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Jeden Morgen sitzt Juliette in der Metro auf dem Weg zu ihrer eintönigen Arbeit in einem Maklerbüro und taucht ein in die Welten ihrer Romane. Mal begibt sie sich mit Marcel Proust auf die Suche nach der verlorenen Zeit, mal begleitet sie Hercule Poirot im Orientexpress Richtung Istanbul − manchmal beobachtet sie auch einfach die Menschen um sich herum, die in ihre Lektüre vertieft sind. Es sind die Bücher, die Juliettes Leben Farbe verleihen. Als sie eines Tages beschließt, zwei Stationen früher auszusteigen, begegnet sie dem schrulligen Soliman, der mit seiner Tochter Zaïde inmitten seiner Bücherstapel lebt. Soliman glaubt, dass jedes Buch, wenn es an die richtige Person übermittelt wird, die Macht hat, ein Leben zu verändern. Auserwählte Boten liefern für ihn diese kostbare Fracht aus, an die, die sie nötig haben. Bald wird Juliette zu einer Botin, und zum ersten Mal haben die Bücher einen wirklichen Einfluss, auch auf ihr Schicksal.

 
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Credit: © Philippe Matsas

Christine Féret-Fleury arbeitete viele Jahre als Lektorin in einem großen französischen Verlagshaus, bevor sie sich dem Schreiben widmete. Sie hat mehrere Jugendbücher und Erwachsenenromane verfasst, die prämiert und in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden.

Christine Féret-Fleury

DAS MÄDCHEN,
DAS IN DER METRO LAS

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Aus dem Französischen
von Sylvia Spatz

 

 

»Ich habe mir das Paradies immer als eine Art Bibliothek vorgestellt.« *

Jorge Luis Borges

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Der Mann mit dem grünen Hut stieg immer in Bercy zu, immer an der vorderen Tür des Metrowagens, und genau siebzehn Minuten später stieg er durch dieselbe Tür in La Motte-Picquet-Grenelle wieder aus – und zwar an Tagen, an denen alles einer festen Ordnung folgte: Die Metro hielt und fuhr wieder an, dazu Signalgeräusche, metallisches Klappern. Es waren Tage, an denen nicht mehr Andrang herrschte als gewöhnlich, Tage ohne Pannen und Warnmeldungen, Tage, an denen nicht gestreikt wurde oder die Metro wegen anderer Züge außerplanmäßig anhalten musste. Gewöhnliche Tage. An solchen Tagen hat man den Eindruck, Teil einer gut geölten Maschine zu sein, eines großen mechanischen Apparats, in dem jeder seinen Platz findet und sich einfügt.

An solchen Tagen fragte sich Juliette, die sich hinter ihrer Sonnenbrille in Schmetterlingsform und einem riesigen Schal versteckte – ihre Oma Adrienne hatte ihn 1975 für die Tochter gestrickt, er war genau zwei Meter fünfzig lang und blassblau, es war das Blau der fernen Berggipfel um sieben Uhr an einem Sommerabend, wenn man zum Beispiel über das Städtchen Prades hinweg auf den Canigou sah –, ob sie auf dieser Welt wirklich so viel wichtiger war als die Spinne, die sie am Morgen in der Dusche ertränkt hatte.

Eigentlich widerstrebte es ihr – den Wasserstrahl auf den kleinen schwarzen behaarten Körper zu richten und aus dem Augenwinkel mitanzusehen, wie sich die dünnen Beinchen verzweifelt regten, um dann mit einem Mal einzuklappen, zu beobachten, wie das Insekt in dem Strudel kreiste, so leicht und unbedeutend wie ein Wollfaden, den sie von ihrem Lieblingspullover abgerissen hatte, bis es vom Wasser mitgerissen wurde, das sie daraufhin sofort energisch abstellte.

