Damit Gottes Wort Menschen erreicht
Deutsch von Friedemann Lux
Für die großzügige Unterstützung der Übersetzung danken wir
Herrn Dr. Friedhelm Loh
Originalausgabe unter dem Titel: Preaching:
Communicating Faith in an Age of Skepticism
© 2015 by Timothy Keller
Erstmals erschienen bei: VIKING,
einem Imprint von Penguin Random House
LLC, 375 Hudson Street, New York 10014, USA
Penguin.com
Bibelzitate folgen, wo nicht anders angegeben,
im Neuen Testament der
Neuen Genfer Übersetzung – Neues Testament und Psalmen.
Copyright © 2011 Genfer Bibelgesellschaft.
Im Alten Testament der
Lutherbibel, revidierter Text 1984,
durchgesehene Auflage in neuer Rechtschreibung,
© 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart (LUT)
Sonst:
Revidierte Elberfelder Bibel
© 1985/1991/2006 SCM R.Brockhaus
im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten (ELB)
© 2017 Brunnen Verlag Gießen
Umschlagfoto: shutterstock
Umschlaggestaltung: Jonathan Maul
ISBN Buch: 978-3-7655-0970-4
ISBN E-Book: 978-3-7655-7467-2
www.brunnen-verlag.de
Manche Prediger erzählen den Bibeltext nach. Andere erzählen nette Geschichten, springen dabei bestenfalls von Bibelstelle zu Bibelstelle, ohne den Predigttext auszulegen. Und dabei erzählen sie mir oft das, was ich ohnehin schon wusste. Timothy Keller versteht es in seinen Predigten, die Auslegung des Bibeltextes und unsere Welt heute zusammenzubringen und den Hörer herauszufordern. Vor allem stellt er immer das Evangelium von Jesus Christus in den Mittelpunkt und bleibt nicht bei bloßen Appellen stehen. Das sind Predigten, die mir helfen und wie ich sie gerne öfter hören würde. In diesem Buch gibt er etwas davon weiter, wie er das macht. Ich freue mich daher sehr, dass es nun auch auf Deutsch erscheint, und unterstütze das gerne.
Dr. Friedhelm Loh, Unternehmer
Biblisch-theologischer Tiefgang, apologetische Finesse, intellektuelle Weite und ein konsequent an Jesus Christus orientierter und auf Herzensveränderung abzielender Fokus – all das fasziniert mich an Timothy Kellers Predigten, seit ich vor Jahren mit ihnen in Berührung kam. Mit Predigen: Damit Gottes Wort Menschen erreicht gibt Keller nun inspirierende Einblicke in das gedankliche Wurzelwerk, aus dem seine Art der Verkündigung erwächst, und präsentiert so die wichtigsten Arbeitsmaterialien seiner Predigtwerkstatt. Allein seine Analyse spätmoderner Glaubenssätze (und wie man ihnen begegnen kann) ist für Prediger im zunehmend säkularen, religiös gleichgültigen Europa Gold wert. Wer den Anspruch hat, mit seinen Predigten auch skeptische Noch-nicht-Glaubende zu erreichen und gleichzeitig seine Gemeinde mit dem Evangelium von Jesus Christus zu sättigen, sollte dieses Buch nicht nur lesen, sondern intensiv durchdenken und seine Inhalte leidenschaftlich anwenden.
Dr. Philipp Bartholomä,
Pastor der freikirchlichen Er-lebt Gemeinde in Landau/Pfalz
und Lehrbeauftragter für Praktische Theologie an der FTH Gießen
Den Gliedern der West Hopewell Presbyterian Church
(1975–1984), die mich „Prediger“ nannten,
während ich stolpernd und tastend lernte, einer zu werden.
Einleitung: Drei Ebenen der Weitergabe des Wortes Gottes
Prolog: Was ist eine gute Predigt?
Teil I Dem Wort Gottes dienen
Kapitel 1: Das Wort Gottes predigen
Kapitel 2: Das Evangelium predigen – immer
Kapitel 3: Sechs Arten, Christus aus der ganzen Bibel zu predigen
Teil II Die Menschen erreichen
Kapitel 4: Christus der Kultur predigen
Kapitel 5: Predigen und das (spät-)moderne Denken
Kapitel 6: Christus dem Herzen predigen
Teil III Das Wirken und die Kraft des Heiligen Geistes
Kapitel 7: Die Predigt und der Heilige Geist
Danke!
Anhang: Wie man eine Auslegungspredigt schreibt
Anmerkungen
Der australische Theologe Peter Adam schreibt, dass das, was wir gemeinhin „predigen“ nennen (also die öffentliche Ansprache des Pastors oder Gastes vor der zum Gottesdienst versammelten Gemeinde), nur eine Spielart dessen ist, was die Bibel die „Verkündigung von Gottes Botschaft“ nennt (Apostelgeschichte 6,2.4; ELB: „Dienst des Wortes“).1
Am Pfingsttag zitierte der Apostel Petrus die Worte des Propheten Joel, dass Gott seinen Geist über alle Menschen ausgießen werde; „dann werden eure Söhne und eure Töchter prophetisch reden“ (Apostelgeschichte 2,17). Gerhard Friedrich listet im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament 33 Begriffe auf, die gewöhnlich mit „predigen“ oder „verkündigen“ übersetzt werden.2 Adam merkt an, dass die mit diesen Wörtern beschriebenen Aktivitäten nicht alle als öffentliches Predigen bezeichnet werden können.3 So heißt es in Apostelgeschichte 8,4-5, dass die aus Jerusalem geflohenen Christen überall, wo sie hinkamen, Jesus als Messias „verkündeten“, was unmöglich bedeuten kann, dass jeder einzelne Gläubige Predigten vor versammelter Gemeinde hielt. Priscilla und Aquila zum Beispiel erklärten Apollos das Wort Gottes bei sich zu Hause (Apostelgeschichte 18,26).
Wir finden in der Bibel mindestens drei Arten der Verkündigung des Wortes Gottes. In Kolosser 3,16 sagt Paulus den Christen in Kolossä: „Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit“ (LUT). Jeder Christ sollte fähig sein, andere Menschen in der biblischen Lehre sowohl zu unterweisen (griech. didaskalia) als auch sie zu ermahnen (griech. noutheo; das Wort meint ein kräftiges, Leben veränderndes Beraten). Dies geschieht formlos in persönlichen Gesprächen (meist Einzelgesprächen). Dies ist die fundamentalste Art der Wortverkündigung; nennen wir sie die „Ebene 1“.
Am formelleren Ende des Spektrums findet sich die Predigt, also die öffentliche Auslegung der Bibel vor der versammelten Gemeinde – die „Ebene 3“. Die Apostelgeschichte gibt uns viele Beispiele für Predigten; die Prediger sind meist Petrus oder Paulus, aber es gibt auch eine Predigt des Stephanus, die eine Zusammenfassung seiner Lehre gewesen sein dürfte. Wir finden in der Apostelgeschichte so viele dieser öffentlichen Wortverkündigungen, dass man fast den Schluss ziehen könnte, dass aus der Perspektive des Lukas (des Autors der Apostelgeschichte) die Entwicklung der jungen Kirche und die Entwicklung der Predigt Hand in Hand gingen.
