Stefan Kämpfen ist:
Wortakrobat, Weltenbummler, Spaßvogel, Hobbypsychologe, Sommermensch, Vierwaldstättersee-und-gegen-den-Strom-Schwimmer, Strändesammler, Gerechtigkeitsfanatiker, Katzenallergiker, Telefonbandstimmen-und-Warteschlangen-Hasser, Lifestyle-Consultant, Bücherwurm, Perfektionist, Konzertliebhaber, Brainstormer, Hängematten-Philosoph, Guckindieluft, Sinnsucher, Idealist, Lebemensch, Glücksritter.
Mehr über den Autor und seine Bücher finden Sie hier: www.stefan-kaempfen.com
Stefan Kämpfen
Geschichten einer wahnwitzigen
Reise durch Zentralamerika und Kuba
Roman
© 2017 Stefan Kämpfen
Verlag und Druck: tredition GmbH, Grindelallee 188, 20144 Hamburg
ISBN | |
Paperback: | 978-3-7439-4860-0 |
Hardcover: | 978-3-7439-4861-7 |
e-Book: | 978-3-7439-4862-4 |
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Für die Superfrauen Laura, Liane und Raimonda.
Sie sind nicht von dieser Welt.
Diese traumhafte Lage inmitten zweier großer Ozeane könnte sich in Zukunft zum Imperium des Universums entwickeln. Entfernungen zwischen den Welten sind durch die Kanäle verkürzt; Handelsbeziehungen zwischen Europa, Amerika und Asien werden sich enger verknüpfen und dieser begnadeten Region Tribut aus vier Teilen der Welt zollen. Nur an einem solchen Ort wird sich die eine wahre Weltmetropole entwickeln können.
- Simón Bolívar, Carta de Jamaica 1851 -
War ich vor einem Jahr noch auf einem holprigen Ziegenpfad unterwegs, der oftmals im Sande verlief oder nach einem Zickzackkurs in einer Sackgasse endete, warf mich das Schicksal plötzlich auf die Überholspur der Lebensautobahn. Ohne vorher den Blinker zu setzen oder wenigstens einen Gang runterzuschalten wohlgemerkt. Dem rüden Richtungswechsel lag der Versuch zugrunde, meinem bis dato äußerst unprätentiösen Leben Adieu zu sagen und endlich an die ganz großen Töpfe in der Ruhmeshalle der Erfolgreichen und Gekrönten dieser Welt zu kommen. Um diesem ambitionierten Ziel Genüge zu tun, hätte ich allerdings mehr Arme als die Hindugöttin Kali und mehr Leben als eine Katze benötigt.
Deshalb kam, was kommen musste: Einem missglückten, weil völlig idiotischen Weltrekordversuch im Dauerfernsehen folgte der Rausschmiss durch meinen tyrannischen Chef und eine Weltreise, die ich wegen einer ausgewachsenen Fleischvergiftung und der daraus resultierenden Magenkoliken abbrechen musste.
Nicht nur deswegen wurde ich in Übersee ganz schön gefordert. Ich flüchtete vor Banditen und Drogendealern, korrupte Beamte verweigerten mir den Grenzübertritt und damit die Weiterreise in die USA, rassistische Polizisten wollten mich in den Knast werfen, und auf einer verlassenen Wüsteninsel hatte ich so etwas wie eine Nahtoderfahrung. Zum Glück überlegte es sich der Sensenmann in letzter Sekunde anders und verschwand wieder dorthin, wo er hergekommen war.
Nach diesen Grenzerfahrungen in Mexiko und Belize hatte mich also das alte Leben zu Hause wieder. Ganz ohne Fanfarengedudel und roten Teppich. Einfach nur ich, der einunddreißigjährige Eddie Springer, und das Versprechen, endlich was Gescheites auf die Reihe zu kriegen. Ich versuchte es zuerst ganz gutbürgerlich mit der Suche nach einem nachhaltigen Job, der mir die Rente sichern, ein gewisses Ansehen beim Nachbarn und den löblichen Zuspruch meiner zukünftigen Schwiegermutter einbringen würde, doch leider wurden meine aufflackernden Hoffnungen jäh im Keime erstickt.
Ich hatte mich von allerlei infantilen Vorstellungen treiben lassen, fantasierte von Traumjobs, die jenseits von Gut und Böse waren. Ich wollte mich als Hausmeister dem Müßiggang und der lockeren Einstellung gegenüber alkoholischen Erfrischungen hingeben. Plante als Dirigent einer berühmten Staatsoper nichts anderes zu tun, als die Luft nach meinem Taktgusto mit einem kleinen, dünnen Holzstäbchen zu sezieren. Wollte als Croupier so lange Geldnoten und Chips in Tischöffnungen drücken, bis ich den Verstand verlöre; mir als fläzender Bademeister im Stile eines David Hasselhoffs den Hintern auf Ausgucktürmen taub sitzen oder mir als sonnengegerbter, vielbereister Beachvolleyballer so viele Groupies pflücken, dass selbst Casanova um Gnade gewinselt hätte.
Doch leider sieht die Realität auf dem Arbeitsmarkt nicht so rosig aus, wie ich feststellen musste. Spätestens beim Betrachten der Stellenanzeigen muss dem gebeutelten Arbeitssuchenden das Lichtlein der Wahrheit aufgehen, denn die Vorgesetzten dieser Welt suchen heutzutage nichts Geringeres als den perfekten Prototypen eines Untergebenen. Ein Alien, das fließend fünf Sprachen beherrscht und sich das Versprechen abnehmen lässt, dass es auch noch Russisch, Indisch und Chinesisch lernt, sofern es dies nicht schon kann, was eigentlich vorausgesetzt wird. Es sollte mindestens drei Fachausbildungen abgeschlossen haben, über mehrere Jahrzehnte Erfahrung in derselben Branche verfügen, aber nicht älter als fünfundzwanzig sein und ungewöhnliche Fähigkeiten besitzen, die es von den anderen zirka tausend Mitbewerbern abgrenzt, wie zum Beispiel Bauchreden, mit Zehen Aquarelle malen oder das Beherrschen der Kunst des Glasblasens mit dem Mund. Da die meisten meiner Landsleute regelrecht süchtig nach dem Sammeln von Urkunden, Diplomen und Bestätigungen von Schulbesuchen sind, hebe ich mich mit meinem rar bestückten Dossier schon fast wieder von der Masse ab.
Doch als alles nichts hilft und ich wie ein räudiger Werwolf bei Vollmond um Mitternacht meine letzten Tränen an der Klagemauer des Versagens ausheule, fasse ich den tollkühnen Entschluss, die Flucht nach vorne anzutreten und einfach wieder da anzuknüpfen, wo die Leidensgeschichte ein unrühmliches Ende nahm, nämlich in Zentralamerika. Und dieses Mal soll das Unterfangen nicht in einem Coitus interruptus enden, sondern als langanhaltender, immerwährender Höhepunkt in meinem bisher noch gänzlich unbeschriebenen Curriculum Vitae herausstechen.
