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Das Buch

Ein Wunsch, den Martin seinem Großvater Franz nicht abschlagen kann: eine letzte große Reise unternehmen, nach Amerika, an die Orte, die Franz seit seiner Kriegsgefangenschaft 1944 nicht mehr gesehen hat. Martin lässt sich auf dieses Abenteuer ein, obwohl er den Großvater eigentlich nur aus den bitteren Geschichten seiner Mutter kennt.

Unter der sengenden texanischen Sonne, zwischen den Ruinen der Barackenlager, durch die Begegnung mit den Zeugen der Vergangenheit, werden in dem alten Mann die Kriegsjahre und die Zeit danach wieder lebendig. Und endlich fi ndet er Worte für das, was sein Leben damals für immer verändert hatte.

Mit jeder Erinnerung, mit jedem Gespräch kommt Martin seinem Großvater näher, und langsam beginnt er die Brüche zu begreifen, die sich durch seine Familie ziehen. Er erkennt, wie sehr die Vergangenheit auch sein Leben geprägt hat, und sieht seine eigene familiäre Situation in einem neuen Licht.

Der Autor

HANNES KÖHLER, geboren 1982 in Hamburg, lebt als freier Autor und Übersetzer in Berlin. Studium der Neueren deutschen Literatur und Neueren/Neuesten Geschichte in Toulouse und Berlin. 2011 erschien sein Debütroman In Spuren (mairisch). Für den Roman Ein mögliches Leben unternahm er eine zweimonatige Recherchereise in die USA und führte zahlreiche Zeitzeugengespräche.

HANNES
KÖHLER

Roman

EIN
MÖGLICHES
LEBEN

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ISBN: 978-3-8437-1708-3

© 2017 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Covergestaltung: BÜRO JORGE SCHMIDT, München
Umschlagabbildung: © Getty Images

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Für Paula

»I suppose if a man has something once,
always something of it remains.«

Ernest Hemingway

PROLOG

Er gräbt die Hände in den feuchten Sand, bewegt die Finger, spürt das Reiben der Körner auf der Haut. Er hält die Beine angewinkelt und starrt auf seine Stiefel, stumpfes Leder, mit Erde verkrustet. Sein Zeigefinger berührt etwas Hartes, eine Muschel vielleicht; er tastet danach, spürt, dass es ein Stein ist, der sich bewegen lässt, er nimmt die anderen Finger zu Hilfe, sie schließen sich darum, ziehen ihn aus dem Boden. Er wischt mit dem Daumen über die glatte, schwarz glänzende Oberfläche. Er beugt den Oberkörper noch ein wenig weiter vor, öffnet die Lippen und tippt mit der Zungenspitze gegen den Stein. Salz schmeckt er, Meersalz, er schmeckt Bitterkeit und ein leichtes metallisches Prickeln. So schmeckt die Normandie, denkt er, hebt den Kopf.

Die Frontklappe eines Landungsbootes fällt in den Sand, und mit ihrem Aufklatschen ist das Stampfen der Boote in der Brandung zurück, der Geruch nach Diesel und Verbranntem, die Kommandorufe, das Röhren der Panzer, die den nassen Sand hinter sich aufspritzen lassen, wenn sie die erste Steigung am Anfang des Strandes emporfahren. In einiger Entfernung noch mehr und noch größere Boote, die Buge offen wie Münder. Soldaten marschieren, Jeeps und Lastwagen fahren daraus hervor, auf den Ladeflächen noch mehr Menschen, immer mehr runde Helme, immer mehr grüne Uniformen, immer mehr. Die Zeit marschiert im Kreis, immer wieder und wieder dieselben Bilder, mehr Stiefel im Sand, immer mehr Maschinen, so als reichten die Laderäume der Schiffe bis auf den Grund des Meeres und noch tiefer, als gäbe es kein Ende für diesen Strom aus algengrünen Meermännern.

Er schaut sich um, beobachtet die Kameraden, die neben ihm im Sand sitzen, ihre Augen aufgerissen, ihr weniges Hab und Gut zu ihren Füßen. Furcht erkennt er, Trauer. Die Stacheldrahtrollen um sie herum achtlos hingeworfen, die meisten Wächter haben sich von ihnen abgewandt, auch sie betrachten das Schauspiel am Ufer, einige begleiteten das Anlanden einzelner Boote oder Gefährte mit Pfiffen und Gelächter. Noch immer kein Ende, er sieht die nächsten Boote über die Wellen tanzen, sieht noch größere Schiffe dahinter, sieht Dampf aufsteigen, sieht die sonderbaren kleinen Zeppeline an Metallleinen über sich schweben, hört das Dröhnen der Flugzeuge aus den tiefhängenden Wolken. Ein Regen aus hauchdünnen Tropfen legt sich auf die Gesichter wie ein feines Netz. Er ballt die Faust, drückt zu, bohrt die Kante des Steins in seine Haut.

