Roman
© 2018
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ISBN 978-3-95609-244-2
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Nicht bestanden. Luisa bekam diese zwei Worte einfach nicht aus ihrem Kopf. Schon wieder nicht bestanden. Sie trat fester in die Pedale, sie wollte nur weg. Weg von der Uni, weg von diesem Zettel, der ihr neuerliches Scheitern offenkundig gemacht hatte. Der Fahrtwind brannte in ihren Augen. Wie hatte das passieren können? Ihre Hände umklammerten den Lenker mit aller Kraft. Dabei hatte sie so viel gelernt. Dieser trockene Stoff wollte sich einfach nicht in ihren Gehirnwindungen festsetzen.
Hinter ihren Schläfen begann es zu pochen. Nicht bestanden, hämmerte es von innen unaufhörlich gegen ihre Schädeldecke. Luisa wischte mit dem Handrücken über ihre feuchten Augen. Das hatte doch alles keinen Sinn mehr. Es musste sich etwas ändern. Luisa riss den Lenker herum, um abzubiegen.
Quietschende Bremsen, lautes Hupen. Ein Knall. Dann war alles schwarz.
Und ruhig.
»Luisa, mein Schätzchen.« Irgendjemand streichelte über ihren Kopf. Sie wollte die Augen öffnen, aber ihre Lider waren bleischwer. Sie war unendlich müde.
Wieder eine Stimme. Eine vertraute Stimme.
Es dauerte einen Moment, bis Luisa die Worte verstand. »Kannst du mich hören?«
»Hm . . .«, murmelte sie. Ihr Kopf tat weh. Es war, als würde ein viel zu enger Helm alles zusammenquetschen. Ihre Lippen waren trocken. Sie hatte Durst.
Nur langsam lichtete sich der Nebel in ihrem Gehirn. Wo war sie? Was war los?
Als hätte die Stimme ihre Gedanken erraten, hörte Luisa: »Du bist im Krankenhaus, auf der Überwachungsstation. Du hattest einen Unfall.«
Einen Unfall? Mühsam gelang es Luisa endlich, ihre Augen zu öffnen. Geradewegs sah sie in das besorgte Gesicht ihrer Mutter. Sie konnte sich an nichts erinnern. »Was ist passiert?« Es klang mehr wie ein Krächzen. Um sie herum piepste es. Überall an ihrem Körper hingen Kabel, als sei sie am Bett festgebunden.
»Du warst mit dem Fahrrad auf dem Weg nach Hause, dann bist du mit einem Auto zusammengestoßen.« Dieses Mal war es ihre Schwester, die sprach.
»Vanessa, du bist auch hier«, stellte Luisa überflüssigerweise fest.
»Ich bin angerufen worden. Du hast wohl gesagt, die Ärzte sollen mich verständigen.«
Luisa versuchte krampfhaft, sich daran zu erinnern, aber es fiel ihr nicht mehr ein. Plötzlich sah sie wieder den Aushang an der Uni vor sich. Nicht bestanden.
Und danach war alles weg.
Sie biss sich auf ihre Unterlippe, um die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. »Was ist los mit mir?«
»Dein linkes Bein war gebrochen, du musstest operiert werden und du hast eine Gehirnerschütterung. Ansonsten hast du großes Glück gehabt.«
Kaum hatte Luisas Mutter die Worte ausgesprochen, verstärkte sich das heftige Hämmern in Luisas Kopf und sie spürte einen ziehenden Schmerz in ihrem Bein. Dann fielen ihre Augen wieder zu. »Ich bin so müde. Wie spät ist es?«
»Fast sieben.« Erst jetzt bemerkte Luisa ihren Vater, der auf einem Stuhl neben dem Bett saß.
Luisa kämpfte mit aller Macht dagegen an, wegzudämmern. Sie wollte nur noch ihre Ruhe.
Ihre Mutter schien das zu bemerken. »Vielleicht sollten wir besser gehen und dich etwas schlafen lassen, damit du wieder zu Kräften kommst.« Sie küsste Luisa sanft auf die Wange.