Natürlich böten sich für einen Tapetenwechsel einfachere Reiseziele an: Ein Nullachtfünfzehn-Mensch mit Nullachtfünfzehn-Problemen würde beispielsweise nach Rimini, Lloret de Mar oder nach Gran Canaria fliegen, sich die Sonne auf seinen bleichen Allerwertesten scheinen lassen, billige Cocktails schlürfen und sich die bierseligen Nächte um die Ohren schlagen. Für die körperliche Entschlackung würde ihm der morgendliche Gang zur Sauna reichen und mit dem Kauf einer Packung Räucherstäbchen hätte er ausreichend geistige Spiritualität getankt.
Nach spätestens zwei Wochen würde sich der einst so Erholungsbedürftige allerdings wieder an seine gesellschaftlichen Verpflichtungen erinnern. Daran, dass er als Schräubchen im Zahnrad des Ganzen eine Funktion und eine Verantwortung inne hat, und dass er als verdienstvoller und pflichtbewusster Hamster gefälligst wieder in sein Rad klettern und hechelnd seine Runden drehen sollte.
Bei einem so hartgesottenen Fall wie bei mir klappen diese kurzen Auszeiten nicht mehr. Bei mir muss etwas Grundlegendes, Einschneidendes her. Etwas, das mein verwachsenes Leben aufweicht, durchknetet und neu formt. Etwas, was mich in den Grundfesten erschüttert, was meine ganze Lebensphilosophie durcheinanderwirbelt und mich von innen heraus verändert. Ich muss dahin, wo es weh tut und wo man nach einer Wellness-Oase oder einem Streichelzoo vergebens sucht. Ein Ort, wo man sich nicht mal eben per Fingerschnipp und mit einem randvollen Samsonite-Koffer aus dem ach so hektischen Leben verabschieden kann. Dabei geht es mir gar nicht darum, meine innere Mitte oder mein gutes Karma zu finden, sondern darum, einmal richtig aus der wattegebauschten und mit sieben Sicherheitsnetzen versehenen Komfortzone auszubrechen.
Und da für mich Staaten, die nicht ein gewisses Mindestmaß an Gefährlichkeit, Unberechenbarkeit und Abenteuer versprühen, keinen Reiz ausüben, kam die Idee mit den Ländern Zentralamerikas wie gerufen. Gemäß einer Studie des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) über die Fälle von Mord und Totschlag in der Welt, gehört der schmale Korridor zwischen dem Karibischen und Pazifischen Meer nebst dem südlichen Afrika mit vierundzwanzig Morden pro hunderttausend Einwohnern zur gefährlichsten Region der Welt. Im Top-Ten-Ranking der meisten Mordfälle weltweit werden gar vier zentralamerikanische Staaten gelistet. Mir scheint, es ist genau das richtige Pflaster, um meine Ideen in die Tat umzusetzen …
Meiner Meinung nach gibt es zwei Gründe dafür, dass die lokalen Mayatraditionen in jüngster Zeit mehr und mehr vor die Hunde gegangen sind: Handys und Missionare.
- Bewohner von San Cristóbal de las Casas (Lonely Planet Zentralamerika, 2010) -
Wussten Sie’s?
Vierzig Prozent der Einwohner in Guatemala sind jünger als fünfzehn Jahre.
Ort: Internationaler Flughafen, Guatemala-Stadt
Ich fühle mich großartig, als ich großen Schrittes durch die Ankunftshalle des Aeropuerto International La Aurora in Guatemala-Stadt schreite. Endlich wieder der Geruch der großen Freiheit in der Nase, endlich wieder den Dreck des Lebens unter den Fußsohlen. Oder zumindest fürs Erste einmal die Überreste des Putzmittels, die eine würfelförmige guatemaltekische Putzfrau vor mir über den Boden wischt. Von mir aus hätte sie die marmornen Platten auch mit Batteriesäure bohnern können, nichts kann meine Reiselust in diesem Moment aufhalten.
Ich atme die etwas schwüle Luft mit einem tiefen Zug ein und sinne laut über andere Entdecker nach, die ebenfalls keine Mühen scheuten, um die schöne, neue Welt mit dem genau gleichen Elan und der genau gleichen Entschlossenheit zu betreten, wie ich es zu tun gedenke. »Ahhh, es geht mir einfach großartig! So muss sich James Cook oder Ferdinand Magellan gefühlt haben«, rufe ich an verdutzt dreinschauenden Passanten vorbei. Hinter mir ist ein vernehmliches Räuspern zu hören.
»Genau genommen waren die beiden Herren gar nie in Zentralamerika«, korrigiert mich meine Freundin Julia.
»Da müsstest du als Vergleich mit keinen Geringeren als Francisco Pizarro oder Christoph Kolumbus vorlieb nehmen.«
Natürlich weiß sie es wieder einmal besser als meine Wenigkeit. Wenn sie einmal irgendeinen Text gelesen hat, wird dieser, ohne je an Klarheit oder Authentizität einzubüßen, in die hintersten Winkel ihres Langzeitgedächtnisses abgespeichert und bei Bedarf, ohne mit der Wimper zu zucken, zitiert. Julia ist nicht nur der Kopf unserer kleinen Reisekarawane, sondern auch der Körper. Wie ein Käfer, der imstande ist, das Tausendfache seines eigenen Gewichts zu tragen, buckelt sie gewaltige Lasten scheinbar mühelos und ohne das leiseste Murren. Eine Eigenschaft, die ihr beim Tragen ihres Rucksackes, der so aussieht, als wöge er eine gefühlte Tonne, natürlich entgegenkommt. Ihre Kraft versteckt sich hinter einer erstaunlich zierlichen Statur, die sie mit feenhaft geschmeidiger Eleganz durch das Leben trägt.
Damit Julia wegen ihrer angeborenen Trittunsicherheit nicht ins Wanken gerät, hat Mutter Natur ihr Baryzentrum mit zwei starken Armen gefestigt, die flankierend zum schlanken Oberkörper als eine Art Ausgleichspendel fungieren. Ihr insgesamt untersetzter Körperbau und das rundliche Gesicht mit den großen Knopfaugen verleihen ihr etwas Verspieltes und Koboldhaftes, weshalb ich nicht lange zögerte und sie kurzerhand in »Puppe« umtaufte. Ein Kosewort, das sich mittlerweile dauerhaft bewährt hat.
Ihre Belehrungen außer Acht lassend, durchquere ich die komplett in mausgrau gehaltene Halle und nehme Kurs Richtung Toiletten. Ein kleiner Schritt für mich und ein noch kleinerer für die Menschheit, könnte man leichthin vermuten, doch weit gefehlt! Das, was sich hinter der Schwingtüre mit dem abgebildeten Manneken Pis verbirgt, wird mein Urvertrauen in die Menschheit nachhaltig in negativer Weise beeinträchtigen. Ich würde es ohne Übertreibung sogar als Entjungferung meiner geistigen Integrität bezeichnen.
