Jérôme Segal
Judentum
über die Religion hinaus
Edition Konturen
Wien • Hamburg
© 2016 Jérôme Segal
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
„Athée & Juif. Fécondité d’un paradoxe apparent“ bei Éditions Matériologiques, Paris.
Übersetzt von Georg Hauptfeld
Wir legen Wert auf Diversität und Gleichbehandlung. Im Sinne einer besseren Lesbarkeit der Texte werden Begriffe wie „Freund“, „Liebhaber“, „Verbündeter“ usw. in der maskulinen Schreibweise verwendet. Grundsätzlich beziehen sich diese Begriffe auf beide Geschlechter.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Copyright © 2017 Edition Konturen
Mediendesign Dr. Georg Hauptfeld GmbH – www.konturen.cc
Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Georg Hauptfeld, dressed by Gerlinde Gruber.
Umschlagbild: „ABOLISH CH[ILD] SLAVERY!!“ auf English und Jiddisch, aufgenommen wahrscheinlich am Tag der Arbeit, am 1. Mai 1909, in New York. Das Bild stammt aus der George Grantham Bain Collection in der Library of Congress. Nach Auskunft der Library gibt es keine Copyright-Beschränkungen für die Verwendung des Bildes.
Layout: Georg Hauptfeld
Lektorat: Christa Hanten
ISBN 978-3-902968-29-6
Für Caroline, die seit mehr als zwanzig Jahren mit Geduld und
Verständnis mit mir über fast alle Ideen dieses Buches diskutiert hat.
Für unsere drei Söhne, die sich frei entscheiden können,
ob sie sich jüdisch fühlen, mit oder ohne Religion.
Für Raif Badawi in der Hoffnung, dass er bald aus dem saudiarabischen Gefängnis befreit wird und vielleicht sogar zu einem Buch
„Islam über die Religion hinaus“ beitragen kann.
Während des Mai-Aufstandes 1968 war es üblich, eine Rednerin oder einen Redner mit „Woher redest du, Genosse/Genossin?!“ zu unterbrechen, wenn er/sie nicht vorab seinen/ihren Werdegang vorgestellt hatte. Dasselbe gilt für ein Buch. Es ist wichtig, zu wissen, aus welcher Perspektive es geschrieben wurde. Und deswegen lesen Sie im Prolog, wie ich dazu gekommen bin, diese Überlegungen niederzuschreiben. Die Herausgabe der deutschen Übersetzung, die ich dem großen Einsatz meines Verlegers Georg Hauptfeld verdanke, hat für mich eine besondere Bedeutung, nicht nur, weil Deutsch die Muttersprache meines Großvaters und vieler meiner Vorfahren war.
Im deutschsprachigen Raum sind die offiziellen Vertretungen der Juden besonders konservativ (und dies in zunehmendem Maße, wie mir scheint) und sind nicht imstande, die Vielfalt der jüdischen Identitäten widerzuspiegeln. Viele nicht gläubigen Juden fühlen sich somit nicht vertreten, beispielsweise, wenn es um religiöse Praktiken geht – jede Diskussion über physische Unversehrtheit in der Beschneidungsdebatte oder über den Tierschutz in Bezug auf koscheres Schächten wird im Keim erstickt – oder in politischen Fragen, wenn man nicht automatisch jede Entscheidung der israelischen Regierung befürwortet.
Um den Antisemitismus zu bekämpfen, ist es wichtig, Vorurteile abzubauen. Nicht alle Juden sind mit den Erklärungen des Zentralrats der Juden in Deutschland oder der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) in Österreich einverstanden. Die Juden spielen seit der Aufklärung im deutschsprachigen Raum eine wichtige Rolle, wenn es um den Einsatz für mehr Gerechtigkeit, mehr Solidarität oder eine positive Bewertung der Migrationsströme geht. So erzählt dieses Buch unter anderem von der Bedeutung des Allgemeinen jüdischen Arbeiterbundes (von 1897 bis zum Zweiten Weltkrieg), aber auch von vielen Anonymen, die ihre jüdische Identität vorgelebt haben, indem sie mit Verfolgten bedingungslos solidarisch waren. Wieder andere erheben ihre Stimme gegen Sexismus und Biologismus, komme er von Rassisten oder religiösen Führern.