In diesem Moment fiel Luisa ihr Kater ein. Der Arme war bestimmt schon ganz hungrig. Mit letzter Kraft versuchte sie, sich etwas aufzurichten. »Vanessa, kannst du dich um Floh kümmern?«
Vanessa verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Luisa wusste, dass sie nichts für Haustiere übrighatte. Und für Katzen schon gar nicht.
»Bitte.« Luisa sah ihre Schwester eindringlich an.
»Ja gut«, stimmte Vanessa widerwillig zu. »Ich werde nach Floh sehen.« Sie zog ihren Pferdeschwanz fester. Dann griff sie nach ihrer Handtasche. Wie immer passte an ihrem Outfit alles perfekt zusammen.
Wenn Außenstehende sie zusammen sahen, hielten sie sie nur selten für Schwestern. Abgesehen von den langen blonden Haaren und den grünen Augen hatten sie fast nichts gemeinsam. Luisa war eher sportlich und leger gekleidet, während Vanessa jeden Tag aussah, als würde sie gleich über einen Laufsteg flanieren.
»Bis morgen.« Ihre Mutter tätschelte noch einmal Luisas Hand.
Kurze Zeit später schloss sich die Zimmertür hinter ihrer Familie. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis Luisa wieder eingeschlafen war und in einen wunderschönen Traum fiel.
Jemand saß an ihrem Bett, hielt ihre Hand, streichelte darüber. Ganz zärtlich.
Ein leises Flüstern. Eine weiche, weibliche Stimme. Luisa konnte die Worte nicht verstehen. Aber sie hatte die Stimme schon einmal irgendwo gehört. Diesen beruhigenden Tonfall.
Sie wollte, dass die Frau für immer bei ihr blieb. Sie wollte, dass dieser Traum niemals endete. Doch viel zu schnell verschwamm alles um sie herum.
Für einen kurzen Moment hatte Christina am Nachmittag tatsächlich überlegt, ob sie Sabrina absagen sollte. Aber es wäre vermutlich schwieriger gewesen, ihrer besten Freundin ihre Gründe zu erklären, als den Abend einfach durchzustehen. Und vielleicht würde es ja doch gut werden und sie auf andere Gedanken bringen.
Pünktlich um acht klingelte Sabrina an ihrer Tür. Sie umarmte Christina schwungvoll zur Begrüßung. »Hey, Tinchen.«
Christina hasste es, wenn Sabrina sie so nannte. Aber je öfter sie das thematisiert hatte, desto mehr hatte Sabrina sich einen Spaß daraus gemacht, Christina damit aufzuziehen. Also war Christina dazu übergegangen, diesen Kosenamen zu ignorieren. Und eigentlich konnte sie ihrer besten Freundin ohnehin nicht böse sein. »Schön dich zu sehen. Wo ist Susanne?« Christina hatte erwartet, dass Sabrinas Freundin sie an diesem Abend begleiten würde.
»Ihr geht es nicht so gut. Sie hat sich wohl etwas eingefangen, aber sie meinte, ich sollte unbedingt trotzdem mit dir ausgehen.« Sabrina fuhr sich durch ihre kurzen braunen Haare. »Vielleicht ist sie auch einfach froh, mal ihre Ruhe vor mir zu haben.« Sie lachte und Christina wusste genauso gut wie Sabrina, dass das ganz sicher nicht der Fall war. Die beiden waren unzertrennlich. Wenn in ihrem Bekanntenkreis das Wort Traumpaar auf jemanden zutraf, dann auf die beiden.
»Bist du soweit?«
»Ja.« Christina schnappte sich ihre Jacke und sie machten sich auf den Weg. Die kleine Bar, in der sie regelmäßig ihre Samstagabende verbrachten, war nur wenige Gehminuten von Christinas Wohnung entfernt.
»Hey, Jacky.« Sie begrüßten die Besitzerin, die ihnen von hinter dem Tresen aus freundlich zuwinkte, fast im Einklang.
Ihr Stammplatz war noch frei. Ein kleines Schild, das den Tisch als reserviert ausgab, hatte dafür gesorgt, dass ihn sich niemand anders eroberte. Wie immer setzte sich Christina auf die Bank und Sabrina sich auf den Stuhl gegenüber.