Ich trete also nichts Böses ahnend an die Schwelle der Niedertracht und öffne mit Schwung die Pforte zur Hölle. Binnen Sekunden weicht sämtliche Farbe aus meinem Gesicht und meine Lebensgeister scheinen sich in Luft aufzulösen. Bevor ich etwas machen oder sagen kann, schaltet das limbische System in meinem Gehirn auf Autopilot, um mich vor irreparablen, psychischen Schäden zu schützen. Es ist fast so, als besäße ich nur noch motorische Fähigkeiten, die es mir erlauben, ganz rudimentäre Dinge des Alltags ohne Gefühlsregungen zu meistern. In meinem Fall sind das hineinlaufen, Notdurft verrichten, Hände waschen (sofern möglich) und danach die Beine in die Hand nehmen und verschwinden.
Wie ein Frühpubertierender, der das erste Mal ein Porno-Video zu Gesicht bekommt, gaffe ich auf das schier Unfassbare, das sich in meinen Augen widerspiegelt. Etwas Ekelerregenderes ist mir noch nie vor die Linsen gekommen. Da offenbar niemand im Flughafen Lust verspürt, der Ausgeburt der Hölle einen Besuch abzustatten, wage ich mich noch näher an den Ort, von dem aus nun ein bestialischer Gestank meine Nasenflügel kitzelt. Doch mein Entdeckergeist versiegt so schnell, wie er aufgelodert ist.
Vor mir erstreckt sich eine unermesslich lange, scheinbar aus losen Blechteilen zusammengetackerte und mit dem Hammer roh ausgebeulte Piss-Rinne, die jeglicher Beschreibung spottet und weltweit seinesgleichen sucht. Sie verläuft über die ganze linke Hälfte des schlauchförmigen Raumes und sieht auf den ersten Blick aus, wie der Futtertrog in Ställen für Rindvieh. Das ganze Becken ist bis zum Rand mit einer übel riechenden, kränklich aussehenden, dunkelorangen, dampfwabernden Flüssigkeit gefüllt, die nach Jahren höchster Vernachlässigung durch das hiesige Putzpersonal nur noch mit außerordentlich viel Phantasie als Urin bezeichnet werden kann. An vielen Stellen schwappt die Giftbrühe über den Rand und hinterlässt kleinere und größere Rinnsale, die sich auf dem Fußboden zu immer größer werdenden Pfützen vereinigen. Der Begriff »Toilette« ist für dieses Kloakenloch in etwa so passend wie der Vergleich zwischen einem Blauwal und einem Seepferdchen. Selbst mit zugekniffener Nase scheinen sich die beißenden Gerüche nun durch die Poren meiner Haut zu ätzen. Eine Mischung aus Formaldehyd, ranzigen Eiern und verwestem Fleisch.
Einen Moment lang überlege ich, ob ich den Drang zu urinieren geflissentlich ignoriere oder ob auch ich meinen Beitrag an der kunstvoll inszenierten Ursuppe beisteuern soll. Ich entscheide mich für das Zweite und uriniere aus sicherer Distanz zur verschlackten Rinnenwand, damit mich eventuell zurückschleudernde Spritzpartikel nicht treffen und möglicherweise fleischfressende Bakterien auf meiner Haut zurücklassen. Obwohl jeder neu abgefeuerte Strahl eine klare Verbesserung der Situation dieses Gestades ist, gebietet es mir der Anstand, nicht einfach draufloszupullern, sondern die Piss-Rinne, wenn möglich, in einer Art Bogen zu treffen.
Nach Beendigung des Geschäfts lasse ich die beiden kümmerlich an die Wand montierten, operationsschalengroßen Waschbecken links liegen und haste nach draußen an die frische Luft. Am Taxistand vor der Ankunftshalle angekommen, bemerkt Puppe meine käsige Gesichtsfarbe.
»Sag mal, was ist denn in dich gefahren? Es scheint, als hättest du gerade Gespenster gesehen.« Ich lege meine ganze Kraft in meine Worte, da ich Angst habe, dass meine Stimme versagen könnte.
»Nein, keine Gespenster. Den Leibhaftigen persönlich.« Puppe murmelt etwas Unverständliches, bevor wir uns mit zwei anderen Rucksackreisenden in ein kleines Taxi quetschen.
Während wir unserem ersten Reiseziel Antigua entgegensteuern, versuche ich meine gemischten Gefühle zu ordnen. Das erste Erlebnis auf einer Reise ist immer das Prägendste. Es gibt die Grundstimmung für die nächsten Tage, manchmal sogar für die nächsten Monate wieder. Es ist wie beim ersten Eindruck bei einem Menschen oder der Geschmack beim ersten Happen eines Essens, der den Gaumen berührt. Dein innerer Kompass wird ausgerichtet, die Saiten deines Gefühls gestimmt. Es gibt dir einen Farbton, eine Melodie, ein Feeling, das du die nächsten Tage bei dir und in dir tragen wirst. Vielleicht werden Hawaiireisende deshalb bei der Ankunft auf der Insel mit einer Blumenkette beschenkt. Selbst wenn einem der Hotelportier dumm kommt, eine Kakerlake über das Bettlaken huscht, während du versuchst ein Auge zuzukriegen, obwohl das Zimmerfenster auf die verkehrsreiche, lärmige Hauptstraße hinausgeht; das freundliche Willkommen und die langsam welkende, aber immer noch duftende Blumenkette rettet dir den Tag.
Ich schaue nach draußen in die aufkeimende Dunkelheit. Kleine, quadratische Betonfassaden flitzen am Taxi vorbei, das jetzt immer langsamer wird. Vor uns flackert ein riesiges Feuer mitten auf der Straße. Drumherum stehen eine Handvoll grimmig dreinschauender bandidos, die sich ganz offenbar an den züngelnden Flammen ergötzen.
»Ist nur eine Straßenblockade«, hustet der Taxifahrer.
Nur? Wo zum Teufel sind wir hier gelandet? Obwohl das Feuer eine beträchtliche Größe erreicht hat, lässt es ganz rechts auf dem Teerstreifen einen Durchgang offen, den die hupenden, fluchenden Autofahrer jetzt rege nutzen. Auch wir fahren im Schritttempo durch die Luke. Starthighlight Numero zwei, geht es mir durch den Kopf, während der Taxichauffeur wieder Fahrt aufnimmt. Wenigstens ist es vom Geruch her schon mal eine klare Steigerung …
Ort: Antigua, Guatemala
Im Tageslicht präsentiert sich Guatemala in einem ganz anderen, freundlicheren Licht. Die Luft hier in Antigua, der ehemaligen Hauptstadt des Landes, riecht frühlingshaft und die vormittäglichen Sonnenstrahlen wärmen sowohl Geist als auch Körper.
