Ágnes Heller
Eine kurze Geschichte meiner Philosophie
Edition Konturen
Wien • Hamburg
© 2011 Ágnes Heller
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
„A Short History of My Philosophy“ bei Lexington Books, Lanham, Maryland.
Übersetzt von Georg Hauptfeld
Wir legen Wert auf Diversität und Gleichbehandlung. Im Sinne einer besseren Lesbarkeit der Texte werden Begriffe wie „Freund“, „Liebhaber“, „Verbündeter“ usw. in der maskulinen Schreibweise verwendet. Grundsätzlich beziehen sich diese Begriffe auf beide Geschlechter.
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Dr. Georg Hauptfeld GmbH – www.konturen.cc
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Umschlaggestaltung: Georg Hauptfeld, dressed by Gerlinde Gruber.
Umschlagbild: Mediendesign, 1020 Wien
Layout: Georg Hauptfeld
Lektorat: Bettina Plenz
ISBN 978-3-902968-28-9
Wir alle haben verschiedene Geschichten. Was mich betrifft, auch ich habe einige, reich an Konflikten, Dramen, Freuden und Kummer. Ich hatte vielfach Gelegenheit, darüber in meinen Interviews mit neugierigen Journalisten zu sprechen. Doch unter den Geschichten meines Lebens gibt es eine, zu der ich selten befragt werde. Eine Geschichte mit weniger Dramen, aber reich an Veränderungen. Eine Geschichte, deren Struktur und Temporalität sich von meinen vielen anderen Geschichten unterscheidet. Eine Geschichte, die nicht mit meiner Geburt beginnt, sondern in meinen Zwanzigern, um dann parallel zu meinen anderen Geschichten zu verlaufen. Es ist die Geschichte meiner Philosophie.
Es wäre vergebens, die Verbindungen zwischen der Geschichte meiner Philosophie und meinen anderen Geschichten zu leugnen. Doch spiegelt die Geschichte meiner Philosophie nicht einfach meine anderen Geschichten wider. Eine Ausnahme ist vielleicht die der ungarischen Revolution von 1956. Doch auch die bedeutendste und unvergessliche politische Erfahrung hat nicht dazu geführt, dass ich meine (noch sehr kurze) Vergangenheit radikal verworfen hätte. Ich blieb wie zuvor Schülerin von György Lukács, ich betrachtete mich wie zuvor als Marxistin, allerdings, das ist richtig, mit wichtigen Modifikationen. Ich hörte auf, bedeutungsvolle und obligatorische Wörter und Ausdrücke aus dem marxistischen Erbe zu benutzen. Nach 1956 sprach ich nicht mehr von „Marxismus-Leninismus“, sondern von der „Renaissance des Marxismus“, und ich verwendete auch nicht länger den Begriff „dialektischer Materialismus“, an dessen Existenz ich nicht mehr glaubte. Diese Änderungen mögen dem heutigen Leser nicht mehr wichtig erscheinen. Doch es ist bekannt, dass der Sprachgebrauch eine Denkweise manifestiert, und daher spiegelt sich in der Änderung der Sprache auch eine Änderung des Denkens.
Wenn ich die Auswirkungen der Revolution von 1956 überblicke, gehen die verschiedenen Modifikationen meiner Philosophie nicht direkt auf politische Ereignisse zurück, nicht einmal die Veränderungen meiner politischen Ansichten. Mein erstes „neulinkes“ Buch, „Das Alltagsleben“, wurde vor dem Auftreten der „Neuen Linken“ geschrieben. Weder innere noch äußere Emigration haben wichtige sichtbare Spuren in meiner Philosophie hinterlassen.
Während mein politisches und persönliches Leben reich an Abenteuern und dramatischen Wendungen waren, kehrte ich in meiner Philosophie immer wieder zu den losen Fäden meiner früheren Arbeiten zurück. Mir scheint, als hätte ich mein ganzes Leben lang über dieselben Rätsel nachgedacht. Rätsel, die zunächst nur in einem oder zwei Sätzen eines einzelnen Kapitels auftauchten, konnten später als zentrales Motiv eines Kapitels, als Gegenstand eines Essays oder sogar als Hauptthema eines neuen Buchs wiederkehren. Zunächst versteckte Rätsel kamen an die Oberfläche. Mein Denken änderte sich in diesen 60 Jahren, manchmal sogar radikal, aber die Rätsel blieben dieselben.