Sie brauchten gar nichts bestellen, die Kellnerin brachte ihnen auch so ihr erstes Bier. »Mit einem schönen Gruß von Jacky.« Sie stellte die Gläser vor ihnen ab.
»Auf einen schönen Abend.« Christina prostete Sabrina zu und nahm einen Schluck. Wahrscheinlich war es wirklich gut, ein wenig rauszukommen.
Sie plauderten eine Weile, erst über die Arbeit, dann über Susanne.
»Ich bin wirklich froh, dass du mich damals mit Susanne bekanntgemacht hast.« Sabrinas Gesicht strahlte förmlich, wenn sie über ihre Frau sprach.
»Ihr passt einfach perfekt zusammen.« Christina zwinkerte ihrer besten Freundin zu. Die beiden hatten sich damals auf Christinas Einweihungsparty kennengelernt. Zu diesem Zeitpunkt war Susanne jedoch noch die Frau von Holger, ihrem Arbeitskollegen, gewesen. Und er hatte ihr das bis heute nicht verziehen, auch wenn Christina überhaupt nichts damit zu tun hatte, dass sich Susanne und Sabrina ineinander verliebt hatten.
»Jetzt müssen wir nur noch jemanden für dich finden.« Sabrina riss Christina aus ihren Gedanken. »Wie gefällt dir denn die Blonde dort an der Bar?« Sabrina deutete in die Richtung einer Frau, die etwa in ihrem Alter sein musste. »Die scheint neu hier zu sein. Jedenfalls habe ich sie vorher noch nie gesehen.«
Christina zuckte mit den Schultern. Die Frau sah nicht schlecht aus und offensichtlich wusste sie, wie sie mit ihrer Kleidung ihre Vorzüge perfekt zur Geltung bringen konnte.
»Das ist alles? Ein Schulterzucken?« Sabrina runzelte die Stirn. »Eine blonde, zierliche und sehr hübsche Frau in deinem Alter und du hast nichts dazu zu sagen?« Sie schüttelte den Kopf. »Die ist doch sonst genau dein Typ.«
»Ja, sie ist ganz attraktiv.« Christina merkte selbst, dass es sehr halbherzig klang.
Bei Sabrina schienen alle Alarmglocken zu schrillen. »Was ist los?« Sie richtete sich kerzengerade auf ihrem Stuhl auf und fixierte Christina. Ihr Tonfall war ernst geworden. »Und komm mir nicht mit irgendwelchen Ausflüchten. Wenn dich so eine Frau nicht interessiert, muss etwas Gravierendes passiert sein. Also, schieß los. Vielleicht verstehe ich dann auch, warum du schon den ganzen Abend so gedankenverloren bist.«
Christina atmete tief ein und hielt die Luft an. Sie wusste selbst nicht, was eigentlich mit ihr los war, warum sie mit ihren Gedanken nicht bei der Sache war, warum es sie nicht reizte, die fremde Frau zu erobern. Sie presste hörbar laut die Luft wieder aus ihren Lungen. »Ich kann es dir nicht erklären.«
»Oh doch, das kannst du.« Sabrina leerte ihr Bierglas in einem Zug. »Wir sind Freundinnen. Wir kennen uns schon eine Ewigkeit. Du kannst mir alles sagen.« Sie legte den Kopf ein wenig schief. Ihre Augen verengten sich zu einem Schlitz. »Du hast jemanden kennengelernt.«
»Nicht so laut.«
»Ich habe also recht.« Sabrina grinste triumphierend. »Ist sie berühmt? Müssen wir deswegen leise sein?« Sie bemühte sich gar nicht erst, zu flüstern.
»Quatsch.« Christinas Finger kreiste über den Rand ihres Glases. »Sie ist . . .« Sie stockte. Sie hatte überhaupt nicht vorgehabt, Sabrina alles zu erzählen. »Als Erstes: Ich habe mich nicht verliebt oder so.«
»Natürlich nicht.« Die Ironie in Sabrinas Worten war nicht zu überhören.
