Meinem Freund und langjährigen Agenten
Lionel von dem Knesebeck
23.9.1938 – 7.12.2014
zum Andenken gewidmet
1. eBook-Ausgabe 2017
© 2017 Europa Verlag GmbH & Co. KG, Berlin • München • Zürich • Wien
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von © Markus Hannich / BILD
Layout & Satz: Robert Gigler, München
Konvertierung: Brockhaus/Commission
ePub-ISBN: 978-3-95890-190-2
ePDF-ISBN: 978-3-95890-191-9
Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.
Alle Rechte vorbehalten.
www.europa-verlag.com
eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
www.brocom.de
Kapitel 1: Klingelterror
Kapitel 2: Sammlung
Kapitel 3: Kunst
Kapitel 4: Direktor
Kapitel 5: Fahnenstange
Kapitel 6: Handel
Kapitel 7: Verfallskunst
Kapitel 8: Raubmord
Kapitel 9: Rückerstattung
Kapitel 10: Geschäfte
Kapitel 11: Sonderauftrag
Kapitel 12: Verdacht
Kapitel 13: Schaukel
Kapitel 14: Vermächtnis
Kapitel 15: Halbdunkel
Kapitel 16: Unheil
Kapitel 17: Kunstraub
Kapitel 18: Treibjagd
Kapitel 19: Enteignung
Kapitel 20: Deutungshoheit
Anhang
Sonntag, der 3. November 2013 war der Tag, an dem Cornelius Gurlitt aus seiner Anonymität gerissen wurde. Um acht Uhr morgens erschien die Digitalausgabe des Magazins Focus;1 auf der Titelseite stand in fetten Lettern: »DER NAZI-SCHATZ«. Auf Seite 64 folgte dann die Geschichte der 1.500 Kunstwerke, die angeblich zur »Beute Hitlers« gehört hatten und von der Staatsanwaltschaft im Jahr zuvor in Gurlitts Wohnung beschlagnahmt worden waren. Und schon in der zehnten Zeile, neben einem doppelseitigen Foto von Adolf Hitler, sein vollständiger Name »Rolf Nikolaus Cornelius Gurlitt« und sein Geburtsdatum.2 Bei Erscheinen des Focus war Gurlitt 80 Jahre alt. Außerdem erfolgte in dem Artikel der Hinweis, dass er in München-Schwabing lebe, dazu gab es ein Foto seines Apartmenthauses, eines vom Eingangsbereich und eines von seinem Klingelschild.3
Die Geschichte vom sensationellen Kunstfund verbreitete sich in rasender Geschwindigkeit buchstäblich über die ganze Welt. Auch wenn Gurlitt nicht im Münchner Telefonbuch stand, war es jetzt ein Leichtes, ihn mithilfe der Informationen aus dem Focus aufzuspüren.
In Gurlitts Nachlass haben sich seine Notizkalender erhalten: Dutzende kleiner Bücher, meist in Plastik gebundenes Quartformat, zwei Tage pro Seite und am Ende Hinweise auf Schulferien und andere hilfreiche Angaben.4 Im laufenden Kalender finden
sich keine Angaben, die Seiten sind leer. Stattdessen nutzte Gurlitt die Monatsaufstellungen am Anfang für seine Einträge. Mit der für ihn typischen winzigen, etwas abgehackten Schrift hielt er meist mit Bleistift fest, was sich in seinem Leben ereignete. Oft nur ein Wort oder eine Abkürzung pro Spalte. 30 oder 31 Spalten pro Monat, sechs Doppelseiten für ein Jahr.
»Krank A.K.P.«, so beginnt der erste Tag des Jahres 2013; A.K.P. als Abkürzung für die Adresse seiner Wohnung am Artur-Kutscher-Platz 1. »Krank A.K.P.« steht in den Spalten bis zum Samstag, den 5. Januar. Dann setzen die üblichen Einträge ein. Ein- bis zweimal in der Woche verließ Gurlitt mit seinem schwarzen Einkaufstrolley die Wohnung; meist nahm er sich dann ein Taxi am gegenüberliegenden Taxistand, auch wenn es sich nur um kurze Wege handelte; etwa zum nahe gelegenen Karstadt, um Lebensmittel oder Kleidung zu kaufen; zur Apotheke an der Münchner Freiheit, manchmal zur Bank, und alle zwei Monate zum »Friseur [am] Goetheplatz«. Eine kleine Schere zeichnete er jedes Mal symbolisch vor den Eintrag für das Schneiden seiner stets ordentlich gescheitelten weißen Haare.
Dazu, selten, kleinste Abweichungen vom gewohnten Tagesablauf: Freitag, 24. Mai 2013, »Wegen Regen kein Einkauf«, Dienstag, 6. August, »Außen: + 33 °C. Innen: + 30 °C«, Donnerstag, 19. September, »Kein Warmwasser«. Schließlich notierte Gurlitt noch, wenn er von Zeit zu Zeit einen Brief verfasste. Drei Tage dauerte das durchschnittlich; am ersten Tag wurde das Anschreiben »erarbeitet«, am zweiten »geschrieben« und am dritten schließlich »eingeworfen«. Keine Geburtstage, keine Einladungen, keine Theaterbesuche – nicht ein Spurenelement aus dem Kanon sozialer Bindungen findet sich in den Notizbüchern. Im Halbdunkel seiner Wohnung, deren Rollläden schon seit dem Tod der Mutter 1968 heruntergelassen und verschraubt waren, lebte Gurlitt zurückgezogen wie ein Eremit – bis zum 3. November 2013.
»Klingel-Tumulte«, notierte Gurlitt an diesem Tag. Die ersten Journalisten hatten nach der Veröffentlichung im Focus Witterung aufgenommen und versuchten nun, den Einsiedler aus seiner Wohnung zu klingeln. Am Tag darauf: »Wüste Klingel-Tumulte.« Binnen 24 Stunden nach der Veröffentlichung des Focus befand sich das Apartmenthaus am Artur-Kutscher-Platz im Belagerungszustand. Reporter aus aller Welt lauerten in ihren Autos, klumpten in kleinen Gruppen auf dem Bürgersteig oder warteten in der Novemberkälte hinter ihren Stativen und Kameras. Ein Schild am Eingang des Grundstücks, das in weißer Schrift auf grünem Grund darum bat, »Hunde von der Rasenfläche fernzuhalten«, wurde zum beliebten Hintergrund für die Aufsager der Fernsehjournalisten. Und einzelne Nachbarn, die Gurlitt in ihrem Leben vielleicht einmal im Treppenhaus begegnet waren, gaben jetzt Kronzeugen für den geheimnisvollen alten Herrn. Während jedoch einige Reporter vor dem Haus sogar darüber nachdachten, der Wohnung im fünften Stock mit einer Kamera-Drohne zu Leibe zu rücken,5 erschloss sich Gurlitt das Ausmaß des öffentlichen Interesses zunächst nur rudimentär. Zeitungen las er unregelmäßig, einen Fernseher oder Internetanschluss hatte er nicht. Manchmal hörte er Radio. Aus den Nachrichten des Bayerischen Rundfunks erfuhr er schließlich, dass über ihn und seinen Vater berichtet wurde.