Doch es gibt noch so etwas wie eine Zwischenform der Wortverkündigung, die als „Ebene 2“ zwischen dem persönlichen Gespräch im Alltag des Christen und der förmlichen Predigt liegt. In einem weniger bekannten Bibelabschnitt beschreibt der Apostel Petrus die Geistesgabe des „Redens im Auftrag Gottes“:
Jeder soll den anderen mit der Gabe dienen, die er von Gott bekommen hat. Wenn ihr das tut, erweist ihr euch als gute Verwalter der Gnade, die Gott uns in so vielfältiger Weise schenkt. Redet jemand im Auftrag Gottes, dann soll er sich bewusst sein, dass es Gottes Worte sind, die er weitergibt. Übt jemand einen praktischen Dienst aus, soll er die Kraft in Anspruch nehmen, die Gott ihm dafür gibt. Jede einzelne Gabe soll mit der Hilfe von Jesus Christus so eingesetzt werden, dass Gott geehrt wird. (1. Petrus 4,10-11)
Petrus benutzt in diesem Abschnitt über die Geistesgaben zwei sehr allgemeine Ausdrücke.4 Der erste ist das griechische Wort für „Reden“: lalein. Im übrigen Neuen Testament bedeutet es mal das alltägliche Gespräch (Matthäus 12,36; Epheser 4,25; Jakobus 1,19), mal ein Predigen, wie bei Jesus (Matthäus 12,46 und 13,10) oder Paulus (2. Korinther 12,19). Was meint Petrus hier?
Wenn wir diesen Abschnitt mit Paulus’ Listen der Geistesgaben in Römer 12, Epheser 4 und 1. Korinther 12 und 14 vergleichen, sehen wir, dass es eine ganze Gruppe von Gaben des Dienstes mit dem Wort gibt, die gleichberechtigt neben der öffentlichen Predigt vor der Gemeinde stehen; dazu gehören die persönliche Ermahnung bzw. Beratung, das Evangelisieren und der Unterricht an Einzelnen und ganzen Gruppen. Der Theologe Peter Davids kommt zu dem Schluss, dass Petrus, wenn er von der Geistesgabe des Redens im Auftrag Gottes spricht, nicht „das alltägliche Gespräch unter Christen“ meint und auch nicht nur das Auftreten von Pastoren „oder anderen Amtsträgern in der Gemeinde“, sondern vielmehr Christen, die „eine dieser Wortgaben“ des Ratens, Lehrens, Unterrichtens und Evangelisierens haben. Bei dieser Art des Verkündigungsdiensts halten die betreffenden Personen keine regelrechten Predigten, sondern vorbereitete Vorträge oder Bibelstunden bzw. Gesprächsrunden, in denen sie das Wort Christi darbieten und erklären.5
Man beachte, wie Petrus hier alle, die das Wort Gottes in irgendeiner Form an andere weitergeben (also nicht nur die Pastoren und Prediger), ermahnt, ihre Aufgabe ernst zu nehmen. Der Christ, der anderen biblischen Unterricht gibt, soll „sich bewusst sein, dass es Gottes Worte sind, die er weitergibt“ (1. Petrus 4,11). Davids merkt an, dass in der wörtlichen Formulierung „Redet jemand, dann als Worte Gottes“ das „als“ „einen gewissen Abstand zwischen den Worten des Redenden und den Worten Gottes“ lässt. Kein Christ darf je beanspruchen, dass seiner Lehrtätigkeit dieselbe Autorität zukommt wie der biblischen Offenbarung. Und doch: Petrus macht hier die absolut zentrale Aussage, dass Christen, die die biblische Lehre an andere weitergeben, nicht einfach ihre eigene Meinung weitergeben sollen, sondern „Gottes Worte“. Nicht nur der, der öffentlich predigt, sondern jeder Christ, der andere lehrt, soll die in der Bibel geoffenbarte Wahrheit nach bestem Wissen und Gewissen darlegen,6 und wenn er die Aussagen der Bibel treu erklärt, werden seine Zuhörer in seinen Worten Gott selber reden hören; was sie hören, ist nicht bloß das Produkt menschlicher Genialität, sondern das Wort Gottes selber.
Jeder Christ sollte die Botschaft der Bibel so gut kennen, dass er sie im Rahmen eines persönlichen Gespräches anderen (Christen wie Nichtchristen) erklären kann (Ebene 1). Doch es gibt viele Wege des „Dienstes am Wort“ auf der Ebene 2, die Gaben der Vorbereitung und der Präsentation verlangen, ohne dadurch zu Predigten (Ebene 3) zu werden. Moderne Beispiele für die „Ebene 2“ sind etwa Briefe und Artikel, Blogs im Internet, Andachten in Sonntagsschule und Kleingruppen, Mentoring, die Moderation von Diskussionsforen über den christlichen Glauben usw.
Dieses Buch möchte all denen eine Hilfe sein, die ihren christlichen Glauben an andere Menschen weitergeben, besonders auf den Ebenen 2 und 3.
Man sollte sich also hüten vor der unbiblischen Vorstellung, dass die Wortverkündigung in der Christenheit lediglich aus der Gemeinde- oder Sonntagspredigt besteht. Eine solche Position legt – so Adam – „der Predigt eine Last auf, die sie nicht tragen kann: die Last, all das zu leisten, was die Bibel von der Wortverkündigung in ihrer ganzen Bandbreite erwartet.“7 Keine Gemeinde sollte sich der Erwartung hingeben, dass die Leben verwandelnde Kraft des Wortes Gottes (Johannes 17,17; vgl. Kolosser 3,16-17 und Epheser 5,18-20) immer und nur durch die Predigt wirkt. Die schönste Predigt reicht nicht aus, um mich Jesus Christus ähnlicher zu machen; dazu brauche ich immer auch andere Christen in meiner Umgebung, die mir „die Botschaft der Wahrheit weitergeben“ (2. Timotheus 2,15), indem sie mich ermutigen, lehren und beraten. Ich brauche auch die Bücher christlicher Autoren, die mich innerlich aufbauen. Es ist auch ein Fehler, anzunehmen, dass die Menschen „draußen“, die das Evangelium brauchen, nur durch Predigten erreicht werden können. Ich selber bin nicht durch Predigten und theologische Vorträge zum Glauben gekommen, sondern durch christliche Bücher. (Überrascht Sie das?) Also: Vorsicht vor dem Klischee, dass die Wortverkündigung in der Gemeinde allein Sache der Sonntagspredigt sei.
Aber so recht Adam auch hat mit seiner Warnung vor der Überbetonung der Predigt – die größte Gefahr für die heutigen Kirchen könnte ganz woanders liegen. Wir leben in einer Zeit, wo viele Menschen gegen jegliche Autoritätsansprüche resistent geworden sind. Unsere Kultur leidet an einer Wahrheitsallergie, deren Überwindung immer größere Anstrengungen erfordert und die die Gefahr für die Kirchen mit sich bringt, die Schlüsselrolle der Predigt für die Verkündigung des Evangeliums aus den Augen zu verlieren.
