Tom Saller
Wenn
Martha
tanzt
Roman
List
Das Buch
Ein junger Mann reist nach New York, um das Notizbuch seiner Urgroßmutter Martha bei Sotheby’s versteigern zu lassen. Es enthält bislang unbekannte Skizzen und Zeichnungen von Feininger, Klee, Kandinsky und anderen Bauhaus-Künstlern.
Martha wird 1900 als Tochter des Kapellmeisters eines kleinen Dorfes in Pommern geboren. Von dort geht sie ans Bauhaus in Weimar – ein gewagter Schritt. Walter Gropius wird auf sie aufmerksam, Martha entdeckt das Tanzen für sich und erringt so die Bewunderung und den Respekt der Bauhaus-Mitglieder. Bis die Nazis die Kunstschule schließen und Martha in ihre Heimat zurückkehrt. In ihrem Arm ein Kind und im Gepäck ein Notizbuch von immensem Wert – für sie persönlich und für die Nachwelt. Doch am Ende des Zweiten Weltkriegs verliert sich auf der Flucht Marthas Spur …
© Anett Kuerten
Der Autor
Tom Saller, geboren 1967, hat Medizin studiert und arbeitet als Psychotherapeut in der Nähe von Köln. Falls er nicht gerade schreibt, spielt er Saxophon in einer Jazzcombo. »Wenn Martha tanzt« ist sein Debütroman.
Von Tom Saller ist in unserem Hause bereits erschienen:
Ein neues Blau
Tom Saller
Wenn
Martha
tanzt
Roman
List
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ISBN 978-3-8437-1709-0
2018 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt
E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Für meine Eltern,
meine Schwester
und
Hedi
Die Vergangenheit ist nicht tot;
sie ist nicht einmal vergangen.
William Faulkner
(2001)
Es ist merkwürdig. In wenigen Minuten werde ich Millionär sein. Vielfacher Millionär. Nicht dass jemand danach gefragt hätte – seit meiner Ankunft bei Sotheby’s scheine ich unsichtbar zu sein.
Das Mindestgebot liegt bei dreißig Millionen Dollar … Ein Betrag, der mir so fern ist wie der Glaube an eine feste Freundin – also Lichtjahre entfernt. Damit passt er ziemlich gut zu dem traumähnlichen Zustand, in dem ich mich seit heute Morgen, seit meiner Landung in New York, befinde.
Als der Taxifahrer den Weg vom Flughafen über die Brooklyn Bridge genommen hat, ist es wie in der Anfangsszene eines Hollywoodfilms gewesen. Je näher wir der gewaltigen Skyline Manhattans kamen, umso höher schossen Gebäude und Häuserfassaden in den Himmel. Gewannen an Wucht und Dominanz, bis jedes Fleckchen Blau verschwunden war und ich mir den Hals hätte verrenken müssen, um irgendetwas anderes zu sehen als Glas und Beton.
Ich blickte in Straßenschluchten mit gelben Taxis und pulsierenden Massen von Menschen mit Kaffeebechern in den Händen. Niemand schien bloß nur zu gehen; alle wirkten enorm zielstrebig, befanden sich auf dem Weg irgendwohin.
Plötzlich überfiel mich der Gedanke umzukehren. Mich in den nächsten Flieger zurück nach Deutschland zu setzen und die ganze Geschichte einfach zu vergessen.
Eigentlich hätte mein Vater an meiner Stelle hier sein müssen, aber er hatte abgewinkt: »Du bist dichter dran, also flieg du auch rüber!«
Ein Vertrauensbeweis? Oder doch eher Ausdruck einer gutversteckten Ängstlichkeit der großen weiten Welt gegenüber?
Aber unsicher fühle ich mich auch. Schließlich bin ich zum ersten Mal raus aus Europa. Vielleicht ist New York schlicht zu groß für mich. Und die gesamte Angelegenheit sowieso.
Es wird sich zeigen.
So oder so.
Ich stamme aus ganz normalen Verhältnissen, was immer das heißen mag. Mein Vater ist gelernter Bankkaufmann, meine Mutter Lehrerin.
Zugegeben, möglicherweise wäre ein bisschen mehr Glanz in Sachen Herkunft nicht schlecht, doch es ist, wie es ist. Meine ältere Schwester hat es nach dem Medizinstudium in die Schweiz verschlagen. Inzwischen arbeitet sie als Assistenzärztin an einem Kantonsspital. Ich behaupte nicht, in ihrem Schatten gestanden zu haben, dennoch ist das Leben neben einem Leuchtturm nicht immer leicht.
