Ins Deutsche übertragen von
Claudia Kern
Ebenfalls bei Cross Cult:
LAGUNE
WER FÜRCHTET DEN TOD
DAS BUCH DES PHÖNIX
von Nnedi Okorafor
Die deutsche Ausgabe von BINTI: ALLEIN
wird herausgegeben von Amigo Grafik, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.
Herausgeber: Andreas Mergenthaler und Hardy Hellstern,
Übersetzung: Claudia Kern; verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde;
Lektorat: Kerstin Feuersänger; Korrektorat: André Piotrowski;
Satz: Rowan Rüster/Amigo Grafik; Umschlag-Artwork: Greg Ruth.
Titel der Originalausgabe:
BINTI
Copyright © Nnedi Okorafor 2015. All rights reserved.
German translation copyright © 2017, by Amigo Grafik GbR.
eISBN 978-3-95981-653-3 (Dezember 2017)
WWW.CROSS-CULT.DE
Ich widme diese Geschichte der kleinen blauen Qualle, die ich an einem sonnigen Tag in der Khalid-Lagune in Sharjah, Vereinigte Arabische Emirate schwimmen sah.
Binti Allein
Danksagungen
Über die Autorin
Ich aktivierte den Transporter und betete stumm. Ich wusste nicht, was ich tun würde, sollte er nicht funktionieren. Mein Transporter war billig, deshalb reichte ein Tropfen Feuchtigkeit oder, was wahrscheinlicher war, ein Sandkorn, um einen Kurzschluss auszulösen. Meistens aktivierte er sich erst nach zahlreichen Fehlversuchen. Bitte nicht jetzt, bitte nicht jetzt!, dachte ich.
Der Transporter erbebte im Sand und ich hielt den Atem an. Er war winzig und so flach und schwarz wie ein Gebetsstein. Er summte leise und erhob sich langsam aus dem Sand. Endlich hatte er genügend Energie aufgebaut, um seine Last anzuheben. Ich grinste. Ich würde es bis zum Shuttle schaffen. Ich wischte mir mit dem Zeigefinger Otjize von der Stirn und kniete nieder. Dann berührte ich mit dem Finger den Sand und verrieb den süß riechenden roten Lehm darin. »Danke«, flüsterte ich. Der Weg über die dunkle Wüstenstraße war eine halbe Meile lang. Da der Transporter funktionierte, würde ich mein Ziel rechtzeitig erreichen.
Als ich mich aufrichtete, hielt ich inne und schloss die Augen. Nun spürte ich die Last meines Lebens, die auf meinen Schultern lag. Zum ersten Mal widersetzte ich mich dem traditionellsten Teil in mir. Ich verließ sie mitten in der Nacht, und sie wussten von nichts. Meine neun Geschwister – bis auf einen Bruder und eine Schwester waren alle älter – ahnten nichts. Meine Eltern hätten sich in einer Million Jahren nicht vorstellen können, dass ich so etwas tun würde. Bis sie erkannten, was ich getan hatte und wohin ich wollte, würde ich den Planeten bereits verlassen haben. In meiner Abwesenheit würden meine Eltern knurren, dass ich nie wieder ihr Heim betreten dürfe. Meine vier Tanten und zwei Onkel, die die Straße hinunter wohnten, würden schreien und untereinander tuscheln, dass ich ein Skandal für die gesamte Blutlinie sei. Ich würde eine Ausgestoßene sein.
»Los!«, flüsterte ich dem Transporter zu und stampfte mit dem Fuß auf. Die dünnen Metallringe, die ich an beiden Knöcheln trug, klirrten laut, aber ich stampfte erneut auf. Der Transporter funktionierte am besten, wenn ich ihn nicht berührte. »Los!«, wiederholte ich. Schweiß trat mir auf die Stirn. Als sich nichts bewegte, wagte ich es, die beiden großen Koffer, die auf dem Kraftfeld standen, anzustupsen. Sie setzten sich in Bewegung, und ich atmete erneut erleichtert auf. Das Glück war zumindest ein bisschen auf meiner Seite.
Fünfzehn Minuten später kaufte ich eine Fahrkarte und betrat das Shuttle. Die Sonne lugte gerade erst über den Horizont. Als ich an den Passagieren vorbeiging, die bereits ihre Plätze eingenommen hatten, war ich mir des Umstandes, dass die buschigen Enden meiner vielen geflochtenen Zöpfe über ihre Gesichter strichen, nur allzu bewusst. Ich senkte den Blick. Unsere Haare sind dick und meine waren schon immer sehr dick gewesen. Meine alte Tante nannte sie »Ododo«, weil sie so wild und dicht wie Ododo-Gras wuchsen. Kurz bevor ich das Haus verlassen hatte, hatte ich meine geflochtenen Haare mit frischem süß riechenden Otjize eingerieben, den ich für diese Reise angerührt hatte. Ich hatte keine Ahnung, wie ich auf diese Leute, die mein Volk nicht so gut kannten, wirkte.