»Armes Deutschland«, sagt ein Kamerad, dessen Verband um die Stirn sich dunkel gefärbt hat. Er schüttelt den Kopf. »Armes Deutschland.«

Sie sind vielleicht hundert Mann, nach einer Nacht auf einem Feld hat man sie an den Strand marschieren lassen, die Hände an die Hinterköpfe gelegt, zu ihren Seiten die Amerikaner. An die anderen denkt Franz, an all jene, die noch draußen sind, noch nicht gefangen, die Kameraden auf der Flucht oder im Hinterland, für die der Kampf noch nicht zu Ende ist. An Essen denkt er, an Katernberg, an Haus, Mutter und Bruder. Armes Deutschland. Er sollte ein Teil der Gegenoffensive sein, ein Teil der Rettung, jetzt ist er ein Zuschauer. Er schämt sich, nicht für die Gefangenschaft, nicht für das Sitzen am Strand, sondern für die Erleichterung, das Gefühl, wieder atmen zu können, die Seeluft tief in der Lunge zu spüren. Vorbei ist das Wort, das immer wiederkehrt, und wenn er es noch so oft in seinen Gedanken zu versenken versucht, es steigt wieder auf, wie eine Flaschenpost. Was bist du für ein Soldat, was bist du für ein Deutscher. Er führt die Faust an seine Lippen, so dass seine Zunge hineingleiten kann. Der Stein prickelt an seinem Mund, und mit ihm die Hoffnung, nicht mehr kämpfen zu müssen. Er hat versucht, ein guter Soldat zu sein, er hat es versucht, aber man hat ihn kaum gelassen, hat ihm keine Zeit gegeben. Nach ein paar Wochen Ausbildung an die Front, von der er damals nicht wusste, dass sie eine Front sein würde. Normandie, Urlaub in Frankreich, die Französinnen, hat einer gesagt. Du bist ein Bergmann, denkt er, das bist du. Er schaut auf. Niemand beachtet ihn, niemand spricht, alle starren in die Brandung, auf die Boote und die Amerikaner. Er öffnet die Brusttasche der Uniformjacke und lässt den Stein hineinfallen.

Stunden vergehen, Stunden im Regen, im Wind, Stunden, in denen er wegdöst und sein Kopf auf die Knie sinkt; und wenn er hochschreckt, sind da immer noch die Boote, die Lastwagen und Soldaten, so stetig wie das Rollen der Brandung. Erst als sie am Abend den Befehl erhalten, sich zu erheben und hinunter zum Wasser zu marschieren, ist der Strom versiegt, sind die Bäuche geleert. Aber nur, und das begreift er, als er die Kameraden sieht, die von anderen Punkten des Strandes oder der Steilküste herabmarschieren, nur geleert sind die Bäuche, um jetzt ihn und all die anderen Deutschen aufzunehmen. Überall dieselben platt geregneten Frisuren, dieselben vollgesogenen Uniformen, stoppeligen Gesichter, Augen, aus denen die Verwirrung schaut.

»On board, on board«, ruft jemand, und die ersten Kameraden laufen hinein in die Brandung. Die Wellen klatschen gegen seine Beine, durchnässen die Stiefel. Er watet durch die Wellen, über die Laderampe hinauf in das kleine Landungsboot.

Das Metall der Rampe gibt einen langen, dunklen Ton von sich, als sie geschlossen wird, ein Rumpeln geht durch das Boot, es wird zurück in die See gedrückt. Gischt spritzt über ihre Köpfe. Der Steuermann, der leicht erhöht am Heck steht, navigiert sie zwischen den großen Transportern hindurch. Franz klammert sich an die Reling, er sieht schwarze Wellen, deren Spitzen ab und an in den Laderaum schwappen. Jemand erbricht sich. Vater unser, denkt Franz, Vater unser im Himmel, und kommt nicht weiter, weil ein Kamerad stürzt und ihn beinahe umreißt. Der Steuermann ruft etwas Unverständliches.

Das Licht des Tages wird vom Meer und den Wolken über ihm geschluckt, die Nacht schickt stärkeren Regen und ein Donnern, das Fliegerbomben sein mögen oder Artillerie. Oder einfach nur ein Gewitter.

Vor ihnen im Wasser die dunkle Masse der Schlachtschiffe, der Zerstörer. Als er zur Seite schaut, erkennt er Dutzende anderer Landungsboote, sieht die schemenhaften Köpfe der Kameraden, die gemeinsam mit ihm Frankreich verlassen. Sie nähern sich einem großen grauen Kasten, dessen Kanonenrohre stumm in den Himmel deuten. Er sieht eine Ankerkette, so dick wie ein ausgewachsener Mann. Eine Trillerpfeife erklingt, eine Strickleiter fällt herab. Das ist es, denkt er und schaut zurück in Richtung Küste, über der es zu blitzen begonnen hat. Jemand stößt ihn vorwärts. Er greift die Leiter und beginnt zu klettern.