Das Haus meiner Eltern ist ein typischer Siebziger-Jahre-Bungalow. Weiß, würfelförmig, in den Hang gebaut. Es steht in einem der besseren Viertel der Stadt. Ursprünglich haben wir zu fünft darin gewohnt. Meine Eltern, meine Schwester, Oma und ich. Bei meiner Großmutter handelt es sich um die Mutter meines Vaters. Sie ist eine lebhafte Frau gewesen, hat gerne geredet, aber immer im letzten Moment die Hand vor den Mund gehalten, als wäre es ihr nicht erlaubt, über bestimmte Dinge zu sprechen. Über ihre Flucht aus Pommern beispielsweise und die Ereignisse damals auf der Wilhelm Gustloff.
Einen Großvater hat es nicht gegeben; jedenfalls nicht im klassischen Sinn. Die Familienlegende sagt, Oma sei im Lager in Dänemark schwanger geworden. Kurz darauf, und noch vor der Geburt meines Vaters, sei mein Großvater an Tuberkulose erkrankt und verstorben. Kriegsschicksal. Oder besser – Nachkriegsschicksal.
Beides nicht gut.
Als alleinerziehende Mutter nach dem Zweiten Weltkrieg, als Fremde im eigenen Land, hat Oma es nicht leicht gehabt. Als protestantischer Flüchtling in einer katholischen Kleinstadt im Rheinland schon gar nicht. Doch schon vorher, in Türnow, hatte sie lernen müssen, dem Neuen mit Vorsicht zu begegnen.
Mehr als schmerzhaft.
Als meine Schwester und ich klein waren, verbrachten wir die Vormittage bei meiner Großmutter, während unsere Eltern arbeiteten. Wenn meine Mutter mittags aus der Schule kam, wurden die Etagen gewechselt. Oma hatte unten im Haus eine kleine Wohnung, die immer irgendwie anders roch als unsere eigene darüber. Es mag am Essen gelegen haben, das sie für sich und uns kochte. Komische Gerichte mit komisch klingenden Namen: Arme Ritter, Kirschen mit Klimpern, Wruken oder Plinsen. Oben gab es stattdessen Pizza, Hähnchenschnitzel oder Mirácoli. Das sind meine Erinnerungen an die frühen Achtziger. Zumindest kulinarisch.
Oma hat häufig mit uns Karten gespielt – Rommé, Canasta und Mau-Mau. Am allerliebsten hat sie Skat gespielt. Sie meinte, das liege in der Familie. Im Alter von sechs oder sieben Jahren konnten meine Schwester und ich problemlos einen Grand Hand erkennen. Spielen und siegen waren eins. Eine Art Inselbegabung, vermute ich.
Meine Großmutter und meine Schwester haben oft über die Vergangenheit geredet; Omas Kindheit und die rätselhafte Frage ihrer Herkunft – Martha, meine Urgroßmutter, hat ihr nie erzählt, wer ihr Vater gewesen ist.
Währenddessen habe ich mich in meine Comics versenkt. Die alten Geschichten interessierten mich nicht. Etwas, das ich inzwischen bereue.
Sehr sogar. Denn Oma ist tot.
Sie ist im vergangenen Jahr gestorben, und damit fing alles an. Ihretwegen bin ich hier in New York, in einer mir völlig fremden Welt.
In ihrem Auftrag sozusagen. Und dem Marthas. Der Frau, die eigentlich meine Urgroßmutter ist, die ich aber vor allem als junges Mädchen vor mir sehe. Wegen ihres Tagebuchs.
Und die eines Tages einfach verschwand.
Hier, in den erstaunlich nüchternen Räumlichkeiten von Sotheby’s, geht’s mir nicht anders als heute Morgen in den Straßen Manhattans. Alle sind beschäftigt, keiner scheint zum Spaß da zu sein. Nie zuvor habe ich mich so fehl am Platz gefühlt. Nach Geld riechende Männer mit festem Händedruck und kräftigen Unterkiefern studieren die Displays ihrer Blackberrys und Palms. An ihrer Seite mannequinhafte Wesen mit langen, schlanken Beinen – beinah schon unwirklich schön. Wieder könnte man meinen, es handele sich um eine Szene aus einem amerikanischen Film. Nur die Hauptrolle wäre eine glatte Fehlbesetzung: Das bin nämlich ich.
Bei genauerem Hinhören erkenne ich außer Englisch weitere Sprachen – Spanisch, Französisch, Italienisch. Ein paar deutsche Stimmen. Und irgendetwas Asiatisches; ich schätze Japanisch.
Meine eigenen Sprachkenntnisse halten sich in Grenzen, was ich vor allem meiner Faulheit auf dem Gymnasium zu verdanken habe. »Have a whale of a time«, begrüßte mich unser Anwalt in der Ankunftshalle des JFK, bevor er mich ins Taxi setzte; er selber hatte noch einen anderen Termin. Have a whale of a time. Vorsicht, es bedeutet nicht das, was ich gedacht habe.