Es war Serienmord. Tag für Tag krochen die Spinnen nach einer Expedition ungewissen Ursprungs aus der Kanalisation nach oben. Waren es immer die gleichen, die, nachdem sie in die dunkle Tiefe befördert worden waren – in die nur schwer vorstellbaren Eingeweide der Stadt, ein stinkendes Auffangbecken, in dem es von Leben nur so wimmelte –, dort ihre Beine ausfuhren und sich mit neuer Energie wieder auf den Weg nach oben machten, wo ihre Expedition fast immer aufs Neue scheiterte? Juliette, eigentlich eine Mörderin voller Schuld und Ekel, sah sich selbst als Gottheit, die zwar unbarmherzig war, aber auch zerstreut und die meiste Zeit zu sehr mit anderem beschäftigt, um sich voll und ganz ihrer Mission zu widmen, und die deshalb nur hin und wieder über das Zugangsloch zur Hölle wachte.

Was erhofften sich die Spinnen, sobald sie sozusagen auf dem Trockenen saßen? Was für eine Reise hatten sie antreten wollen und mit welchem Ziel?

Der Mann mit dem grünen Hut hätte darauf vielleicht eine Antwort gewusst, wäre Juliette mutig genug gewesen, ihn zu fragen. Allmorgendlich öffnete er seine Aktentasche und entnahm ihr ein Buch mit einem feinen, fast durchsichtigen Papierumschlag, der ebenfalls grünlich war und den er an den Ecken mit bedächtigen und exakten Handbewegungen zurückschlug. Dann ließ er einen Finger zwischen zwei Seiten gleiten, in denen sich bereits ein Streifen aus ebendiesem Papier befand, und begann zu lesen.

Der Buchtitel lautete: Fibel der für den Menschen, die Tierwelt und Künste nützlichen Insekten. Mit einem ergänzenden Anhang zur Vernichtung von schädlichen Insekten.

Zärtlich fuhr er über den Einband aus marmoriertem Leder, den Rücken mit feiner Goldprägung und den Buchtitel in gestanzten Lettern auf rotem Untergrund.

Er öffnete den Band, hielt ihn vors Gesicht und atmete mit halb geschlossenen Augen seinen Duft ein.

Darauf las er zwei oder drei Seiten, nicht mehr, wie ein Gourmet, der mit einem winzigen Silberlöffel von einem Windbeutel kostet. Ein zufriedenes und rätselhaftes Lächeln trat auf sein Gesicht, es erinnerte Juliette, die ihn fasziniert beobachtete, an die grinsende Katze aus Alice im Wunderland. Die aus dem Zeichentrickfilm.

Im Haltebahnhof Cambronne verschwand das Lächeln und machte Enttäuschung und Bedauern Platz, er klappte den Papierumschlag wieder ein und schob das Buch in seine Aktentasche zurück, die er laut zuschnappen ließ. Dann stand er auf. Er hatte Juliette nicht einmal angesehen, obwohl sie ihn mit ihrem Blick verschlang, während sie ihm gegenübersaß oder -stand und eine der Haltestangen umklammerte, die täglich von vielen Händen, manche in Handschuhen, manche ohne, blankpoliert wurden.

Ohne seinen Hut, ohne sein Lächeln, ohne seine Aktentasche, in welcher er seinen Schatz aufbewahrte, hätte Juliette ihn vermutlich nicht wiedererkannt. Er war ein Mann wie viele andere, weder gutaussehend noch hässlich, weder sympathisch noch unsympathisch. Dicklich, von ungewissem Alter, oder vielmehr bereits in einem gewissen Alter, um bei Klischees zu bleiben.

Ein Mann.

Oder besser: ein Leser.

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Die Biene, die Seidenraupe, die Cochenille-Schildlaus, die Schildlaus, der Flusskrebs, die Landassel, der Weichkäfer, der Blutegel …

»Was hast du gesagt?«

Juliette, die vor sich hinsummte, fuhr zusammen.

