Ricarda Junge
Eine schöne Geschichte
Roman
FISCHER E-Books

Ricarda Junge 1979 in Wiesbaden geboren, ist Absolventin des Deutschen Literaturinstituts Leipzig. Anschließend studierte sie evangelische Theologie in Frankfurt am Main. Für ihr Debüt »Silberfaden« wurde sie 2003 mit dem Grimmelshausen-Förderpreis ausgezeichnet. 2005 erschien ihr Roman »Kein fremdes Land«, für den sie den George-Konell-Preis erhielt, 2008 »Eine schöne Geschichte«, 2010 der Roman »Die komische Frau« und 2014 der Roman »Die letzten warmen Tage«. 2013 erhielt sie den Robert-Gernhardt-Preis. Ricarda Junge lebt mit ihrer Familie in Berlin und Frankfurt am Main.
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Welche Rolle spielt schon ein Name?, denkt Marie, als sie am Bahnhof einer großen Stadt mit einer Studentin verwechselt und in ein Studentenwohnheim einquartiert wird. Dort teilt sie ein Zimmer mit Colina, die kurz darauf spurlos verschwindet. Von diesem Moment an verändert sich alles. Die Stadt verschiebt sich, Cafes verschwinden, Straßen gibt es nicht mehr, Häuser tauchen an anderer Stelle wieder auf. Manchmal kommt es Marie vor, als würden sich die Dinge vor ihr verbergen, und überall kleben plötzlich Zettel: Menschen werden vermisst, Hunde und Katzen gesucht, Wohnungen, Schlüssel, Geldbörsen, Jobs. Was ist das für ein Leben, in dem einem ständig etwas abhanden kommt? Und wie findet man sich zurecht, wenn jeder Plan sofort durchkreuzt wird?
Erschienen bei FISCHER E-Books 2018
© 2008 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Nicole Lange, Darmstadt
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490711-6
Meinen Eltern gewidmet
»So hast du dir das vorgestellt. Das war für dich mein
Zweck in deinem Leben.«
André Heller
Einmal habe ich das örtliche Telefonbuch von der ersten bis zur letzten Seite gelesen. Keiner der Namen sagte mir etwas, was eigentlich nicht überraschend war. Schließlich lebten alle Leute, die ich hier kannte, erst seit relativ kurzer Zeit in der Stadt. Trotzdem hatte ich angenommen, dass bei so vielen Namen ein vertrauter dabei sein müsste. Aber keiner stach mir ins Auge, sprang mich an oder weckte irgendeine Erinnerung in mir. Es war gerade so, als ob sich in der Menge die einzelnen Namen verloren. Ein großes verschwommenes Bild, auf dem man kein Detail mehr erkennen konnte. Vielleicht spielte der Name auch keine Rolle. Vielleicht brauchte man keinen Namen, kein Gesicht, keinen Körper, um Mensch zu sein. Vielleicht konnte man sterben und war trotzdem noch da. Man verschwand nicht wirklich aus diesem Leben, löste sich nicht auf, zerfiel nicht zu Staub, sondern tauchte in einer anderen Form wieder auf. In den Lebenden, den Körpern, Gesichtern und ihren Namen.
Es klopfte an der Tür. Colina steckte den Kopf herein. »Darf ich?«
»Du bist meine Rettung.«
»Es tut mir leid«, sagte sie und setzte sich aufs Bett. Anscheinend regnete es. Sie war völlig durchnässt, machte aber keine Anstalten ihren nassen Mantel oder die Schuhe auszuziehen.
»Was tut dir leid?«, fragte ich.
Zwei Wochen später haben mir die Ärzte gesagt, dass ich jetzt sterben werde. Lungenfibrose, haben sie gesagt. Ich werde ersticken. Sie wissen nicht, wie lange es dauern wird. Ihrer Erfahrung nach geht es sehr schnell. Ich werde nicht warten. Das klingt vielleicht merkwürdig, aber wenn man eine Krankheit in sich trägt, die nach außen hin unsichtbar, die einem nicht anzusehen ist, sieht plötzlich alles ganz anders aus. Man sieht sich selbst anders an. Man traut den Dingen nicht mehr. Hinter allem lauert ein Abgrund. Nichts ist, wie es scheint. Das hält man nicht aus. Deswegen bin ich entschlossen, mich nicht zu beobachten. Ich will mich nicht auf meinen Atem konzentrieren, mich nicht auf erste sichtbare Krankheitsspuren untersuchen. Ich werde meinem eigenen Zerfall nicht zusehen. Ich bin verliebt. Ich werde diese Liebe erleben. Lieben kann man nur, wenn man nicht an den Tod denkt. Ich meine, leicht lieben. Verliebt sein. Das geht nicht, wenn der andere weiß, dass man stirbt.