Wir schlendern gemütlich über kopfsteingepflasterte Gassen und an einstöckigen, pastellfarbenen Häuschen vorbei, bevor wir uns auf den Markt neben dem Busbahnhof begeben. Hier herrscht ein Gedrängel wie bei einem Rockkonzert. Überall bieten in bunte Stofflaken gekleidete Indiofrauen ihre Waren feil. Die Farben, Gerüche und die Lautstärke der betont geschäftigen Einheimischen hauen den Stille liebenden Westeuropäer zuerst einmal mächtig aus den Socken. Es wird gefußelt, gequatscht, gezerrt und geplärrt und mein vom Jetlag geplagtes Hirn sendet erste Notrufsignale an die Gleichgewichtsorgane meiner Ohren. Hier gibt es nichts, was es nicht gibt: Fisch, Brot, Fleisch, Gemüse und vor allem Früchte wie Granatäpfel, Passionsfrüchte, Papayas und Ananas, aber auch traditionell gewebte Kleidung, Tücher, Taschen, Lederartikel, Silberwaren und mundgefertigte Glaswaren.
Weiter geht es an alten Kirchen vorbei, welche die Spanier während ihrer conquista erbaut haben, und an schönen begrünten Parks. Nichts deutet darauf hin, dass dieses gewaltgeschüttelte Land bis Mitte der Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts unter einem sechsunddreißig Jahre langen Bürgerkrieg litt. Obwohl Guatemala das einzige Land auf dem nordamerikanischen Kontinent mit einer uransässigen Mehrheit ist, mit einer ganzen Reihe erstklassiger Maya-Pyramiden aufwarten kann und viele Einheimische ihre traditionellen Gepflogenheiten leben, geht es Hand in Hand mit dem Fortschritt. Zumindest scheint es so, wenn ich all die internationalen Essensställe am Parque Central so anschaue. Selbst dänisches Essen bleibt dem fachkundigen Gourmet hier nicht vorenthalten.
Ein Relikt aus alten Tagen allerdings ist der verstaubte machismo, den guatemaltekische Männer gerne zur Schau tragen. Zumindest, wenn ihre Ehefrauen nicht gerade in der Nähe sind. Ich würde gerne auch mal alleine durch die Gegend streichen, aber kaum ist Puppe aus meinem Blickfeld verschwunden, pfeifen ihr die Männer nach, als wäre sie zu Besuch in einer Voliere. Wenn man es von der praktischen Seite betrachtet, ein durchaus wirkungsvoller Nebeneffekt, um stundenlange Suchaktionen zu vermeiden. Ein anderes Thema ist die Bestellung und Bezahlung in einem Restaurant. Das sind Dinge, die grundsätzlich nur von einem Mann entgegengenommen werden. Einer Gringa schaut man dafür schon mal in die Augen, niemals aber einem fremden Mann.
Im Allgemeinen sind die Einheimischen offen, suchen aber selten von sich aus das Gespräch. Ganz anders kontaktfreudig hingegen sind die Traveller unter sich. Es vergeht kaum eine Stunde, in der man nicht irgendwo von irgendwem etwas gefragt wird oder ungefragt eine Antwort erhält. Es ist schon Mitte Nachmittag und wir machen uns auf den Weg, um eine billigere und bessere Bleibe zu suchen, als uns das Schicksal in die Hände eines jungen, israelischen Paares spielt.
Er: ein gutaussehender, stark behaarter, lebensbejahender und sehr redseliger Artgenosse.
Sie: offenbar die Zwillingsschwester von Angelina Jolie, ein fleischgewordener Traum aus einem erotischen Hochglanzmagazin. Sie stellen sich uns überraschend vor.
»Wie heißt ihr? Kain und Abel?«, frage ich ein wenig begriffsstutzig wegen des plötzlichen Überfalls der beiden.
»Nein! Mein Name ist CHAIN und sie da, das ist RACHEL.« Dabei dehnt er die Wörter der Namen so stark, als hätte er es mit zwei äußerst tumben Vorzeitmenschen zu tun. »So alt sind wir nun auch wieder nicht, und unsere Eltern heißen auch nicht Adam und Eva.«
Aha, wohl ein kleiner Scherzkeks, was? Nach der etwas ins Stocken geratenen Vorstellungsrunde und dem obligaten Händedruck fackeln die Kinder Zions nicht lange, und noch bevor wir uns höfliche Smalltalk-Sätze ausdenken und sie ins Englische übersetzen können, bugsieren sie uns mit flinken Händen in die nächste Seitengasse und plappern drauflos, als hätten sie zuvor zehn Jahre lang in Isolationshaft gesteckt.
»Wir zeigen euch jetzt, wo wir wohnen. Es ist die beste Pension, in der wir je gelebt haben. Die Leute da sind der Oberbrüller und die Besitzer erst! Ha!« Er haut mir eine seiner Riesenpranken auf die Schulter.
»Jeden Abend macht uns Doña Antonietta ein vorzügliches Abendessen und die Zimmer kosten nur fünf Dollar. Ihr könnt da auch euer Gepäck deponieren und es gibt eine eigene Waschstelle für Kleider und Schuhe.« Jetzt knallt er mir seinen titanharten Ellenbogen in die Rippen. Ich hüstele vor mich hin. Nach Waschen ist mir jetzt gerade nicht zumute. Wir lassen uns von den beiden vor ein grünes Eisentor schieben, auf dem in goldenen Buchstaben »Casa de Don Antonio« steht. Ein verlauster Hund will sich vor uns durch die Türe schieben, doch Chain will sich von nichts und niemanden die Show stehlen lassen.
»Ahhh, immer diese dreckigen Tölen! Sie kopulieren und vermehren sich an jeder Straßenecke. Kein Wunder legen die Guatemalteken an Weihnachten Giftköder aus, um den Bestand dieser Bastarde zu reduzieren.« Mit einem Fuß schubst er den Hund neben die Türe.
Im Inneren der Pension ist es leer und ruhig wie werktags in einer Kirche. Wir stehen in einem rechteckigen Innenhof, der in der Mitte längsseitig von einer Wäscheleine in zwei Hälften geteilt wird. Alle für die Gäste interessanten Einrichtungen wie der große Tisch im offenen Aufenthaltsraum, die Zimmer und die Gemeinschaftsdusche befinden sich auf der linken Seite. Rechts ist nichts weiter als eine Ziegelsteinmauer, die zur doppelt so hohen Sprachschule nebenan gehört. Vor jedem Zimmer gibt es einen Holztisch und zwei dazu passende Stühle.
Scheinbar von neuem Leben beseelt, klopft der Israeli wie irre an jede sich findende Türe. Er ist so erpicht darauf, die Besitzer zu finden, als erhalte er von diesen eine Vermittlungsprovision in der Höhe eines Jahresgehalts eines Mossad-Spitzenagenten.