»Oh, nichts. Eine Art Abzählreim … Ich versuche, mir bestimmte Begriffe zu merken …«

»Ich habe für die Wohnung am Boulevard Voltaire den Energieausweis bekommen«, sagte Chloé, die nicht zugehört hatte. »Hast du nicht die Akte?«

Juliette schaute erst nach einer Weile auf. Sie war in ihren Gedanken immer noch bei dem Mann mit dem grünen Buch, Insekten, Spinnen – erst heute Morgen hatte sie zwei ertränkt.

»Gib her, ich leg sie ab«, sagte sie.

Sie schwenkte mit ihrem Drehstuhl herum, zog einen Pappordner aus dem Regal, das eine ganze Wand des Büros einnahm, und ließ die Blätter hineingleiten. Die Pappe war von einem scheußlichen Gelb, fiel ihr auf. Trister ging es nicht. Die gesamte Wand, unregelmäßig und mit Etiketten gespickt, die sich an den Ecken ablösten, schien kurz davor, wie eine Schlammlawine über sie hinwegzurollen. Juliette schloss die Augen und stellte sich die Blubbergeräusche und die an der Oberfläche zerplatzenden Blasen aus Gas vor – allein der Gestank, sie musste sich die Nase zuhalten, um die aufsteigende Übelkeit zu bezwingen.

»Was hast du?«, fragte Chloé.

Juliette zuckte mit den Schultern.

»Bist du etwa schwanger?«, bohrte die Kollegin nach.

»Kein Stück. Aber ich frage mich, wie du es geschafft hast, vor diesem Dings da zu arbeiten … Diese Farbe ist einfach ekelhaft.«

Chloé starrte sie mit großen Augen an.

»Ekelhaft?«, wiederholte sie, jede Silbe einzeln betonend. »Du spinnst ja. Ich habe schon viel komisches Zeug gehört, aber so was noch nie. Das sind einfach nur Ordner. Die sind hässlich, da gebe ich dir recht, aber … Bist du sicher, dass bei dir alles in Ordnung ist?«

Juliette trommelte in abgehacktem Rhythmus mit den Fingern auf ihrem Schreibtisch: Die Biene, die Seidenraupe, die Cochenille-Schildlaus, die Schildlaus, der Flusskrebs, die Landassel, der Weichkäfer, der Blutegel …

»Ausgezeichnet«, antwortete sie. »Was liest du eigentlich so, wenn du Metro fährst?«

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Es gab da die alte Dame, die Mathematikstudentin, den Amateur-Ornithologen, den Gärtner und die Verliebte – jedenfalls ging Juliette davon aus, dass sie verliebt war, denn ihr Atem ging ein wenig hastig, und sobald sie Dreiviertel ihres Romans gelesen hatte, perlten winzige Tränen an ihren Wimpern. Es waren immer Wälzer, abgegriffen und mit Eselsohren, weil sie so oft gelesen worden waren. Auf dem Umschlag war manchmal vor rotem Hintergrund ein eng umschlungenes Liebespärchen zu sehen, die vielsagende Spitze eines Mieders, ein nackter Männeroberkörper, ein Frauenhintern, zerwühlte Laken oder zwei Manschettenknöpfe, der nüchterne Schriftzug eines Titels und darunter, wie um ihn zu unterstreichen, eine lederumwickelte Reitgerte … und diese Tränen, die stets auf Seite 247, das hatte Juliette mit einem vorsichtigen Seitenblick auf ihre Sitznachbarin herausgefunden, in den Wimpern der jungen Frau hingen und dann langsam Richtung Kinn rannen, während sich die Lider kurz schlossen und dem runden, in einem artigen Top sehnsüchtig ruhenden Busen ein Seufzer entschlüpfte.

Warum ausgerechnet auf Seite 247?, fragte sich Juliette, während sie mit den Blicken einem aufgespannten Regenschirm folgte, der auf dem Bahnsteig der Hochbahnstation Dupleix entlangspazierte und eine Familie vor dem schräg einfallenden Regen schützte; sie sah nur Beine, kleine Beine in braunem Cord, große Beine in Jeans, zarte Beine in Nylonstrümpfen. Was geschah an dieser Stelle, welche Gefühle machten sich dort Luft, welcher Herzschmerz, welche Pein schnürten ihre Kehle zu, welche Lust, welche unsägliche Einsamkeit durchfuhren ihren Körper?