Manchmal fällt es mir schwer, nicht an die Krankheit zu denken. Ich habe keinen Gegner. Es gibt nichts, das ich bekämpfen könnte. Keinen Krebs, kein Virus. Ich fresse mich selbst auf. Mein Körper hat sich meinen Körper zum Feind erklärt. Manchmal kann ich nicht einschlafen. Mein Atem hat ein Echo. Wenn ich auf dem Rücken liege, klingt es, als würde bei jedem Atemzug ein wenig Luft aus den Lungen in den Brustkorb entweichen. Ich stelle mir vor, dass sich ein kleines Wesen, ein Kind vielleicht, in meine Rippenbögen schmiegt und dass es sein Atem ist, den ich höre. Ich lege die Hände auf meinen Brustkorb und streichele das Wesen in mir, bis ich einschlafe.
Oder ich wache mitten in der Nacht auf, weil ich geträumt habe, dass ich im Krankenhaus liege und künstlich beatmet werde. Ich starre in die Dunkelheit, höre das Zischen der Maschine, und dann merke ich, dass das Zischen von keiner Maschine, sondern aus meinen Lungen kommt.
Es gibt auch Stunden, Tage, an denen das Zischen ganz leise oder gar nicht zu hören ist. Am wichtigsten ist mir, dass es kein anderer hört. Ich will nicht, dass Peter davon erfährt. Manchmal, wenn er neben mir liegt, halte ich den Atem an, bis ich nicht länger kann, und dann atme ich schnaufend aus, so laut, dass man das Zischen nicht hört, und Peter lacht und fragt mich: »Was machst du? Warum hältst du die Luft an?«
Ich sage: »Dieser Moment soll nicht aufhören. Und wenn man die Luft anhält, diesen Moment lang nicht weiteratmet, bleibt die Zeit stehen. Wusstest du das nicht?«
»Das wusste ich nicht«, sagt er, und ich lausche auf seine leichten, kaum hörbaren Atemzüge. Ich lege beide Hände auf seinen Brustkorb, dann mein Ohr, meine Wange, spüre, wie er sich hebt und senkt und wieder hebt. Ich streichele Peters Bauch, zähle seine Rippen hinauf bis ans Schlüsselbein, küsse seine Schultern, seinen Hals, spüre seinen Atem an meinen Lippen, bevor ich auch sie küsse, mich an seinen Lippen, an seinem Mund, seiner Zunge festsauge. Manchmal stößt er mich lachend weg, prustet und schnappt nach Luft.
»Willst du mich umbringen?«
»Im Leben nicht«, sage ich.
Er verschränkt die Hände im Nacken, lehnt den Kopf zurück, atmet tief ein, dehnt den Brustkorb.
»Du saugst mich aus«, sagt er.
Auch bei Colina wurde kurz nach ihrer Ankunft hier in der Stadt eine Krankheit festgestellt. Sie hatte Glubschaugen und Fisselhaar und glaubte, jemanden erfinden zu müssen, wollte sie nicht bis ans Ende ihrer Tage allein sein. Sie hatte zwar noch nicht angefangen, mit sich selber zu sprechen, aber sie beobachtete sich auf eine Weise, die ihr unnatürlich vorkam. Sie geht, dachte sie, wenn sie das Wohnheim verließ, und ging sich hinterher. Sie lacht, dachte sie, wenn sie lachte, und fühlte sich dabei so glücklich, als wäre sie ein von ihr angebeteter Mensch, der sie bis dahin immer ignoriert und den sie nun zum Lachen gebracht hatte. Sie lacht, sie geht, sie raucht, sie redet. Colina redete als fürchtete sie, man könne sie zum Schweigen bringen, würde sie nur einmal Luft holen zwischen all ihren wirren Geschichten. Umgekehrt durften andere sie nur ansprechen, wenn sie es mit einer Handbewegung genehmigte. Ich teilte mir ein Zimmer mit ihr, und sie gruselte mich nicht allein mit ihrer Angewohnheit, im Schlaf zu schreien oder zu weinen. Sie drehte sich mit einem Ruck zu mir um, starrte mich über den guten Meter, der zwischen unseren Betten lag, mit weit aufgerissenen Augen an, brüllte eine halbe oder eine ganze Minute, um sich dann wieder wegzudrehen und weiterzuschlafen. Ich tat nach so einer Episode kein Auge mehr zu. Außerdem gab sie gerne Prophezeiungen ab, glaubte, Teile der Zukunft voraussehen zu können. Sie kannte die Speisekarte der Mensa, bevor sie ausgehängt war und konnte das Wetter des nächsten Tages an der Färbung des Abendhimmels ablesen. Peter prophezeite sie einen Tod durch Ertrinken. Danach wollte er sie nicht mehr wiedersehen, was ihn nicht davon abhielt, später, nachdem sie verschwunden war, in jeder freien Minute nach Colina zu suchen.
Ich erwähne Colina nur, weil sie die Erste war, die das Gefühl hatte, dass mit der Stadt irgendetwas nicht stimmte. Eines Morgens ging sie ans Fenster und stellte fest, dass sich der Ausblick über Nacht verändert hatte.
»Etwas fehlt«, sagte sie. »Ein Haus? Eine Straßenlaterne? Was hat sich verändert, Marie?« Als ich keinen Unterschied zum Vortag feststellen konnte, suchte Colina unverzüglich einen Arzt auf.