Fast drei Jahre nach den Anschlägen auf die Wochenzeitung „Charlie Hebdo“ ist es leider immer noch nötig, daran zu erinnern, dass man Jude und gleichzeitig nicht religiös sein kann und dass die Kritikfähigkeit an Religionen besonders wichtig ist. Das Kopftuch in den Schulen zu verbieten und gleichzeitig die Kreuze in den Schulklassen hängen zu lassen, wie es in Österreich von Politikern erwogen wird, ist ein unzulässiges Messen mit zweierlei Maß! Dieses Recht auf Religionskritik ist nicht besonders „französisch“, auch wenn es in diesem Land Tradition hat (siehe im Kapitel 1 den Abschnitt über Voltaire), es ist einfach eine Grundvoraussetzung der Moderne.
Im Prolog erzähle ich, wie ich 2011 IKG-Mitglied geworden bin. Dass Ludwig Wittgenstein, Marcel Proust und Karl Marx mütterlicherseits meine Vorfahren waren, hat meine Aufnahme in die IKG nicht begünstigt: Ich wurde dennoch abgelehnt. Erst als ich beweisen konnte, dass die Nazis die Mutter meiner Mutter als Jüdin betrachtet hatten, wurde meinem Antrag stattgegeben. Nach dem Erscheinen meines Buches auf Französisch habe ich im Jänner 2017 „Charlie Hebdo“ ein Interview mit dem Titel „Jude sein ohne Glauben“ gegeben. Kurz danach, wohl als direkte Konsequenz auf diesen Artikel, wurde ich von der IKG wieder ausgeschlossen. Da ich im Zuge der Recherchen für dieses Buch erneut auf den Umstand gestoßen bin, dass Spinoza 1656 von der jüdischen Gemeinde in Amsterdam ausgeschlossen wurde, fühle ich mich in dieser Hinsicht in guter Gesellschaft.
Jérôme Segal, 1. August 2017
Seit vielen Jahren verfolge ich regelmäßig die „Chroniques d’Autriche“, die Jérôme Segal auf seiner Website „Le petit flambeau“[2] veröffentlicht. Der Name bezieht sich auf „Die Fackel“, Karl Kraus’ berühmte Zeitschrift, mit der dieser im Sinn der Aufklärung gegen verschiedene Formen von zeitgenössischem Obskurantismus kämpfte.
Jérôme Segal hat viel von einem aufgeklärten Karl Kraus und auch etwas von seiner satirischen und polemischen Ader. Seine Wiener Kolumnen haben einen einzigartig rückhaltlosen Ton. Sie greifen schonungslos und ohne Vorbehalt an, wenn es darum geht, das Infame auszumerzen (den neuchauvinistischen „Nationalprovinzialismus“ und die Xenophobie der extremen Rechten in Österreich, aber auch den abstoßenden Opportunismus rechter und linker Taktiker, die jederzeit bereit sind, mehr oder weniger hinterlistige Allianzen mit der extremen Rechten zu schmieden, um sich an der Macht zu halten).
Das schätze und mag ich besonders an Jérôme Segal: seine Treue zu humanistischen, rationalistischen und universalistischen Idealen, ebenso seine Rebellion gegen jeden Konformismus, seine Freude an der Provokation. Er ist jederzeit bereit, die angepasste Denkweise Pariser oder Wiener Bobos und jede andere formalistisch-bürokratische Ausdrucksweise über Bord zu werfen.
Wenn man mit der Fackel in der Hand marschiert – im Fall von Jérôme Segal muss man sagen, läuft, denn er ist ein Langstreckenläufer –, darf man sich nicht davor fürchten, sich zu verbrennen. Dieses Buch geht ein bewundernswertes Risiko ein. Wenn Segal über das heutige und sein eigenes Judentum so offen und frei spricht, riskiert er, zu überraschen, ja, zu schockieren. Was sonst in einem Witz oder einer geistreichen Bemerkung von Heinrich Heine, Groucho Marx oder Woody Allen so leicht daherkommt, nimmt hier viel ernstere Formen an. Doch dieser Ernst hat nichts Hochgelehrtes, man spürt in jeder Zeile die innere Notwendigkeit, eine endlose Selbstbefragung, auf die das Buch natürlich nur vorläufige Antworten geben kann: Doch ist Endgültigkeit in diesen Dingen nicht ohnehin entweder illusorisch oder dogmatisch?