Gedankenverloren trommelte sie mit den Fingerspitzen auf den Umschlag ihres eigenen Buchs, sie schlug es nicht sonderlich oft auf, so sehr nahmen ihre Beobachtungen sie gefangen. Es war ein Taschenbuch, außen zierten es Kaffeeflecken, der Buchrücken war rissig, und es wanderte von einer Handtasche in die nächste, von der großen Schultertasche, die sie immer dienstags benutzte – dann erledigte Juliette ihre Einkäufe, sobald sie die Agentur verließ –, in die kleine Handtasche freitagabends, wenn sie ins Kino ging. Die Ansichtskarte zwischen Seite 32 und Seite 33 war seit mehr als einer Woche nicht mehr weitergewandert. Die darauf abgebildete Landschaft, ein Bergdorf, das in der Ferne über einem Mosaik aus Feldern in verschiedenen Brauntönen aufragte, war in ihren Gedanken mittlerweile untrennbar mit der alten Dame verbunden, die stets im gleichen Kochbuch blätterte und mitunter lächelte, als riefe ihr ein bestimmtes Rezept einen Jugendstreich in Erinnerung. Manchmal schloss sie das Buch, legte ihre Hand darauf, an deren Fingern kein Ring steckte, und betrachtete die heraufziehenden Lastkähne auf der Seine oder die regenglänzenden Dächer. Der Klappentext war in Italienisch, darunter mittig ein Foto von zwei prächtigen Paprikaschoten, einer Fenchelknolle und einem runden Mozzarella, in dem ein Messer mit einem Horngriff gerade einen sauberen Schnitt hinterlassen hatte.

Die Biene, die Seidenraupe, die Cochenille-Schildlaus, die Schildlaus, der Flusskrebs, die Landassel, der Weichkäfer, der Blutegel … carciofi, arance, pomodori, fagiolini, zucchine … crostata, lombatina de cervo, gamberi al gratin … Wortschmetterlinge, die in dem überfüllten Metro-Waggon flatterten, bevor sie sich auf Juliettes Fingerspitzen niederließen. Sie fand das Bild albern, aber es war das einzige, das ihr in den Sinn kam. Und warum eigentlich Schmetterlinge? Warum nicht Glühwürmchen, die ein paar Sekunden lang leuchteten und dann erloschen? Es gab keine Glühwürmchen mehr, nirgendwo, befürchtete sie. Nur noch Erinnerungen daran. Die von ihrer Großmutter, die auch ihren Schal gestrickt hatte. Sie hatte der alten Dame mit dem Kochbuch ähnlich gesehen, das gleiche blasse, friedfertige Gesicht, die gleichen kräftigen Hände mit den kurzen Fingern, die ein einziger Ring schmückte, der breite Ehering, der sich Jahr für Jahr in die Haut grub, bis er für immer einen Abdruck hinterlassen hatte. Die faltige altersfleckige Haut schob sich über den Ring, der Körper vereinnahmte das Symbol, verformte sich im Kontakt mit ihm. »Die Glühwürmchen«, sagte sie, »die Glühwürmchen sind vom Himmel gefallene Sterne. Ich war damals noch so klein, dass ich nicht aufbleiben durfte, und die Sommernächte waren doch so lang! Immer drang das Tageslicht noch für mindestens zwei Stunden durch die Schlitze der Fensterläden. Es glitt sanft über den Teppich und kletterte an den Stäben meines Bettchens herauf. Und dann leuchtete mit einem Mal die kupferne Kugel, die ganz weit da oben festgeschraubt war. Ich wusste, bald würde ich das Schönste verpassen – den Augenblick, wenn die Sonne ins Meer tauchte, wenn sie eine Farbe hatte wie Wein, wie Blut. Also habe ich mir mein Nachthemd umgebunden, verstehst du? Um die Taille, mit einem festen Knoten. Und bin draußen am Weinspalier runtergeklettert, wie ein Äffchen. Und dann bin ich bis zum Ende des Felds gerannt, von wo aus man das Meer sehen konnte. Und wenn es dann richtig dunkel war, balancierte ich auf der Absperrung, die immer offenstand, hinter der Seidenraupenzucht … Und da habe ich sie gesehen. Mit einem Mal sind sie gekommen oder aus der Erde aufgestiegen. Das habe ich nie herausgefunden. Ganz still und leise schwebten sie in der Luft, saßen auf den Grashalmen … Ich habe mich nicht gerührt und kaum zu atmen gewagt. Ich befand mich inmitten von Sternen.«