Manche Tage sind schwarz. Ich rede vom Tod, kann nicht aufhören, vom Tod zu reden, bin wie besessen vom Tod und erzähle Peter von allen möglichen tödlichen Krankheiten, allen mir bekannten Varianten, sich das Leben zu nehmen, vom Tod selbst. Ich glaube, dass der Tod nichts Schreckliches ist. Dass man sich vor dem Sterben nicht fürchten muss.
»Das glaube ich auch«, sagt Peter. »Aber können wir jetzt mal das Thema wechseln?«
Ich kann nicht. Ich kann so lange nicht aufhören, vom Tod zu reden, bis ich merke, dass Peter Angst bekommt, dass ich ihm Angst mache. Dann habe ich auch Angst und bin sofort still. Er soll keinen Verdacht schöpfen.
Peter sagt: »Wir können froh sein, dass wir uns haben. Jetzt. In diesem Moment. Mehr kann man nicht vom Leben erwarten. Mehr kann man nicht erwarten als so einen Moment, als einige solcher Momente. Die kann man nicht aneinanderketten. Daraus kann man kein Leben machen, weil es dann ein Leben wäre und kein Moment mehr. Aber nur in diesem Moment kann man, können wir glücklich sein.«
»Bist du nicht glücklich?«, fragt Peter.
»Doch«, sage ich. »Aber was wäre, wenn wir nur diesen Moment hätten? Wenn wir wüssten, dass danach nichts mehr kommt? Könnten wir ihn dann noch genießen, unseren Moment? Wären wir nicht wie gelähmt vor Angst?«
»Nein«, sagt Peter. »Warum fragst du?«
Er steckt sich eine Zigarette zwischen die Lippen, zündet sie an, inhaliert.
»Du bringst mich noch um«, sage ich und rudere mit einer Hand durch den Rauch.
»Ich dachte, du magst den Geruch«, sagt Peter.
Wenn dir jemand sagt, dass du sterben wirst, begreifst du das nicht sofort. Es ist nicht so, dass du es nicht glaubst, dass du es dir nicht vorstellen kannst, aber du weißt nicht, was es bedeutet. Für dich. Du hast dich nicht verändert, nichts hat sich verändert. Du studierst, hast dich gerade verliebt, du hast dir gestern ein Paar neue Schuhe gekauft. Du fragst dich nicht: Brauchst du die Schuhe jetzt noch? Oder: Wie lange wirst du sie tragen? Du denkst einfach nur: Wie komm ich hier wieder raus? Was kann ich tun, damit ich wieder gesund werde? Wie soll ich das meinen Eltern erklären? Mir haben meine Eltern so leid getan. Ich bin aus der Klinik raus zum Parkplatz gegangen. Ich hatte mir von meiner Freundin Constanze das Auto geliehen. Eine Politesse schlenderte über den Parkplatz, kontrollierte die Parkscheine und verteilte Strafzettel. Mein Parkschein war noch nicht abgelaufen, und ich erinnere mich, dass ich ihn vom Armaturenbrett nahm, zerknüllte, mich neben das Auto stellte und auf die Politesse wartete. Ich wollte, dass sie mir einen Strafzettel schrieb. Ich wollte ihr sagen, dass ich vielleicht gar nicht mehr lang genug leben würde, um ihn zu bezahlen. Ich wollte ihr Gesicht sehen, wenn ich das sagte. Ich stellte mir vor, dass sie mir nicht glauben würde. Das ist die dümmste Ausrede, die ich je gehört habe, würde sie sagen und dass man über so etwas keine Witze macht. Ich mache auch keine Witze, wollte ich antworten und mit ihr zu streiten anfangen. Aber sie ging einfach weiter. Sah mich nicht einmal an.
Als ich zu begreifen begann, wie krank ich war, kaufte ich mir wie Colina eine Schachtel Zigaretten. Ihr Arzt hatte eine Depression bei ihr festgestellt, worüber sie anfangs erleichtert gewesen war. Sie litt unter keinem Virus, das ihr langsam die Kraft nahm, in ihr wuchs kein Tumor, wie sie es an manchen Tagen befürchtet hatte, kein bösartiges Geschwür drückte ihr von innen gegen den Schädel und bewirkte, dass sie den Ausblick auf etwas vermisste, das nie da gewesen war. Sie ging umher, rauchte, stand am Fenster. Sie schaute hinaus und hoffte einerseits, dass alles so blieb wie es war. Andererseits wünschte sie, dass sich etwas veränderte. Verbesserte. Sie vertrieb sich die Zeit mit dem Rauchen. Eine Zigarettenlänge blieb alles so wie es war. Zwei Zigaretten lang hatte sich nichts verändert. Nach der dritten Zigarette begann sie zu lächeln. Wenn das Päckchen leer war, ging sie hinunter zum Automaten, zog sich ein neues und lief dann wieder in unser Zimmer hinauf, um mit einem Blick aus dem Fenster erleichtert festzustellen, dass in ihrer Abwesenheit alles beim Alten geblieben war.