Seine Reaktion zeigt, dass sich ihm das ganze Ausmaß der Aufregung nicht wirklich erschloss. Gurlitt entwarf einen Brief an den Spiegel, den er nach mehreren Anläufen schließlich auf seiner mechanischen Reiseschreibmaschine tippte. Eine Verwechslung! Offensichtlich kannte Gurlitt den Focus, der erst seit 1993 erschien, nicht und wandte sich deshalb an den ihm vertrauten Spiegel. Ohne Rücksicht auf seine Privatsphäre druckten die Redakteure des Nachrichtenmagazins aus Hamburg in ihrer folgenden Ausgabe den Brief vom 4. November als Faksimile mit voller Adresse ab:
»Sehr geehrte Damen und Herren!
In einer Sendung des Bayerischen Rundfunks habe ich gehört, daß in Ihrer Zeitschrift, die in Deutschland wegen ihres besonders geistreichen und edel gesinnten Charakters allgemein hoch geschätzt ist, ein Artikel erschienen sein soll, in welchem der Name Gurlitt in Druckschrift erscheint.
Darf ich Sie bitten, diesen Namen in Zukunft freundlicherweise nicht mehr in Ihrem in Deutschland hoch geschätzten Blatt erscheinen zu lassen.
Es könnte sonst leicht der Eindruck entstehen, Dr. H[ildebrand] Gurlitt, der nach den Nürnberger Gesetzen ein Mischling zweiten Grades war, habe einstmals Zeitungsartikel verfasst, die in weithin bekannten Zeitungen wie »Das Reich« oder »Völkischer Beobachter« veröffentlicht worden sind.
Mit bestem Dank im Voraus und freundlichen Grüßen
Cornelius Gurlitt«6
Am Dienstag, den 5. November verließ Cornelius Gurlitt zum letzten Mal ungestört seine Wohnung;7 dabei mag ihm zugutegekommen sein, dass bis dahin noch niemand ein Foto von ihm gesehen hatte. Außerdem waren die meisten Journalisten und Reporter an diesem Tag nach Augsburg gepilgert, wo die Staatsanwaltschaft ab neun Uhr morgens zu einer eilig anberaumten Pressekonferenz geladen hatte. Die Weltöffentlichkeit sollte über den Stand ihrer Ermittlungen zum Fall Gurlitt informiert werden. Bei der Frage nach dem Aufenthaltsort des Beschuldigten blieb der Chef der Behörde, Oberstaatsanwalt Reinhard Nemetz, allerdings einsilbig: »Wir wissen es selbst nicht.« Bestehe derzeit Kontakt zu ihm? »Nein.« Scherzhaft fragte einer der anwesenden Journalisten: »Lebt der überhaupt noch?« Nemetz wusste es nicht.8
Gurlitt lebte, und sein Weg führte ihn an diesem Tag zu zwei nahe gelegenen Banken, zu Karstadt, einer Apotheke und einer Drogerie.9 Am Mittwoch dann wieder »Klingel-Lärm«.10 Donnerstags telefonierte Gurlitt mit seinem Arzt, einem Internisten aus Kornwestheim bei Stuttgart, und bestätigte einen für die kommende Woche vereinbarten Termin.11 Die Jagd nach einem Foto von Cornelius Gurlitt nahm mittlerweile groteske Züge an; der Stern plante sogar, mithilfe einer ehemaligen Hausmeisterin ein Phantombild anfertigen zu lassen.12 Doch dazu sollte es nicht mehr kommen. Am Freitag, den 8. November verließ Gurlitt erneut das Haus. Diesmal wurde er erkannt.
Denis Trierweiler vom Paris Match war um 11.45 Uhr am Münchner Flughafen gelandet;13 der französische Journalist sprach fließend Deutsch und sollte seinen Kollegen David Le Bailly unterstützen, der ohne Sprachkenntnisse bei seinen Recherchen zu Gurlitt nicht weiterkam. Immerhin hatte Le Bailly das Apartmenthaus von Gurlitt ausfindig gemacht. Gegen 13.00 Uhr traf er mit Trierweiler am Artur-Kutscher-Platz ein. Die meisten Reporter, die das Haus seit dem 3. November belagert hatten, waren weitergezogen. Ungehindert gelangten die beiden französischen Journalisten in das weitläufige glasgedeckte Atrium; das gediegene Interieur stand in auffälligem Gegensatz zur schmucklosen Fassade des 60er-Jahre-Baus. Die Böden und Treppenstufen der sieben Stockwerke waren aus poliertem Travertin, die Treppenläufe und Türen in dunklem Tropenholz ausgeführt, umrankt von üppigen Grünpflanzen. Relikte des Luxus aus einer Zeit, in der das Leben in einem Hochhaus noch als modern und elegant galt.
Trierweiler und Le Bailly fuhren mit dem Aufzug in den fünften Stock, wo Gurlitts Wohnung lag. In dem Moment, als sich die Aufzugtür öffnete, sahen sie einen alten Mann, der auf der gegenüberliegenden Seite in Richtung eines zweiten Aufzugs ging; Trierweiler eilte zu dem zweiten Aufzug und fragte: »Sind Sie Herr Gurlitt?« Gurlitt starrte Trierweiler ein paar Sekunden lang regungslos an, antwortete dann entschieden »Nein« und schloss die Tür seines Fahrstuhls. Die Journalisten hasteten ihm nach und holten Gurlitt vor dem Haus wieder ein. Der alte Mann hatte nach ein paar Schritten angehalten und stützte sich nun auf seinen Einkaufstrolley, um wieder zu Kräften zu kommen. Dann ging er wieder ein paar Meter, um erneut zu rasten. Nach gut zehn Minuten hatte Gurlitt schließlich den Taxistand auf der anderen Straßenseite erreicht. Le Bailly und Trierweiler nahmen mit einem zweiten Taxi die Verfolgung auf.
Die Fahrt endete nach wenigen Minuten vor dem Karstadt an der Münchner Freiheit. Auf der Suche nach Batterien fuhr Gurlitt in die Elektronikabteilung im vierten Stock. Trierweiler, der begonnen hatte, den alten Mann unauffällig mit seiner Handykamera zu fotografieren, schickte Le Bailly jetzt los, um eine bessere Kamera zu kaufen. Ohne Erfolg. Im ganzen Kaufhaus war kein Fotoapparat aufzutreiben. Über die Redaktion in Paris wurde ein Agenturfotograf angefordert. Dabei kam den beiden französischen Journalisten zugute, dass Gurlitt sehr bedächtig vorging und die Waren ausführlich studierte, bevor er sich zum Kauf entschied. Als Goran Gajanin, ein erfahrener Münchner Pressefotograf, nach über einer Stunde eintraf, befand sich Gurlitt immer noch in dem Kaufhaus an der Kasse der Lebensmittelabteilung im Untergeschoss.14 Mit einem Teleobjektiv machte sich Gajanin sofort an die Arbeit. Dutzende Bilder zeigen Cornelius Gurlitt, wie er seinen Einkaufskorb Stück für Stück leert und seine Einkäufe auf das Transportband legt. Nach dem Bezahlen wandte sich Gurlitt zum Ausgang und ging dabei ein paar Schritte direkt auf Gajanin zu, ohne ihn freilich zu bemerken.
