Norbert Lammert
Wer vertritt das Volk?
Reden über unser Land
Suhrkamp
Vorbemerkung
Die Demokratie steht und fällt mit dem Engagement ihrer Bürgerinnen und Bürger
Abschiedsrede zu Beginn der letzten Sitzung des Deutschen Bundestages in der 18. Wahlperiode, 5. September 2017
Parlamente und Parteien
Man muss es nicht mehr aufregend finden, aber freuen dürfen wir uns durchaus
Rede zum Tag der Deutschen Einheit, Dresden, 3. Oktober 2016
Wenn das nicht gegen unsere Mindeststandards verstößt, dann hat diese Gesellschaft keine Standards mehr
Vortrag bei einer Veranstaltung der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen, Dresden, 31. Oktober 2017
Den Deutschen ist ihr Auto im Zweifelsfall noch lieber als ihre Demokratie
Rede bei der Adenauer Lecture an der Universität zu Köln, 9. Mai 2017
Demokratie bedeutet mehr als die bloße Existenz eines Parlaments
Rede in der Generaldebatte der Vierten Weltparlamentspräsidentenkonferenz, New York, 1. September 2015
Erinnerung und Geschichte
Wie viel Erinnerung braucht Demokratie?
Rede bei den Politikergedenkstiftungen im Zeughauskino des Deutschen Historischen Museums, Berlin, 19. Juni 2017
Wer mitfühlen und mitdenken will, braucht Deutungen des Geschehens
Rede zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus, Deutscher Bundestag, 27. Januar 2016
Im Scheitern erfolgreich. Das doppelte Vermächtnis
Rede zum 67. Jahrestag des Attentats vom 20. Juli, Berlin, 20. Juli 2011
Freundschaften sind ein Geschenk, auf das es keinen Anspruch gibt
Rede vor der Knesset, Jerusalem, 24. Juni 2015
Das selbstkritische Bekenntnis zur Wahrheit ist Voraussetzung für Versöhnung
Einleitende Worte vor der Debatte zu den Deportationen und Massakern an den Armeniern vor 100 Jahren, Deutscher Bundestag, 24. April 2015
Kunst, Kultur und Medien
Der Kunst kann der Staat egal sein, dem Staat die Kunst nicht, und die Kultur schon gar nicht
Festrede zur Eröffnung der Ausstellung »Der frühe Dürer«, Nürnberg, 25. Mai 2012
Kann man überhaupt über Wagner reden, muss man es überhaupt?
Skizzen für die Festrede zum 200. Geburtstag von Richard Wagner, Bayreuth, 22. Mai 2013
Aber wenn es Übel gibt, erledigen sie sich nicht dadurch, dass man sie nicht zur Kenntnis nimmt
Festrede anlässlich der Verleihung des Journalistenpreises der deutschen Zeitungen »Theodor-Wolff-Preis« 2016, Berlin, 7. September 2016
Sprache und Autoren
Jedenfalls bin ich heilfroh, Reden nur halten, nicht aber analysieren zu müssen
Rede anlässlich des 50. Geburtstags des Seminars für Allgemeine Rhetorik, Tübingen, 2. Juni 2017
Meine Heimat ist das gesprochene Persisch und das geschriebene Deutsch
Laudatio auf Navid Kermani bei der Verleihung des Heinrich-von-Kleist-Preises, Berlin, 18. November 2012
Sie wollte doch keine Literatur schreiben, sondern nur Halt finden
Laudatio auf Herta Müller bei der Preisverleihung der »Schärfsten Klinge«, Solingen, 28. November 2014
Warum die Menschen so sind, wie sie sind
Ansprache beim Trauerempfang aus Anlass der Beisetzung von Imre Kertész, Budapest, 22. April 2016
Religion und Gesellschaft
Zwischen Reformation und Resignation – Wie viel Religion erträgt eine aufgeklärte, liberale Gesellschaft?
Rede beim Jahresempfang des Sprengels Hildesheim-Göttingen der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover, Hildesheim, 31. Mai 2017
Im Namen der Toleranz ist es erlaubt und manchmal dringend geboten, Intoleranz nicht zu tolerieren
Rede zur Eröffnung der Lessingtage im Hamburger Thalia Theater, 29. Januar 2017
Globalisierung und Europa
Sich eine andere als eine globale Welt vorzustellen, gelingt selbst Philosophen nicht mehr
Rede beim 21. Deutschen Bankentag, Berlin, 6. April 2017
Wohin die Europäische Union steuert, kann niemand verbindlich sagen
Rede beim 44. Halleschen Wirtschaftsgespräch, Halle, 23. Mai 2017
Für die meisten Probleme, die es heute gibt, würden sich frühere Generationen beglückwünschen
Festrede bei der Deutsch-Französischen Konferenz der Konrad-Adenauer-Stiftung, der Städte Aachen und Reims und der Europäischen Stiftung Aachener Dom, Reims, 7. April 2017
Die gesamte europäische Geschichte ist eine Migrationsgeschichte
Rede in der Maison Heinrich Heine, Paris, 17. Juni 2016
Europa ist nicht nur ein großes Versprechen, es ist auch eine große wechselseitige Verpflichtung
Rede vor dem serbischen Parlament, Belgrad, 15. Juni 2017
Politiker und ihre Zeit
Auch unter eskalierendem Terror war Widerstand nötig und möglich
Einleitende Worte zur Umbenennung von Parlamentsgebäuden in Otto-Wels-Haus und Matthias-Erzberger-Haus, Deutscher Bundestag, 23. März 2017
Der Wahrheit ins Gesicht zu schauen
Würdigung von Bundespräsident Richard von Weizsäcker, Deutscher Bundestag, 5. Februar 2015
Europa ist unsere Zukunft. Wir haben keine andere
Würdigung von Hans-Dietrich Genscher und Guido Westerwelle, Deutscher Bundestag, 14. April 2016
Heiterkeit und Härte
Würdigung von Bundespräsident Walter Scheel, Deutscher Bundestag, 7. September 2016
Nicht nur ein großer Redner, sondern vor allem ein leidenschaftlicher, gelegentlich provozierender Debattierer
Würdigung von Bundeskanzler Helmut Schmidt, Deutscher Bundestag, 12. November 2015
Legendär sind seine integrierende Kraft wie seine polarisierende Wirkung
Würdigung von Bundeskanzler Helmut Kohl, Deutscher Bundestag, 22. Juni 2017
Schlussbemerkung:Das eigene Land zuerst?