Eine Frau beugte sich mit verkrampft wirkendem Gesicht von mir weg zur Seite, als ich vorbeiging, so als hätte sie etwas Ekliges gerochen. »Entschuldigung!«, sagte ich, den Blick auf meine Füße gerichtet. Ich versuchte die Tatsache, dass mich fast alle Passagiere in dem Shuttle anstarrten, zu ignorieren. Doch ich konnte der Versuchung, mich umzusehen, nicht widerstehen. Zwei Mädchen, die ein paar Jahre älter als ich zu sein schienen, bedeckten ihren Mund mit Händen, die so blass wirkten, als hätte die Sonne sie noch nie berührt. Alle sahen aus, als sei die Sonne ihr Feind. Ich war die einzige Himba im Shuttle, stellte ich rasch fest, als ich zu einem freien Sitz ging.
Bei dem Shuttle handelte es sich um eines der neuen, schlanken Modelle, die aussahen wie die Gewehrkugeln, mit denen meine Lehrer an der Schule ballistische Koeffizienten berechnet hatten. Sie konnten dank einer Mischung aus Auftrieb, Magnetfeldern und exponentieller Energie sehr schnell über Land fliegen und ließen sich, wenn man die Teile und die Zeit hatte, relativ leicht bauen. Sie waren außerdem praktisch in heißen Wüstenregionen, wo die Straßen, die aus den Städten führten, in einem sehr schlechten Zustand waren. Mein Volk verließ seine Heimat nicht gerne. Ich setzte mich in den hinteren Teil des Shuttles, damit ich aus dem großen Fenster sehen konnte.
Ich entdeckte die Lichter, die zum Astrolabiengeschäft meines Vaters gehörten, und das Sandsturmanalysegerät, das mein Bruder auf dem Dach der Wurzel angebracht hatte – so nannten wir das große, große Haus meiner Eltern. Sechs Generationen meiner Familie hatten dort schon gelebt. Es war das älteste Haus in meinem Dorf, vielleicht das älteste der Stadt. Es bestand aus Stein und Zement, war nachts kühl und tags heiß. Solarzellen und lumineszente Pflanzen, die bis kurz vor Sonnenaufgang leuchteten, bedeckten es. Mein Zimmer befand sich im obersten Stockwerk des Hauses. Das Shuttle setzte sich in Bewegung, und ich starrte das Haus an, bis es hinter mir verschwand. »Was tue ich hier?«, flüsterte ich.
Anderthalb Stunden später traf das Shuttle am Raumhafen ein. Ich verließ es als Letzte, was gut war, da mich der Anblick des Raumhafens so überwältigte, dass ich einige Momente lang nur reglos dastand. Ich trug einen langen roten Rock, der sich so seidig wie Wasser anfühlte, ein helloranges Top, das ein wenig steif war und den Wind abhielt, dünne Ledersandalen und meine Knöchelringe. Niemand außer mir trug solche Sachen. Ich sah nur leichte weite Kleidung und Schleier; man konnte bei keiner Frau die Knöchel sehen und schon gar keine Knöchelringe aus Stahl, die bei jedem Schritt klimperten. Ich atmete durch den Mund und spürte, wie ich errötete.
»Dumm, dumm, dumm«, flüsterte ich. Wir Himba reisen nicht. Wir bleiben. Das Land unserer Vorfahren ist unser Leben. Wer sich davon entfernt, verdorrt. Wir bedecken sogar unseren Körper mit ihm. Otjize ist rotes Land. Hier am Raumhafen sah ich hauptsächlich Khoush und ein paar andere Menschen, die keine Himba waren. Hier war ich eine Außenseiterin; ich war draußen. »Was habe ich mir dabei gedacht?«, flüsterte ich.
Ich war sechzehn Jahre alt, war noch nie außerhalb meiner Stadt gewesen und hatte noch nie einen Raumhafen gesehen. Ich war allein und hatte gerade meine Familie verlassen. Meine Heiratsaussichten hatten bei hundert Prozent gelegen, nun lagen sie bei null. Kein Mann würde eine Frau heiraten, die davongelaufen war. Ich würde kein normales Leben führen. Doch ich hatte bei den planetaren Prüfungen eine so gute Note in Mathematik erzielt, dass die Oomza-Universität mich nicht nur angenommen, sondern versprochen hatte, alles zu bezahlen, was ich brauchte, um mein Studium dort zu absolvieren. Egal welche Entscheidung ich traf, ein normales Leben würde ich sowieso nicht führen.
Ich sah mich um und wusste sofort, was ich zu tun hatte. Ich ging zum Informationsschalter.