Diese heimlich aufgenommenen Fotos von Gurlitt, im anthrazitfarbenen Mantel mit sorgfältig übereinandergelegtem Karoschal, leicht gebeugt und sichtlich angestrengt von dem zurückliegenden Einkauf, sollten am Tag darauf um die Welt gehen. Momentan fehlte allerdings noch die Gewissheit, dass der alte Mann wirklich Cornelius Gurlitt war. Trierweiler versuchte es mit einem Trick. Am Ausgang rief er ihm hinterher: »Herr Gurlitt?« Und Gurlitt blieb tatsächlich stehen. Trierweiler eilte zu ihm und sprach ihn noch einmal an: »Herr Gurlitt, wir sind französische Journalisten. Würden Sie uns ein paar Fragen beantworten?« Mit einer Mischung aus Angst und Hass, so Trierweiler später, habe dieser seine Verfolger angestarrt und geantwortet: »Beifall von der falschen Seite ist das Schlimmste, was es gibt.«15
Trierweiler entschloss sich, den alten Mann nicht weiter zu bedrängen; auch, wie er später erklärte, weil Gurlitt offensichtlich krank war und Trierweiler Sorge hatte, er würde unter dem Druck zusammenbrechen. Unauffällig folgte er ihm erneut bis zum Artur-Kutscher-Platz; als Trierweiler sah, dass Gurlitt im fünften Stock tatsächlich in seine Wohnung ging, hatte er endgültig Gewissheit.
Der Paris Match erscheint regelmäßig am Donnerstag; die Befürchtung lag nahe, dass es anderen Reportern bis dahin gelingen würde, Cornelius Gurlitt »abzuschießen«. Um dem zuvorzukommen, wurden die Fotos bereits am Samstag auf der Internetseite des Magazins online gestellt,16 binnen kürzester Zeit weltweit verbreitet und millionenfach gesehen; »das Phantom« hatte endlich ein Gesicht bekommen. Zähneknirschend zollte die Branche dem Scoop Respekt; Andreas Petzold, Herausgeber des Stern, brachte das allgemeine Gefühl noch am selben Abend via Twitter auf den Punkt: »Da haben uns die Franzosen aber gezeigt, wie’s geht.«17
Dabei entsprach Trierweiler nicht wirklich dem typischen Bild eines Paparazzo. Der 60 Jahre alte Journalist hatte in Straßburg Philosophie studiert und beschäftigte sich neben seiner Tätigkeit beim Paris Match unter anderem mit der Übersetzung philosophischer Werke ins Französische. Seine letzte Übersetzung, »Die Beschreibung des Menschen« des deutschen Philosophen Hans Blumenberg, war 2011 in Frankreich erschienen. Auf über 900 Seiten entwickelt Blumenberg in diesem Werk die These von der Sichtbarkeit des Menschen als Ursprung seines Selbstbewusstseins. Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass ausgerechnet der Übersetzer Blumenbergs der Welt das Bild eines Menschen auslieferte, der über 50 Jahre lang alles dafür getan hatte, unsichtbar zu sein.
Cornelius Gurlitt bekam von alledem wie immer nichts mit, weil er ja weder über einen Fernseher noch über Internet verfügte. Mit zittriger Schrift hatte er nach seiner Rückkehr in seinen Kalender notiert: »Karstadt Schwabing Verhörs-Angriffe auf der Straße.«18 Am Tag darauf klebte er einen gelben Post-it-Zettel an die Tür seines Apartments; in sorgfältig gezeichneten Versalien hatte er darauf geschrieben: »Bitte Ruhe und Frieden geben. Bin schwer herzkrank und gehbehindert. Schriftliche Stellungnahme erfolgt später. Besten Dank.«19
Am darauffolgenden Dienstag, dem 12. November, stand Gurlitts Reise zu seinem Internisten in Kornwestheim an. Wie immer hatte er sich akribisch auf die dreistündige Zugfahrt vorbereitet, Wochen im Voraus per Brief ein Zimmer im Hotel Domizil in Kornwestheim reserviert und um schriftliche Bestätigung gebeten. In seinen Rollkoffer hatte er neben ein paar Kleidungsstücken zum Wechseln und seinem Waschzeug auch Proviant gepackt. Gegen 11.30 Uhr stellte Gurlitt den Koffer in den Hausflur, um dann noch einmal in die Wohnung zurückzugehen, ohne die Wohnungstür hinter sich wieder zuzuziehen. Wenige Augenblicke später stand ihm eine fremde Frau gegenüber.
Özlem Gezer war am Morgen aus Hamburg gekommen;20 am Flughafen München hatte sie sich einen Leihwagen genommen und war direkt zum Artur-Kutscher-Platz gefahren. Mit sich brachte die 32 Jahre alte Spiegel-Journalistin einen offiziellen Brief ihres Magazins an Cornelius Gurlitt – die Antwort auf den Irrläufer von vergangener Woche – mit der Bitte um ein Gespräch über die Hintergründe zum Fall. Es war ihr zweiter Anlauf auf die Geschichte. In der Woche zuvor hatte sie schon einmal München und Salzburg abgeklappert; ohne Erfolg.
An diesem Tag standen die gläsernen Flügel der Eingangstür offen. Ein Mieter zog aus. Gezer nutzte die Chance und ging ins Haus. Nachdem sie im fünften Stock erfolglos bei Gurlitt geklingelt hatte, setzte sie sich auf die Treppe und begann einen zweiten Brief zu schreiben, in dem sie Gurlitt ihre Motive schilderte und ihre Handynummer anfügte mit der Bitte um Rückruf. Eine Nachbarin entdeckte Gezer dabei und bat sie in ihre Küche. Das angebotene Bier lehnte die Journalistin höflich ab, die Lebensgeschichte musste sie sich anhören, ohne das Treppenhaus durch die geöffnete Wohnungstür aus dem Blick zu verlieren. Etwa eineinhalb Stunden später hörte sie Geräusche auf dem Flur. Gurlitt hatte gerade seinen Rollkoffer in den Gang gestellt. Gezer entdeckte den Koffer vor der Tür und stand Gurlitt kurz darauf gegenüber. Dass Gurlitt den Spiegel kannte und schätzte, kam ihr entgegen; dass er kurz zuvor an das Magazin geschrieben hatte und Gezer die Antwort überbringen sollte, auch.
Doch bevor sie den alten Mann in ein Gespräch verwickeln konnte, tauchte plötzlich eine zweite Journalistin auf; Catrin Lorch vom Feuilleton der Süddeutschen Zeitung.21 Lorch war am Vormittag beim Arzt gewesen und hatte ihrer Redaktion angeboten, auf dem Heimweg einen Brief in Gurlitts Briefschlitz an der Tür zu seinem Apartment zu werfen; auch die SZ bat darin um ein Gespräch. Im fünften Stock angekommen, ging Lorch auf die Wohnung Gurlitts zu; sie sah den schwarzen Rollkoffer und die halboffene Tür. Dann, so Lorch, sei Gurlitt mit Gezer aus der Wohnung gekommen. Gezer sollte später behaupten, sie habe Gurlitt vor der Wohnung angesprochen; jedenfalls war er dabei, seine Wohnung abzuschließen, als die beiden Frauen sich schließlich gegenüberstanden.