Ich habe in Interviews (und auch zu mir selbst) viele Male gesagt, dass die Rätsel unserer Zeit ein leidenschaftliches Interesse für Ethik und Geschichte in mir geweckt haben. Doch nicht nur ich allein, sondern fast alle bedeutenden Denker Europas widmeten ihre Arbeiten und ihre Gedanken den Verheerungen des 20. Jahrhunderts. Wie konnten Menschen tun, was sie taten? Wie konnten durchschnittliche Männer und Frauen bewusst zu Massenmördern werden? Was war in Europa im 20. Jahrhundert geschehen, das Auschwitz und den Gulag überhaupt ermöglicht hatte? Diese Fragen stellten sich jedem Philosophen und tun es immer noch. Dies war ein Rätsel, aus dem die Verantwortung erwuchs, theoretische Vorschläge dazu anzubieten, wie man ähnliche Katastrophen in Zukunft vermeiden könnte. Und darüber hinaus – jenseits der Realität –, wie man sich eine Welt vorstellen könnte, in der solche Katastrophen unmöglich wären. Ich würde sagen, es war der „Geist der Zeit“. Die meisten meiner Zeitgenossen beschritten ähnliche Wege.
Der Weg führte von einer Art Kommunismus zu einer Art Liberalismus, von einer Spielart der großen Erzählung zu einer Version „postmoderner“ Perspektive, von einer Art Allwissenheit zu einer Variation von Skepsis. Instinktiv beschritt ich diesen Weg mit anderen. Jeder ging diesen Weg unabhängig von den anderen, manche von ihnen brillant, manche weniger, alle auf ihre eigene Weise, aber mit vergleichbarer Hingabe. Indem ich von der Geschichte meiner Philosophie spreche, erzähle ich die Geschichte darüber, wie ich mir auf der gemeinsamen Straße meinen eigenen Weg suchte.
Die Art einer Philosophie, der philosophische Charakter eines Philosophen ist nach dem zweiten Buch, vielleicht sogar nach dem zweiten Aufsatz angelegt. Die Gedanken können sich ändern, manchmal sogar radikal, doch der philosophische Charakter bleibt derselbe. Philosophinnen und Philosophen entwickeln ihren philosophischen Charakter früh, aber sie entwickeln ihn auch weiter. Manchmal sprunghaft, um mit Nietzsche zu sprechen, wie ein Schmetterling aus einer Raupe entsteht (oder, möchte ich hinzufügen, wie ein Frosch aus einer Kaulquappe).
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Während ich im November 2008 vor Postgraduates in Turin über meine Philosophie sprach, fünf Stunden pro Tag, fünf Tage lang, erkannte ich plötzlich, dass meine Philosophie zwischen 1980 und 1995 ein „Ganzes“ geworden war, ein „Quasi-System“ also, in einem Zeitraum von fünfzehn Jahren. Der Ausdruck „System“ muss in Anführungszeichen stehen, denn niemand sollte dabei an ein metaphysisches System denken. Der Ausdruck meint einfach, dass meine vorher verstreuten Ideen sich schließlich zusammenfügten. Von dieser Zeit an konnte ich über eines meiner Bücher in Bezug zu anderen sprechen. Eine im Wesentlichen ähnliche Weltbeschreibung war aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet oder dargestellt worden, ein ähnliches Rätsel aus der Sicht verschiedener dahinter stehender Rätsel.
In diesem Sinn kann ich von einem „Quasi-System“ sprechen, aber nicht von einem „realen“ System. Ein reales philosophisches System bietet eine vollständige Beschreibung der Welt, zumindest hat es diesen Anspruch. (Man kann diesen Anspruch auch befriedigen, indem man nachweist, dass eine vollständige Weltbeschreibung unmöglich ist.) Eine vollständige Beschreibung der Welt gehörte nie zu meinen Ambitionen, nicht weil ich die „Sünde“ eines Rückfalls in die Metaphysik vermeiden wollte, sondern weil sie mich nicht interessierte. Ich war und bin nur an Perspektiven interessiert, die man traditionell „Ontologie“ nennt, „Philosophie der Geschichte“, „Ethik“ und „Philosophie der Kunst“. Die Ableger von „Epistemologie“ oder „Wissenschaftsphilosophie“ beschäftigten mich einfach nicht, außer wenn sie einen direkten Bezug zu meinen Themen hatten. Sogar die Psychologie hat mich erst eher spät interessiert.