Die Metro fuhr langsamer. Sèvres-Lecourbe. Noch drei weitere Haltestellen oder auch vier, das hing vom Wochentag und Juliettes Laune ab. Metallgeklapper, Signalton. Unvermittelt sprang sie auf und durch die Waggontür, genau in dem Augenblick, in dem diese sich schloss. Ein Zipfel ihres Mantels klemmte zwischen den Türflügeln, sie zog kurz entschlossen daran und verharrte dann ein wenig außer Atem auf dem Bahnsteig, während die Metro sich entfernte. In dem morgendlichen Grau schlichen ein paar in schwere Mäntel gehüllte Gestalten zum Ausgang. Es war ein Februarmorgen, und wer flanierte schon zum bloßen Vergnügen die Straßen entlang oder ging neugierig auf Entdeckungsreise, um irgendwo eine neu eröffnete Boutique oder Töpferei zu erspähen? Kein Mensch. Die Leute begaben sich aus ihren gut beheizten Wohnungen in die ebenso gut beheizten Büros, tranken einen Kaffee, besprachen gähnend die vor ihnen liegenden Aufgaben, tauschten Klatsch und die Nachrichten des Tages aus – immer alle deprimierend. Zwischen der Metrostation, an der Juliette täglich ausstieg, und der Tür der Agentur war lediglich eine Straße zu überqueren. Ein paar Stufen hinunter, ein Stück auf dem Bürgersteig entlang, dann nach links, an den Schaufenstern einer Reinigung, eines Tabakladens und eines Kebab-Imbisses vorbei. Im Fenster des Tabakladens stand immer noch der Weihnachtsbaum aus Plastik, mit Girlanden und glitzernden Papierschleifen geschmückt, und hatte mittlerweile Staub gefangen. Die rote Mütze mit dem weißen Bommel, die anstelle eines Sterns daraufsaß, hing herunter, als wäre sie zum Trocknen dort aufgehängt worden.

Juliette wollte etwas anderes sehen. Sie inspizierte die Umgebungskarte am Ausgang der Metrostation. Wenn sie die erste Straße rechts nahm und zwei Straßen weiter noch einmal nach rechts abbog, würde sie nicht mehr als zehn Minuten für den Weg brauchen. Ein kleiner Fußmarsch würde sie aufwärmen. Sie würde sich nicht einmal verspäten, oder nur ganz leicht. Chloé kam ohnehin stets als Erste und schloss die Agentur auf – dieses Mädchen war fast krankhaft pünktlich –, und Monsieur Bernard, der Inhaber, erschien immer erst um halb zehn.

Juliette eilte die Straße hinunter, dann zwang sie sich zu einer langsameren Gangart. Sie musste sich abgewöhnen, immer nur stur geradeaus zu marschieren, die Augen aufs Ziel gerichtet. Was wartete denn dort Spannendes auf sie? Nichts. Akten, die auszufüllen und abzulegen waren, eine endlose Liste von langweiligen administrativen Aufgaben, vielleicht ein oder zwei Wohnungsbesichtigungen. An guten Tagen. Wenn sie daran dachte, dass sie diesen Beruf nur deshalb gewählt hatte!