Cornelius Gurlitt ließ sich nicht aufhalten. Mit einer Hand zog er seinen Rollkoffer hinter sich her, mit der anderen stützte er sich auf seinem Regenschirm ab und ging zielstrebig zum Aufzug. Lorch hatte sich vorgestellt und begonnen, den alten Mann zu fragen, was er zu den Vorwürfen der Staatsanwaltschaft zu sagen habe, als Gezer ihr einen Vorschlag machte. Es sei sinnlos, jetzt zu dritt im Fahrstuhl zu fahren; wenn Lorch sie allein mit Gurlitt im Aufzug reden lasse, würde Gezer sich im Foyer zurückziehen und ihr das Feld überlassen. Überrumpelt stimmte die Kollegin von der SZ zu und begann, die Treppen hinunterzuhasten.
Es dauerte eine knappe Minute, bis der Fahrstuhl den Weg vom fünften Stock zum Erdgeschoss zurückgelegt hatte. 60 Sekunden, in denen sich Gezers Gedanken überschlugen. Sie wusste, dass der Spiegel erst am kommenden Montag erscheinen würde; bis dahin wäre Lorchs Interview längst erschienen. Keine der vielen Fragen zu dem Fall ließ sich unter diesen Umständen klären. Intuitiv entschloss sich Gezer daher, gar nichts zur Sache zu fragen. Stattdessen wollte sie einfach nur spontan wissen, wohin Gurlitts Reise gehe. Er müsse zum Arzt, das Taxi würde schon unten warten, antwortete der alte Mann. Gezer setzte jetzt alles auf eine Karte: »Herr Gurlitt, darf ich mit Ihnen Taxi fahren? Ich würde gerne mit Ihnen sprechen.« Das gänzlich Unerwartete geschah; Gurlitt stimmte zu.
Unten angekommen, überließ Gezer ihrer Kollegin bereitwillig das Feld. Gurlitt antwortete einsilbig; er habe keine Unterlagen mehr zu seiner Kunstsammlung. »Ich habe alles der Staatsanwaltschaft übergeben.« Auf die Herkunft seiner Bilder angesprochen, erwiderte er ausweichend: »Ich kann nichts sagen, ich weiß gar nichts.« Im Übrigen sei er krank und auf dem Weg nach Würzburg zu seinem Arzt. »Aber ich bin bald zurück.«22
Dass Gurlitt, der eigentlich nach Kornwestheim wollte, eine falsche Fährte gelegt hatte, ahnte Lorch in dem Moment nicht; aber der Gedanke, einen offensichtlich schwer kranken Menschen auf dem Weg zu seinem Arzt zu verfolgen, so erklärte Lorch später, erschien ihr unvorstellbar. Sie begleitete Gurlitt gemeinsam mit Gezer noch ein paar Schritte bis zum Bürgersteig, wo ein paar Fotografen warteten und die Szene festhielten. Unwirsch kommentierte Gurlitt die Blitzlichter: »Das ist alles eine große Büberei.«23 Auf den Fotos ist zu sehen, wie Gurlitt einen Moment innehält, als Lorch sich von ihm verabschiedet, und dann gemeinsam mit Gezer über die Straße zum Taxi geht.
Der Taxifahrer kannte Gurlitt wie die meisten seiner Kollegen, die diesen Standplatz frequentierten, und handelte geistesgegenwärtig. Mit Vollgas jagte er davon, nicht ohne auf dem Weg zum Hauptbahnhof einige Schleifen zu drehen, um mögliche Verfolger abzuhängen. Gezer soll vorher im Taxi noch gerufen haben: »Zum Flughafen!«24 Jedenfalls meldete die New York Times nur wenige Minuten später in ihrem Blog: »Cornelius Gurlitt beobachtet, wie er Richtung Münchner Flughafen aufbricht.«25 Wenig später kursierte im Internet sogar die Nachricht, ein Reporter der New York Times habe die Check-in-Daten von Gurlitt an einem Terminal am Flughafen fotografiert und auf Twitter gepostet.26 Das war natürlich frei erfunden; tatsächlich fuhr Gurlitt zum Münchner Hauptbahnhof.
Özlem Gezer, die im Taxi auf der Rückbank neben Gurlitt saß, hatte ihm immer noch keine Fragen gestellt. Stattdessen hörte sie einfach zu. Boris Becker hatte zwei Monate zuvor seine Autobiografie veröffentlicht und dafür reichlich negative Schlagzeilen geerntet. Kopfschüttelnd beklagte sich Gurlitt im Taxi bei Gezer: »Was wollen die Menschen eigentlich von mir? Ich bin doch nicht Boris Becker.«27 Özlem Gezer musste über den Vergleich lachen; das wirkte ansteckend auf Gurlitt. Lachend sah er Gezer an: »Stimmt doch, oder?«28 Das Eis war gebrochen.
Am Bahnhof angekommen, fragte sie Gurlitt, ob sie mit ihm auf den Zug warten dürfe. Gurlitt stimmte zu. Bis zur Abfahrt des Intercitys nach Stuttgart sollte es noch eine Stunde dauern; Gurlitt und Gezer beschlossen, sich in einem Café im Bahnhof aufzuwärmen. Bei einer Tasse Tee regte Gurlitt sich wieder auf: »Warum machen die das mit mir? Warum klingeln die bei mir? Warum werfen die Briefe ein? Warum werde ich fotografiert, wenn ich einkaufen gehe?«29
Nach dem Tee begleitete Gezer den alten Mann zum Fahrkartenautomaten; er zahlte bar, sie bat ihn, ihn auf der Zugfahrt begleiten zu dürfen. Als der Zug eine halbe Stunde nach Abfahrt in Augsburg einfuhr, hatte Gurlitt sich wieder so weit erholt, dass er von sich aus zu reden anfing. Hier in Augsburg, so Gurlitt, sitze die Staatsanwaltschaft; der habe er schon so viele Briefe geschickt, ohne Antwort erhalten zu haben. Und während der Zug sich wieder in Bewegung setzte, bemühte Gurlitt Weltliteratur, um seine Gefühle zu beschreiben.
Vor den Fenstern des Bordrestaurants zog die graue Herbstlandschaft im trüben Licht des Novembertages vorbei, als Gurlitt Hamlet zitierte: »The world is a prison.«30 Aber Shakespeare irre sich, so Gurlitt. Nicht die Welt, München sei das Gefängnis! Zunächst dachte Gezer bei dem, was folgte, der alte Mann wolle sie auf den Arm nehmen. Doch sie merkte schnell, dass es für ihn bitterer Ernst war. Die Nazis hätten München einst zur Hauptstadt ihrer Bewegung ernannt; und Gurlitt war überzeugt, dass die Bewegung noch immer aktiv sei und hinter der Beschlagnahme seiner Sammlung stecke.