Edmund Clowney schreibt in seinem Kommentar zu 1. Petrus 4,10:
Es stimmt, dass jeder Christ das Wort Gottes ehrfürchtig behandeln und die Hilfe des Heiligen Geistes suchen sollte, um es an andere Menschen weiterzugeben. Doch es gibt auch Christen, die besondere Geistesgaben für die Predigt … des Wortes Gottes haben … [und] einen besonderen Auftrag, die Herde Gottes zu hüten und zu weiden ([1. Petrus] 5,2). Die Kirche, die sich gegen den Klerikalismus wehrt, läuft ein Stück weit Gefahr, die Bedeutung des Dienstes am Wort Gottes durch die, die [von Gott] zu Hirten der Herde berufen sind, zu vergessen.8
Clowney warnt uns davor, überhaupt keinen qualitativen Unterschied zwischen der Predigt von der Kanzel und der Leitung eines Bibelstudiums in einer Kleingruppe zu sehen. Der Unterschied zwischen diesen beiden Formen der Wortverkündigung hat nicht nur mit Liturgie und Logistik zu tun; es geht nicht nur um die Anzahl der Zuhörer, die Größe des Raumes oder die Akustik. Wer öfters vor einer Gemeinde predigt, der weiß, dass es auch zwischen Predigt und Bibelstunde, ja sogar zwischen einer Predigt und einem Vortrag wesentliche Unterschiede gibt. Man braucht sich nur die Predigten von Petrus, Stephanus und Paulus in der Apostelgeschichte anzusehen, um zu merken, was für eine Kraft in einer Predigt liegt, die „Gottes Worte weitergibt“, und was für eine unerhörte Autorität der Geist Gottes in einen Gottesdienst tragen kann.
Wir werden immer ganz verschiedene Arten der Verkündigung des Wortes Gottes brauchen, aber die Institution der öffentlichen Predigt ist unersetzlich. Adam findet genau die richtige Mitte zwischen den Extremen, wenn er schreibt, dass die Evangeliumsverkündigung einer Gemeinde „kanzelzentriert, aber nicht auf die Kanzel beschränkt“ sein sollte.9
Es gibt also drei Arten bzw. Ebenen der Wortverkündigung, und alle sind sie wichtig und ergänzen einander. Die öffentliche Predigt über Christus in den Versammlungen der Christen (Ebene 3) ist ein einzigartiger Kanal Gottes, um die Menschen zu erreichen und aufzubauen, und bildet die Grundlage für die organischeren, alltäglicheren Formen der Wortverkündigung auf den Ebenen 1 und 2. Und umgekehrt bereitet die gekonnte, treue Vermittlung des Wortes Gottes auf den Ebenen 1 und 2 die Zuhörer auf die Predigt vor. Dieses Buch wendet sich an all die, die in einem religiös immer skeptischeren Zeitalter damit ringen, wie sie den Menschen die Leben verändernde Wahrheit der Bibel nahebringen sollen, ob nun auf der Ebene 1, 2 oder 3. Gleichzeitig bietet es auch dem, der von Berufs wegen predigt und lehrt, eine Einleitung und Grundlegung.10
Eine dieser Frauen – sie hieß Lydia – war eine Purpurhändlerin aus Thyatira, die an den Gott Israels glaubte. Während sie uns zuhörte, öffnete ihr der Herr das Herz, so dass sie das, was Paulus sagte, bereitwillig aufnahm (Apostelgeschichte 16,14).
Als ich Pastor geworden war, fiel mir schon bald auf, wie merkwürdig unterschiedlich die Reaktionen meiner Zuhörer auf meine Predigten waren. Manchmal bekam ich in der Woche nach einer Predigt begeisterte Zustimmung: „Herr Pastor, Ihre Predigt vom Sonntag hat mein Leben verändert!“ – „Ich hatte den Eindruck, Sie sprachen direkt zu mir; ich hab mich gefragt, woher Sie all das über mich wussten.“ – „Ihre Worte schienen von Gott selber zu kommen, das werde ich nie vergessen!“ Und ich dachte: Mensch, da hast du eine starke, vollmächtige Predigt gehalten. Was kann es Schöneres geben für einen jungen Pastor?
Aber schon bald dämmerte es mir, dass andere Gemeindeglieder dieselbe Predigt mit einem achselzuckenden „Na ja, es ging“ abtaten. Oft kommentierte meine Frau Kathy: „Die Predigt war okay, aber nicht eine von deinen besten“ – und am nächsten Tag sagte mir jemand anderes unter Tränen, dass er oder sie durch diese Predigt zu einem anderen Menschen geworden war. Wie passte das alles zusammen? War der Erfolg einer Predigt sozusagen Geschmackssache? Doch diese Erklärung erschien mir doch zu subjektiv. Ich vertraute Kathys Urteil (und meinem eigenen), dass einige meiner Predigten in Aufbau und Darbietung schlicht besser waren als andere. Aber manche der eher mittelmäßigen veränderten Menschenleben, während andere, die ich für sehr gelungen hielt, nicht viel zu bewirken schienen.
Dann las ich eines Tages den Bericht über Paulus’ und Silas’ Gemeindegründung in Philippi – wie sie das Evangelium einer Gruppe von Frauen erklärten und wie eine von diesen, Lydia, gläubig wurde: „Während sie uns zuhörte, öffnete ihr der Herr das Herz, so dass sie das, was Paulus sagte, bereitwillig aufnahm“ (Apostelgeschichte 16,14). Diese Frauen hörten alle dieselbe Predigt, aber nur Lydia scheint von ihr nachhaltig verändert worden zu sein. Wir sollten daraus nicht den voreiligen Schluss ziehen, dass Gott durch eine Predigt nur in dem Augenblick wirken kann, wo sie gehalten wird, oder dass er Paulus damals nicht auch schon beim Formulieren der Predigt geholfen hat. Aber so viel war mir klar: Dass diese Predigt so unterschiedlich auf die Menschen, die sie hörten, wirkte, musste mit dem Wirken des Geistes Gottes zusammenhängen. Vielleicht hat Paulus an Lydia gedacht, als er im 1. Thessalonicherbrief die Wirkung einer Predigt nicht nur in ihren Worten verortete, sondern auch in dem „machtvollen Wirken des Heiligen Geistes“ (1. Thessalonicher 1,5).
Und ich kam zu dem Ergebnis, dass der Unterschied zwischen einer guten und einer schlechten Predigt weitgehend in dem Prediger liegt – in seinen Fähigkeiten und Gaben und der Qualität seiner Vorbereitung. Den Bibeltext verstehen, eine klare Gliederung und einen roten Faden herausarbeiten, diesen überzeugend und mit treffenden Vergleichen, Bildern und Beispielen aus dem Alltag entfalten, Herzenseinstellungen, Motive und kulturelle Prämissen analysieren und sich schließlich fragen, was das Ganze mit dem Alltag der Zuhörer zu tun hat – all dies erfordert Arbeit. Es braucht mehrere Stunden, eine Predigt so vorzubereiten, und es braucht Jahre der Praxis und Übung, um sie gut zu formulieren und zu halten.