Der Reisesicherheitsbeamte scannte mein Astrolabium, und zwar komplett. Ich war so schockiert, dass mir schwindelig wurde. Also schloss ich die Augen und atmete durch den Mund, um mich zu beruhigen. Ich musste ihnen, nur um den Planeten verlassen zu können, Zugriff auf mein gesamtes Leben gewähren – auf mich, meine Familie und all meine Zukunftsaussichten. Ich stand wie erstarrt da, während ich die Stimme meiner Mutter in meinem Kopf hörte: »Unser Volk besucht aus gutem Grund nie diese Universität. Oomza Uni will sich an dir bereichern, Binti. Wenn du diese Schule besuchst, wirst du zu ihrer Sklavin.« Unwillkürlich fragte ich mich, ob das vielleicht stimmte. Ich war dort noch nicht einmal angekommen, musste ihnen aber schon mein gesamtes Leben überlassen. Ich wollte den Beamten fragen, ob er das bei jedem machte, aber da er bereits fertig war, traute ich mich nicht. In dieser Situation konnten sie mit mir machen, was sie wollten. Es war besser, sie nicht zu provozieren.
Als der Beamte mir mein Astrolabium reichte, wollte ich es ihm aus der Hand reißen. Er war ein alter Khoush, so alt, dass er den schwärzesten Turban und den schwärzesten Schleier tragen durfte. Seine zitternden Hände hatte Arthritis so verkrümmt, dass er das Astrolabium beinahe fallen gelassen hätte. Er war so krumm wie eine verdorrende Palme, und als er »Du bist noch nie gereist. Ich muss einen vollständigen Scan durchführen. Warte hier!« sagte, war seine Stimme trockener als die rote Wüste, die meine Stadt umgab. Doch er las mein Astrolabium so schnell aus wie mein Vater, was mich auf der einen Seite beeindruckte, auf der anderen jedoch verängstigte. Er öffnete es geschickt, indem er ein paar ausgesuchte Gleichungen murmelte, und seine auf einmal ruhigen Hände bedienten die Regler so sicher, als sei dies sein eigenes Astrolabium.
Als er fertig war, sah er mich aus hellgrünen, stechenden Augen an, die noch mehr über mich herauszufinden schienen als der Scan des Astrolabiums. Hinter mir standen Leute und ich hörte ihr Flüstern, leises Lachen und das Murmeln eines kleinen Kindes. Es war kühl im Terminal, aber ich fühlte mich so sehr unter Druck gesetzt, dass mir heiß war. Meine Schläfen schmerzten und meine Füße kribbelten.
»Herzlichen Glückwunsch!«, sagte der Beamte mit seiner ausgetrockneten Stimme und reichte mir mein Astrolabium.
Ich runzelte verwirrt die Stirn. »Wozu?«
»Du bist der Stolz deines Volkes, Kind.« Er sah mir in die Augen. Dann lächelte er breit und klopfte mir auf die Schulter. Er hatte gerade mein gesamtes Leben gesehen. Er wusste, dass ich von der Oomza-Universität angenommen worden war.
»Oh!« Tränen brannten in meinen Augen. »Danke, Sir«, sagte ich rau, als ich mein Astrolabium nahm.
Ich ging rasch durch die Menschenmenge im Terminal. Ihre Nähe war mir unangenehm. Ich dachte darüber nach, auf die Toilette zu gehen, mehr Otjize aufzutragen und meine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammenzubinden, ging dann aber weiter. Die meisten Leute in dem vollen Terminal trugen die schwarze und weiße Kleidung der Khoush – Frauen trugen weiße Kleider mit farbenfrohen Gürteln und ebenfalls weißen Schleiern, die Männer trugen Schwarz wie mächtige Geister. Ich hatte sie oft im Fernsehen und ab und zu auch in meiner Stadt gesehen, aber ich hatte noch nie in einem Meer aus Khoush gestanden. Dies war der Rest der Welt, und ich hatte sie endlich betreten.
Als ich vor den Sicherheitskontrollen anstand, spürte ich, wie jemand an meinen Haaren zog. Ich drehte mich um und entdeckte einige Khoush-Frauen. Sie starrten mich an; alle Leute hinter mir starrten mich an.
Die Frau, die an meinem Zopf gezogen hatte, betrachtete ihre Finger und rieb sie stirnrunzelnd aneinander. Mein Otjize hatte sie orange gefärbt. Sie roch an ihnen. »Das riecht nach Jasminblüten«, sagte sie überrascht zu der Frau, die links neben ihr stand.
»Nicht nach Scheiße?«, fragte eine zweite Frau. »Ich habe gehört, dass es nach Scheiße riecht, weil es Scheiße ist.«
»Nein, das riecht definitiv nach Jasminblüten. Es ist allerdings so dick wie Scheiße.«
»Sind ihre Haare echt?«, fragte eine andere Frau die, die sich die Finger rieb.
»Keine Ahnung.«