Im Spiegel schrieb Gezer später: »Für ihn ist München ›allen Unheils Ursprung‹. ›Hier wurde die Bewegung gegründet‹. […] Er sagt diesen Satz immer wieder, seine zittrige Stimme wird laut, wenn er das sagt. Er hebt den rechten Zeigefinger, mit der anderen Hand hält er sich an dem Tisch des ICE fest und zieht die Augenbrauen hoch. Gurlitt redet über die Entstehung der NSDAP im Jahr 1920. Über die Rede Adolf Hitlers im Festsaal des Münchner Hofbräuhauses, in der er das Programm der NSDAP verkündete. Für Gurlitt scheint das Unheil seitdem die Stadt nie wieder verlassen zu haben.«31
Für einen kurzen Moment hatte die Journalistin in die Abgründe seiner Psyche geblickt. Danach schwieg Gurlitt erschöpft, bis der Zug Stuttgart erreicht hatte. Mit einer Regionalbahn gelangten sie nach Kornwestheim. Die Rezeption des Hotels war nicht besetzt; telefonisch erfragte Gurlitt seine Zimmernummer. Der Schlüssel steckte. Er kannte das Prozedere schon, die Anonymität kam ihm entgegen. Gezer sah ihn erst am nächsten Morgen zum Frühstück wieder; er drückte ihre Hand, wie jedes Mal, wenn sie sich begegneten. Dann schwieg er wie meist. Gezer sagte rückblickend, dass sie inhaltlich in den vier Tagen von Gurlitt so viel erfahren habe wie sonst in einem einzigen Interview.
Aus Hamburg hatte Gezer mittlerweile Anweisung erhalten, den alten Mann auch zu filmen; mehrmals hielt Gezer jetzt mit ihrer Handykamera drauf, wenn Gurlitt vor sich hin redete. Hochkant, was die Kollegen von Spiegel TV später zur Verzweiflung bringen sollte, weil das nur ein Drittel des Fernsehformats 16:9 füllt. Die Aufnahmen zeigen Gurlitt unter anderem in seinem Hotelzimmer; da sitzt er erschöpft auf seinem Bett, in Mantel und Schal, und spricht mit schwacher Stimme über die Zukunft: »Ich leb ja auch nicht mehr ewig jetzt mit der schweren Krankheit, also da kommt dann irgendeine Regelung.« Gezer fragt, ob er vorhabe, die Bilder vielleicht auszustellen. »Nein, nein, ich nehm das dann still zurück, erst mal. Bloß Ruhe dann und Frieden!«32
Gespannt warteten die Kollegen in Hamburg auf den Text von Özlem Gezer; die Geschichte, so viel war klar, musste auf den Titel. Redaktionsschluss war Freitag, aber Gezer hatte bis Donnerstagabend noch keine einzige Zeile geschrieben. Als ihr Redakteur Sven Röbel per Telefon vorsichtig nachfragte, wie weit sie sei, wollte Gezer aufgeben; Röbel versuchte sie aufzubauen: »Du begleitest ihn seit Tagen. Schreib einfach auf, was du gesehen, gehört und erlebt hast. Wer ist dieser Mensch Cornelius Gurlitt?«33
Gezer setzte sich an ihren Laptop und schrieb die ganze Nacht durch; am nächsten Morgen fuhr sie mit Gurlitt zurück nach München. Am Sonntag erschien der Spiegel.34 Auf dem Titel ein Foto aus dem Intercity; Gurlitt am Tisch des Bordrestaurants, vor sich eine Tasse Tee. Darunter in fetten Lettern: »Gespräche mit einem Phantom«. Als Gezer nach ihrer abenteuerlichen Reise das erste Mal in ihr Büro kam, hatten Kollegen einen Tweet von Frank Schirrmacher, dem damaligen Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, ausgedruckt und gerahmt an ihre Tür gehängt: »@Oezlem_Gezer: Ein fantastischer Scoop, eine ETA Hoffmann Story und dann: ›Zum Flughafen!‹ und wir alle fallen darauf rein!«35
Für ihren Artikel erhielt Gezer später den Henri-Nannen-Preis.36 Weniger Erfolg hatte Catrin Lorch, jene SZ-Journalistin, die am Dienstag, den 12. November am Artur-Kutscher-Platz zurückgeblieben war. Nachdem bekannt wurde, dass Gurlitt mit einer Spiegel-Reporterin aufgebrochen war, erhielt sie eine Reihe von unfreundlichen Anrufen von Vorgesetzen und Kollegen, warum sie sich diese Chance habe entgehen lassen. Erst einige Monate später, als bekannt geworden war, wie krank Gurlitt wirklich war, meldete sich einer von ihnen bei ihr und entschuldigte sich: »Es war richtig, ihm damals nicht zu folgen.«37
Am Mittwoch, dem 20. November 2013, dem Buß- und Bettag, notierte Gurlitt in seinen Notizkalender: »SPIEGEL erhalten«. Donnerstag, den 21. November dann wieder »Klingel Terror«; auch am Freitag »Klingel-Terror«. Der 24. November war Totensonntag; am Tag darauf brechen die Aufzeichnungen in den Notizkalendern ab; »5.00 Uhr früh: –3° Kälte« lautet sein letzter Eintrag. Gurlitt hatte keine Kraft mehr. Er stopfte sich Watte in die Ohren, betäubte seinen Körper mit einem starken Schmerzmittel und legte sich in sein Bett.
Manchmal, wenn Cornelius Gurlitt etwas auffiel, was er in einem Buch oder in der Zeitung gelesen hatte, machte er sich eine kurze Notiz. Auf Zettel, die er an die Küchenwand oder in seinen Schrank klebte oder in seine Kalender, auf die erste und letzte Umschlaginnenseite.
In einen seiner Kalender hatte er einen Zettel eingelegt, auf dem er vier Zeilen aus einem Gedicht von Hermann Hesse notiert hatte:
»Und die Seele unbewacht
will in freien Flügen schweben,
um im Zauberkreis der Nacht
tief und tausendfach zu leben.«38
Wie ein Schneemann in der Sonne ist die Zahl der verdächtigen Bilder in der Sammlung Gurlitt zusammengeschmolzen. Am Anfang waren es 1.500 Bilder, die in der Ausgabe des Focus vom 4. November 2013 pauschal unter Raubkunstverdacht gestellt wurden.1 Wenige Tage später präzisierte dann ein Sprecher des Beauftragten für Kultur und Medien die Zahl und sprach von insgesamt 970 verdächtigen Werken. Die Zahl wurde im gleichen Atemzug weiter eingedampft. 380 Bilder davon seien der »Entarteten Kunst« zuzurechnen, aber die übrigen 590 seien Raubkunst.2 Das war wenig präzise; gemeint war, dass die Herkunft von 590 Bildern unbekannt war und sie damit möglicherweise auch Raubkunst sein konnten. Bei der Zahl von 590 verdächtigen Werken sollte es bis Ende 2015 bleiben.3 Im Abschlussbericht der Taskforce vom 14. Januar 2016 waren es dann nur noch 117 raubkunstverdächtige Bilder.4 Sechs Monate später korrigierte das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste, das mittlerweile die Untersuchung der Bilder aus der Sammlung Gurlitt übernommen hatte, die Zahl erneut nach unten. Nun waren es 91 Bilder, bei denen sich der Raubkunstverdacht »erhärtet« habe.5 Und es ist abzusehen, dass auch diese Zahl viel zu hoch gegriffen ist.