Es liegt also vor allem am Prediger, ob seine Predigt gut oder schlecht gemacht ist. Aber ob sie nicht nur gut, sondern auch vollmächtig ist, darüber entscheidet das Wirken des Heiligen Geistes in den Herzen der Zuhörer wie auch in dem des Predigers selber. Die Botschaft in Philippi kam von Paulus; ihre Wirkung auf die Herzen der Hörer kam vom Heiligen Geist.
Konkret bedeutet dies, dass Gott auch Predigten von nur mittelmäßiger handwerklicher Qualität vollmächtig benutzen kann. Was die Antwort eines älteren Pastors erklärt, der um eine Bewertung der beiden großen Prediger Daniel Rowland und George Whitefield gebeten wurde, die im 18. Jahrhundert wirkten. Er sagte, dass beide Männer vollmächtig predigten, aber dass Rowlands Predigten immer auch gut gemacht waren, was bei Whitefield nicht immer der Fall war.11 Egal wie die konkrete Predigt handwerklich war, bei Whitefield spürte man irgendwie immer die Nähe und die Kraft Gottes.
Vielleicht hätten Sie gerne so etwas wie eine Anleitung in sieben Schritten, wie man vollmächtig predigt, sodass Sie nur alles „richtig zu machen“ brauchen, um eine starke, vollmächtige Predigt zu schreiben bzw. zu halten. So ein „Rezept“ kann weder ich noch sonst jemand Ihnen geben, denn das Geheimnis einer vollmächtigen Predigt liegt in den Tiefen der Pläne Gottes und der Kraft seines Geistes verborgen. Was ich hier meine, haben andere mit Ausdrücken wie „Salbung“ zu umschreiben versucht. Ich werde die Rolle, die Ihnen als Prediger in dieser geistlichen Dynamik zukommt, im letzten Kapitel dieses Buches behandeln, aber es gibt, wie gesagt, keine Rezepte. Manche suchen – nicht ganz zu Unrecht – das Geheimnis im Gebetsleben des Predigers. Die Antwort ist gleichzeitig Ja und Nein. Ein tiefes und reiches Gebetsleben ist in der Tat eine wichtige Voraussetzung für vollmächtige, ja auch nur gute Predigten; eine Garantie ist es nicht. Letztlich läuft es darauf hinaus, dass wir unser Bestes tun sollten, unsere Weitergabe der Wahrheit Gottes handwerklich gut zu machen – und es dann Gott überlassen, wie und wie oft er unsere Predigten zur vollmächtigen Verkündigung macht. „Und du begehrst für dich große Dinge? Begehre es nicht!“ (Jeremia 45,5).
Diese Unterscheidung könnte zu der Annahme verleiten, dass der Christ, der Gottes Wahrheit weitergibt, nichts weiter zu tun braucht, als den Bibeltext zu erklären, und dass Gott schon für den Rest sorgen wird. Das ist ein gefährliches Missverständnis und eine Beschneidung der Aufgabe des Predigers.
Theodor Beza war ein jüngerer Kollege und später der Nachfolger des Reformators Johannes Calvin. In seiner Calvin-Biografie erinnert Beza sich an die drei großen Prediger im Genf der Reformationszeit – Calvin selber, Guillaume Farel und Pierre Viret. Farel – so Beza – war der leidenschaftlichste und kraftvollste der drei. Viret war der redegewandteste; die Zuhörer sogen seine geschickten, sprachlich schönen Formulierungen förmlich ein und merkten gar nicht, wie die Zeit verging. Calvin war der tiefgründigste; seine Predigten waren voll der „gewichtigsten Einsichten“. Calvin hatte am meisten Substanz, Viret die größte Beredsamkeit, Farel die größte Wucht, und Beza kommt zu dem Schluss: „Ein Prediger, der eine Kombination dieser drei Männer war, wäre der absolut perfekte Prediger gewesen.“12 Womit Beza zugibt, dass sein großer Mentor, Calvin, kein perfekter Prediger war. Seine Predigten gingen zwar in die Tiefe, aber Viret und Farel konnten die Aufmerksamkeit der Zuhörer besser fesseln, hatten mehr Überzeugungskraft und sprachen mehr zum Herzen der Menschen.
Im ersten „Predigthandbuch“ der Christenheit schreibt der Kirchenvater Augustinus, dass der Prediger nicht nur die Aufgabe hat, zu belehren (lat. probare), sondern auch, zu erfreuen (delectare) und zu erschüttern und aufzurütteln (flectere).13 Augustinus verurteilt den geistlichen Bankrott der heidnischen Philosophen, findet aber gleichzeitig, dass christliche Prediger von ihren Büchern über die Rhetorik lernen können. Das griechische Wort rhetorike erscheint erstmals in Platos Dialog Gorgias, wo es „das Werk des Überredens“ meint.14 Der Altphilologe George Kennedy schreibt, dass die Rhetorik in gewissem Sinne „ein Phänomen aller menschlichen Kulturen“ ist, da die meisten Kommunikationsakte nicht nur das Ziel haben, Informationen weiterzugeben, sondern auch den Glauben, das Handeln oder Fühlen der Empfänger zu beeinflussen.15 Jeder von uns ist ein Stück weit ein Rhetoriker, und wenn es nur darum geht, durch Veränderungen der Lautstärke, der Tonhöhe oder des Tempos etwas zu betonen. Jeder Redner muss Wörter und Bilder wählen, die das Gemeinte erhellen und die Zuhörer ansprechen, und auf die verschiedensten anderen verbalen und nichtverbalen Arten Aufmerksamkeit wecken und beibehalten und Aussagen betonen und gewichten.
Das sah Calvin nicht anders. In seinem Kommentar zu 1. Korinther 1,17, wo Paulus sagt, dass er bei der Predigt des Evangeliums auf „kluge Worte“ verzichtet, fragt Calvin: „Aber steht die Beredsamkeit in unversöhnlichem Widerspruch zum Evangelium? Ist eine Predigt schon verfälscht, wenn sie in schönen Worten gehalten wird?“ Und er antwortet: „Damit verdammt Paulus nicht allgemein jede [rhetorische] Wissenschaft und Bildung als christusfeindlich …“16 Paulus warnt lediglich vor einem Missbrauch der Rhetorik, bei dem diese zum Selbstzweck wird und mit ihrem unterhaltsamen Zierrat die Schlichtheit der biblischen Botschaft mit „Wortglanz und Prunk“ überlagert.17 Lange Geschichten, eine blumige Ausdrucksweise und dramatische Gesten können die Aufmerksamkeit der Zuhörer fesseln, während die Botschaft des Textes untergeht.