Demokratische Haltung erwächst in Deutschland mehr als irgendwo sonst aus dem Wissen um die Geschichte
Ansprache zur Eröffnung der 16. Bundesversammlung, Deutscher Bundestag, 12. Februar 2017
Nein, Sprache ist nicht das einzige Werkzeug der Politik, es gibt auch andere handfeste, auch gewalttätige Formen zur Verdeutlichung von Ansprüchen und zur Durchsetzung von Interessen. Es ist zweifellos eine zivilisatorische Errungenschaft im Zusammenleben der Menschen, Konflikte untereinander argumentativ auszutragen statt mit physischer Gewalt. Moderne, aufgeklärte Politik vollzieht sich in Sprache. Sie artikuliert sich in geschriebenen Texten und sie formt sich über das gesprochene Wort.
Die Demokratie ist die einzige Staatsform, die die freie Rede nicht nur zulässt, sondern braucht. Sie baut geradezu auf Rede und Gegenrede als probates Mittel, um politisches Denken und Handeln öffentlich zu erklären, zu rechtfertigen und im Werben um Zustimmung Mehrheiten zu schaffen. Reden können und sollen Orientierung bieten. Gerade im Zeitalter von Tweets und Kurzstatements gibt die Rede Raum, um die Komplexität politischer Fragen differenziert darzustellen, Sachverhalte, mögliche Lösungswege und deren Konsequenzen zu erklären. Das ist in der Regel eine anspruchsvolle und deshalb ernste Sache, aber im politischen Alltag darf Sprache auch Humor, gelegentlich auch Ironie ausdrücken. Denn für die Politik gilt wie im richtigen Leben: Ernsthaftigkeit und Leichtigkeit schließen sich nicht aus. Mit finsterer Miene und schrillem Ton wird kein Problem leichter gelöst.
Ein Buch mit Reden ist ein uneinlösbares Versprechen. Schließlich wird hier die Rede als gesprochener und gehörter Text wieder zum gelesenen Geschriebenen. Für die Resonanz einer Rede sind aber – im Unterschied zu anderen Textformen – Gestik, Mimik und Stimme nicht unerheblich, im Gegenteil: Sie sinds für die Glaubwürdigkeit des Redners mitentscheidend. Die unmittelbare Wirkung eines gesprochenen Textes hängt stark davon ab, wie etwas gesagt wird, jedenfalls nicht allein davon, was gesagt wird. Und nicht zuletzt lebt die Rede von der Interaktion des Sprechenden mit seinen Zuhörern. Der Reiz einer Rede in ihrer verschriftlichten Form besteht hingegen in ihrem Charakter als Dokument der Zeitläufte.
Die hier versammelten Reden habe ich in den vergangenen Jahren zu ganz verschiedenen Anlässen an unterschiedlichen Orten in Deutschland wie im Ausland gehalten. Die exemplarische Auswahl umfasst Gedenkreden zu wichtigen Ereignissen der deutschen Geschichte, Trauerreden auf bedeutende Repräsentanten unseres Staates, Festreden zu Ausstellungseröffnungen und Jubiläen, Dankreden bei Preisverleihungen, Würdigungen verdienter Künstler, Fachreden bei Kongressen und Grundsatzreden zur politischen Lage bei Staatsakten wie dem Tag der Deutschen Einheit oder anlässlich der Wahl des Bundespräsidenten. Sie spiegeln Herausforderungen der vergangenen Jahre und berühren die großen Themen unserer Zeit, ob mit Blick auf das zusammenwachsende Europa oder auf die Chancen und Risiken der Globalisierung. Die Themensetzung ergab sich aus den repräsentativen Aufgaben meines über zwölf Jahre ausgeübten Amtes als Bundestagspräsident – und sie folgte auch persönlicher Neigung, etwa bei den Themen aus Kunst, Kultur und Religion. Zusammen verdeutlichen sie meinen Blick auf Land und Leute, auf unseren Staat, die Demokratie und die Lektionen aus unserer Geschichte sowie auf Persönlichkeiten, die für Deutschland Bedeutendes geleistet haben oder mir persönlich wichtig sind.