Die Fakten sprechen eine eindeutige Sprache. Insgesamt fünf Kunstwerke aus der Sammlung Gurlitt waren bis zur Drucklegung dieses Buches als Raubkunst identifiziert: zwei kleine Zeichnungen, »Inneres einer gotischen Kirche« von Adolph von Menzel und »Das Klavierspiel« von Carl Spitzweg, ferner das wohl bekannteste Bild aus der Sammlung, die »Zwei Reiter am Strand« von Max Liebermann, sowie das impressionistischen Gemälde »La Seine vue du Pont-Neuf« von Camille Pissarro und die »Femme assise« von Henri Matisse.6
Selbst wenn noch weitere eindeutige Fälle ermittelt werden sollten, wird der Anteil von Raubkunst in der Sammlung Gurlitt ein Prozent kaum überschreiten. Das dürfte im Vergleich zu manchen Museen und zahlreichen Händlern und Privatsammlern, die in dieser Zeit Kunst erwarben, deutlich unter dem Durchschnitt liegen.
Der entstandene Eindruck, es handele sich bei der Sammlung Gurlitt um einen »Nazi-Schatz«, quasi eine Anhäufung von Raubkunst, wird von den Fakten nicht gestützt. Diese falsche Darstellung wurde zum ersten Mal vom Focus in die Welt gesetzt. Sie beruhte auf den vorausgegangenen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft, die sich im Zusammenspiel mit den in die Untersuchungen eingebundenen Experten total verrannt hatte. Die Falschmeldung vom »Nazi-Schatz« war eine von zwei Voraussetzungen, die aus dem Fall Gurlitt eine Weltsensation machten. Der zweite entscheidende Faktor war die völlig überhöhte Schätzung der Sammlung auf eine Milliarde Euro; dabei hatten sich die Redakteure des Magazins um das Zehnfache verschätzt. Der tatsächliche Wert all jener Kunstwerke, die Cornelius Gurlitt zu Lebzeiten besessen hat, liegt irgendwo zwischen 100 und 120 Millionen Euro.7 Erst die überhöhte Wertangabe in Verbindung mit dem Nazi-Hintergrund brachte der Meldung eine internationale Aufmerksamkeit, die in ihrer Dimension durchaus mit den gefälschten Hitler-Tagebüchern des Stern zu vergleichen ist.
Dabei war das, was anfänglich aus der Sammlung Gurlitt gezeigt wurde, über weite Strecken wenig spektakulär. Das im Internet hundertausendmal angeklickte, geradezu rührend biedere Aquarell einer Straßenbahn des ansonsten sehr verdienstvollen Dresdner Künstlers Bernhard Kretzschmar ist dabei wie ein Sinnbild des Umgangs mit der Kunst in der Sammlung Gurlitt.8 Als im April 2016 – längst überfällig – die Kunstwerke aus dem Salzburger Bestand publiziert wurden und damit auch das zweifellos bedeutendste Bild der Sammlung, die »Montagne Sainte-Victoire« des Impressionisten Paul Cézanne, ans Tageslicht kam, interessierte sich niemand mehr dafür.9
Das Gemälde von Cézanne ist zugleich auch das wertvollste Bild der ganzen Sammlung. Öffentlich wurde die letzte »Montagne Sainte-Victoire« 2001 beim Auktionshaus Phillips in New York für 38,5 Millionen Dollar versteigert;10 2014 verkaufte das Edsel & Eleanor Ford House, eine Institution, die das ehemalige Anwesen des Sohns von Ford-Gründer Henry als Museum in Michigan bewahrt, eine »Montagne Sainte-Victoire« dann unter Ausschluss der Öffentlichkeit für atemberaubende 100 Millionen Dollar.11 Die »Montagne Sainte-Victoire« aus der Sammlung Gurlitt würde daher bei einer Auktion aktuell wohl mindestens mit 50 Millionen Euro angesetzt werden.
Gegenwärtig wäre das Bild allerdings unverkäuflich. Solange die Provenienz nicht restlos aufgeklärt ist, würde es keines der großen Auktionshäuser zur Versteigerung annehmen; selbst wenn es nicht einmal im Ansatz einen Hinweis auf einen Raubkunstverdacht gäbe, ist das Bild wie alle Kunstwerke aus der Sammlung, deren Vorbesitzer unbekannt sind, wertlos. Der Name »Gurlitt« im Pedigree macht die Bilder unverkäuflich.12
Der Name »Gurlitt« kann allerdings auch das Gegenteil bewirken. So im Fall der »Zwei Reiter am Strand« von Max Liebermann.13 Dabei ist dieses Bild wenig spektakulär: Ein dekoratives Gemälde, in zahlreichen Variationen vom Künstler für seine Kundschaft hergestellt. Herrenreiter oder Damen hoch zu Ross, die durch die Brandung reiten – ein schlichtes Motiv, ganz dem Zeitgeschmack der ausgehenden wilhelminischen Ära geschuldet. Die Komposition zudem verunglückt, der Kopf des linken Pferdes so nahe am Bildrand, dass es beim nächsten Schritt an den schweren goldenen Rahmen zu stoßen droht. Dennoch natürlich gekonnt gemalt von Liebermann, dessen Bedeutung unbestritten, aber eben durch andere Bilder überliefert ist.
Von den »Zwei Reitern am Strand« existieren zwei nahezu identische Fassungen; die eine kam 2009 bei Sotheby’s in London unter den Hammer und erzielte damals umgerechnet knapp 340.000 Euro;14 die Fassung aus der Sammlung Gurlitt stammt aus dem Besitz des Breslauer Zuckerfabrikanten David Friedmann, der von den Nazis enteignet worden war. Ein Großneffe von Friedmann, der ehemalige Anwalt David Toren, lebte hochbetagt in New York, als er den Liebermann im Zuge der Berichterstattung zum Fall Gurlitt in der Presse wiedererkannte. Der Kampf um die Herausgabe des Gemäldes sollte zwei Jahre dauern und nahm zeitweise skurrile Züge an. So schenkte ein Unterstützer dem altersbedingt an starker Sehschwäche leidenden Toren eine dreidimensionale Laubsägearbeit der »Zwei Reiter am Strand«. Das Bild vom 90 Jahre alten Toren, der ergriffen die Konturen des Werkes ertastete, erhöhte den moralischen Druck auf die Verantwortlichen; dabei ging es ihm vor allem ums Prinzip.