Ich wollte mein Leben nicht nach einer Krankheit ausrichten. Wollte mir Zigarette für Zigarette beweisen, dass sich nichts verändert hatte. Ich war zu feige, mir eine anzuzünden. Zu feige, zu inhalieren. Mir fehlte Colinas Ruhe, ihre Geduld. Ich habe das Päckchen noch. Und die Streichhölzer. Ich will bereit sein für den Moment, in dem mir alles egal ist, in dem ich aufhöre, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, wie ich doch noch zu retten wäre.
»Wir sind jung«, sagt Peter. »Über so etwas müssen wir uns keine Gedanken machen. Das klingt bescheuert, aber so ist es. Es geht uns gut.«
Er will mit mir an den See fahren.
»Wir fahren alle an den See«, sagt er. »Constanze, Arndt, du, ich. Wir bohren ein Loch ins Eis, tauchen ins eiskalte Wasser, tauchen wieder auf, tauschen Eskimoküsse aus. Du wirst sehen, das bringt uns nicht um. Wir halten das aus«, sagt Peter.
Er sagt oft: »Wir halten das aus.« Oder fragt: »Das halten wir doch aus, oder?«
Und ich springe auf, tanze um ihn herum und schreie: »Jajaja, das halten wir aus.«
Ich weiß, es ist eine rhetorische Frage. Ich weiß, außer mir beantwortet sie nie jemand. Weder Arndt noch Constanze, keiner unserer Freunde antwortet Peter darauf. Aber ich tanze gerne um Peter herum und schreie jajajaja, schreie bis ich keine Luft mehr bekomme, Peter seine Hände um meinen Hals legt und sagt: »Manchmal möchte ich zudrücken. Du machst mich wahnsinnig, weißt du das?«
»Jajaja«, keuche ich. »Fahren wir jetzt an den See?«
Es gab Tage, an denen Colina die Anspannung nicht mehr ertragen konnte, die es für sie bedeutete, am Fenster zu stehen. Dann ging sie in unserem Zimmer auf und ab. Da geht sie, dachte ich, da geht sie immer im Kreis. Sie redete, summte vor sich hin. Blieb plötzlich vor meinem Bett stehen und fragte: »Kennst du das Lied?«
Sie erinnerte sich nur noch an eine Zeile: »Menschenjunges, dies ist dein Planet, hier ist dein Bestimmungsort, kleines Paket.«
Ich schüttelte den Kopf. »Kenn ich nicht.«
Sie wiederholte den Text. Noch einmal und noch einmal. Und dabei hatte ich den lieben Gott geradezu bildlich vor Augen, wie er im Himmel saß und das Baby Colina sanft durch die Wolkenbänke hindurch auf die Erde befördern wollte. Aber immer wenn er sie losließ, verschwand sie derartig schnell, blitzschnell, im wattigen Weiß, dass Gott erschrocken die Hand ausstreckte und die kleine Colina wieder auffing. Er fürchtete, dass sie allzu unsanft auf der Erde landen und das nicht oder nur mit irreparablen Schäden überleben würde. So ging das eine ganze Weile: loslassen, auffangen, loslassen, auffangen, bis es dem lieben Gott dämmerte, dass dieses ewige Hin und Her auch schadete. Also ließ er Colina los, und glücklicherweise entdeckte er in eben diesem Moment ihre Eltern, die sich zwar über ein niedliches, kleines Baby gefreut hätten, auf Grund familiärer Vorbelastung aber nicht überrascht waren, als sie Colina bekamen. Ich kannte Colinas Familie nicht, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass jemand mit normalen, gesunden Eltern so verrückt sein konnte. Vielleicht war sie gar nicht verrückt. Zumindest was die Stadt betrifft, hat sie in einem Punkt Recht gehabt. Hier läuft wirklich etwas verkehrt.
Gestern ist wieder ein Kind verschwunden. Constanze hat mir davon erzählt. Sie arbeitet in einer Einrichtung, die sich Nachtasyl nennt. In dieser Stadt verschwindet ständig irgendetwas. Hunde und Katzen und Kinder. Auch Erwachsene. Es ist merkwürdig. Manchmal denkt man, man habe sich daran gewöhnt, aber dann trifft es einen doch wieder ganz unerwartet. Das Kind, das gestern verschwunden ist, war erst seit drei Tagen im Nachtasyl. Nachtasyl ist ein irreführender Name. Die Kinder werden dort Tag und Nacht betreut. Constanze macht ihre Arbeit eigentlich sehr professionell. Distanziert. Sie lässt nichts an sich ran. Sonst könnte sie den Job nicht ertragen. Aber das mit dem Kind geht ihr nahe. Das spüre ich. Nathalie. Das Kind hat gesagt, dass es Nathalie heißt. Aber das mit den Namen ist so eine Sache in dieser Stadt. Ich habe meinen gewechselt, als ich hierherkam. Anfangs wollte ich, dass Peter das auch macht. Schöne Dinge sollten schöne Namen haben. Schöne Menschen auch. Der Name Peter gefällt mir nicht. Er passt nicht zu ihm. Aber er will seinen Namen nicht ändern.