Nach einer geraumen Weile erscheint das Besitzer-Pärchen mit vollen Plastiksäcken auf dem Innenhof und stellt sich uns mit einem Lächeln auf dem Gesicht als Antonietta und Don Tonio vor. Obwohl Puppe und ich in unseren Gefilden nicht gerade als Riesen gelten, sind die beiden Einheimischen mindestens einen Kopf kleiner als wir, von untersetzter Statur und in gemütliche, wollene Westen gekleidet, die allerlei unbekannte Muster zieren. Ihr Alter würde ich auf etwa fünfzig schätzen, obwohl das bei Guatemalteken schwierig zu erraten ist, da sie für uns Europäer irgendwie alle gleich aussehen und der Alterungsprozess hier offenbar antizyklisch verläuft. Von ihrem Wesen geht eine eigentümliche Wärme und Behaglichkeit aus und ihre Augen strahlen Güte und Intelligenz aus.
So stelle ich mir guatemaltekische Vorzeigeeltern vor, geht es mir durch den Kopf und mir wird schlagartig klar, dass wir unser Basislager für weitere Exkursionen gefunden haben. Nach der ersten kurzen Bemusterungsphase schnattern wir sechs wie auf ein geheimes Zeichen hin wild drauflos, wir gestikulieren mit Armen und Beinen und malen mit den Händen allerhand sinnfreie Zeichnungen in die Luft. Es herrscht ein Tohuwabohu wie in einem fünfzigköpfigen Kindergarten, jeder will seinen Senf abgeben und dabei alle anderen übertönen. In der allgemeinen Hektik zeige ich Antonietta sogar Bilder aus unserer Heimat, obwohl jetzt der völlig falsche Zeitpunkt für einen solchen interkulturellen Austausch ist. Schließlich hat Don Tonio ein Einsehen mit uns überdrehten Gringos und macht sich daran, allen einen Instantkaffee zu brauen, der, wie er mit wissendem Grinsen festhält, von einem Engländer namens George Washington anfangs des zwanzigsten Jahrhunderts in Guatemala erfunden wurde. Zumindest bilde ich mir ein, das so aus seinen spanischen Worten verstanden zu haben. Er hätte auch behaupten können, dass in Guatemala nur Außerirdische leben, die auf selbst gebastelten Untertassen durch die Gegend fliegen, und wir hätten trotzdem artig genickt.
Da ist es kein Zufall, dass es sich die Einwohner dieses kleinen, schmucken Städtchens zur Pflicht gemacht haben, alle unwissenden Neuankömmlinge, die ihrer Sprache nicht mächtig sind, sie aber gerne lernen wollen, mit ihren zig Sprachschulen unter die Arme zu greifen. Diese escuelas haben sich sogar schon außerhalb der Landesgrenzen bis nach Europa einen Namen gemacht. Sturheit, Geiz und Einbildung haben mich allerdings dazu veranlasst, die Sprache autodidaktisch in einem selbst zusammengestellten Crashkurs zu erlernen, was mir im Gespräch mit Antonietta jetzt schmerzlich bewusst wird. Ich habe zwar jedes auch noch so unwichtige Wort, das in spanischen Vokabularien zu finden war, in- und auswendig gelernt, aber die Verben kann ich trotzdem nicht konjugieren. Aus diesem sehr einseitigen Lernverhalten resultiert nun ein Pidgin-Spanisch, das komischer nicht sein könnte und noch so manchen Einheimischen an den Rand der Verzweiflung bringen wird. Auch auf Antoniettas Stirn bilden sich vereinzelte Falten, denn die verzweifelten Sprachversuche hören sich übersetzt in etwa wie folgt an:
»Diesen Haus ist sehr schön. Wann du bauen es?
Welches unser Zimmer sein? Wann du kochen am Abend?
Wir vielleicht morgen gehen auf Vulkan.
Du mitkommen?
Wie viele Gäste ihr haben?«
Nicht selten tappt man so in Wortfallen, denen gravierende Verwechslungen zugrunde liegen, die in peinlichem Schweigen enden. So zum Beispiel, als ich das eigentlich völlig harmlose Wort »coger« benutze, das in Spanien so viel wie greifen, kriegen oder erhaschen heißt. In Lateinamerika hat es eine gänzlich andere Bedeutung, wie mir unser israelischer Freund Chain in einer Fick-Geste verdeutlicht, die unmissverständlich ist. Danach verbanne ich mein eigentliches Lieblings-Verb schweren Herzens aus meinem Sprachschatz.
Es gelingt mir, einige Gesprächsfetzen von Don Tonio zu einem sinnbildenden Ganzen zusammenzufügen. Er und seine Frau verbringen schon ihr ganzes Leben in Antigua. Sie betreiben seit fünfundzwanzig Jahren dieses Gästehaus und haben eine Tochter und einen Sohn, die beide schon aus dem Haus sind und in der Nachbarschaft leben. Nachdem die ersten Nettigkeiten ausgetauscht und die Kaffeebecher geleert sind, schicke ich mich an, vor der Gemeinschaftsdusche zu stehen und zu warten, bis sich der temporäre Insasse, der sich sehr geräuschvoll schrubbt, dazu bequemt, die Kabine wieder zu verlassen. Es lungern noch zwei weitere Backpacker vor der Türe herum, die offenbar dasselbe vorhaben.
Ich lasse mich gerade vom Abendrot einlullen, das die Dächer Antiguas rubinfarben einhüllt, als ich eine schemenhafte Gestalt wahrnehme, die so gar nicht in das stimmige Bild passen will. Das schattenhafte Bündel scheint mich mit einem Blick aus gelben Augen zu verhöhnen, bevor es über die Dachziegel in die Dunkelheit verschwindet.
Bilde ich mir das nur ein oder war das gerade eine Katze? Ich bleibe wie vom Donner gerührt stehen und glotze angestrengt auf die umliegenden Dächer. Da oben hätte ein Greifadler, eine ausgewachsene Python oder ein Berggorilla seine Kreise ziehen können, es wäre mir egal. Bei einer Katze allerdings verstehe ich, als ausgemachter Allergiker, keinen Spaß. Sobald ich mit diesen unsäglichen Tieren in irgendeiner Weise in Berührung komme, verwandle ich mich binnen Minuten zu einem veritablen Monster mit aufgedunsenen Gesichtszügen, rotgeränderten Augen, die fast aus den Höhlen quellen, rasselndem Atem und fleckiger Haut. Kurzum: Ich vermeide den Kontakt mit diesen Höllenviechern, als wären sie mit der Pest infiziert.
»Das ist Miesch«, höre ich eine vertraute Stimme hinter mir sagen. Ich schnelle herum und schaue Antonietta in die Augen.
Offenbar sehe ich aus, wie ein entflohener Irrer, denn sie wiederholt jetzt schon viel kleinlauter: »Das war die süße Miesch, unsere Hauskatze.« Ohne zu antworten, rase ich auf unser Zimmer zu, werfe mich mit vollem Gewicht an die Türe, die mit einem ächzenden Laut nachgibt und lande mitsamt einigen Holzsplittern vor den nackten Füßen Puppes.