Auch Sigmund Freud (1856–1939) war sich in diesen Fragen in keiner Weise sicher. Von der „Traumdeutung“ – Joseph ist dort sein Alter Ego, der Minister und Traumdeuter des Pharao, perfekt integriert in die ägyptische Gesellschaft, polyglott und kosmopolitisch, wissend um die unendliche Verschiedenheit der Menschen, stets treu seiner Familiengeschichte und der Tradition seines Volkes – bis zu „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“: was für eine beachtliche Entwicklung! Dazwischen lagen der Erste Weltkrieg, dieser Selbstmordversuch, von dem sich das alte Europa nie mehr erholte, die Krise von 1929, in der die letzten Dämme brachen, schließlich die Entfesselung des Todestriebes und der Nazi-Verwüstung. Am Ende wie am Anfang seiner biografischen und theoretischen Überlegungen entwirft Freud seine persönliche Vorstellung von der jüdischen Identität – mit provokanter Offenheit, wie sie souverän in seinem Vorwort zur Übersetzung von „Totem und Tabu“ vom Dezember 1930 zum Ausdruck kommt:
„Keiner der Leser dieses Buches wird sich so leicht in die Gefühlslage des Autors versetzen können, der die heilige Sprache nicht versteht, der väterlichen Religion – wie jeder anderen – völlig entfremdet ist, an nationalistischen Idealen nicht teilnehmen kann und doch die Zugehörigkeit zu seinem Volk nie verleugnet hat, seine Eigenart als jüdisch empfindet und sie nicht anders wünscht. Fragte man ihn: Was ist an dir noch jüdisch, wenn du alle diese Gemeinsamkeiten mit deinen Volksgenossen aufgegeben hast?, so würde er antworten: Noch sehr viel, wahrscheinlich die Hauptsache. Aber dieses Wesentliche könnte er gegenwärtig nicht in klare Worte fassen. Es wird sicherlich später einmal wissenschaftlicher Einsicht zugänglich sein.“[3]
Eigentlich zum Ingenieur ausgebildet, ist Jérôme Segal sicher kein Anhänger des etwas altmodischen Freudschen Szientismus. Abgesehen davon scheint er mir jedoch ein perfekter Freudianer zu sein. Wenn auch die komplizierten Dinge niemals auf einfache Formeln reduziert werden können, so einfach wie zwei und zwei vier sind, erreicht Jérôme Segal in seinem Buch doch Klarheit in Bezug auf sich selbst, und zwar ohne jeden Narzissmus. Denn die Fragen, die er stellt, betreffen alle unsere Gesellschaften: Das Religiöse folgt kulturellen Identitäten wie ein Schatten, bis zum Abschluss einer Säkularisierung, die in der Aufklärung begonnen hat. Heute allerdings stellt die Wiederkehr des Religiösen das Prinzip der Laizität infrage, im weiteren Sinn einer Trennung von Zivilgesellschaft und konfessionellen Gemeinschaften.
„Eine Stimme vom Himmel sollte ignoriert werden, wenn sie nicht auf der Seite der Gerechtigkeit steht.“ Isaac Bashevis Singer
„Wie? Du bist Jude und Atheist? Das geht doch gar nicht!“ Wie oft habe ich das schon gehört. „Jude“ als Anhänger jüdischer Religion, „Atheist“ als religionslos – so gesehen wären Jude und Atheist nicht vereinbar. Mit meiner Lust an der Provokation antworte ich manchmal, dass das dennoch auf die meisten Juden zutrifft und auch mein Gesprächspartner einige kennt, die meine Position teilen. So wie Woody Allen, dem wir den Ausspruch verdanken: „Nicht nur gibt es keinen Gott, sondern versuchen Sie mal, am Wochenende einen Klempner zu kriegen!“ Dazu gehören auch Karl Marx, Franz Kafka oder in jüngerer Zeit Jacques Derrida oder Mark Zuckerberg (suchen Sie den Hacker!). Diese Juden werden als Atheisten bezeichnet, weil sie sich des Öfteren so genannt haben. Halten wir fest, dass sich das Substantiv „Jude“ nicht nur auf die Religion bezieht, den Judaismus. Die Gesamtheit der jüdischen Personen ist eher ein Volk oder eine Nation (wie die Franzosen, die Araber, die Kurden usw.) als eine Religionsgemeinschaft (wie Protestanten, Muslime usw.). Doch kaum ist das Wort „Volk“ ausgesprochen, erhebt sich eine andere Frage: Kann man überhaupt von einem „jüdischen Volk“ sprechen? Der israelische Historiker Shlomo Sand hat vor einigen Jahren das Buch „Die Erfindung des jüdischen Volkes“ geschrieben (2010). Darin greift er bekannte Themen auf wie die historische Bedeutung von Massentaufen (die Chasaren im 9. Jahrhundert und vor ihnen die Berber seit dem 2. Jahrhundert) oder das Fehlen archäologischer Spuren einer großen Wanderungsbewegung nach der Zerstörung des zweiten Tempels im Jahr unserer Zeitrechnung. Eher als eine Erfindung ist das jüdische Volk also eine Konstruktion, zwar ein „Volk“, aber nicht im biologischen Sinn – wie im Grunde alle Völker.