»Ich möchte ein Familienerbstück zurück, es gehört uns«, so Toren in einem Interview mit der Deutschen Welle. »Ich habe nichts aus dieser Zeit außer einer Fotografie, die ich damals mit nach Schweden nahm. Meine Eltern wurden nach Auschwitz deportiert und dort vergast. Dieses Gemälde ist ein Erbstück meiner Familie, niemand sonst sollte es besitzen. Es ist eines der wenigen Dinge, die mich an meine Herkunft und an meine Familie erinnern können.«15
Am 13. Mai 2015 konnten Beauftragte des Auktionshauses Sotheby’s das Erinnerungsstück dann endlich in München für Toren in Empfang nehmen.16 Sechs Wochen später wurde der Liebermann in London versteigert. Der Aufrufpreis für die Auktion bei Sotheby’s lag bei knapp 750.000 Euro; mehr als doppelt so viel wie bei dem gleichen Motiv sechs Jahre zuvor. Das Ergebnis der Auktion übertraf alle Erwartungen, über 2,6 Millionen Euro hatte ein anonymer Käufer für das Bild am Telefon geboten. In diesem Fall hatte der Name »Gurlitt« zu einer exorbitanten Wertsteigerung geführt.17
Neben der »Montagne Sainte-Victoire« von Cézanne gibt es drei weitere Werke, die sich im Wert deutlich vom breiten Mittelfeld der Sammlung Gurlitt abheben. Die »Femme assise«, eine sitzende Frau von Henri Matisse, erreicht nicht ganz die Größenordnung des Cézanne; das Bild befindet sich nicht länger in der Sammlung; es ist Raubkunst und wurde im Mai 2015 restituiert.18 Zwei weitere Gemälde stechen von ihrem Wert her aus der Sammlung hervor: »Waterloo Bridge, temps gris«, die Londoner Waterloo Bridge bei trübem Wetter, von Claude Monet und »Marine, temps d’orage«, also ein Seestück bei aufkommendem Sturm, von Édouard Manet.19
Eine aufgeklärte Provenienz vorausgesetzt, würde der Monet gegenwärtig wohl auf 10 Millionen Euro geschätzt werden; die »Marine« von Manet ist schwerer zu bewerten, weil der Künstler nur wenige Seestücke gemalt hat. Aufgrund der großen Bedeutung von Manet ist ein Schätzpreis zwischen drei und fünf Millionen Euro denkbar.20 Kein anderes Werk aus der Sammlung Gurlitt vermag auch nur annähernd in diese schwindelerregenden Regionen vorzudringen; die obere Grenze des Mittelfelds beginnt erst wieder bei Werten von ein bis maximal zwei Millionen. Auch solche Bilder sind allerdings eher selten in der Sammlung. Wesentlich größer und ungleich weniger wertvoll ist das Konvolut der etwa 680 Druckgrafiken – von Holzschnitten über Kupferstiche und Radierungen bis hin zu Lithografien, Licht- und Offsetdrucken.
Natürlich gibt es auch unter den Druckgrafiken besonders kostbare Arbeiten: Der Kupferstich »Ritter, Tod und Teufel« von Albrecht Dürer kann je nach Erhaltungszustand gegenwärtig bis zu einer halben Million Euro erbringen;21 ganze Werkgruppen wie etwa die Holzschnitte von Paul Gauguin oder die Lithografien von Henri Toulouse-Lautrec oder Edvard Munch stechen in der Sammlung Gurlitt qualitativ unter den Grafiken hervor. Einzelne Blätter wie das Triptychon »Der barmherzige Ritter« von Erich Heckel sind sogar Unikate, weil der Künstler noch einmal selbst Hand angelegt und die Holzschnitte 1915 nach dem Druck mit Aquarellfarben koloriert hatte.22
Das Gros der Grafiken in der Sammlung Gurlitt wurde aber doch eher in hohen Auflagen gedruckt, so etwa die 58 Lithografien des Franzosen Honoré Daumier, ausnahmslos Karikaturen, die der Künstler im 19. Jahrhundert für die satirischen Blätter seiner Zeit angefertigt hatte. Oder die Lithografie »Das Konzert I (Naemi)« von Oskar Kokoschka aus dem Jahr 1920, die in 35 identischen Abzügen in der Sammlung vertreten ist. Einzelne Motive von Druckgrafiken wie zum Beispiel George Grosz’ Offsetdruck »Lustmord in der Ackerstraße« aus dem Buch »Ecce Homo« von 1922/23 sind mit etwas Glück sogar bei Ebay für ein paar Hundert Euro zu ersteigern.
Zu den Druckgrafiken kommen weitere 480 Zeichnungen und etwa 134 Aquarelle, Gouachen und Pastelle; damit besteht die Sammlung Gurlitt insgesamt aus ca. 1.300 Arbeiten auf Papier. Im Gegensatz hierzu gibt es lediglich 130 Bilder in Öl auf Leinwand, Karton, Holz oder Kupfer, acht Skulpturen sowie etwa 60 kunstgewerbliche Arbeiten. Die hohe Zahl an Papierarbeiten erklärt, wieso zur Unterbringung der gesamten Sammlung letztlich ein kleines Zimmer von 12 m2 ausreichte. Die 1.300 Blätter waren in 15 Schubladen eines stählernen Grafikschranks untergebracht. Die Ölbilder, sofern sie nicht in Salzburg oder München an der Wand hingen, waren in einem selbstgezimmerten Regal auf zwei Ebenen sorgfältig hochkant nebeneinander aufgestellt.23
Zu den 60 kunstgewerblichen Objekten zählen ägyptische Plastiken und Reliefs, griechische Münzen, Vasen und Statuetten, Buddhaköpfe, japanische Schwertblätter und Töpferwaren sowie mittelalterliche Elfenbeinarbeiten und Silberhumpen. Außerdem gibt es im Konvolut Kunsthandwerk noch einzelne persönliche Erinnerungsstücke der Familie, wie etwa eine silberne Breischale, die Hildebrand Gurlitt zur Taufe 1895 erhalten hatte. Obwohl durch die Punze eindeutig als Arbeit des Dresdner Hofjuweliers Heinrich Mau zu identifizieren und obwohl die ersten beiden Namen Gurlitts, »Hildebrand Paul«, unübersehbar eingraviert sind, wurde die silberne Schale im März 2016 zusammen mit anderen Sammlungsstücken aus Salzburg als »raubkunstverdächtiges Werk« in der digitalen Datenbank zum »Kunstfund Gurlitt« eingestellt.24
1.300 Papierarbeiten, 130 Ölbilder, acht Skulpturen und 60 kunsthandwerkliche Arbeiten – schon aufgrund dieser Zusammensetzung führt die Bezeichnung »Sammlung« für die Gurlittschen Schätze in die Irre;25 treffender müsste man wohl von einer »Ansammlung« sprechen. Ererbtes einer kunstsinnigen Familie mischt sich mit Dekorativem, Reste des Warenbestands eines Händlers mit den Erwerbungen eines Sammlers. Am deutlichsten trennt sich noch der Familienbesitz von den restlichen Kunstwerken. Allein das Konvolut von Hildebrand Gurlitts Großvater Louis umfasst rund 100 Arbeiten.
Louis Gurlitt wurde 1812 im damals noch dänischen Altona als Sohn des Golddrahtziehers Johann August Wilhelm Gurlitt geboren.26 Der bescheidene Wohlstand des Vaters ermöglichte den Söhnen den beruflichen Aufstieg. Dabei fällt auf, dass sich die Gurlitts ihre Herausforderungen vor allem auf kulturellem Gebiet suchten; zu nennenswertem Reichtum konnte man es damit zwar nicht bringen, wohl aber zu Anerkennung und sogar Ruhm.