Calvin fährt fort, dass wir weder die schlichte noch die rhetorisch gekonnte Darbietung der Wahrheit verachten dürfen, solange beide im Dienste des Bibeltextes stehen. „Damit ist nicht jede Redekunst in der Predigt verworfen; sie ist gut, wenn sie … unter Beweis stellt, dass sie dem Evangelium den ersten Platz einräumt und ohne Selbstgefälligkeit dem Herrn zu dienen bereit ist.“18 Eine Predigt sollte weder eine menschliche Show sein, die bloß unterhaltsam ist, noch ein trockenes Auflisten von Sätzen und Wahrheiten. Echte, geistliche Beredsamkeit hat aus der leidenschaftlichen Liebe des Predigers zur Wahrheit des Evangeliums zu entspringen sowie aus der Liebe zu den Menschen vor ihm, deren ewige Seligkeit davon abhängt, ob sie diese Wahrheit annehmen oder nicht.
Letztlich ist der Prediger immer zwei Hauptinstanzen verantwortlich: dem Wort Gottes und dem menschlichen Hörer. Es genügt nicht, den Weizen zu ernten; wir müssen ihn auch so zubereiten, dass er essbar wird, sonst kann er die Menschen nicht satt machen. Eine gute Predigt entspringt aus einer doppelten Liebe – der Liebe zum Wort Gottes und der Liebe zu den Menschen, die den Wunsch in uns weckt, ihnen Gottes wunderbare Gnade zu zeigen. Und so gilt: Allein Gott kann Herzen öffnen, aber die Menschen, die sein Wort weitergeben, haben die Aufgabe, es treu und genau darzulegen und für die Herzen und das Leben der Zuhörer aufzuschließen.
Die möglicherweise wichtigste Bibelstelle über die Predigt ist 1. Korinther 1,18–2,5.19
Als ich zu euch kam, Geschwister, um euch das Geheimnis zu verkünden, das Gott uns enthüllt hat, versuchte ich nicht, euch mit geschliffener Rhetorik und scharfsinnigen Argumenten zu beeindrucken. Nein, ich hatte mir vorgenommen, eure Aufmerksamkeit einzig und allein auf Jesus Christus zu lenken – auf Jesus Christus, den Gekreuzigten. Außerdem fühlte ich mich schwach; ich war ängstlich und sehr unsicher, als ich zu euch sprach. Was meine Verkündigung kennzeichnete, waren nicht Überredungskunst und kluge Worte; es war das machtvolle Wirken von Gottes Geist. Denn euer Glaube sollte sich nicht auf Menschenweisheit gründen, sondern auf Gottes Kraft. (1. Korinther 2,1-5)
Der Vers 2 lautet in der Elberfelder Übersetzung: „Denn ich nahm mir vor, nichts anderes unter euch zu wissen als nur Jesus Christus, und ihn als gekreuzigt.“ Als Paulus dies schrieb, bestand die Bibel lediglich aus dem, was wir heute das Alte Testament nennen, doch wenn Paulus über diese Texte predigte, „wusste“ er „nichts anderes … als nur Jesus Christus“ – der im ganzen Alten Testament nirgends mit Namen erscheint. Wie das? Nun, Paulus hatte begriffen, dass die ganze Heilige Schrift ein einziger Wegweiser hin zu Jesus und der von ihm gebrachten Erlösung ist; jeder Prophet, Priester und König in ihr deutet voraus auf den, der der große, endgültige Prophet, Priester und König ist. Die „ganze Heilige Schrift“ zu predigen heißt für Paulus, Christus zu predigen – als das große Hauptthema und den innersten Kern ihrer Botschaft.
Die antike Rhetorik erlaubte dem Redner die inventio – die Wahl eines Themas, die Gliederung dieses Themas in seine verschiedenen Teile sowie diverse, ausgeklügelte Methoden der argumentativen Stützung dessen, was er seinen Zuhörern sagen wollte. Doch für Paulus gibt es immer nur ein Thema: Jesus. Wo wir auch hingehen in der Bibel, ist Jesus das Hauptthema. Und auch die Untergliederung des Themas ist nicht menschlichem Gutdünken überlassen, sondern wir haben die Unterthemen und Punkte darzustellen, die der Bibeltext selber uns gibt. Wir müssen uns auf Jesus beschränken – aber nach meiner nunmehr über vierzigjährigen Erfahrung als Prediger kann ich Ihnen versichern, dass die Geschichte dieser einen Person niemals langweilig wird, ist in ihr doch die Geschichte des ganzen Universums und der ganzen Menschheit enthalten und sie ist der große und einzige Generalschlüssel zur Geschichte unseres eigenen Lebens.20
Für Paulus gilt also, dass er nur dann über einen biblischen Text gepredigt hat, wenn er über Jesus gepredigt hat – und zwar Jesus nicht nur als nachahmenswertes Beispiel, sondern als Erlöser der Welt: „Denn Christus ist unsere Gerechtigkeit, durch Christus gehören wir zu Gottes heiligem Volk, und durch Christus sind wir erlöst“ (1. Korinther 1,30).
Paulus sieht Christus als den Schlüssel zum rechten Verständnis jedes biblischen Textes (der erste Aspekt einer guten Predigt) wie auch zum Erreichen und Überzeugen der Herzen der Hörer (der zweite Aspekt). Er schreibt: „Als ich zu euch kam, Geschwister, um euch das Geheimnis zu verkünden, das Gott uns enthüllt hat, versuchte ich nicht, euch mit geschliffener Rhetorik und scharfsinnigen Argumenten zu beeindrucken.“ Dies sieht auf den ersten Blick wie ein Plädoyer gegen jede Art von Kunstfertigkeit beim Predigen aus, aber (wie Calvin aufzeigt) der Rest des Neuen Testaments zeigt, dass Paulus in seinen Predigten sehr wohl Gebrauch von Argumenten, Logik, Rhetorik, Bildung und Wissen machte. In der Apostelgeschichte etwa benutzt Paulus, wie wir noch sehen werden, für verschiedene Zuhörergruppen gekonnt unterschiedliche Argumentationsweisen, und in 2. Korinther 5,11 sagt er, dass er sich bemüht, die Menschen zu „überzeugen“; es kann also nicht sein, dass er keinerlei Strategien zur Erreichung seiner Zuhörer verfolgte.21 Der Neutestamentler Anthony Thiselton versucht, anhand neuerer Ergebnisse der Erforschung der antiken Rhetorik zu verdeutlichen, was Paulus in 1. Korinther 2 mit „geschliffener Rhetorik“ und „Überredungskunst und klugen Worten“ meint. Paulus verwirft jedes verbale Drängeln und Drücken, das den anderen mit der schieren Kraft der eigenen Persönlichkeit und Schlagfertigkeit überfährt und kleinmacht, jedes Haschen nach Beifall, das die Vorurteile, den Stolz und die Ängste der Zuhörer ausnutzt, und jegliches Manipulieren durch gekonnt eingesetzte Geschichten oder Techniken, die den Redner als den großen Sprachvirtuosen und Alleswisser darstellen.22
All diesen Formen des rhetorischen Missbrauchs stellt Paulus die Botschaft von „Jesus Christus, dem Gekreuzigten“ entgegen, aber man beachte, wie er diese Gegenüberstellung meint. Paulus will durchaus die Herzen seiner Zuhörer von Grund auf verändern; er will erreichen, dass sie etwas anderes zum Ziel ihrer tiefsten Liebe, ihrer tiefsten Hoffnung und ihres tiefsten Glaubens machen. Doch diese Veränderung darf nicht durch menschliche Kunstgriffe kommen, sondern nur durch „das machtvolle Wirken von Gottes Geist“ (1. Korinther 2,4), also (wie man auch übersetzen könnte) „durch ein einleuchtendes, kräftiges Überführtwerden, das vom Heiligen Geist selber kommt“23. Was bedeutet das? Thiselton wirft einen Blick auf die weiteren Ausführungen des Paulus und schreibt: „Wie aus 1. Korinther 2,16–3,4 erhellt, ist ‚Geist‘ christologisch zu verstehen.“ In diesem Abschnitt redet Paulus von dem „sich selbst zurücknehmenden Geist, der über sich selbst hinaus auf das Werk Gottes in Christus zeigt“24. Paulus vergleicht sich mit dem Heiligen Geist, der die Aufgabe hat, wie ein starker Scheinwerfer nicht auf sich selber zu zeigen, sondern uns die Herrlichkeit und Schönheit Christi hell zu machen (vgl. Johannes 16,12-15).