Manche nennen sich selbst Juden, andere sind Juden vor allem in den Augen anderer. In seinen „Überlegungen zur Judenfrage“ (1946) legt Jean-Paul Sartre dar, wie ein Jude durch den Blick von Nichtjuden zum Juden wird – viel eher als durch seine mögliche Religion oder seine Abstammung. So hat meine Großmutter väterlicherseits (geboren 1919) des Öfteren mit Vergnügen die Geschichte erzählt, wie sie den Sinn des Wortes „Jüdin“ erfahren hat. Eines Tages kam sie nach einem Wortwechsel mit einem anderen Kind von der Schule nach Hause und fragte ihre Mutter: „Mama, was bedeutet ‚Jüdin‘? Heute hat man mich ‚dreckige Jüdin‘ genannt, ‚dreckig‘ verstehe ich, aber ‚Jüdin‘, was soll das sein?“
Als ich selbst im Winter 1990/91 an der École Centrale de Lyon Ingenieurswissenschaften studierte, habe ich eine ähnlich prägende Situation erlebt. Wie die meisten Studenten wohnte ich auf dem Campus, mit vier oder fünf Freunden. Es war früher Abend, und wir bereiteten ein Pokerspiel in der Küche des Studentenheims vor. Da erschienen zwei Männer in Schwarz, nicht „Men in Black“ wie Geheimagenten, sondern orthodoxe Juden mit dem typischen Hut, weißem Hemd und Schläfenlocken. Sie waren auf der Suche nach mir. Ich kam gerade aus der Dusche und empfing sie an der Tür im Bademantel. Es waren zwei Angehörige der örtlichen Lubawitscher Gemeinde – die Lubawitscher sind einer der Hauptzweige des heutigen Chassidismus. Sie forderten mich auf, ihrer Gruppe beizutreten: Ich war Jude, weil sie mich als solchen ansahen. Ich erklärte ihnen, ich sei Atheist und sehr kritisch gegenüber der Politik der israelischen Regierung, wir hätten also meiner Ansicht nach nichts gemeinsam. Die erstaunliche Antwort: „Das macht nichts, das sind Ihre Ansichten, und wir erwarten auch nicht, dass Sie gläubig sind, das kommt vielleicht später. Für uns sind Sie eine Ölquelle!“ Meine Freunde wollten mit dem Spiel beginnen und wurden ungeduldig. Einer rief aus der Küche: „Jérôme, sag deinen Freunden, Sie können mitspielen!“ Einer der Lubawitscher lächelte. „Wir werden Sie nicht länger stören, nur eine letzte Frage: Es gibt auf diesem Campus vier Gebäude, jedes mit sechs Etagen. Wissen Sie, wo wir Cohen finden?“
Für sie bedeutete Judesein einfach, einen jüdischen Namen zu tragen. Ich war verwundert, denn der Name Segal ist in Frankreich keineswegs ein so jüdischer Name wie Goldenberg, Lévy und Dreyfus (die beiden Letzteren sind die Namen meiner Großmutter und ihrer Mutter). In Israel ist hingegen Segal genauso häufig wie Dupont in Paris oder Schmidt in Deutschland. Das hat mir zehn Jahre nach der Begegnung mit den Lubawitschern einen üblen Streich gespielt. Gemeinsam mit meiner Frau hatte ich eine Wohnung in Montreuil gekauft, in der Pariser Banlieue. Unsere Einkünfte erlaubten uns nicht, in Paris zu wohnen, doch weil wir beide Beamte waren (sie Lehrerin, ich frisch gebackener Universitätsdozent), öffneten uns die Banken ihre Türen für einen Kredit. Bei der Besichtigung der Wohnung schlug uns Herr Cohen, der Makler, vor, auch die kleine Nachbarwohnung zu erwerben, auf die wir ein Auge geworfen hatten. Wir zögerten, er professionell: „Sie können sie vermieten und so einen großen Teil Ihrer Raten finanzieren.“ Naiv, wie wir waren, sagten wir: „Aber dann müssten wir Mieter finden, die keine Probleme machen, die regelmäßig ihre Miete zahlen und unsere Nachbarn sind …“ Herr Cohen lächelte verständnisvoll und sagte im Brustton der Überzeugung: „Unter uns, Herr Segal, wir können das regeln. Ich suche für Sie die ersten Mieter, das werden sehr nette Leute sein, Sie werden überhaupt keine Probleme haben.