»Mit meinem Namen bin ich zur Welt gekommen, mit meinem Namen sterbe ich auch. Kapiert?«
Er will nicht glauben, dass ich an meinem Namen nicht hänge. Dass er austauschbar ist und ich meinen jetzigen Namen nur behalte, weil mir gefällt, wie Peter ihn ausspricht.
Nathalie. Constanze reibt sich mit den Fingerspitzen die Schläfen und kneift kurz die Augen zusammen, bevor sie mich wieder ansieht.
»Meinst du, Nathalie taucht wieder auf?«, frage ich.
Constanze zuckt mit den Schultern. »Alles taucht wieder auf«, sagt sie. »Wie geht es dir heute?«
»Gut. Was macht Linie acht?«
»Fährt wieder durch. Brandneue Schienen auf der ganzen Strecke. Sind in die Straße eingelassen. Keine Schwellen mehr. Sehen wie Goldadern aus, wenn man von oben draufschaut und die Sonne scheint.«
Constanze wohnt im Dachgeschoss einer heruntergekommenen Jugendstilvilla am Pariser Platz, der bis vor kurzem noch eine einzige Baustelle war.
»Jetzt sind die Häuser dran«, sagt Constanze. »Am Museum stehen schon Gerüste. Im Haus nebenan hat ein Café aufgemacht. Ich war noch nicht drinnen. Hab nur durchs Fenster geguckt. Wie in Wien. Kennst du Wien?«
»Noch nicht. Wir sollten mal hinfahren.«
»Klar. War der Arzt heute hier?«
»Soll ich dir mal was sagen?«, frage ich.
Constanze lacht, hält sich die Hand vor den Mund. Das Lachen wird zu einem Gähnen. »Du liebst diese Stadt. Ich weiß. Aber ich finde sie schrecklich. Hier ist alles kaputt. Die Häuser, die Straßen, die Menschen.«
Ich schüttele den Kopf. »Quatsch. Denk an Linie acht.«
»Die fährt wieder. In Ordnung. Aber wie lange hat es gedauert? So lange, dass ich gar nicht mehr weiß, wie man Straßenbahn fährt. Weißt du, wie es ist, wenn man nach einer Nachtschicht nach Hause laufen muss? Weil nicht nur die Bahn nicht fährt, weil sie nicht nur die Schienen erneuern, sondern gleich alles so aufreißen, dass man selbst zu Fuß kaum noch an seine Haustür kommt. Geschweige denn mit dem Bus oder einem Auto.«
»Aber jetzt ist wieder alles in Ordnung«, sage ich.
»Ja. Die Acht fährt. Von mir zu dir, durch die ganze Stadt, über den Pariser Platz bis raus zum See. Dieser verdammte See. Bei dem Wetter schwimmen zu gehen. Ihr spinnt doch.«
»Bist du mit der Acht hergekommen?«, frage ich.
»Nein. Zu Fuß.«
»Direkt von der Arbeit?«
»Ja. Danach brauche ich immer ein bisschen Bewegung.«
»Willst du mir von ihr erzählen?«, frage ich.
»Von wem? Nathalie? Nein. Ich kann nichts erzählen. Ich weiß nichts über sie. Nicht mehr als das, was man immer weiß.«
»Und? Was ist das?«
Constanze reibt sich wieder die Schläfen. »Wir sollten über etwas anderes reden«, sagt sie. »Über was Schönes. Warte einen Moment. Vielleicht fällt mir was ein.«
Sie faltet die Hände im Schoß, legt den Kopf in den Nacken und sieht zur Decke.
»Hast du sie gemocht?«, frage ich.
Constanze versucht mit der Zunge zu schnalzen. Es klappt nicht. Es klingt, als habe sich etwas Klebriges von ihrem Gaumen gelöst. Ein Bonbon. Sie schluckt. Dann schaut sie mich an.
»Sie hatte so einen Blick«, sagt Constanze. »Sie war sechs, sieben Jahre alt. Vielleicht auch schon älter. Wenn ein Kind nie richtig zu essen gekriegt hat, ist das schwer zu sagen. Blaue Flecken am ganzen Körper. Brandwunden. Es ist immer das Gleiche. Aber sie, Nathalie, hat mich angeschaut. Ich dachte, ich könnte ihr helfen.«
»Du weißt doch: Hier geht nichts verloren«, sage ich. »Alles taucht wieder auf.«
»Ich weiß, du liebst diese Stadt.«
Manchmal wird es ganz still in mir. Ich konzentriere mich auf das grüne Rollo. Auf das Band, an dem man es hinauf- und hinunterzieht. Auf ein Stück Wand, rau verputzt, weiß, keine Tapete. Ich konzentriere mich auf die Farben, die Flächen, auf ihre Struktur. Grün, weiß, glatt, glanzlos, rau. Ich taste die Flächen ab, ohne sie zu berühren, spüre die Farben, ohne sie zu sehen. Habe die Augen geschlossen. Ich erinnere mich. Liege eine Weile mit geschlossenen Augen da, stelle mir den Putz vor, die Wand, das Rollo, öffne die Augen wieder, und sehe, dass das Grün in Wirklichkeit heller oder dunkler ist als in meiner Vorstellung. Was ich sehe, stimmt nie ganz mit dem Bild überein, das ich mir gemacht habe. Anfangs hat mich das beunruhigt. Wenn ich selbst Kleinigkeiten wie ein Rollo nicht richtig in Erinnerung behalten konnte, würde ich dann nicht auch die wichtigen Dinge vergessen? Würde meine Erinnerung an meinen Vater, an Peter, an Colina irgendwann so sehr von der Wirklichkeit abweichen, dass ich sie nicht mehr erkennen würde, begegnete ich ihnen nochmal?