Hierin also liegt die Kraft des christlichen Predigers. So hält man nicht einen klugen Vortrag, sondern eine Leben verändernde Predigt. Es geht darum, nicht nur über Christus zu reden, sondern ihn den Menschen zu zeigen, seine Größe sichtbar zu machen, ihn als den zu zeigen, der allen Lobes und aller Anbetung wert ist. Wenn wir dies tun, wird der Heilige Geist uns helfen, denn dies ist sein großer Auftrag in der Welt.
Wir haben die reiche Theologie der Predigt, die wir am Anfang des 1. Korintherbriefes finden, noch nicht ausgeschöpft. Wenn Paulus von einer lebensverändernden Predigt redet, meint er damit nicht nur die innere Welt seiner Zuhörer; er nimmt auch die äußere Kultur in den Blick, in der sie leben.
Denn obwohl sich seine Weisheit in der ganzen Schöpfung zeigt, hat ihn die Welt mit ihrer Weisheit nicht erkannt. Deshalb hat er beschlossen, eine scheinbar unsinnige Botschaft verkünden zu lassen, um die zu retten, die daran glauben. Die Juden wollen Wunder sehen, die Griechen fordern kluge Argumente. Wir jedoch verkünden Christus, den gekreuzigten Messias. Für die Juden ist diese Botschaft eine Gotteslästerung und für die anderen Völker völliger Unsinn. Für die hingegen, die Gott berufen hat, Juden wie Nichtjuden, erweist sich Christus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit. (1. Korinther 1,21-24)
Für den Theologen Don Carson beschreibt Paulus hier die „fundamentalen Götzendienste [seiner] Zeit“25. Paulus gibt eine gekonnte Zusammenfassung der Unterschiede zwischen der griechischen und der jüdischen Kultur. Jede Gesellschaft hat ein Weltbild oder eine „Weltgeschichte“ bzw. ein „kulturelles Narrativ“, das die Identität und den Glauben der Menschen in ihr prägt. Die Griechen schätzten im Allgemeinen Philosophie, Kunst und intellektuelle Leistungen, während die Juden sich eher von Macht und praktischen Fertigkeiten beeindrucken ließen. Paulus hält beiden Weltsichten das Kreuz Jesu entgegen. Eine Erlösung, die nicht durch hohe Gedankenflüge und Philosophie kam, sondern durch einen gekreuzigten Erlöser, war für die Griechen das Gegenteil von Weisheit – Unfug und Torheit. Und für die Juden war eine Erlösung, die durch einen gekreuzigten Erlöser kam und nicht durch einen Befreier, der die Römer aus dem Land jagte, das Gegenteil von Macht – Schwäche. Paulus benutzt das Evangelium, um jede dieser Kulturen mit dem letztlich abgöttischen Wesen ihrer Werte und Sicherheiten zu konfrontieren.
Doch nach dieser Konfrontation geht Paulus noch weiter; er benennt und bejaht die Grundsehnsüchte der beiden Kulturen. Den Griechen sagt er: „Ihr wollt Weisheit. Gut, schaut euch das Kreuz an, das es Gott ermöglicht hat, beides zu sein: gerecht und der, der die Glaubenden gerecht spricht. Ist das nicht Weisheit in ihrer höchsten Form?“ Und den Juden sagt er: „Ihr wollt Macht. Gut, schaut euch das Kreuz an und wie es Gott ermöglicht hat, unsere mächtigsten Feinde – die Sünde, die Schuld, ja den Tod – zu besiegen, ohne uns dabei zu vernichten. Ist dies nicht die höchste denkbare Macht?“
Paulus benennt also das Weltbild jeder dieser Kulturen und konfrontiert sodann die jeweils in ihm steckende Abgötterei – die intellektuelle Hybris der Griechen und die Werkgerechtigkeit der Juden – und zeigt auf, dass die Art, wie sie ihrem höchsten Gut nachjagen, ebenso sündig wie aussichtslos ist. Aber dies ist keine bloße intellektuelle Übung oder clevere rhetorische Strategie, sondern ein Akt der Nächstenliebe. Wir sind soziokulturelle Wesen, und das, was wir im Innersten wollen und wünschen, ist zutiefst geprägt von der menschlichen Gesellschaft, zu der wir gehören. Der christliche Prediger, der einen Bibeltext auslegt und erklärt, sollte daher die Botschaft der Bibel immer in Bezug setzen zu den Grundannahmen und Glaubenssätzen der Kultur seiner Hörer (die ihnen selber gewöhnlich nicht bewusst sind), um ihnen zu helfen, sich selber besser zu verstehen. Wenn dies auf die richtige Art geschieht, führt es dazu, dass die Menschen sich sagen: „Ach so, DARUM denke und fühle ich immer wieder so.“ Und das kann einer der befreiendsten und folgenreichsten Schritte auf der Reise eines Menschen hin zu einem lebendigen Glauben an Christus sein.
Um seine Zuhörer wirklich zu erreichen, muss der Prediger die „Geschichte“, die ihr Weltbild prägt, an strategischen Punkten konfrontieren und sie anschließend gleichsam neu erzählen, auf eine Art, die ihnen zeigt, wie ihre tiefsten Sehnsüchte allein in Christus gestillt werden können. Wie Paulus müssen wir die Menschen über die Schlüsselsehnsüchte und -werte ihrer Kultur erreichen und einladen – einladen zu Christus, der wahren Weisheit, Gerechtigkeit, Macht und Schönheit.