Für den Nachhall einer Rede ist der Ort, an dem sie vorgetragen wird, von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Einige der hier abgedruckten Reden habe ich im Plenum des Deutschen Bundestages gehalten, dem zentralen politischen Forum unserer Republik und meine Wirkungsstätte über 37 Jahre. Zuletzt trat ich hier am 5. September 2017 vor die Abgeordneten – um mich zu verabschieden und um mich zu bedanken, vor allem aber um noch einmal als Redner für das zu werben, was ich für unabdingbar halte, wenn wir die Grundlagen bewahren wollen für die glücklichsten Zeiten, die dieses Land je hatte.
Norbert Lammert, November 2017
Ich begrüße Sie alle herzlich zur letzten Plenarsitzung des Deutschen Bundestages in der 18. Wahlperiode. Für viele Kolleginnen und Kollegen – auch für mich – ist dies zugleich die letzte Sitzung als gewählte Abgeordnete hier im Hohen Haus. Nicht wenige von uns haben in der Zeit ihrer Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag mit der Überwindung der Teilung unseres Landes die größte, spektakulärste und zugleich friedliche Veränderung in der jüngeren Geschichte unseres Landes nicht nur miterlebt, sondern auch aktiv mitgestaltet.
Um zu würdigen, was wir heute längst für selbstverständlich halten, muss man gelegentlich daran erinnern, wie es vorher war. Als ich 1980 zum ersten Mal in den Deutschen Bundestag gewählt wurde, war Deutschland geteilt und Europa auch, in zwei rivalisierenden Militärbündnissen organisiert, die sich bis an die Zähne bewaffnet an einer durch Mauer und Stacheldrahtzäune befestigten deutsch-deutschen Grenze gegenüberstanden. Damals, Anfang der 1980er-Jahre – Bundeskanzler war Helmut Schmidt –, wurde innerhalb und außerhalb des Parlamentes leidenschaftlich über den sogenannten NATO-Doppelbeschluss gestritten, den die einen für den Anfang vom Ende der westlichen Zivilisation hielten und bekämpften und die anderen für die Voraussetzung der territorialen Integrität der westlichen Staatengemeinschaft.
Unter den Bedingungen des Kalten Krieges und – wie fast alle glaubten – den damit verbundenen unverrückbaren Verhältnissen im eigenen Land wie in Europa haben wir in den 1980er-Jahren im Deutschen Bundestag vorsichtig damit begonnen, dem zunächst in einer ehemaligen Pädagogischen Akademie provisorisch untergebrachten Deutschen Bundestag angemessene Arbeitsbedingungen zu verschaffen, und haben schließlich den Bau eines neuen Plenarsaales beschlossen, der, als er fertig war, nicht mehr gebraucht wurde. Denn inzwischen war die Mauer in Berlin gefallen und mit der Mauer zugleich die Verhältnisse, die scheinbar ein für alle Mal in Beton gegossen waren. Wenn wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesem Jahr, wie in jedem Jahr, am 9. November an den Fall der Mauer 1989 erinnern, dann ist seitdem so viel Zeit vergangen, wie die Mauer überhaupt gestanden hat: 28 Jahre.
Der Bau wie der Fall der Mauer waren das Symbol der politischen Kräfteverhältnisse in Europa und ihrer Veränderungen. Auch der Deutsche Bundestag hat sich in dieser Zeit, vor und nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit und nach dem Umzug von Parlament und Regierung von Bonn nach Berlin, natürlich immer wieder verändert, sich immer wieder neu zusammengesetzt; aber im Wesentlichen arbeitet er in Berlin ganz genau so, wie es in Bonn eingeübt worden war. Vieles hat sich verändert, vieles hat sich bewährt und ist geblieben.
Der Deutsche Bundestag ist im Vergleich zu anderen Parlamenten innerhalb und außerhalb der Europäischen Union in seinen verfassungsmäßigen Aufgaben, in seiner Zusammensetzung und in seiner Ausstattung stärker und einflussreicher als die meisten Parlamente auf diesem Globus. Für Minderwertigkeitskomplexe besteht kein Anlass. Aber der Deutsche Bundestag ist nicht immer so gut, wie er sein könnte und vielleicht auch sein sollte. Dass Parlamente Regierungen nicht nur bestellen, sondern auch kontrollieren, ist im Allgemeinen unbestritten; im konkreten parlamentarischen Alltag ist der Eifer bei der zweiten Aufgabe nicht immer so ausgeprägt wie bei der ersten.
»Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages […] sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.«
So steht es im Grundgesetz. Und ganz genau so ist es auch gemeint.
Dass die Regierungsbefragung in jeder Sitzungswoche des Deutschen Bundestages noch immer zu den Themen stattfindet, die die Regierung vorgibt und nicht das Parlament, ist unter den Mindestansprüchen, die ein selbstbewusstes Parlament für sich gelten lassen muss.