Der 1820 geborene Cornelius Gurlitt wurde Komponist; noch heute ist er vor allem Klavierschülern bekannt, die weltweit nach seinen Noten üben müssen.27 Emanuel Gurlitt, geboren 1826, war Bürgermeister von Husum und zu seiner Zeit ein geachteter plattdeutscher Mundartdichter.28 Der berühmteste unter den Brüdern war zweifellos Louis Gurlitt; schon früh fiel er durch sein zeichnerisches Talent auf. Seine Eltern förderten seine Anlage und ermöglichten es ihm, in Hamburg bei den Künstlern Günther Gensler und Siegfried Detlev Bendixen in die Lehre zu gehen.29 1832 schrieb sich Louis Gurlitt mit 20 Jahren an der Kunstakademie in Kopenhagen ein. Hier lernte er den etwa gleichaltrigen dänischen Maler Vilhelm Marstrand kennen. Die Freundschaft hielt ein Leben lang; regelmäßig porträtierte Marstrand seinen Freund Gurlitt, wenn sie sich sahen.30 Eines dieser Porträts befindet sich heute in der Sammlung Gurlitt, stets weitervererbt vom Vater auf den Sohn. Das hielt die Taskforce 2013 nicht davon ab, das Marstrand-Bild, ähnlich wie 2016 die silberne Breischale Hildebrand Gurlitts, als raubkunstverdächtiges Bild im Internet zu publizieren.31
In nur zweieinhalb Jahren schloss Louis Gurlitt sein Studium in Kopenhagen ab. Er hatte seinen Stil gefunden, der sich in den 50 Jahren seines Schaffens kaum mehr veränderte. Gurlitts bevorzugte Sujets waren Landschaften. Der Künstler bereiste halb Europa auf der Suche nach immer neuen, eindrucksvollen Motiven, die er dann nach der Natur skizzierte und später im Atelier idealisierend auf die Leinwand brachte. Dass Louis Gurlitt seine Landschaften damals vor Ort studierte, war neu; dass er sie erst später im Atelier ausarbeitete, entsprach der Tradition. Vielleicht muten seine großformatigen Bilder in ihrer Ausführung deswegen heute etwas »trocken und pedantisch« an.32 Zeitloser und lebendiger wirken rund 30 in der Sammlung Gurlitt erhaltenen kleineren Ölskizzen; von seinem großen Talent künden schließlich auch 7 Aquarelle und 53 Zeichnungen.
Louis Gurlitt war zweifellos ein Star unter den Landschaftsmalern seiner Zeit; König Christian VIII. von Dänemark förderte den Künstler, später führte ihn Alexander von Humboldt beim preußischen König Friedrich Wilhelm IV. ein, schließlich wurde Herzog Ernst von Sachsen-Coburg-Gotha sein Gönner. Gurlitts Bilder hingen in den Palästen der gekrönten Häupter Europas, beim Adel und beim aufstrebenden Bürgertum, bei den Bankiers, Kaufleuten und Fabrikanten. Dabei verlief sein Leben nicht ohne Brüche. Dreimal war Louis Gurlitt verheiratet; seine erste Frau starb 1839 gut zwei Jahre nach der Hochzeit an Herzversagen, die zweite 1844 ein Jahr nach der Hochzeit an Typhus. Vier Monate zuvor war der gemeinsame Sohn Wilhelm geboren worden.
Nach dem Tod seiner Frau schloss Gurlitt Freundschaft mit dem Dichter Friedrich Hebbel und fand Anschluss an den Kreis um Fanny Lewald; die konvertierte Tochter eines jüdischen Kaufmanns aus Königsberg war ihrer Zeit weit voraus. Mit ihren Werken kämpfte die Schriftstellerin für soziale Gerechtigkeit und vor allem für die Gleichberechtigung der Frau. 1846 lernte Louis Gurlitt die jüngere Schwester von Fanny, Elisabeth »Else« Lewald, kennen und verliebte sich in sie. 1847 wurde geheiratet; die Ehe galt als glücklich, das Paar hatte sieben Kinder.
Vier der Söhne sollten auf dem Feld von Wissenschaft und Kultur ähnlich erfolgreich werden wie die Gurlitts aus der Generation des Vaters. Wilhelm wurde klassischer Archäologe und lehrte bis zu seinem Tod 1905 an der Universität Graz.33 Der 1850 geborene Cornelius wurde Kunsthistoriker und mit seinen Aufsätzen und Büchern vor allem zur Architekturgeschichte der wohl bedeutendste Gurlitt seiner Generation. Sein vier Jahre jüngerer Bruder Fritz gründete 1880 in Berlin die »Galerie Fritz Gurlitt«, die es ebenfalls zu einiger Bekanntheit bringen sollte.34 Der 1855 geborene Ludwig erwarb sich schließlich einen Namen als Reformpädagoge und Impulsgeber für die Wandervogel-Bewegung.35
Sein letztes Jahrzehnt verlebte Louis Gurlitt in Berlin-Steglitz in engem Kontakt mit seinen Kindern, die längst wieder eigene Kinder hatten. Sein Enkel Hildebrand, Sohn von Cornelius Gurlitt, war zwei Jahre alt, als Louis Gurlitt schließlich 1897 im Alter von 85 Jahren verstarb. Seine Frau Else überlebte ihn noch um weitere 12 Jahre und starb 1909. Hildebrand Gurlitt erinnerte sich später noch durchaus lebendig an die imponierende Gestalt seiner Großmutter, über die er in der dritten Person schrieb: »Die alte Frau in der Ecke des Sofas, die kannte er, sehr genau steht sie vor seinen Augen, schwarz angetan mit der Stenbrille und dem Taschentuch, das nach Eau de Cologne riecht. Sie, die Großmutter, die gute und [angenehme], wenn auch ein wenig furchterregende Frau. Später, sehr viel später wusste er, dass sie getaufte Jüdin war.«36
Der Nachlass von Louis Gurlitt wurde unter seinen Kindern aufgeteilt; auf den meisten Arbeiten, die sich heute noch in der Sammlung Gurlitt befinden, ist ein Nachlass-Stempel zu finden. Der Galerist Fritz Gurlitt handelte erfolgreich mit den Landschaftsbildern seines Vaters, später sein Sohn Wolfgang und auch Hildebrand Gurlitt, als er ab 1933 Händler wurde. Arbeiten von Louis Gurlitt hängen heute in zahlreichen Museen Europas, von 1997 bis 1998 erinnerte die letzte große Ausstellung in Deutschland und Dänemark an ihn, und regelmäßig tauchen seine Bilder auch im Handel auf. Eine »Norwegische Landschaft« aus der Sammlung Schäfer in Schweinfurt erzielte 2012 bei Sotheby’s in London umgerechnet 17.000 Euro.37 Die 100 Werke Louis Gurlitts fallen als geschlossener Bestand in der Sammlung Gurlitt auf, eine herausragende kunsthistorische Bedeutung kommt ihnen freilich nicht zu.
Anders verhält es sich mit den 140 Arbeiten von Cornelia Gurlitt, der Schwester von Hildebrand, die mit der Beschlagnahmung der Sammlung 2012 wieder ans Tageslicht kamen – darunter nur zwei kleinere Gemälde in Öl sowie 138 Arbeiten auf Papier. Das verschollen geglaubte Lebenswerk der Künstlerin ist die einzige echte Entdeckung in der Sammlung Gurlitt, im eigentlichen Sinn des Wortes wie aus kunsthistorischer Sicht. 1890 in Dresden geboren, wollte Cornelia bereits in frühen Jahren Künstlerin werden; für eine Frau in dieser Zeit ein ganz unerhörtes Vorhaben.38 Die staatlichen Kunsthochschulen ließen damals überhaupt nur Männer zum Studium zu. Gefördert vor allem von ihrem durchaus liberalen Vater, nahm sie Zeichenunterricht bei Max Nadler in Dresden und ging 1913 sogar nach Paris. Der Erste Weltkrieg durchkreuzte ihre Pläne.
39