“ Im Stillen sagte ich mir: „Na so was, er hat mich als Juden behandelt.“ Wir entschlossen uns, beide Wohnungen zu kaufen, eine für uns, eine zum Vermieten, und die Enttäuschung kam schnell: Herr Cohen erhielt ein ansehnliches Schmiergeld von einer offiziell alleinstehenden Mutter, Alkoholikerin und bei allen Gerichtsvollziehern der Stadt bekannt. Sie hörte sehr bald auf, ihre Miete zu zahlen, und warf ihren Abfall ins Treppenhaus – mit dem Argument: „Wenn Sie keinen roten Teppich auslegen, können wir genauso gut bei den Negern in Boissière (übel beleumundetes Viertel in Montreuil) wohnen.“ Ihr Lebensgefährte war extrem gewalttätig und drohte mehrfach, mich umzubringen. Wir erlebten drei schwierige Jahre, die noch schwieriger wurden, als er erfuhr, dass ich Jude bin. Regelmäßig schrie er aus unserem Stock: „Tod den Juden, die Araber sollen leben!“
Das Judentum hatte mich eingeholt, ein wenig wie bei meiner Großmutter. Auch in Berlin, wo ich in den 1990ern sieben Jahre lang wohnte, waren es die anderen, die mich als Juden bestimmten. Zwei Jahre lang lebten wir in Pankow, einem Ostberliner Viertel, wo früher die Elite der DDR gewohnt hatte, das damals jedoch schon recht heruntergekommen war. Unsere Nachbarn, würdevolle ältere Leute, grüßten mich immer mit einer Ehrerbietigkeit, die an Bewunderung grenzte. Sie waren der Meinung, dass ich aus der Familie des großen Biologen Jakob Segal (1911–1995) stammte, ehemaliger Widerstandskämpfer der „Main-d’œuvre immigrée“ (kommunistische Immigrantenorganisation im französischen Widerstand), deportiert … und Jude. Im Rahmen der Forschungen zu meiner historischen Dissertation in Berlin hatte ich Gelegenheit, seine Frau Lilli Segal (1913–1999) kennenzulernen, die ebenfalls nach Auschwitz deportiert worden war. Das war der Augenblick, in dem mich meine jüdische Identität zu interessieren begann. Zu Hause war das kaum je ein Thema gewesen. Meine Eltern verstanden sich als Juden, aber vor allem als Atheisten und sogar Kommunisten.
Erst im Ausland bin ich als Jude identifiziert und mit dieser Frage konfrontiert worden. Auf Berlin folgte unser Aufenthalt in Paris, er dauerte nur vier Jahre, zum Teil auch wegen Herrn Cohen – unser tägliches Leben war unerträglich geworden (besonders für meine Frau und unser ältestes Kind). Anfang des Jahres 2004 wurde ich Attaché an der französischen Botschaft in Österreich, zuständig für die Zusammenarbeit mit Universitäten und Wissenschaft. Sehr bald konnte ich mich meiner Leidenschaft für das Kino widmen, indem ich Kontakt mit dem Jüdischen Filmfestival aufnahm. Ich veröffentlichte Texte im Katalog des Festivals, noch unter einem Pseudonym, weil ich offiziell für die Botschaft tätig war. Schließlich erstellte ich gemeinsam mit der Direktorin das Programm und konnte so Filme präsentieren, Diskussionen anregen usw. Auf diese Weise konnte ich mein Judentum ausleben, und die Eheleute, die das Festival leiteten, wurden zu Freunden.
Doch jedes Jahr störte uns eine Institution bei der der Organisation des Festivals: die Israelitische Kultusgemeinde (IKG), offizielle Repräsentantin der jüdischen Gemeinde in Österreich. Man muss dazu sagen, dass wir keineswegs davor zurückschreckten, palästinensische Filme ins Programm zu nehmen, wenn sie ein interessantes Licht auf das Leben in Israel oder einfach auf den israelisch-palästinensischen Konflikt warfen oder wenn es – für die IKG noch schlimmer – um Homosexualität ging, wie „The Bubble – Eine Liebe in Tel Aviv“ von Eytan Fox (2006) oder „Du sollst nicht lieben“ von Chaim Tabakman (2009).