Gestern hat mir Constanze eine Blume ans Bett gestellt, eine einzelne, exotische Blume mit einem langen, daumendicken Stängel und einer Blüte, die wie eine rote Auster aussieht. Sie gefiel mir nicht. Ich stellte mir vor, dass sich die rote Auster, sobald ich nicht hinsah, öffnete und sich mit einer pelzigen Zunge die Lippen leckte. Ich setzte mich auf, konzentrierte mich auf die Blüte, die dunklen Äderchen in der samtigen Haut, die feinen Härchen, den Knoten, der Grün und Rot miteinander verbindet. Ich hatte noch nie zuvor so eine Blume gesehen. Ich wollte wissen, wie sie heißt, wo sie herkommt, was sie braucht, ob sie in Stauden wächst, aus einer Zwiebel oder aus einem Samenkorn. Es machte mich traurig, dass ich wahrscheinlich nie an den Ort kommen würde, an dem so eine Blume natürlich wächst. Jetzt wächst sie hier.
Manchmal wird es ganz still in mir. Ich konzentriere mich auf mein Gesicht, darauf, wie ich es zuletzt gesehen habe. Im Badezimmerspiegel, im Vorbeigehen in einer Fensterscheibe, auf der glatten Oberfläche des Sees. Ich schließe die Augen und erinnere mich. Ich habe einen Leberfleck neben dem rechten Auge, einen auf dem linken Nasenflügel und zwei auf dem Kinn, als habe jemand in Gedanken versunken die Teile, die man für ein Gesicht benötigt, mit einem Stift angetippt und mit kleinen, schwarzen Punkten markiert. Ich bin da, auch wenn ich mich nicht sehe. Ich bin auch an Orten, an denen ich nicht sein kann. Die Blume sieht anders aus, wenn niemand oder wenn Constanze sie anschaut. Ich bin nicht krank.
Ich hole das Zigarettenpäckchen aus der Schublade, ziehe eine Zigarette heraus, stecke sie zwischen die Lippen, rolle sie leicht hin und her, tippe mit der Zungenspitze gegen den Filter, sauge an der Zigarette. Schmecke den Tabak. Ein trockener, feiner Geschmack. Zünde die Zigarette nicht an. Schiebe sie zurück ins Päckchen.
»Kannst du dich an deine erste Zigarette erinnern?«, frage ich Peter.
»Nein«, antwortet er, wendet den Kopf zur Seite, sieht an mir vorbei über die Stadt,
»Ich war fünfzehn. Das weiß ich. Meine Schwester war gerade hierhergezogen, um zu studieren. Ich habe sie schrecklich vermisst.«
»Erzähl«, sage ich.
»Erzähl du«, sagt er.
»Ich hab keine Geschwister.«
»Und geraucht hast du auch nie?«
»Nein. Was willst du noch wissen?«
Wir waren auf einem Dach hoch über der Stadt. Wir kannten uns noch nicht lange. Das Dach war flach. Wir saßen weit vom Dachrand entfernt, ich im Schneidersitz, Peter mit ausgestreckten Beinen, den Rücken an einen Schornstein gelehnt. Er hatte Höhenangst.
»Was will ich wissen«, sagte er. »Wer du bist. Was du machst. Wo du herkommst. Was willst du werden? Was ist mit deinen Fußgelenken passiert? Wie viel Schnaps verträgst du? Wie führst du dich auf, wenn du zugedröhnt bist? Was dich glücklich macht. Das will ich wissen. Und was wir hier oben eigentlich tun. Ich glaube nicht, dass du es schaffst, mir meine Höhenangst abzugewöhnen.«
»Dir geht's doch schon besser, oder?«, fragte ich und versuchte, meine Füße weiter unter die Oberschenkel zu ziehen.
Er zuckte mit den Schultern. »Ich lebe noch.«
»Das ist der erste Schritt«, sagte ich.
Er grinste. »Können wir den zweiten dann morgen machen?«
»Okay«, sagte ich. Er machte keine Anstalten aufzustehen.
»Hast du dir was gezerrt?«, fragte er. »Das sieht aus, als würde es wehtun.«
»Nur geschwollen. Zu viel gelaufen. Tut nicht weh«, sagte ich.