»Wo ist mein Inhalator?«, schreie ich. Puppe macht vor lauter Schreck fast einen Rückwärtssalto.
»Wo ist der Asthma-Inhalator?« Immer noch betroffenes Schweigen. Wie besessen nestle ich an der Kopfklappe meines Rucksacks herum und öffne ihn.
»Herrgott noch mal, da draußen schleicht ein verdammter Ozelot ums Haus. Ich muss den Inhalator finden, sonst werde ich zum Zombie.« Puppe lässt sich wie in Zeitlupe auf das Bett fallen. Ich mache mich derweil daran, den ganzen Inhalt meines Rucksackes auf den Kopf zu stellen. Aus den Augenwinkeln nehme ich wahr, dass sich in Puppes Gesicht ein Ausdruck breitmacht, der gleichermaßen Unverständnis und Belustigung widerspiegelt. Sie schweigt immer noch. Ich lege den gesamten Inhalt meines Rucksacks auf den Zimmerboden und beginne jeden einzelnen Gegenstand genau zu prüfen.
Ich habe wirklich an alles gedacht: Ultraleichte Vibram-Gummilaufschuhe, auf Taschentuchgröße zusammenfaltbare Mikrofaserbettdecken, Thermosflaschen, Reisetauchsieder, engmaschiges Moskitonetz, Insektenspray mit und ohne DEET, Seidenschlafsack, Camping-Kocher, Kompass, kleines Werkzeug-Etui, Stromadapter, Augenbinde, aufblasbares Nackenkissen, Zehenwärmer, zusammenklappbare Zahnbürsten und Haartrockner, Schweizer Taschenmesser, batteriebetriebener Minirasierer, hochdosierter Sonnenblocker, Taschenlampen mit Ersatzbatterien, einen kleinen Verbandskasten mit Medikamenten und Pflastern, sterile Einwegspritzen, Malaria-Prophylaxe, Fußpilzsalbe, Hornhaut-Peeler, Mittel gegen Seekrankheit und Jodtabletten für die Trinkwasserreinigung. Zudem multifunktionelle Kleidung, wie ein atmungsaktiver Goretex-Regenschutz, wasser- und windabweisende Regenschutzhosen und einen zusätzlichen Regenschutz für den Rucksack sowie einen kleinen Ersatz-Regenponcho. Ebenso eine Dokumententasche, die man unter die Boxershorts montieren und in der man alle wichtigen Papiere wie den Pass, den internationalen Führerausweis und das Impfbüchlein verstecken kann, einen Hosengürtel mit inwendigem Reißverschluss, der die Kopien derselben Reisedokumente beherbergt und sogar ein verdammter Jutesack, in den ich meinen Rucksack stopfen kann, ist mit dabei. Er dient als Tarnung für den Transport auf Busdächern, damit es für eventuelle Langfinger so aussieht, als hätten wir Kartoffeln geladen. Nur dieses eine, für mich überlebenswichtige Gerät habe ich vergessen.
Ich bewege mich auf einer gefährlich rutschigen Klippe am Rande eines Nervenzusammenbruchs, als mir das scheinbar Unmögliche dämmert. Aus mir weicht die Luft wie aus einem Ballon, den man mit einer Nadel traktiert.
Es vergehen Stunden, bis ich mich wieder einigermaßen beruhigt habe und mich der Hunger nach draußen auf den Hof treibt. Beschwichtigt durch die besänftigenden Worte Puppes wage ich mich zum Gemeinschaftsraum, wo der große Esstisch steht. Statt der Ausdünstung von Katzen kitzelt der Duft von gebratenem Fisch meine Nase. Als Antonietta mich sieht, kommt sie mit einer einladenden Geste auf mich zu.
Bilde ich mir das nur ein oder scheint sie noch einmal eine Schippe Freundlichkeit draufgepackt zu haben? Sie hakt sich bei mir unter und geleitet uns zum Tisch, offenbar darauf bedacht, mich wie ein rohes Ei zu behandeln, damit ich nicht wieder unkontrolliert herumschreie.
»Ich habe Garnelen, Fisch und Muscheln gekauft. Heute gibt es eine feine ceviche, das ist ein Nationalgericht in Guatemala«, erklärt Antonietta aufgeregt. »Meine Gäste haben es sich schon so lange gewünscht.«
Unter Gästen versteht die Pensionsinhaberin ein ganzes Heer an jungen Menschen, alle zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt, die sich brav um den großen Holztisch versammelt haben und sich angeregt in einer uns unbekannten Sprache unterhalten. In diesem bunten Völkchen erspähe ich auch Chain und Rachel, die sich ebenfalls in dieser rauen und kehligen Sprache an der entbrannten Diskussion beteiligen.
Antonietta hat sich unterdessen ihre Kochschürze umgebunden und plärrt fröhlich in den Raum: »Unsere Pension ist sehr international, wie ihr seht.« Sie zeigt in die Runde. »Stellt euch doch bitte unseren Neuankömmlingen vor!«
Das Gespräch erstirbt wie auf Kommando und während wir etwas beklommen Platz nehmen, stieren uns unzählige Augenpaare an.
Das könnte eine Sitzung der Anonymen Alkoholiker sein, geht mir durch den Kopf, als der Erste - ein braungebrannter Schönling mit Dreadlocks und sonnengebleichtem Bart - den Anfang macht.
»Hallo. Mein Name ist Menachem.« Er schaut zu seinem Nachbarn, ebenfalls braungebrannt, allerdings mit kahlgeschorenem Schädel und ohne Bart.
Der sagt: »Mein Name ist Ari.« Jetzt ist eine kleingewachsene, elfenartige Frau mit Mäusegesicht und erstaunlich tiefer Stimme an der Reihe.
»Hi, ich bin die Meirav.« Mein Vorhaben, mir trotz meines miesen Kurzzeitgedächtnisses alle Vornamen zu merken, geht schon bei den ersten dreien den Bach runter. Es wird noch extremer: Wir lernen in dieser vermaledeiten Vorstellungsrunde Leute mit Namen kennen, die ich noch nie zuvor gehört habe und die ganz gut in einen Hobbit-Film passen würden. Es ist da die Rede von Laffi, Chezi, Giland, Ronan, Boaz, Yotan, Shimi, Kushnir, Shoshana, Yehdit, Malka, Tziporah, Shulamit, Moshe, Ytzchak, Tzvi und Yehudah. Den einzigen Namen, den ich mir auf Anhieb merken kann, ist jener einer großen, kräftigen Blondine, die aussieht, als wäre sie unter eine Dampfwalze geraten. Die Holländerin Yolanda nämlich, verrät uns, dass es sich bei den Gestalten mit den seltsamen Namen nicht um Elfen und Trolle handle, sondern um Israelis, und dass sie an akutem Durchfall leide, seit sie ihre Reise in Mexiko begonnen habe.