2010 erreichten die Spannungen zwischen unserer kleinen Mannschaft und der IKG ihren Höhepunkt: Man verweigerte uns ein bezahltes Inserat in der Zeitschrift der Gemeinde, obwohl wir darin nur auf das Festival hinweisen wollten, wann es stattfinden sollte, und auf die damit verbundene Webseite. Die wenigen jüdischen Intellektuellen Österreichs ließen unter den Mitgliedern der Gemeinschaft eine Petition zirkulieren, um das Festival zu unterstützen. Daraufhin schlug der Präsident der IKG für Januar 2011 einen Diskussionsabend vor. Auf der Bühne saßen auf der einen Seite zwei dieser Intellektuellen, auf der anderen die Vertreter der IKG. Die Belegschaft des Festivals war nicht eingeladen, ich selbst saß als ganz gewöhnlicher Besucher im Publikum. Die Vertreter der IKG warfen uns unter anderem vor, nicht einmal Mitglieder zu sein. Ein Beitritt zur Kultusgemeinde war mir noch nie in den Sinn gekommen, denn ihr Konservatismus stieß mich ebenso ab wie die blinde Billigung aller Entscheidungen der israelischen Regierung. Zum Trotz und um die Kritik zu kontern, beschloss ich, ein Beitrittsformular auszufüllen. Dafür musste ich beweisen, dass meine Mutter Jüdin war. So will es die Halacha, das jüdische Gesetz, und es scheint niemanden zu stören, dass das unlogisch ist: Jude ist, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde. So weit, so gut, aber um das Judentum der Mutter zu beurteilen, muss man auf die Großmutter schauen, und daher auf die Urgroßmutter usw. Es fehlt, was man in der Logik oder im Algorithmus einen Haltepunkt nennt. In meinem Begleitbrief schrieb ich:
„Ich finde keine religiösen Spuren in meiner Familie. Ich weiß, dass mein Großvater (väterliche Seite, im Mai 1938 aus Wien vertrieben), einen Rabbi als Urgroßvater hatte. Mütterlicherseits sind es fast nur Intellektuelle, die natürlich (?) weder gläubig noch abergläubisch waren. Sie waren aber alle Juden und haben sich immer als solche deklariert und erkannt. In der Anlage finden Sie einige Angehörige meiner Familie (alle von der mütterlichen Seite, da ich mich anscheinend dem bestehenden Sexismus unterwerfen muss). Die Geburtsurkunde liegt bei. Anmerkung: Seit 1905 haben wir zum Glück in Frankreich Staat und Kirche getrennt, die Religion steht also nicht in der Geburtsurkunde.“
Ich führte also die Geburtsnamen meiner Mutter, ihrer Mutter und deren Mutter an (typisch jüdische Namen) und fragte, wie weit ich gehen soll. Ich fügte auch einige Screenshots der Genealogieseite geni.com bei, die zeigten, dass ich mütterlicherseits mit bekannten jüdischen Persönlichkeiten verwandt bin wie Ludwig Wittgenstein, Claude Lévi-Strauss, Karl Marx oder Marcel Proust. Allerdings schrieb ich dazu, dass „ich mich dem Sexismus füge, der darin besteht, nur die mütterliche Seite zu berücksichtigen“. Zusätzlich erwähnte ich den Namen Raschi: „Dieser Name ist zweifellos einigen von Ihnen bekannt, zumindest dem Oberrabbiner [der über den Beitritt entscheidet]. Es handelt sich um meinen Großvater 25. Grades in direkter Linie.“ Außerdem legte ich eine Liste sämtlicher Zwischenglieder zwischen Raschi (Troyes, 1040–1105) und mir bei.
Die Antwort kam prompt: Abgelehnt! Ich war eher erleichtert, denn ich hatte mir schon bezüglich politischer Parteien die Formel zu eigen gemacht, die wir Groucho Marx verdanken: „Ich würde keinem Club angehören wollen, der mich als Mitglied aufnimmt.“ In Wien war ich also ein nicht jüdischer Jude. Gegen Ende des Jahres 2011, anlässlich des nächsten Jüdischen Filmfestivals, begegnete ich einer Frau, die mit der Aufnahme von Mitgliedern der IKG befasst war. Sie wusste von meiner Ablehnung und wir sprachen über meine Großmütter (eine der beiden war gestorben). Ich erzählte ihr, dass sie im Juni 1942 keinen Augenblick gezögert hatten, den gelben Stern zu tragen, und dass ich eine Kopie des Ausweises meiner Großmutter mütterlicherseits besäße, überstempelt mit dem Wort „JUDE“. Die Frau bat mich um eine Kopie davon, nur interessehalber. Ich schickte sie ihr am folgenden Tag und verpflichtete sie, diese nicht weiterzugeben. Vergeblich, wenige Stunden später erhielt ich eine E-Mail, die mich in der IKG willkommen hieß! Der Oberrabbiner hatte die Kopie erhalten und mich aufgenommen.