Das wird auch dadurch nicht völlig ausgeglichen, dass es inzwischen immerhin gelungen ist, sicherzustellen, dass leibhaftige Mitglieder der Bundesregierung an der Regierungsbefragung teilnehmen.
Wir haben, liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesem Haus zweifellos immer wieder herausragende Debatten erlebt; aber bei selbstkritischer Betrachtung sollten wir einräumen, dass in der Regel hier im Hause immer noch zu häufig geredet und zu wenig debattiert wird.
Wir beraten in jeder Legislaturperiode einige Hundert Gesetzentwürfe; ich glaube, eher zu viele als zu wenige.
Dass wir gelegentlich offensichtlich Dringliches vertagen und dafür weniger Wichtiges für dringlich erklären, dazu fällt mir mindestens ein prominentes Beispiel ein, das ich jetzt nicht mehr ausdrücklich vortrage.
Wir haben uns, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, von der Asylgesetzgebung in den 1990er-Jahren über die Föderalismusreformen bis hin zum kürzlich verabschiedeten neuen Länderfinanzausgleich einen allzu großzügigen Umgang mit unserer Verfassung angewöhnt und sie häufiger und immer umfangreicher, regelmäßig auch komplizierter verändert, als es ihrem überragenden Rang und dem Respekt entspricht, den wir dem Gestaltungsanspruch künftiger Parlamente und ihrer Mehrheiten schulden.
Hier im Deutschen Bundestag schlägt das Herz der Demokratie, und hier im Bundestag heißt auch hier im Bundestag, nicht in der Geheimschutzstelle des Deutschen Bundestages.
Verlässlich kann und muss es in dem gemeinsamen, aber nicht immer präsenten Bewusstsein schlagen, dass eine vitale Demokratie nicht daran zu erkennen ist, dass am Ende Mehrheiten entscheiden, sondern daran, dass auf dem Weg bis zur Entscheidung Minderheiten ihre Rechte wahrnehmen können.
Dafür zu sorgen, ist die nicht immer einfache, aber nach meinem Verständnis vornehmste Aufgabe des Parlamentspräsidenten.
Umso dankbarer bin ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen dieser wie der beiden vorhergehenden Legislaturperioden, dass Sie mich gleich dreimal, für insgesamt zwölf Jahre, in dieses Amt gewählt haben. Ich habe es gerne, nach besten Kräften und gelegentlich auch mit einem gewissen Vergnügen ausgeübt, und ich empfinde es als Privileg meiner Biografie – neben dem Glück, in einem freien Lande zu leben –, meinem Land an dieser prominenten Stelle dienen zu können.
Eine schönere, anspruchsvollere Aufgabe hätte es für mich nicht geben können. Deswegen möchte ich mich bei allen bedanken, die mich dabei in diesen Jahren begleitet und unterstützt haben: bei Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, bei den Fraktionen, bei den Parteien, bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundestagsverwaltung, den vielen Unsichtbaren, ohne die dieses Parlament nicht so leistungsfähig sein könnte, wie es glücklicherweise ist, bei den Medien für mal diese und mal andere Berichterstattungen und insbesondere bei den Wählerinnen und Wählern.
Vieles aus diesen Jahren wird mir und vermutlich all denen, die dabei gewesen sind, ganz gewiss in Erinnerung bleiben: die erste Rede eines deutschen Papstes vor einem gewählten deutschen Parlament – auch das –, die denkwürdige gemeinsame Sitzung des Deutschen Bundestages mit der französischen Nationalversammlung hier im Reichstagsgebäude aus Anlass des 50. Jahrestages des Élysée-Vertrages – damals konnte man gewissermaßen besichtigen, wie nahe wir uns inzwischen sind und wie gründlich sich dieses Europa verändert hat –, die großen Ansprachen zum Beispiel des israelischen Staatspräsidenten Schimon Peres oder des damaligen polnischen Staatspräsidenten Bronislaw Komorowski zur Erinnerung an traumatische Ereignisse unserer gemeinsamen Geschichte, aber auch die Auftritte von Navid Kermani und Wolf Biermann zum Geburtstag des Grundgesetzes und zum Jahrestag des Mauerfalls, die sich jeweils auf ihre Weise von dem bei solchen Gelegenheiten im Hohen Haus Erwarteten und Üblichen deutlich unterschieden.
Und dass mal den einen dies und mal den anderen jenes nicht nur gefallen hat, das war zugegebenermaßen eingepreist.
Ich weiß nicht, ob es kühn ist, nach dem Dank zum Schluss noch eine Bitte vorzutragen – oder am liebsten gleich zwei.
Zunächst an die Mitglieder des nächsten und künftiger Bundestage: Bewahren Sie sich bitte, wenn eben möglich, die nach den Abstürzen unserer Geschichte mühsam errungene Fähigkeit und Bereitschaft, über den Wettbewerb der Parteien und Gruppen hinweg den Konsens der Demokraten gegen Fanatiker und Fundamentalisten für noch wichtiger zu halten.
Ich habe in den vergangenen Jahren viele, viele Parlamente kennengelernt und erlebt, und wenn ich auf irgendetwas tatsächlich stolz bin, dann darauf, dass dieses Parlament mehr als irgendein anderes, das ich je erlebt habe, bereit und in der Lage ist, wenn es wirklich wichtig ist, das gemeinsame Suchen und Vertreten gemeinsamer Lösungen für noch wichtiger zu halten als den üblichen Konkurrenzreflex.