»Willkommen im Klub«, keucht sie mit schwacher Stimme und schaut uns ganz bemitleidenswert an. Ich kann nicht beurteilen, woher ihr desaströses Erscheinungsbild herrühren mag. Ist daran nur die Diarrhö schuld oder der Umstand, dass sie sich wie die letzte, weil einzige, Gallierin fühlen muss, die von einer Horde Römer umzingelt ist? Ich entscheide mich vorerst für die Diarrhö und versuche mich, so gut wie möglich, bei den Israelis einzuklinken, was einfacher ist als gedacht, da Chain und Rachel sich scheinbar für unsereins verantwortlich fühlen und ungefragt den Part des Vormunds, der Erziehungsberechtigten und der Übersetzter einnehmen.
Wir erfahren an diesem geselligen Abend eine Menge über unsere Freunde aus dem Nahen Osten, die alle so aussehen, als wären sie aus einem Modekatalog entsprungen. Wenn ich ihnen so beim Fläzen zuschaue, kann ich kaum glauben, dass hinter ihren bärtigen Visagen, ihren wulstigen Afrofrisuren, ihren Tattoos, ihren Trägershirts mit den Gallo-Bieremblemen, ihren Kettchen, Armreifen und Zehenringen durchtrainierte Vollblutathleten stecken, die von einem knallharten, zweijährigen Militärdienst zu mordenden Kampfmaschinen ausgebildet wurden. Das gilt sowohl für die Männer als auch für die Frauen, und seit ich das weiß, bin ich in Sachen ungezwungener Kontaktaufnahme etwas zurückhaltender geworden.
Wenn sie nicht gerade auf Sanddünen robben, auf Feinde schießen oder strategisch wichtige Stützpunkte bombardieren, sind Israelis für gewöhnlich am Reisen. Nicht an einem spezifischen Ort, sondern ganz einfach überall auf der Welt. Man sieht sie sowohl mit Interrail-Pässen durch Europas Hauptstädte gondeln, als auch auf lateinamerikanische Vulkane kraxeln oder mit Trinkhalmen und Whiskeyeimern bewaffnet bei Vollmondpartys in Thailand. Kurzum: Sie sind überall da, wo sie ihresgleichen treffen, wo es Spaß macht und was ihr Reiseführer mit dem Gütesiegel moomlatz (hebräisch für empfohlen) adelt. Allerdings sind diese Indizien nur Nebenkritikpunkte, wenn es um die Wahl eines Reiseziels geht. Israelis brechen praktisch alles auf einen kleinen, aber nicht ganz unwichtigen gemeinsamen Nenner herunter, nämlich Geld. Wenn der Preis nicht stimmt, hilft auch die pfiffigste Tourismus-Marketing-Strategie nicht mehr weiter. Folglich sieht man sie kaum auf dem Golfplatz von Pebble Beach, auf der Pirsch in der Serengeti oder beim Schnorcheln auf Bora-Bora. Lieber rotten sie sich – wie hier im Casa de Don Antonio – in großen Gruppen zusammen und feiern, als gäbe es kein Morgen. Bevor wir zum Rückzug in unsere Bettstatt blasen können, knöpfen uns die partywütigen Juden noch das Versprechen ab, ihnen morgen Abend beim koscheren Essen Gesellschaft zu leisten.
Ort: Vulkan Pacaya
Jeder Reisende, der irgendwo zwischen Tijuana und Feuerland Fußstapfen hinterlässt, muss früher oder später einmal einen Vulkan erklimmen. Das gehört zum Einmaleins des guten Tones, so wie ab und zu eine Dusche nehmen oder die Zähne putzen, und initiiert den gewöhnlichen Touristen in die erhobene Kaste des Lateinamerika-Kundigen, dem sogenannten mochilero. Er ist fortan akkreditiert, an sämtlichen Backpacker-Hotspots in höchsten Tönen von seinen ruhmreichen Heldentaten zu berichten, ohne dabei von Langzeit-Travellern ausgelacht oder gar ignoriert zu werden. Da wir uns in Guatemala gerade im Land der Vulkan-Reinkultur befinden, wollen wir diesen stillschweigenden Einweihungsakt nicht länger hinauszögern.
Antigua ist sozusagen der Selbstbedienungsladen schlechthin, wenn es um die Auswahl an illustren Vulkanen geht. Wir hätten uns für einen der in der Umgebung stehenden Dreitausender Agua, Fuego oder Acatenango entscheiden können, aber da die alle erloschen sind, fiel unsere Wahl auf keinen Geringeren als auf den Pacaya, einen der aktivsten Vulkane der Welt. Alleine die Anreise zum Fuß des Vulkans dauert eine halbe Ewigkeit, da der amerikanische Schulbus aus den Sechzigerjahren eine Reifenpanne hat, die fast zwei Stunden unserer wertvollen Zeit verschlingt. Endlich im staubigen Kaff mit dem euphemistisch klingenden Namen San Francisco des Sales angekommen, versuchen wir nach dieser Schaukelfahrt über vertrocknete Flussbetten, schwindelerregende Serpentinen und horrende Schlaglochpisten unseren Gleichgewichtssinn wiederzuerlangen. Noch nie ergab der im Bus in Düsenjetlautstärke abgespielte Song Sailing von Rod Stewart mehr Sinn als heute. Überhaupt scheinen die Einheimischen eine Schwäche für Achtzigerschnulzen zu haben, wenn ich mir das line-up der letzten knapp vier Stunden so vergegenwärtige. Offenbar wecken die längst verblassten Pop-Oldies von Kylie Minogue, Bonnie Tylor und Huey Lewis & the News Gefühle bei den sonst ach so reservierten Indios, die immer so aussehen, als wären sie aus Granit gemeißelt. Ich sehe sie förmlich vor mir, wie sie untereinander Kassetten mit den musikalischen Weltneuheiten austauschen:
»Hast du schon die neuste Platte von Buddy Holly gehört? Da geh ich ab wie eine Rakete.«
»Klar, Amigo! Super Scheibe! Aber ich steh im Moment auf den neusten Song von Nat King Cole. Das zieht dir die Hose aus!«
»Ach was, das ist nichts zu Little Richard! Der Typ hat’s momentan einfach drauf, sag ich dir.«
Kaum sind wir aus dem klapprigen Bus ausgestiegen, umringen uns wie aus dem Nichts zwei Dutzend dürre Kinder, die nur in Lumpen gekleidet sind. Sie tänzeln um die neue Ladung geldschwerer Gringos und betteln mit hohler Hand um alles, was auf die Schnelle zu kriegen ist.
»¡Un Quetzal, por favor!«, schreien uns mehrere dreckstrotzende Gesichter entgegen.