Die Tatsache, dass ich erstmals in meinem Leben in den Staaten bin, hat mit den Angehörigen zu tun oder, besser gesagt, mit den Erben. Sie haben einen Prozess angestrengt. Urheberrechte, kulturelles Erbe, Rückführung – ich habe keine Ahnung. Meinetwegen hätten sie das nicht machen müssen. Ich hätte ihnen ihren Anteil auch freiwillig gegeben. Er steht ihnen zu. Aber anscheinend hat ein cleverer Anwalt ihnen geraten, das Ganze nach amerikanischem Recht auf US-Boden verhandeln zu lassen, um eine möglichst hohe Summe herauszuschlagen.
Ich werde vom Erlös der Auktion ein Drittel abgeben. So lautet der Urteilsspruch. Aber selbst für den Fall, es würde in wenigen Minuten nur das Mindestgebot aufgerufen – es bliebe immer noch ein wahnwitzig hoher Betrag übrig.
Doch das Geld ist mir egal. Wirklich. Es gehört sowieso nur indirekt meiner Schwester und mir. Vater ist der rechtmäßige Besitzer. Ich habe Marthas Tagebuch im Nachlass seiner Mutter gefunden, meiner Großmutter. Folglich ist er der Erbe.
Tatsächlich fällt es mir nicht schwer, mich von einem Vermögen zu trennen, das ich ohnehin nie besessen habe und dessen Dimensionen mir unvorstellbar sind.
Wesentlich schwieriger finde ich es, mich von der Geschichte zu trennen. Von Martha, Otto und den anderen. Bislang haben sie mir gehört. Mir ganz allein.
Ihre Erlebnisse, Gedanken und Gefühle.
Ihre kleinen und großen Geheimnisse.
Monatelang habe ich Marthas Notizen studiert. Immer und immer wieder. Habe Namen, Orte und Daten recherchiert; im Internet Karten aufgerufen, bis mir die Augen brannten. Ich habe Geschichtsbücher und Kunstbände gewälzt, nach regionalen Besonderheiten geforscht. Versucht, ein Gefühl für ihre Welt zu bekommen.
Dann habe ich begonnen zu schreiben. Obsessiv.
Es ist nicht leicht gewesen, einen Anfang zu finden, denn es gibt keinen. Marthas Aufzeichnungen beginnen mittendrin. Also habe ich ihn erfunden.
Den Anfang.
Ich musste es tun. Hatte keine Wahl.
Marthas Erlebnisse haben mich gepackt, ergriffen, mich an den Schreibtisch vor ein leeres Blatt Papier gezwungen und mir einen Stift in die Hand gedrückt. Wegen ihr habe ich mein Germanistikstudium unterbrochen und ihre Geschichte zu meiner gemacht.
Weil sie es ist.
Doch darf ich das Leben meiner Urgroßmutter nehmen und mir dessen Beginn einfach erdenken? Den Auftakt, in Türnow?
Natürlich möchte ich Marthas Erfahrungen und die Menschen, die damit zu tun haben, der Vergangenheit entreißen. Mit einem kräftigen Ruck den Mantel des Vergessens wegziehen. Nicht zuletzt wegen des Dramas, das sich auf der Flucht zugetragen hat.
Doch möglicherweise spielen auch egoistischere Motive eine Rolle, und ich will mir vor allem Wurzeln verschaffen. Ausgerechnet ich, dem Herkunft, Familiengeschichte und Vergangenheit bislang vollkommen egal gewesen sind. Aber mit Martha ist plötzlich der fehlende Glanz in mein Leben getreten und damit die Chance – ich weiß nicht, wie ich es nennen soll –, die Dinge irgendwie anders anzugehen? Ein wenig vom vorgezeichneten Weg abzuweichen?
Die energische Stimme eines Angestellten von Sotheby’s unterbricht mich in meinen Tagträumen. Wir werden aufgefordert, uns in den Auktionsraum zu begeben und Platz zu nehmen.
Als ich durch die Tür trete, fällt mein Blick auf das Pult des Auktionators; etwas über Hüfthöhe hoch. Ein Glas Wasser. Ein zierlicher brauner Hammer. Daneben, auf einem Beistelltisch, Marthas Tagebuch. Millionenschwer. Es hat die Zeit überdauert. Ein einzigartiges Zeugnis – einschließlich seines kühnen Beiwerks.
Das Heft ist in der Mitte aufgeschlagen und auf einer schräg stehenden Unterlage aufgebahrt. Ein Scheinwerfer taucht es in helles Licht. Jeder kann es sehen.
Es wirft einen langen Schatten.
(1900–1919)