Es muss auch in Zukunft möglich sein, bei den ganz großen Problemen und Streitfragen, die polarisieren und das Land zu spalten drohen, Mehrheiten in diesem Parlament zu suchen und zu finden, die größer oder anders sind als die Mehrheiten, über die eine jeweilige Koalition ohnehin verfügt.
Dann habe ich eine Bitte an die Wählerinnen und Wähler: Nehmen Sie bitte das Königsrecht aller Demokraten, in regelmäßigen Abständen selbst darüber befinden zu können, von wem sie regiert werden wollen, so ernst, wie es ist.
Das ist für uns heute scheinbar eine Selbstverständlichkeit; aber dieser Zustand ist, wie wir alle wissen, weder der Normalzustand der deutschen Geschichte, noch ist es die Regel für die ganz große Mehrheit der heute auf diesem Globus lebenden Menschen. Viele Millionen Menschen in aller Welt beneiden uns um die Einflussmöglichkeiten, die wir haben und die ihnen vorenthalten sind.
Autoritäre Regime brauchen kein bürgerschaftliches Engagement. Sie mögen es nicht, sie behindern es, und wenn es nicht anders geht, verbieten sie es. Die Demokratie braucht es.
Und wir wissen aus noch nicht ganz so lange zurückliegenden Phasen der deutschen Geschichte, dass auch Demokratien ausbluten können, dass sie ihre innere Kraft verlieren, wenn sie die Unterstützung der Menschen verlieren, für die es sie gibt. Die Demokratie steht und fällt mit dem Engagement ihrer Bürgerinnen und Bürger. Das ist die wichtigste Lektion, die ich in meinem politischen Leben gelernt habe, und dieser Einsicht und dieser Verantwortung werde ich verpflichtet bleiben. In diesem Sinne bleiben wir ganz sicher miteinander verbunden.
Man muss es nicht mehr aufregend finden, dass wir – mehr als ein Vierteljahrhundert nach Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands – unseren Nationalfeiertag schon zum zweiten Mal hier in Dresden feiern. Aber freuen dürfen wir uns durchaus darüber, dass selbstverständlich geworden ist, was über Jahrzehnte völlig ausgeschlossen schien: Einheit in Freiheit.
Man darf sogar dagegen sein. Aber diejenigen, die heute am lautesten schreien und pfeifen und ihre erstaunliche Empörung kostenlos zu Markte tragen, haben offensichtlich das geringste Erinnerungsvermögen daran, in welcher Verfassung diese Stadt und dieses Land sich befunden haben, bevor die Deutsche Einheit verwirklicht werden konnte.
Mein besonderer Respekt gilt all den Menschen in Dresden, Sachsen und Thüringen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin, die wissen, was sie selbst in diesen Jahren geleistet haben und nicht vergessen haben, welche Unterstützung sie dabei von anderen erhalten haben.
Die erste Dresdner Einheitsfeier 2000 hat eine große deutsche Zeitung unter der Überschrift »Bratwurst und Barock« als Veranstaltung beschrieben, bei der »den Deutschen an diesem zehnten Jahrestag der wiedererlangten Einheit das fröhliche Feiern nicht so recht gelingen will«. Seitdem ist manches anders geworden – in diese wie in jene Richtung. Rundum fröhlich ist Dresden auch in diesem Jahr nicht – und Deutschland auch nicht.
Das Jahr 2016 macht Zusammenhänge, aber auch Spannungen deutlich, mit denen Europa und seine Nachbarn im 21. Jahrhundert zu tun haben:
In Großbritannien haben die Wähler in einer Volksabstimmung mit knapper Mehrheit beschlossen, aus der Europäischen Union auszutreten. Die junge Generation, die von dieser Entscheidung am längsten betroffen sein wird, hat daran am wenigsten teilgenommen und damit die Mehrheit gegen die eigenen Interessen erst ermöglicht.
In der Türkei haben Teile der Armee die demokratisch gewählte Regierung durch einen Putsch gewaltsam stürzen wollen und sind am Widerstand der Bevölkerung gescheitert, die nun die bittere Erfahrung macht, dass die Verfassungsordnung nicht nur von Militärs herausgefordert wird.
In Syrien und den angrenzenden Regionen erleben die Menschen nun schon im fünften aufeinanderfolgenden Jahr die gnadenlose Anwendung brutaler militärischer Gewalt, die Hunderttausenden das Leben gekostet und Millionen aus ihren zerstörten Heimatorten vertrieben hat. In Aleppo ist an diesem Wochenende das letzte noch funktionstüchtige Krankenhaus bombardiert worden.
Auch an der östlichen Grenze Europas dauern die militärischen Auseinandersetzungen zwischen Russland und der Ukraine ebenso an wie die völkerrechtswidrige Annexion der Krim.
Allein diese Konflikte zeigen deutlich, dass die europäische Friedensordnung, wie sie in der Charta von Paris im Jahr 1990 von den europäischen Mitgliedsstaaten der KSZE, den USA, Kanada, der Sowjetunion und der Türkei feierlich bekräftigt wurde, weder selbstverständlich war noch ein für alle Mal gesichert ist.