Zuerst war ich enttäuscht, dass mein Vertrauen missbraucht worden war, aber im Grunde war ich nicht unzufrieden. Es war doch so: Ich konnte noch so viele jüdische Namen in der Familie haben, mit berühmten jüdischen Persönlichkeiten verwandt sein, ohne Religion nützte mir das nichts. Doch wenn die Nazis und ihre ergebenen französischen Funktionäre entschieden hatten, dass meine Großmutter jüdisch sei, war alles in Ordnung. Vielen Dank, Herr Hitler! Er wusste, wer jüdisch war – die IKG musste seine Definition nur übernehmen!
So wurde ich Mitglied der IKG, obwohl mein Atheismus schon durch meine Arbeit beim Jüdischen Filmfestival öffentlich bekannt war, ebenso durch mein Engagement in einer Gruppe von Österreichern, die gegen die Privilegien kämpfte, die Religionen in diesem Land gewährt werden. Schon nach meinen ersten Zeitungsartikeln in österreichischen Tageszeitungen, in denen ich für Humanismus eintrat und die Religionen kritisierte (etwa das Konkordat, die Beschneidung oder den fälschlichen Vorwurf der Islamophobie) hatten mich Angehörige der jüdischen Gemeinde des „Selbsthasses“ bezichtigt – wie Otto Weininger (1880–1903), der aus Hass auf seine jüdische Abstammung bis zum Selbstmord gegangen war. Doch wissen alle, die mich kennen, dass ich nichts von dieser Form der Misanthropie an mir habe, ganz im Gegenteil. Atheist und Jude, das ist meine Orientierung, für eine Zukunft der grundlegenden Brüderlichkeit und echten Solidarität und eine Emanzipation vom religiösen Fundamentalismus.
Versucht man, das Judentum als die Gesamtheit von Ausdrucksformen des Jüdisch-Seins zu verstehen, erkennt man, dass man kein Anhänger der jüdischen Religion sein muss, um sich als Jude zu bezeichnen oder als solcher anerkannt zu werden, auch durch religiöse Juden. Möchte man ganz offiziell einer jüdischen Gemeinschaft angehören wie dem Zentralrat der Juden in Deutschland oder der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) in Österreich, machen sich die Verantwortlichen keine Gedanken darüber, ob man an Gott glaubt. Man kann sogar offen Atheist sein und beteuern, dass es keinen Gott, keine Göttin oder andere übernatürliche Wesen gebe, und trotzdem Jude sein und als solcher anerkannt werden.
Man ist sich einig, dass Formulierungen wie „atheistischer Moslem“ oder „atheistischer Katholik“ einen Widerspruch in sich darstellen, aber man spürt deutlich, dass das bei den Juden anders ist. Die Frage des Glaubens ist bei den Juden nicht so zentral, auch nicht bei religiösen Juden, anders als bei Katholiken und Muslimen. Das Judentum geht zum Glück über den Judaismus (die jüdische Religion) hinaus, und ein jüdischer Atheismus ist nicht nur vorstellbar, er wird tatsächlich gelebt. In den USA zum Beispiel zeigt eine umfassende Studie über die Religionen im Land, dass die Juden nicht nur am wenigsten religiös sind, sondern auch, dass die Hälfte von ihnen die Existenz Gottes bezweifelt oder bestreitet – bei anderen Religionen sind es 10 oder 15 Prozent.[4]
Befasst man sich mit der Vergangenheit, analysiert man die Gegenwart genau, sieht man, dass die jüdische Religion wie die anderen Monotheismen sowohl Gewalt und Neurosen im individuellen Bereich wie auch geopolitische Konflikte in verschiedenen Gesellschaften hervorgebracht hat. Dazu gehört auf politischer Ebene die katastrophale Lage im Nahen Osten – der israelisch-palästinensische Konflikt –, verbunden mit dem Aufstieg eines jüdischen Messianismus, der in seiner Dogmatik durchaus mit muslimischen Radikalisierungen vergleichbar ist.[5] Beide Seiten verbreiten Karten, auf denen das Land des Erbfeindes nicht aufscheint (Palästina vom Mittelmeer bis Jordanien auf der einen Seite, „Groß-Israel“ auf der anderen).