Wegen des Kontakts zu Menschen, genau so hatte es in der Stellenanzeige gestanden, auf die sie geantwortet hatte. Ganz genau, Kontakt zu Menschen, das hieß, auf andere zuzugehen und ihnen ihre Träume und Wünsche von den Augen abzulesen, vielleicht noch bevor sie diese selbst kannten, ein Nest für sie zu finden, wo jene Träume sich entfalten konnten, wo Ängstliche wieder Vertrauen fassen, Deprimierte das Leben wieder in die Arme schließen würden, wo Kinder im Schutz vor den lebensbedrohlichen und entwurzelnden Stürmen des Lebens aufwachsen, wo Alte und Erschöpfte angstfrei auf den Tod warten konnten.

Sie erinnerte sich noch gut an ihre erste Wohnungsbesichtigung, mit einem Paar um die dreißig, die beiden hatten es eilig; sie hatte sie vorher noch auf einen Kaffee eingeladen; ich würde Sie gerne etwas näher kennenlernen, um Ihre Vorstellungen richtig einschätzen zu können, hatte sie mit einer Selbstsicherheit angekündigt, die sie in jenem Augenblick ganz und gar nicht empfand. Vorstellungen richtig einschätzen, sie fand die Formulierung gelungen: Sie war ihr in der Broschüre aufgefallen, die jedem Agenturangestellten von der Direktion ausgehändigt worden war, aber der Mann hatte sie nur schräg angeschaut, die Brauen hochgezogen und mit unmissverständlicher Geste auf das Zifferblatt seiner Armbanduhr getippt. Unterdessen war die Frau in die Nachrichten auf ihrem Smartphone vertieft, sie hatte nicht einmal den Blick gehoben, selbst auf der Treppe nach oben nicht, während Juliette, wie nach einer kalten Dusche, die Wohnungsbeschreibung, die sie am Vorabend noch auswendig gelernt hatte, herunterspulte: Werkstein und traditioneller Charme im Haussmann-Stil, bitte beachten Sie die Fliesen im Eingangsbereich, komplett restauriert, aber die Originalarbeiten wurden so weit wie möglich belassen, ruhiger geht es kaum, Ihnen steht ein Aufzug bis in den vierten Stock zur Verfügung, und sehen Sie nur diesen Treppenläufer aus dickem Flor. Ihre Stimme drang wie aus weiter Ferne an ihr Ohr, lächerlich schrill, eine Mädchenstimme, die versuchte damenhaft erwachsen zu klingen, sie tat sich selbst leid, fühlte sich absurderweise den Tränen nahe, und ihre Kehle war wie zugeschnürt. Das Paar hatte im Sturmschritt die Wohnung besichtigt, drei Zimmer nach hinten zum Hof, und sie war ihnen atemlos gefolgt. Die Worte kamen ihr hastig über die Lippen, sie purzelten nur so aus ihr heraus, eine schöne Zimmerhöhe, ein stilvoller Kaminsims, viel Platz zum Abstellen und Aufräumen, Fischgrätparkett, zusätzlicher Raum für ein Gästezimmer oder Büro, mit Hilfe einer Zwischendecke … Sie hörten ihr nicht zu, sie schauten sie nicht an, sie stellten keine Fragen. Juliette schlug sich tapfer, stellte ihnen Fragen wie: Spielen Sie Klavier? Haben Sie Kinder oder …? Sie erhielt keine Antwort, stolperte über einen Lichtstrahl, der über einen staubdeckten Parkettriegel fiel, sprach so verhalten, dass es fast unmöglich erschien, dass irgendjemand sie hörte: ein luftiges Appartement über die gesamte Hauslänge, außerdem sehr hell, die Sonne scheint bereits morgens um neun in die Küche … Und schon waren die beiden fort, sie eilte ihnen nach. Auf der Straße hatte sie dem Mann ihre Visitenkarte entgegengestreckt, und er steckte sie ein, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen.

Ihr war bereits klar, dass sie das Paar nicht wiedersehen würde.