Die Unterzeichner bekundeten damals ausdrücklich die Anerkennung nationaler Selbstbestimmung, die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten und die Unantastbarkeit der bestehenden Grenzen. Es war ein Glücksversprechen – und es richtete sich an einen historisch zerstrittenen Kontinent, der wie unser Land lange geteilt war und dem – wie Deutschland auch – Einheit und Demokratie nun dauerhaft beschieden sein sollten.
Der Triumph der Demokratie in ganz Europa war nicht »das Ende der Geschichte«, wie kluge Beobachter voreilig verkündeten. Die Geschichte war offen – und das ist sie auch heute. Wir Deutsche haben damals eine neue Chance bekommen und wir haben sie genutzt – mit kräftiger Unterstützung unserer Nachbarn und Freunde. Wir haben Brücken gebaut, im Innern und nach außen. Sie alle haben das Land gestaltet im Bewusstsein unserer besonderen deutschen Geschichte.
Meine Damen und Herren,
vor 100 Jahren, im Dezember 1916, mitten im ersten Weltkrieg, erhielt das Eingangsportal unseres Parlaments in Berlin als Widmung die markante Inschrift: »Dem deutschen Volke«, das Reichstagsgebäude selbst war damals bereits 22 Jahre alt.
Die Festlegung auf eine Inschrift war im Kaiserreich ebenso umstritten wie die Volksvertretung selbst. Dem Kaiser, dem das Parlament ebenso entbehrlich schien wie das dafür errichtete Reichstagsgebäude, wurden die Worte »Dem deutschen Reich« vorgeschlagen, Wilhelm II. plädierte für den Schriftzug »Der deutschen Einigkeit« – er misstraute dem Parlament als einem Ort widerstreitender Meinungen und Interessen und beschwor die nationale Geschlossenheit.
Alles nur Geschichte? Die vor einhundert Jahren beschlossene Widmung »Dem deutschen Volke«, die dem im Kriegsverlauf zunächst gewachsenen Selbstvertrauen der meisten damaligen Parlamentarier entsprach, konnte unmittelbar vor Weihnachten 1916 montiert werden. Es war das Jahr brutaler deutsch-französischer Schlachten um Verdun und an der Somme, an deren Ende es ohne wesentliche Verschiebung des Frontverlaufs und damit ohne Geländegewinne auf beiden Seiten mehr als hunderttausend Tote gab. Die Lettern der Widmung waren aus eingeschmolzenen französischen Kanonenkugeln gegossen – erbeutet in den Befreiungskriegen gegen Napoleon.
Die damit beauftragte Bronzegießerei Loewy gehörte einer jüdisch-deutschen Familie, deren Sohn sich vom Judentum abgewandt hatte. Er ließ sich taufen, und nachdem er sich 1918 hatte adoptieren lassen, glaubte er sich mit seinem neuen Namen Erich Gloeden sicher – zu sicher. Von den Nationalsozialisten wurde er verhaftet, weil er Verfolgten geholfen hatte – darunter auch einem General aus dem Widerstand des 20. Juli. Gloedens Frau, seine Schwiegermutter und er selbst wurden im November 1944 in Plötzensee durch das Fallbeil getötet.
Geschichte. Die Nationalgeschichte jedes Landes ist die Summe der vielen persönlichen Geschichten von Menschen, die meist unbeobachtet bleiben oder schnell vergessen werden. Geschichten wie die Erich Gloedens zählen zu unserem historischen Erbe. Seine Geschichte zeigt beispielhaft, wie in unserem Land noch vor wenigen Generationen Menschen ausgeschlossen wurden aus der Nation, deren selbstverständliche Mitglieder sie waren, wie sie Rechte und Schutz verloren, ausgeliefert waren – in einer Zeit, da die Weimarer Republik zerschlagen, der Reichstag ausgebrannt, das Parlament entmachtet und politische Gegner an Leib und Leben bedroht waren.
Diese Erfahrungen sind uns Verpflichtung und sie lassen uns gerade am Nationalfeiertag auch darüber nachdenken, wie und was sich in den vergangenen einhundert Jahren verändert, glücklich gewandelt hat, wer und was deutsch ist und wen Deutschland heute in seine Rechtsordnung einschließt – für wen die gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestages unter der Widmung »Dem deutschen Volke« Gesetze debattieren und beschließen.
Angesichts vieler Veränderungen, der objektiven Schwierigkeiten und der bisweilen auch zu Unrecht aufgetürmten scheinbaren Probleme, die uns heute beschäftigen, steht außer Frage, dass »dem deutschen Volke« selbst aufgegeben ist, nach einer zeitgemäßen Bestimmung dessen zu suchen, was Deutschland im 21. Jahrhundert sein will. Das wissen wir gegenwärtig offensichtlich nicht so genau. Darüber darf und muss gestritten werden. Wer aber in diesem Streit das Abendland gegen tatsächliche und vermeintliche Bedrohungen verteidigen will, muss seinerseits in dieser Auseinandersetzung den Mindestansprüchen der westlichen Zivilisation genügen: Respekt und Toleranz üben und die Freiheit der Meinung, der Rede, der Religion wahren und den Rechtsstaat achten.