Als ich mit nicht geringem Erstaunen entdeckt hatte, dass sich meine Bücher und Gedanken im Laufe der erwähnten fünfzehn Jahre in einer Art „System“ organisiert hatten, musste ich etwas überdenken, das ich über ein Jahrzehnt lang für wahr gehalten hatte. Seit langer Zeit hatte ich Hegels Voraussage akzeptiert, dass die Philosophie nach ihm (also nach ihrem Ende) ausschließlich reflexiv werden würde. Eine reflexive Philosophie kann über alles reflektieren, zuerst und vor allem über sich selbst, die eigene Geschichte, doch auch über Kunst, Politik, Sexualität, Sprache, Recht usw. (Ich werde das „alles“ nicht weiter aufzählen.) Viele moderne Philosophen, auch bedeutende, wie Derrida und vielleicht auch der späte Heidegger, haben das glänzend getan. Zu dieser philosophischen Richtung gehört auf jeden Fall die hermeneutische Praxis.
Während ich darüber nachdachte, wurde mir klar, dass ich die Anziehungskraft oder eher Verlockung eines systembildenden Denkens unterschätzt hatte. Manch ein bedeutender Philosoph des 20. Jahrhunderts konnte dieser Versuchung am Ende nicht widerstehen. Das trifft auch in den umstrittenen Fällen von Kierkegaard und Nietzsche zu und ganz besonders für Wittgenstein, den Heidegger von „Sein und Zeit“ sowie Foucault. Eine systembildende Art des Denkens ist nicht notwendigerweise Metaphysik.
Ich möchte mich hier keineswegs durch das Beispiel der Großen legitimieren. Ich möchte nur deutlich machen, dass ich einen Fehler gemacht hatte, als ich die „Reflexion“ als einzige relevante Praxis zeitgenössischer Philosophie bevorzugte – ein Fehler, den ich während meiner Turiner Vorlesung erkannte.
Wie gesagt, die verschiedenen Aspekte oder Themen meiner Weltbeschreibungen verbanden sich zwischen 1980 und 1995. Damit sie sich verbinden konnten, musste es sie zuerst geben. Ich musste einen Blick darauf werfen, um die plötzliche Erkenntnis abzusichern. Ich studierte einige meiner alten Bücher, von denen ich die meisten während der vierzig Jahre davor kein zweites Mal gelesen und sie keiner erneuten Lektüre für wert befunden hatte.
Es hat mich nie beunruhigt, wenn mache Gruppen meiner Leser meine älteren Bücher den neueren vorzogen, insbesondere jene aus der neulinken Periode der 1960er-Jahre. Lukács’ ablehnende Haltung gegenüber den Büchern seiner jungen Jahre bewirkte bei mir das Gegenteil. Ich hatte nie das Bedürfnis, meine frühen Schriften zu verurteilen, bloß weil meine Ideen sich geändert hatten. Ich habe immer betont, dass ich nicht zum Richter über meine eigenen Werke berufen bin, dass alle diejenigen lieben sollen, die sie mögen, und dass mich das nichts angeht. Auch zu Zeiten, in denen ich mich von der Idee des allgemeinen Fortschritts löste, glaubte ich nicht, dass meine Philosophie deswegen besser würde. Es gab für mich nur Vorstellungen, die ich für weniger richtig hielt, weniger begründet, weniger fruchtbar, und dass es eine Frage der Ehrlichkeit war, sie zurückzulassen. Das war auch der Grund, warum ich meine Bücher lange Zeit nicht wieder lesen wollte, nicht einmal die erfolgreichsten. Eine Art von Zorn beendete diese Zurückhaltung.
Ich habe schon erwähnt, dass eine Flut von Interviews, vor allem in Ungarn (meine unendliche Dankbarkeit gilt den glänzenden und geduldigen Fragestellern), verschiede Aspekte meines Lebens beleuchtete, doch ist dort nicht von meiner Philosophie die Rede, außer in direktem Bezug zu meiner Lebensgeschichte. Doch um es etwas pathetisch zu sagen, das war mein Leben, eines meiner Leben, das einzige kontinuierliche Leben. Von meinen Zwanzigern bis zu meinen Achtzigern ist mir vieles widerfahren, aber eines hat sich nie geändert: Ich habe nie auch nur für eine Minute aufgehört, philosophisch zu denken und zu schreiben. Und ich werde es bis zum Ende meines Lebens auch nicht tun (außer wenn ich dement werde, was ich nicht hoffe). Die Geschichte meiner Philosophie ist daher eine Geschichte meines Lebens.