»Ich auch«, sagte er. »Gestern. Vom Bahnhof bis raus an den See. Fast zwei Stunden bin ich gelaufen.«
»Warum bist du gelaufen?«
»Warum läufst du?«
»Ja«, sagte ich. »Welcher See?«
Diese blauen Augen. Er hatte schwarzes Haar. In der linken Tasche seines Jacketts steckten die Zigaretten. Er zog sie heraus, zündete sich eine an.
»Mariensee. Nach der heiligen Jungfrau Maria benannt. Willst du wissen, warum?«
»Ist es wichtig?«
»Nein. Aber eine schöne Geschichte.«
Nach dem Wohnheim habe ich in einer gelben Wohnung gelebt. Alle Wände waren mit Sonnenblumen beklebt. Sie wuchsen aus der Teppichleiste heraus, eine neben der anderen, alle hüfthoch. Zwischen ihren Köpfen standen wieder Sonnenblumen, reichten bis unter die Decke, die auch ganz mit Sonnenblumen bedeckt war. Es sah aus, als trieben sie über mich hinweg, wenn ich auf dem Bett lag, auf einem See trieben sie, und ich lag tief unten im Wasser und sah hinauf. Bei der Wohnungsbesichtigung hatte der Hausmeister angeboten, die Sonnenblumen zu überstreichen. Aber mir konnte es mit dem Einzug gar nicht schnell genug gehen. Ich wollte einmal in meinem Leben eine eigene Wohnung gehabt haben, einmal ein wenig für mich allein sein.
Im Wohnheim hatte ich mir ein Zimmer mit Colina geteilt. Sie trug einen Ring an der rechten Hand. Der Ring war mit einem kleinen Stein besetzt, der sich je nach ihrer Stimmung rot, blau, grün oder gelb färbte. Wenn wir morgens aufstanden oder ich abends ins Zimmer kam, wann immer Colina und ich uns begegneten, hob sie die rechte Hand als wollte sie zuschlagen. War der Stein gelb, durfte man mit ihr sprechen.
Die Erinnerung an Colina und ihren Stimmungsring wären der einzige Grund gewesen, die Sonnenblumen zu übermalen. Am Anfang hatte ich das auch noch vor, packte meine Sachen nicht aus und stellte das Bett in die Mitte des Zimmers, damit ich Platz zum Anstreichen hatte. Aber dann schwollen meine Fußgelenke an. Ich hatte keine Schmerzen, kein Fieber, keinen Husten, nur meine Fußgelenke schienen immer noch dicker werden zu wollen. Ich war nur ein wenig beunruhigt. An etwas Schlimmes dachte ich nicht. Bald kam ich in keinen Schuh mehr rein. Wenn ich auftrat, spürte ich nichts. Meine Füße sahen aus wie die einer alten Frau. Weiße Klumpen, an deren Enden Zehennägel im Fleisch steckten. Man sah keinen Unterschied mehr zwischen Wade und Fußgelenk. Ich hätte zum Arzt gehen sollen. Ich blieb einfach im Bett liegen. Zwischen all den Blumen. In einem See voller Licht. Die Wohnung hatte nur dieses eine Zimmer. Die Fenster gingen nach Westen hinaus. Ich wartete ab. Ich konnte abwarten. Ich war verliebt. Auch wenn ich noch nicht genau wusste, in wen ich verliebt war. Ich hatte mich mit Peter schon ein paar Mal getroffen, und jedes Mal hatte mein Herz einen Sprung getan. Aber da war auch noch Arndt gewesen, dessen Name mir besser gefiel, und dessen Haar nicht glatt, dunkel und kühl war wie Peters, sondern so dick und blond, dass ich hineingreifen wollte, sobald ich es sah. Meine Liebe sprang anfangs abwechselnd vom einen zum anderen, was nichts daran änderte, dass sie stark war. An ihr hielt ich mich fest. Peter und Arndt. Ich wollte herausfinden, wen von beiden ich liebte. Ich wollte sie wiedersehen. Nur deswegen konnte ich so ruhig auf meinem Bett liegen bleiben und geduldig warten, dass die Schwellung zurückging.
An einem Tag, an dem die Sonne sehr warm ins Zimmer schien, konnte ich nicht mehr aufstehen. Das Schellen der Türklingel hatte mich geweckt. Ich hob die Beine aus dem Bett, stellte meine beiden Fleischklumpen auf den Boden, spürte den Teppich nicht, spürte gar nichts, bis ich versuchte, mich aufzurichten. Ein Knacken, als würden die Knochen brechen. Der Schmerz warf mich rücklings aufs Bett zurück. Ich zog die Knie an. Um einen Laut von mir zu geben, um zu schreien, war ich viel zu erschrocken. Es klingelte wieder. Ich begann zu zittern. Einen Moment lang dachte ich daran, um Hilfe zu rufen. Aber dann biss ich die Zähne zusammen, streckte die Hände aus und betastete meinen geschwollenen Knöchel. Die Haut glühte und war zum Zerreißen gespannt. Doch der Schmerz ließ langsam nach. Ich streckte die Beine aus und schlief weiter.