Ein Möwenschrei versetzte Juliette in die Realität zurück. Sie blieb stehen und sah nach oben. Der Vogel hatte seine Flügel aufgespannt und kreiste über ihrem Kopf. Eine Wolke schwebte unter ihm vorbei und verhüllte Körper und Schnabel, es blieben nur seine Flügelspitzen und der zwischen hohen Mauern widerhallende Schrei. Plötzlich war er verstummt. Ein Windstoß fuhr der jungen Frau ins Gesicht, und sie schwankte leicht. Sie sah sich ernüchtert um. Die Straße war leer und trostlos, zu beiden Seiten standen Häuser mit feuchten Schlieren an den Mauern, von denen der Putz abbröckelte. Was suchte sie hier? Sie fröstelte, vergrub die Nase in ihrem dicken Schal und ging weiter.

»Zaïde.«

Jemand rief von ziemlich weit oben zur Straße herunter, schien es, aber das kleine Mädchen, das auf sie zugerannt kam, tat so, als hätte es nichts gehört. Lebhaft und geschmeidig tauchte es zwischen Juliettes Beinen und einer umgestürzten Tonne hindurch, aus der für Recycling bestimmte Plastikflaschen herausgefallen waren, fing sich und hüpfte weiter die glatte Fahrbahn entlang. Juliette wandte sich um und sah, wie das Mädchen sich entfernte, wirbelndes Röckchen, kleiner grasgrüner Pullover und zwei tanzende Zöpfe … und ihr Blick fiel auf ein hohes, verrostetes Metalltor, das von einem Buch – einem Buch! – offengehalten wurde.

An der Tür ein Emailschild wie aus einem Dokumentarfilm über die Kriegsjahre, dachte sie bei sich, und darauf in großen blauen Lettern: Bücher ohne Grenzen.

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Juliette ging noch drei Schritte weiter, streckte eine Hand aus und berührte die von der Feuchtigkeit gewellten Buchseiten. Sie benetzte mit der Zungenspitze ihre Oberlippe. Ein Buch zwischen den Flügeln eines Metalltors eingeklemmt zu sehen, war fast noch schlimmer, als eine Spinne zu ertränken. Mit sanfter Gewalt drückte sie mit einer Schulter gegen einen der beiden Flügel, und das Buch rutschte ein wenig nach unten. Sie fing es auf, und immer noch ans Tor gelehnt, öffnete sie es und hielt es sich vors Gesicht.

Sie hatte schon immer gern an Büchern gerochen und sie beschnuppert, besonders an den aus zweiter Hand erworbenen – auch neue Bücher rochen nicht alle gleich, es hing davon ab, welche Art von Papier und Klebstoff man verwendet hatte, aber sie erzählten noch nichts über Hände, die sie gehalten, über Häuser, die sie beherbergt hatten. Sie hatten noch keine Geschichte, und zwar nicht die Geschichte, die in ihnen geschrieben stand, sondern eine zweite Geschichte, die wie ein Schatten und unbekannt war.

Einige rochen ein wenig muffig, in anderen verbargen sich zwischen den Seiten leichte Duftspuren von Curry, von Tee oder getrockneten Blütenblättern; beim Umschlagen tauchten mitunter Butterflecken auf, oder ein langer Grashalm, der an einem heißen Sommertag als Lesezeichen gedient hatte, zerfiel zu Staub; Unterstreichungen oder Anmerkungen fügten sich nach und nach zu einer Art Tagebuch, zu einer biografischen Skizze zusammen, die mitunter Entrüstung oder gar eine Trennung bezeugte.

Dieses hier trug den Geruch der Straße – eine Mischung aus Rost, Abgasen, Möwendreck, verbrannten Reifen. Aber seltsamerweise roch es auch nach Minze. Aus dem Falz fielen Blätter heraus und zu Boden, und der Duft wurde intensiver.

»Zaïde!«

Wieder rief jemand, dann das Geräusch herangaloppierender Schritte, und Juliette spürte, wie sie von einem kleinen Körper gerammt wurde.

»Verzeihung, Madame.«