Im vorliegenden Essay geht es deshalb nicht nur darum, zu erklären, warum man zugleich Jude und Agnostiker oder Atheist sein kann, warum man Religion nicht nur gleichgültig gegenüberstehen, sondern sie gänzlich ablehnen kann. Es geht auch darum, zu zeigen, dass diese Form des Judentums – auf den ersten Blick vielleicht irritierend – eine lange Tradition besitzt, deren Anfänge man auf Spinoza zurückführen kann. Dieses nicht religiöse Judentum ist von einer oft unerwarteten, verkannten Reichhaltigkeit, sowohl für Juden als auch für die übrige Menschheit, denn sie folgt dem Ideal der Gerechtigkeit und Freiheit, das in der Aufklärung entstanden ist.
Zu diesem Zweck ist das Buch in acht Kapitel aufgeteilt. Zu Beginn zeigt ein Überblick über die Geschichte von der Thora bis in das Wien Sigmund Freuds den langsamen Übergang vom Judaismus zum Judentum. Dabei begegnen uns einige wichtige Konzepte wie die Matrilinearität im jüdischen Gesetz, die Vorstellung vom „auserwählten Volk“ und noch einige andere, die viel Leid hervorgebracht haben. Diese entwicklungsgeschichtliche Betrachtung erlaubt es auch, die Bewegung des „Bundes“ im Zusammenhang mit der Aufgabe der Religion und dem Aufstieg des Sozialismus am Ende des 19. Jahrhunderts anzusiedeln.
Kapitel 2 kommt auf das jüdische Gesetz zurück und zeigt den schleichenden Rassismus, der sich darin verbirgt, die Eugenik, auf die es sich gründet, und die tiefe Misogynie, die es nährt und von der noch heute sehr viele Frauen betroffen sind (zum Beispiel beim Scheidungsrecht). In diesem Kapitel wird auch die Vorstellung vom jüdischen Volk, die im Allgemeinen auf einer sozialen Konstruktion beruht, aus aktueller genetischer Sicht analysiert. Im 3. Kapitel wird die Beschneidung im Licht zeitgenössischer Diskussionen über sexuelle Verstümmelungen und des Rechtes von Kindern auf Unversehrtheit untersucht – insbesondere in historischer Sicht, weil es wichtig ist, zu verstehen, warum deutsche jüdische Gemeinden dieses Ritual zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufgegeben haben, aber auch kulturell im Hinblick auf die Rolle der Künstler in der Entwicklung der Mentalitäten.
Wenn Juden ihr Judentum hervorkehren, sprechen sie oft vom tragischen Los ihrer Eltern oder Großeltern während des Zweiten Weltkriegs. Das 4. Kapitel fragt nach der Rolle dieser speziellen Epoche bei der Konstruktion jüdischer Identität. Auch hier wird die Einstellung offizieller jüdischer Organisationen einer strengen Kritik unterzogen.
Doch die Geschichte des Judaismus und des Judentums wird keineswegs nur negativ gesehen. Viele Juden haben die Solidarität mit den Unterdrückten ins Zentrum ihres Judentums gestellt, ihnen ist das 5. Kapitel gewidmet. Hier geht es um Emmanuel Levinas und seine Metaphysik der Alterität, um Karl Marx und Rosa Luxemburg und viele andere, besonders auch um die Solidarität mit den Roma, und um jene, die sich gegen Speziesismus engagierten.
Unter den verschiedenen Formen von Engagement stellt sich zweifellos beim Engagement für eine friedliche Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts, das im 6. Kapitel behandelt wird, eine Frage von außerordentlicher Tragweite: Kann Israel zugleich ein „jüdisches“ und ein demokratisches Land sein? Hier kommen wir zu einer Definition des Zionismus und einiger aktueller Probleme.
Um die Reichhaltigkeit einer jüdischen Identität abseits des Glaubens vor Augen zu führen, befragt das 7. Kapitel die Verbindungen zwischen Judentum, Moderne und Kosmopolitismus. Es geht um die Bejahung einer Identität ohne „Vaterland“, eine besondere Beziehung zu Wissen und Heimatlosigkeit – am Beispiel eines philosophisch-sportiven Exkurses. Schließlich sehen wir im zusammenfassenden Kapitel 8, wie es insbesondere dem Film gelingt, alle diese Themen zu veranschaulichen.