Deutschland ist heute anders als vor einhundert Jahren – glücklicherweise – und anders auch als vor 26 Jahren. Deutschland verändert sich, weil sich nicht nur die Welt und unsere Nachbarschaft verändert, sondern auch das Volk in Deutschland. Die unterschiedlichen Lebensgeschichten erzählen, wer wir sind und woher wir kommen, was uns prägt und was wir von den hier geltenden Werten und Regeln erwarten, die im Übrigen dazu dienen, dass alle in Deutschland lebenden Menschen hier ihr Lebensglück suchen können und hoffentlich auch finden. Und wo immer gewohnte Verhaltensmuster von Zuwanderern mit hier geltenden Gesetzen kollidieren, gelten selbstverständlich die hiesigen Regeln. Für alle. Ausnahmslos.
Aus einem Brief zum scheinbar immer wiederkehrenden Thema Flucht und Vertreibung: »Unser Boot ist hoffnungslos überladen. Der Korb schwebt schon über dem Meer, als ich den Arm des Mannes zurückreiße. Ich hebe meine Tochter heraus und wickele sie mir vor die Brust. Sie ist erst zwei Tage alt. Ich habe sie noch in der Hafenstadt geboren, am nächsten Tag ging es auf diesen Kahn. Sie schreit kaum. […] Ich selbst spüre nichts. Die Erleichterung kommt erst später, als wir in den Baracken der Notunterkunft sitzen. Wir sind davongekommen, mit unserem Leben. Angekommen sind wir noch lange nicht.» Davongekommen. Angekommen. Das klingt in unseren Ohren wie das Schicksal eines Flüchtlings aus dem Nahen Osten. Es ist aber die Geschichte einer jungen Frau, die 1945 mit ihrer Familie aus Königsberg floh.
Auch in diesem Jahr sind wir immer wieder mit Ereignissen, Bildern und Berichten konfrontiert, die wir uns im 21. Jahrhundert nicht mehr vorstellen wollten.
»Eine Viertelstunde, nachdem wir abgelegt hatten, fiel der Motor unseres Bootes aus. Alle fingen an zu schreien. […] Meine Schwester sprang ins Wasser und fing an, das Boot zu ziehen. Nach einer Weile sprang ich hinterher. In dem Moment konnte ich nicht denken, ich sah nur mein Leben an mir vorbeiziehen.«
Auch diese junge Frau ist über das Wasser geflüchtet. Yusra Mardini, geboren in Syrien, lebt seit etwas mehr als einem Jahr mit ihrer Familie in Deutschland. Im Sommer nahm die 18-Jährige an den Olympischen Spielen in Brasilien teil. Die Schwimmerin startete in der Mannschaft der Flüchtlinge. »Manchmal eröffnet einem das Leben Möglichkeiten, wenn man sie am wenigsten erwartet«, sagt sie.
Dieser Staat, dessen Einheit wir heute feiern, unsere Gesellschaft, kann und will Möglichkeiten eröffnen, ein Leben in Frieden und Freiheit zu führen: »Dem deutschen Volke«, Hiergeborenen und Zugewanderten, Jungen und Alten, Frauen und Männern, Christen, Muslimen und Juden, Armen und Reichen. Vielfalt ist keine Worthülse – längst wohnen hier in Sachsen gebürtige Schwaben, aber auch Tschechen und Polen, haben Brandenburgerinnen Bremer mit türkischen Wurzeln geheiratet, sind einst aus der DDR freigekaufte Berliner vom Rhein zurück an die Spree gezogen, Westfalen haben in Mecklenburg-Vorpommern ihr Glück gemacht, Niedersachsen in Thüringen – als Ministerpräsidenten zum Beispiel. Und ein Dresdner Schauspieler beeindruckt seit Jahren ein millionenstarkes Fernsehpublikum im »Münster-Tatort«.
Deutschland ist ein vitales Land, ein attraktiver Standort, eine vielfältige, bunte Gesellschaft, durch Persönlichkeiten geprägt, die Tradition wie Innovation überzeugend verkörpern:
Ein in Bangkok geborener Oberstleutnant leitet die Big Band der Bundeswehr, eine Chinesin wurde Vizepräsidentin einer bayerischen Universität, eine Syrerin ist in diesem Jahr Weinkönigin in Trier, ein türkischstämmiger Muslim war Schützenkönig einer katholischen Schützenbruderschaft in Werl/Westfalen, und eine Fernsehmoderatorin, deren Familie aus dem Irak stammt, verteidigt die Freiheit sowie die Rechte und Pflichten der Presse in Deutschland gegen demokratiegefährdende Anwürfe. Deutsche Fußball-, Olympia- und Paralympics-Mannschaften sind erfolgreich auch deshalb, weil ihre Mitglieder mit ihren Mannschaftskameraden mit welcher Herkunft und Hautfarbe auch immer gemeinsame Ziele verfolgen und zusammen kämpfen. Unter einer Flagge.