Was ist also eine gute Predigt? Lassen Sie mich das bisher Gesagte zu einer Definition zusammenfassen.
Predigen heißt „das Geheimnis zu verkünden, das Gott uns enthüllt hat“ (1. Korinther 2,1). Es heißt biblisch predigen, in der Auseinandersetzung mit dem Text des Wortes Gottes. Dies bedeutet, dass ich meinen Zuhörern das Wort Gottes zu bringen habe und nicht meine persönliche Meinung. Der Prediger redet im Auftrag Gottes und gibt Gottes Worte weiter (1. Petrus 4,11). Er muss herausarbeiten, was der Text in seinem Kontext bedeutet – sowohl in seinem historischen Kontext als auch im Gesamtkontext der Bibel. Dieser Teil des Dienstes am Wort Gottes ist die Auslegung. Der Prediger erläutert, treu und gewissenhaft, was die Botschaft dieses Textes ist, wobei er stets den Rest der biblischen Lehre mit im Hinterkopf hat; er darf nicht „eine Schriftstelle so erklären, dass sie einer anderen widerspricht“26.
Predigen heißt weiter, Gottes Wort „Juden wie Nichtjuden“ zu verkünden (1. Korinther 1,24). Es geht darum, die Herzen und die Kultur der Hörer zu erreichen – nicht nur ihre grauen Zellen zu informieren, sondern auch ihr Herz, ihre Interessen und Gefühle anzusprechen und sie zur Buße und einem neuen Denken und Verhalten zu bewegen. Eine gute Predigt ist nicht ein Knüppel, der den Willen bricht, sondern ein Schwert, das bis ins Innerste des Herzens dringt (Apostelgeschichte 2,37) und uns schonungslos zeigt, wie und wer wir wirklich sind (Hebräer 4,12). Sie nimmt den Text und seine Auslegung und trägt ihn in die Situation des Hörers hinein, denn wir haben einen Bibeltext erst dann wirklich verstanden, wenn wir begreifen, was er mit uns und unserem Leben zu tun hat. Dies ist die zweite Aufgabe des Predigers – die Anwendung der Aussagen des Textes auf die Hörer –, und sie ist wesentlich komplizierter, als man meistens denkt. Die Herzen und die Kultur ansprechen – beides ist, wie gesagt, miteinander verbunden, denn das Weltbild und die kulturellen Narrativen hinterlassen tiefe Spuren in der Identität, dem Gewissen und dem Realitätsverständnis des Einzelnen. Ein guter Prediger setzt sich nicht mit der Kultur seiner Hörer auseinander, um „relevant“ und „aktuell“ zu sein, sondern um die tiefen Lebensfundamente seiner Hörer freizulegen.
Der Prediger Alec Motyer schreibt, dass der Prediger nicht einer, sondern zwei Instanzen verantwortlich ist:
Erstens der Wahrheit und zweitens diesen Menschen, vor denen er steht. Wie können sie die Wahrheit am besten hören? Wie können wir ihr so Ausdruck verleihen, dass sie sie verdauen können, dass sie aufmerksam zuhören und … nicht unnötig verletzt werden?27
Dies sind die beiden Aufgaben der Predigt und der große Schlüssel zu beiden heißt: Christus predigen. Nein, dies ist nicht eine dritte Aufgabe der Predigt, sondern die Art, wie man die beiden Aufgaben der Auslegung und Anwendung richtig erfüllt. Wir erinnern uns: Für Paulus sind Treue zur Bibel und Christuszentriertheit ein und dasselbe. Ich kann nur dann „richtig“ über einen Text predigen und ihn korrekt in den Gesamtkontext der Bibel einordnen, wenn ich aufzeige, wie seine Themen und Aussagen ihre letzte Erfüllung in der Person Jesu Christi finden. Und ähnlich kann ich die Herzen meiner Zuhörer nicht wirklich erreichen und verändern, wenn ich ihnen nicht über die Worte des Textes hinaus die Schönheit der Person Jesu aufzeige und ihnen begreiflich mache, dass die spezielle Aussage dieses Textes nur durch das Vertrauen auf das Werk Christi geltend gemacht werden kann.
Kathy sagte mir einmal, dass die ersten Abschnitte meiner Predigten gut als Sonntagsschullektionen taugten, aber dass in dem Augenblick, wo ich „zu Christus kam“, der Vortrag zu einer Predigt wurde. Sie haben möglicherweise nichts dagegen, wenn Ihre Zuhörer bei Ihren Predigten fleißig mitschreiben, aber wenn Sie zum Thema „Jesus“ kommen, möchten Sie nicht so sehr, dass sie mitschreiben, sondern dass sie das Mitgeschriebene am eigenen Leib erfahren.
Der berühmte britische Prediger Charles Haddon Spurgeon wurde nicht müde, darauf hinzuweisen, dass jede Predigt den Zuhörern Jesus groß machen muss. Er klagte über Predigten, die „sehr klug … und schön und prächtig“ waren, aber in denen es immer nur um moralische Wahrheiten und rechtes Verhalten und hohe Ideen ging, „aber kein Wort über Christus“. Solche Predigten erinnerten ihn an die Worte Maria Magdalenas: „Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben. Ich hörte nichts über Christus!“28 Spurgeon hat recht. Solange wir nicht Jesus predigen, sondern „die Moral von der Geschichte“ oder zeitlose Wahrheiten oder ein bisschen Lebenshilfe, werden die Menschen nie dazu kommen, dass sie das Wort Gottes verstehen, lieben und ihm gehorchen. Was Spurgeon forderte, ist schwieriger, als es klingt, und seltener, als wir vielleicht glauben.
Der Prediger hat also zwei Aufgaben. Er muss das Wort Gottes und seine Wahrheit lieben und ihm dienen, und er muss die Menschen, vor denen er steht, lieben und ihnen dienen. Wir dienen dem Wort, indem wir den Text klar und deutlich auslegen und dabei jedes Mal das Evangelium predigen. Und wir erreichen die Zuhörer, indem wir ihre Kultur und ihre Herzen ansprechen.
Das müssen wir tun. Und jetzt das, was Gott tun muss: Er schließt sein Wort durch das machtvolle Wirken seines Geistes (vgl. 1. Korinther 2,4) für die Herzen unserer Hörer auf. Laut Paulus kann man nur dann mit echter geistlicher Kraft predigen, wenn man seinen Zuhörern Christus als eine lebendige Realität nahebringt, der sie begegnen und der sie sich öffnen sollen und können. Unsere Predigten müssen unser ehrfürchtiges Staunen über das, was wir in Christus haben, zum Ausdruck bringen. Sie müssen eine ungekünstelte Offenheit ausstrahlen, die dem Hörer zeigt, dass das Herz des Predigers selber ergriffen ist von dem, was er da verkündet, und dass es verwandelt wird. Der gute Prediger strahlt Autorität und Ruhe aus und nicht das verkrampfte Bemühen, dem Publikum zu gefallen oder eine Show abzuziehen. Der Prediger sollte Liebe, Freude, Frieden und Weisheit ausstrahlen. Er sollte ein Schaufenster sein, durch das die anderen seine vom Evangelium verwandelte Seele sehen und sich sagen: „So möchte ich auch werden.“ Und sie sollten etwas von Gottes Gegenwart spüren.