»¡Un poco de pan, señor!«
Ich besänftige die kleine Schar von Plagegeistern mit ein paar Kugelschreibern, die ich für solche Zwecke immer vorrätig habe, bevor ich mit Puppe im Schlepptau versuche einen Weg aus dem Menschenknäuel zu bahnen. Entgeistert schauen wir uns auf der erdigen Ebene um, die von den hiesigen Busfahrern als Bahnhof zweckentfremdet wird. Die Ansammlung windschiefer Hütten scheint vielmehr ein provisorisches Besucherzentrum als ein Dorf zu sein. Überall lümmeln verwahrloste Kinder herum und alte indigene Frauen bieten hinter zusammengezimmerten Barracken ihre Waren feil. Männer? Fehlanzeige. Neben uns gesellen sich eine Handvoll Reisende, deren Gesichter wir noch von der gemeinsamen Busfahrt kennen. Bedröppelte Mienen und einvernehmliches Schweigen allenthalben.
»Wo sind denn all die Guides hin?«, höre ich ein schwaches Stimmchen hinter mir fragen. »Da müssten doch Unmengen von Führern rumstehen.«
Kollektives Schulterzucken. Selbst Puppe scheint es die Sprache verschlagen zu haben, obwohl ich sonst in ähnlichen Situationen immer auf ihre Entscheidungsfreudigkeit zählen kann.
Ich packe in der Verzweiflung eine in bunte Laken gehüllte Indiofrau am Ärmel, die sich gerade in extremer Langsamkeit durch die lichter werdende Kinderschar bewegt, und frage sie nach verlässlichen Führern. Als Antwort kriege ich nur ein unverständliches Kopfschütteln und ein vorgeschobenes Kinn mit einem markanten Goldzahn. Ich wiederhole die Frage, dieses Mal etwas eindringlicher.
»Hier gibt’s keine Führer mehr, die sind alle schon auf dem Berg.« Der alte Goldzahn zeigt mit einer verwelkten Hand auf einen rabenschwarzen Berg im Hintergrund. »Ihr seid zu spät dran, das könnt ihr heute nicht mehr schaffen. ¡Mañana!«
»¿Mañana?«, wiederhole ich entgeistert. »Aber, señora, wir müssen HEUTE auf den Vulkan, verstehen Sie? ¡HOY!« Die Panik in meiner Stimme scheint sich jetzt auf die Gruppe zu übertragen. Es wird wie wild gefuchtelt, gestikuliert und parliert, doch es hilft alles nichts, denn die alte Lady schickt sich an, dem verrückten Haufen Gringos die kalte Schulter zu zeigen und sich in schildkrötengleichem Tempo davonzumachen. In der schieren Verzweiflung werfe ich mich vor dem Goldzahn auf die Knie, setze meine beste Leidensmiene auf, streichle ihre faltigen Hände, bezirze sie mit säuselnder, engelsgleicher Stimme, lobe Land und Leute in höchsten Tönen und beteuere ihre Ritterlichkeit und die Integrität ihrer gesamten Familie. Das Stichwort »Familie« scheint der Schlüssel zu der gepanzerten Schatulle zu sein, die diese Frau umgibt, denn ihre Miene hellt sich plötzlich auf und sie bleibt unvermittelt stehen.
»Hören Sie zu! Ich werde Sie zu einem Führer bringen, aber ich gebe Ihnen keine Garantie, dass Sie es auf den Gipfel schaffen.« Vor lauter Freude falle ich ihr um den Hals, ohne dabei den bedrohlichen Unterton in ihrer Stimme wahrzunehmen.
»Mein Mann ist zwar etwas in die Jahre gekommen, aber früher war er einmal ein ganz passabler Fährtenleser.
Kommen Sie mit!« Erwartungsfroh folgen wir dem Goldzahn zu seinem verlotterten Anwesen und bleiben vor der Haustüre stehen.
Wenig später erscheint eine alte, bucklige Gestalt im Türrahmen, der die schlaffe Haut wie ein Kleidungsstück von den Knochen hängt. Der alte Herr hat offenbar Mühe, seinen ausgemergelten Kopf zu heben und uns mit seinen wässrigen, schwarzen Augen zu mustern. Zuerst denke ich, dass uns der Goldzahn in einem Anflug von Freundlichkeit eine Vogelscheuche als Gastgeschenk übergeben will, doch das halb verweste, knorrige Männlein besteht im wahrsten Sinne des Wortes tatsächlich nur noch aus Haut und Knochen. Alle in der Gruppe reiben sich verwundert die Augen. Wir schauen uns an, doch niemand wagt einen Einwand zu erheben. Wortlos fügen wir uns dem Schicksal und begleiten den von den Toten Auferweckten auf seine wohl letzte Amtshandlung in seiner sicherlich ausgefüllten Wanderkarriere. Er stellt sich uns als Pablo vor und versichert uns, dass der Aufstieg ein Klacks ist und wir in Nullkommanichts auf dem Gipfel sein werden. Meine Stimmung hellt sich allmählich auf, denn der altersschwache Guide mitsamt dem unsportlich dreinschauenden französischen Pärchen, der Handvoll zerbrechlich wirkender Japaner und der Gruppe von Kanadiern, deren Körperkonturen die Prädikate »pummelig« bis »fettleibig« verdienen, können bergsteigerprobten Alpinisten wie Puppe und mir in keinster Weise etwas anhaben.
Der Aufstieg lässt sich in drei Abschnitte aufteilen. Die ersten Kilometer steigen schwach an und führen uns über erdige Feldwege durch dorniges Gestrüpp und verdorrte Laubwäldchen. Puppe und ich pfeifen vergnügt und etwas schadenfreudig vor uns hin. Wir sind gespannt, wann der erste dieser Lahmärsche aufgeben muss. Wir fühlen uns wie Indiana Jones und Jacques Cousteau auf Entdeckertour.
Relativ mühelos erreichen wir den zweiten Abschnitt, der von der Froschperspektive schon einen etwas unsympathischeren Eindruck hinterlässt. Der eingestampfte Weg auf dem schwarzen Vulkansand schlängelt sich unbegreiflich steil an Gesteinsbrocken, grauem Gras und vereinzelt auftauchenden, abgestorbenen Bäumen empor, die wie Mahnmale und Stoppschilder aus der Erde ragen. Puppe und ich legen unsere Rucksäcke in den warmen Sand, denn wir wollen uns vor dem happigen Aufstieg eine kleine Verschnaufpause gönnen, doch nichts da! Unbeeindruckt von unserem Gebaren zieht die Karawane einfach an uns weiter und macht sich ohne Murren daran, den Weg ohne Pause unter die Wanderschuhe zu nehmen. Uns bleibt die Spucke weg.
»He, halt!«, plärrt Puppe hinterher, »weshalb habt ihr es auf einmal so eilig?« Niemand antwortet. Nächster Versuch.
»Wir wollen nur kurz rasten, um uns für den Aufstieg zu stärken.« Ein pausbäckiger Kanadier, der das Emblem mit dem Landeswappen auf seinen Rucksack genäht hat, dreht sich zu uns um. Offenbar ein besonders patriotischer Artgenosse.