Wir sind heute in der glücklichen Lage, die Einheit, die wir heute feiern, gestalten zu können – anders als die Deutschen über Jahrhunderte ihrer Geschichte. Der Wunsch nach »Einigkeit und Recht und Freiheit« war lange eine wirklichkeitsfremde Vorstellung, so zum ersten Mal formuliert 1841, vor 175 Jahren, geträumt auf einer Insel, im Wind auf der Klippe. Die Insel war Helgoland und gehörte damals nicht zu Deutschland, das es als Nationalstaat noch nicht gab, sondern zum Britischen Königreich.
Der Träumer war Hoffmann von Fallersleben, dessen Sehnsucht nach nationaler Einheit und Freiheitsrechten sein »Lied der Deutschen« zum Ausdruck brachte. Im Jahr darauf wurde der Professor für deutsche Sprache aus dem Lehramt an der Universität Breslau entlassen – seiner politischen Gedichte wegen. Das damalige Recht war nicht auf seiner Seite. Die Einheit war damals noch weit entfernt, die Freiheit war jedenfalls sehr entwicklungsfähig.
In der Geschichte des »Deutschlandlieds« spiegeln sich die Turbulenzen der deutschen Geschichte wie in der Inschrift des Reichstags. Nationalistisch-aggressiv intonierten Soldaten die erste Strophe ebendieses Liedes im Ersten Weltkrieg: »Deutschland, Deutschland über alles«. In diabolischer Einfalt übernahm die nationalsozialistische Führerriege diese erste Strophe sinnwidrig in ihren Propagandafeldzug gegen das eigene und später gegen die anderen Völker. Und es war nur folgerichtig, dass das gleiche Regime die zweite und dritte Strophe verbot. Da war von Recht und Freiheit längst nicht mehr die Rede – und die Einheit des Landes überstand der folgende Krieg auch nicht.
Heute genießen wir wie selbstverständlich Rechte, die Hoffmann von Fallersleben und seinen Zeitgenossen verwehrt waren. Wir leben in staatlicher Einheit, in Recht und Freiheit. Wir leben in Frieden mit unseren Nachbarn. Deutschland ist ein demokratischer Staat. Sicher nicht perfekt, aber gewiss in besserer Verfassung als jemals zuvor. Das Paradies auf Erden ist hier nicht. Aber viele Menschen, die es verzweifelt suchen, vermuten es nirgendwo häufiger als in Deutschland. Wenn das so ist, haben wir eine doppelte Legitimation, darauf zu bestehen, dass dieses Land in seinen Grundorientierungen so bleibt, wie es ist.
Nach einer Anfang dieses Jahres beim Weltwirtschaftsforum in Davos vorgestellten Umfrage unter 16 000 Menschen aus aller Welt, Meinungsführern in Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung, gilt Deutschland mit Blick auf politische Stabilität, wirtschaftliche Prosperität, soziale Sicherheit, Bildung, Wissenschaft und Infrastruktur als »bestes Land« auf dieser Erde.
Das ist vielleicht doch übertrieben. Aber offensichtlich ist: Vieles ist uns gelungen, manches offenbar besser als anderen; doch im Vergleich mit anderen Ländern zeichnen wir uns gerade nicht durch ausgeprägte Zufriedenheit aus. In einem virtuellen Glücksatlas des amerikanischen Gallup-Instituts, das die gefühlten Erfahrungen unter 138 befragten Nationen erfasst, ordnen die Deutschen sich auf Rang 46 ein – zwischen dem Senegal und Kenia. Nach einer neuen Umfrage haben wir uns weiter nach oben gearbeitet, direkt hinter Vietnam. Man muss das nicht für die sprichwörtliche deutsche Bescheidenheit halten.
Wir können und dürfen durchaus etwas mehr Selbstbewusstsein und Optimismus zeigen. Arthur Schopenhauer, in Danzig geboren, in Frankfurt/Main gestorben, der weder die erste deutsche Einheit 1871 erlebt hat noch die zweite 1990, aber in vielen deutschen und europäischen Städten gelebt und Erfahrungen gesammelt hat, darunter auch Dresden, hat eine Beobachtung formuliert, die auch heute noch aktuell scheint: »Ein eigentümlicher Fehler der Deutschen ist, dass sie, was vor ihren Füßen liegt, in den Wolken suchen.« In dieser gesamtdeutschen Begabung sind »Ossis und Wessis« längst ein Herz und eine Seele.
Wir leben in Verhältnissen, um die uns fast die ganze Welt beneidet. Und wir stehen – auch deshalb – vor Herausforderungen, die wir bewältigen müssen und können, wenn wir es wollen.
Die Deutsche Einheit fordert uns alle, die Zufriedenen wie die Unzufriedenen, aber gerade am heutigen Tag dürfen wir uns außer der Wahrnehmung der Rückschläge, Hemmnisse und Zukunftsängste durchaus auch Zufriedenheit erlauben, wenn nicht gar ein Glücksgefühl. Wir sind ein Volk und wir leben jetzt so zusammen, wie es ganze Generationen vor uns nur träumen konnten: in Einigkeit und Recht und Freiheit.
Das sind gleich drei gute Gründe zum Feiern. Mindestens drei. In diesem Sinne wünsche ich uns allen, hier in Dresden und überall im Lande, einen friedlichen und fröhlichen Nationalfeiertag.