscheinungen. Bei den Männern bringen sie unerwartete Ausprägungen von Freiheit hervor. Tatsache ist, daß der Mann durch seine Tätigkeit sich selbst herausbildet, während die Frau von ihrem Schicksal geformt wird; der Mann verändert und verwandelt durch seine Energie auf eigene Weise die Umwelt; die Frau unterwirft sich ihr und widerspiegelt sie sanft. Die Frau ist eher Geschlecht, der Mann – Individuum.

Seltsam, daß das Geschlecht der Frauen zugleich das einheitlichste und das vielfältigste ist; das einheitlichste im Hinblick auf die Moral, das vielfältigste im Hinblick auf das Soziale; verschwistert im ersten Fall, hierarchisch abgestuft im zweiten. Alle Schattierungen von Kultur und Lebensumständen zeichnen sich deutlich an ihrem Äußeren ab, an ihren Manieren und an ihrem Geschmack; die innere Verschwisterung zeigt sich in ihren Gefühlen, ihren Instinkten und ihren Wünschen. Das weibliche Geschlecht stellt so zugleich die natürliche Gleichheit und die historische Ungleichheit dar; es bewahrt die Einheit der Gattung und unterscheidet die Kategorien der Gesellschaft. Die Frau hat somit einen im wesentlichen bewahrenden Auftrag; sie bewahrt einerseits das Werk Gottes, das Dauerhafte im Menschen, das, worin er schön, groß, menschlich ist; anderseits bewahrt sie das Werk der Umstände, die Bräuche, das Lächerliche, die Vorurteile, die Kleinlichkeiten, das heißt das Gute und das Schlechte, das Ernste und das Unbedeutende. Was wollt ihr? Man muß den Rauch in Kauf nehmen, wenn man das Feuer will. Es ist das ein Gesetz der Vorsehung und somit gut. – Die Frau ist die Tradition, wie der Mann der Fortschritt ist. Wenn es nun aber ohne die beiden Geschlechter keine Familie und keine Menschheit gibt, gibt es ohne diese beiden Kräfte auch keine Geschichte.

 

14. Mai 1852 (Lancy).