Zunächst experimentierte ich mit der Idee, ein Interview über meine Philosophie zu machen. Ich dachte daran, mich selbst über mich zu befragen. Doch hätte ich keine Fragen stellen können, deren Antwort ich nicht im Vorhinein kannte. Außerdem ist es ohnehin eine philosophische Gewohnheit, sich und anderen Scheinfragen zu stellen. Einfacher und ehrlicher ist es, bei den Antworten zu bleiben. Nach reiflicher Überlegung kam ich zu dem Schluss, dass ich von niemandem verlangen konnte, alle meine Bücher zu lesen. Und, was noch schlimmer ist, in Interview-Situationen habe ich wenig Selbstkontrolle und neige dazu, endlos zu reden. Bleiben wir also beim Schreiben.
Ich kann nicht damit prahlen, alle meine Bücher nochmals gelesen zu haben. Aber ich habe jene wieder gelesen, die ich fast völlig vergessen hatte, sowie Teile anderer, an die ich mich erinnerte, um mein Gedächtnis aufzufrischen und zu überprüfen. Es wurde deutlich – und das ist ganz natürlich –, dass mein philosophischer Charakter schon ganz am Anfang da war. Ebenso, wie ich nicht zu einer üppigen blauäugigen Blondine heranwachsen konnte, so konnte sich auch meine Philosophie nicht in eine gänzlich andere Richtung entwickeln. Vom Moment an, in dem ich meinen Stift auf das Papier setzte (oder spätestens seit 1957), enthielt meine Philosophie eine Art Teleologie.
Teleologie bedeutet nicht Thema. Meine Tagebücher bezeugen, dass ich mehrere Bücher plante, die ich nie geschrieben habe. Doch dieselben Tagebücher zeigen auch, dass ich immer wieder zu demselben Rätsel zurückkehrte, ohne mich daran zu erinnern, dass ich es schon an anderer Stelle behandelt hatte.
Die Auswahl eines konkreten oder fruchtbaren Themas oder Gegenstands hat zwei Quellen. Anfangs ist es ein Gedanke, der immer wieder auftaucht. Zweitens ist es eine plötzliche Eingebung. Beide Quellen können zueinander in Beziehung gesetzt werden. Man denkt lange über etwas nach, dann vergisst man es, weil andere Gedanken in den unbewussten Bereich des Verstandes drängen, und dann erscheint es plötzlich im Zentrum des Bewusstseins. Doch sind nicht wir diejenigen, die ein Thema oder einen Gegenstand auswählen – wenn es so etwas wie ein Thema oder einen Gegenstand überhaupt gibt –, denn es ist das Thema oder der Gegenstand, der uns wählt. Warum sage ich, wenn es so etwas wie ein Thema oder einen Gegenstand überhaupt gibt? Weil es sie, wenn wir genauer darüber nachdenken, nicht gibt. Was wir üblicherweise ein Thema oder einen Gegenstand nennen, ist ein Syndrom verschiedener Gedanken, die sich auf dieselbe Gruppe von Fragen beziehen.
Ich meine es ernst, wenn ich sage, dass es der Gegenstand ist, der uns wählt, und nicht umgekehrt. Das ist einer der Gründe, warum wir nicht beschließen können, ein Buch zu schreiben, das besser ist als alles, was wir bisher geschrieben haben. In meinen Zwanzigern hatte ich solche Illusionen. Doch ich erkannte bald, dass der Anspruch trügerisch war. Das Schreiben ist so gut oder schlecht, wie wir es eben vermögen und wie es sich anbietet. Seitdem habe ich nicht mehr versucht, etwas „Gutes“ zu schreiben. Es wird, wie es kommt.
Die „kurze Geschichte meiner Philosophie“ ist ursprünglich auf Ungarisch geschrieben und in Ungarn vom Verlag Múlt és Jövő [„Vergangenheit und Zukunft“] veröffentlicht worden. Ich habe den Text ins Englische übersetzt, was in diesem Fall mit einigen Änderungen verbunden war. Denn was für ungarische Leser offensichtlich ist, ist es für englische Leser nicht und umgekehrt. Abgesehen davon habe ich alles so getreu wie möglich übersetzt.