Wie ist das möglich? Es geschieht, wenn wir Christus predigen. Wenn wir den Text gewissenhaft auslegen und jedes Mal das Evangelium predigen wollen; wenn wir die Kultur und die Herzen unserer Zuhörer erreichen und Mitarbeiter des Heiligen Geistes bei seinem Werk in dieser Welt sein wollen – dann müssen wir Christus predigen, bei jedem Bibeltext.
Redet jemand im Auftrag Gottes, dann soll er sich bewusst sein, dass es Gottes Worte sind, die er weitergibt. (1. Petrus 4,11)
Wenn dein Wort offenbar wird, so erfreut es und macht klug die Unverständigen. (Psalm 119,30)
In dem ersten protestantischen Predigthandbuch, The Art of Prophesying (1592), schreibt William Perkins: „Man soll allein das Wort Gottes predigen, in seiner Vollkommenheit und inneren Widerspruchsfreiheit.“29 Vielen von uns heute erscheint dieser Satz als eine Selbstverständlichkeit. Natürlich soll ein christlicher Prediger oder Lehrer die Bibel weitergeben, was denn sonst? Doch in der Zeit, in der Perkins lebte, war dies keineswegs selbstverständlich. Für viele Prediger damals reichte Gottes Gnade allein nicht aus, um die Zuhörer zu überzeugen. „Sie brauchte die Mithilfe der Beredsamkeit. … Die Gläubigen brauchten die Wunderkräfte der Predigt als Stütze für das Wort der Bibel.“30
Die Predigt in England war damals zu einem verbalen Feuerwerk geworden, zu einem Potpourri aus sprachlichen Schnörkeln, Zitaten und Anspielungen auf antike Autoren, dichterischen Bildern und rhetorischen Gipfelstürmereien. Am Anfang stand zwar immer noch der Bibeltext, aber der Entfaltung dieses Textes und seiner Bedeutung widmeten die Prediger nur sehr wenig Zeit. Sie schienen zu glauben, dass die Bibel allein nicht ausreichte; man musste ihr mit dem ganzen Arsenal der Redekunst auf die Sprünge helfen. Das Grundvertrauen in die Kraft und Autorität des Wortes Gottes selber war verloren gegangen.
William Perkins und seine Zeitgenossen wandten sich gegen diese „überkultivierte Redekunst“ ihrer Zeit. Sie fanden, dass das Hauptziel der Predigt verloren gegangen war: dass wir die Bibel selber sprechen und ihre eigene Kraft entfalten lassen. Im ersten Teil seines kurzen Werkes verwendet Perkins viel Zeit auf die Darlegung, dass die Bibel Gottes vollkommene, reine, ewige Weisheit ist und dass sie die Kraft hat, die Gewissen zu überführen und in die Herzen einzudringen.31 Perkins wusste, dass die Grundeinstellung eines Predigers zur Bibel einen erheblichen Einfluss auf seinen Umgang mit ihr hat. Ist uns, die wir die Bibel an andere Menschen weitergeben, klar, dass in ihr die Autorität und Kraft Gottes selber liegt? Wenn die Antwort darauf „Ja“ ist, dann wird es uns wichtiger sein, die Bibel für sich selber sprechen zu lassen, als sie als Beleg für unsere Meinungen zu benutzen. Wie Perkins sagt: „Die Predigt des Wortes ist das Zeugnis Gottes und das Bekenntnis zu Christus, und nicht zu menschlicher Kunst.“ Er beeilt sich hinzuzufügen: „Dies bedeutet nicht, dass Kanzeln Orte sind, denen es an Wissen und Bildung mangelt. … Der Pastor darf, ja muss in seinem Leben die allgemeinen Künste und die Philosophie fleißig nutzen und sollte bei der Vorbereitung seiner Predigt ausgiebig lesen.“ Doch keinesfalls sollte er diese Dinge vor seiner Gemeinde zur Schau tragen.32
Für Perkins besteht der Sinn des Predigens nicht darin, die Früchte der klugen Forschungen oder philosophischen Überlegungen des Predigers vorzutragen. Es darf auch nicht darum gehen, dass man den Eindruck hat, dass Gott einem eine besondere Botschaft oder Erkenntnis aufs Herz gelegt hat, und dann nach einem dazu passenden Bibeltext sucht. Nein, der Prediger hat das an Erkenntnis, Lehren und Anweisungen weiterzugeben, was die Bibel selber sagt – und dabei kann und muss er alle „Künste“ einsetzen, um den Hörern zu helfen, das, was die Verfasser der Bibel meinen, recht zu verstehen. Und all das geschieht im Gehorsam zu der ersten und größten Aufgabe des Predigers: dass er seinen Hörern Gottes Wort bringt und ihnen die ganze Autorität dieses Wortes aufschließt.
Wie macht man das am besten?
Hughes Oliphant Old hat eine maßgebende siebenbändige Geschichte der Predigt verfasst.33 Er behandelt darin die christliche Predigt in jedem Jahrhundert und in jedem Zweig der Christenheit – orthodox, katholisch, protestantisch, evangelikal und pfingstlerisch – sowie auf praktisch allen Kontinenten. Der schiere Umfang und die Vielfalt seiner Untersuchung sind atemberaubend. In der Einleitung zu der Serie benennt er fünf Grundtypen der Predigt, wobei er Grundkonstanten festgestellt hat, die die Jahrhunderte überdauerten. Es sind dies die auslegende, die evangelistische, die katechetische, die prophetische und die Festpredigt.
Die Auslegungspredigt definiert Old als „die systematische Erklärung der Bibel in der regelmäßigen wöchentlichen Versammlung der Gemeinde“.34 Die übrigen vier Predigttypen sehen auf den ersten Blick ganz unterschiedlich aus, aber in einem wichtigen Punkt sind sie alle gleich: Anders als die Auslegungspredigt basieren sie nicht notwendigerweise auf einer bestimmten, einzigen Bibelstelle. Dies liegt daran, dass der Hauptzweck dieser Predigttypen nicht darin besteht, einen konkreten Bibeltext zu untersuchen und zu entfalten, sondern anhand mehrerer Texte einen bestimmten biblischen Begriff oder Gedanken darzustellen. Old nennt dies die „Themapredigt“, und sie kann die bereits erwähnten vier Ziele haben: die Heranführung von Nichtchristen an den Glauben (evangelistische Predigt), die Unterweisung von Gläubigen über bestimmte Punkte des Bekenntnisses und der Theologie ihrer Kirche (katechetische Predigt), die Feier und rechte Begehung kirchlicher Feste wie Weihnachten, Ostern, Pfingsten usw. (Festpredigt) oder die Thematisierung und biblische Beleuchtung einer besonderen historischen oder kulturellen Situation (prophetische Predigt).
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