Am nächsten Morgen war die Schwellung ein wenig zurückgegangen, aber ich hatte Fieber. In den Fußgelenken pochte es heiß, gegen Mittag wurden die Schmerzen fast unerträglich. Es war, als versuchten sich meine Füße aus der Fleischmasse, die sie umgab, freizusprengen. Das Fleisch glühte, die Haut riss, die Knochen knackten. Als ich meine Zehen, jeden einzelnen Zeh, wieder erkennen konnte, weinte ich. Jemand klopfte an die Wohnungstür. Klingelte. Einen Augenblick glaubte ich, Colinas Stimme zu hören. Ich war zu schwach, um aufzustehen und nachzusehen.
Das Wohnheim war in einem Hochhaus untergebracht, von dessen Dach aus man die ganze Stadt überblicken konnte.
»Schauen Sie sich ruhig um«, sagte die rothaarige Frau, die uns am Bahnhof in Empfang genommen hatte. »Sehen Sie sich Ihre Stadt an.«
Wir standen auf dem Dach des Hochhauses, der Wind fuhr uns unter die Kleider, flatterte durch unser Haar, und ich hatte das Gefühl, dass ich gleich abheben würde. Wegfliegen. Die anderen standen dicht beieinander und verschränkten die Arme fest vor der Brust, weil ihnen kalt war oder weil sie Angst hatten, dass sie der Wind packen und wegtragen könnte. Peter stand in der Tür zum Treppenhaus und traute sich nicht hinaus. Er hatte sich eine Sonnenbrille aufgesetzt und sich die Kapuze seines schwarzen Mantels tief in die Stirn gezogen, so dass er mich ein wenig an einen Mönch erinnerte.
»Alles im Arsch«, sagte er. »Die Stadt ist total im Arsch.«
Obwohl er von der Tür aus sicher nicht viel sehen konnte. Arndt trat von einem Fuß auf den anderen und strich sich hin und wieder eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. Ich ging auf den Dachrand zu. Die rothaarige Frau wollte, dass ich zurückkam. Ich konnte nicht. Unter mir lagen finstere, von langen Lichterketten umgebene Inseln, taghell ausgeleuchtete Krater, aus denen Baukräne emporwuchsen, auf deren Spitzen rote und weiße Signalleuchten blinkten. Von einigen Häusern standen nur noch Fassaden, die an den Rückseiten mit Gerüsten aus Holz und Stahl abgestützt wurden. Dazwischen bewegten sich Fahrzeuge mit grellen Scheinwerfern wie Ameisen hin und her, drehten sich im Kreis, und von der Straße unter mir schossen blauweiße Flammen hinauf.
»Glaubst du an Wunder?«
»Du hast mich aufs Dach gekriegt«, sagt Peter. »Ist das keins?«
»Im Ernst.«
»Hältst du mich dann für verrückt?«
»Hast du mal eines erlebt?«, frage ich.
Peter schüttelt den Kopf. »Aber es ist eine schöne Geschichte, oder?«
Ich nicke.
»Ich würde sie gern verfilmen«, sagt Peter. »›Rettung‹ würde ich meinen Film nennen.«
»Lass es«, sage ich, und sofort tut es mir leid.
Peter steckt sich eine Zigarette an. Für ein paar Sekunden erhellt die Feuerzeugflamme sein Gesicht. Wir studieren Rechtswissenschaft. Aber er will eigentlich Filme machen. Lange, ruhige Filme. Gesichter, Hände, Landstraßen, Wasser. Ich muss an Arndt denken. Ich und mein Arndt, hat Peter zu mir gesagt als spreche er von einem Haustier. Ich und mein Hund. Arndt und ich. Im Wohnheim hatten sie sich ein Zimmer geteilt, jetzt wollten sie sich eine eigene Wohnung suchen.
»Die Diebstähle hält man ja gerade noch aus«, hat Peter gesagt. »Aber das mit Colina … Wird dir das Wohnheim nicht auch langsam unheimlich?«
Mir ist gar nichts unheimlich. Seit meiner Ankunft hier bin ich glücklich. Hereinspaziert in einen Würfel. In einen sicheren abgeschlossenen Raum, in dem alles seinen eigenen Regeln folgt. Die Regeln habe ich noch nicht ganz verstanden, aber ich bin dabei. Ich bin wieder im Spiel. So kommt es mir vor. Ein Wurf, und alles ist in Bewegung gekommen.
»Manchmal beneide ich meine Schwester«, sagt Peter. »Sie ist sich immer so sicher. Weiß genau, was sie will.«
»Du nicht?«, frage ich.
»Doch. Aber anders.« Er sieht mich an. »Ich weiß nur, was ich jetzt will. In diesem Moment.«
»Und was ist das?«
»Leben.«
»Leben?«
»Nicht sehr originell, ich weiß. Enttäuscht?«
»Nein«, sage ich.
»Das ist gut.«
Die Diebstähle waren eigentlich gar keine Diebstähle. Im Wohnheim nannten wir sie nur so, weil uns kein anderes Wort dafür einfiel.