»Ich meine das ernst.«
»Schon gut.« Sabrina hob beschwichtigend beide Arme. »Erzähl mir, was dich bedrückt.«
»Es gibt eine Patientin, die mich im Moment viel beschäftigt.« Christina machte eine Pause und nahm einen großen Schluck Bier. »Sie heißt Luisa.« Sie konnte es nicht verhindern, dass sich ihr Gesicht aufhellte.
»Und ob du verliebt bist.« Sabrina bemerkte den Stimmungswechsel sofort. »Wer ist sie und was hat sie?«
Nun war es ohnehin egal. Also erzählte Christina ihrer besten Freundin alles.
»Das hört sich doch an, als wäre sie eine tolle Frau«, meinte Sabrina, nachdem Christina geendet hatte.
»Sabrina, verstehst du nicht? Sie ist meine Patientin. Und ich kenne sie doch überhaupt nicht.« Christina verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich kann doch nicht etwas mit einer Patientin anfangen. Das wäre ein Skandal. Das kann mich den Job kosten, wenn das jemand mitbekommt.«
»Irgendwann wird sie entlassen werden.« Sabrina blieb ganz ruhig. »Soweit ich weiß, ist es kein Problem mehr, wenn ihr keine therapeutische Beziehung mehr habt. Oder so in der Art.«
»Vielleicht . . .«, gab Christina kleinlaut zu. »Trotzdem ist das unprofessionell. Irgendwann kann mir jemand daraus einen Strick drehen. Und ich weiß auch, wer sich als Erster darauf stürzen würde. Holger würde sich so eine Gelegenheit niemals entgehen lassen.«
»Niemand kann beweisen, dass ihr etwas miteinander hattet, während sie noch im Krankenhaus war.«
»Haben wir ja auch gar nicht«, protestierte Christina lautstark.
»Eben.« Auf Sabrinas Gesicht breitete sich ein erhabenes Grinsen aus.
»Außerdem ist sie viel zu jung für mich.«
Sabrina schüttelte den Kopf. »Du suchst Probleme, wo überhaupt keine sind. Was sind bitte schön schon acht Jahre? Wir reden hier nicht über dreißig Jahre Altersunterschied.«
»Verstehst du nicht? Das hat doch überhaupt keine Zukunft.«
»Wenn du es gar nicht erst versuchst, dann sicherlich nicht.« Sabrina seufzte schwer. »Mit dir ist es wirklich schwierig.«
»Mir reicht meine Arbeit. Ich brauche keine Beziehung. Ich bin glücklich mit meinem Leben – genauso, wie es ist.« Christina dachte an ihre Eltern. Bilder von dem schrecklichen Unfall tauchten vor ihrem inneren Auge auf. Es konnte alles so schnell vorbei sein. Und am Ende standen Trauer, gebrochene Herzen und Einsamkeit. »Was, wenn es wieder zerbricht? Was, wenn es nicht hält?« Ihre Stimme zitterte leicht.
Sabrina stand auf und kam um den Tisch herum. Sie setzte sich neben Christina auf die Bank und drückte ihre Freundin an sich. »Es gibt für keine Beziehung eine Garantie.«
»Natürlich nicht, aber . . .« Christina seufzte. Sie wollte nicht länger darüber nachdenken. Es hatte keinen Sinn. Sie wollte keine alten Wunden aufreißen. »Zwei Bier bitte noch«, rief sie der Kellnerin zu, die gerade dabei war, die Gläser vom Nebentisch abzuräumen. »Lass uns den restlichen Abend genießen.« Damit war das Thema abgeschlossen.
Als Luisa am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich wie gerädert. Sie hatte die Nacht kaum geschlafen, hatte sich stundenlang im Bett hin und her gewälzt, weil sie einfach nicht wusste, wie sie bequem liegen sollte. Ihr Bein hatte wehgetan, aber das Angebot einer zusätzlichen Schmerztablette oder einer Schlaftablette, das die Nachtschwester ihr gemacht hatte, hatte sie abgelehnt. Sie wollte sich nicht mit Medikamenten vollpumpen oder gar abschießen.
Sofort war ihr das nachmittägliche Gespräch mit ihrer Schwester und ihren Eltern wieder in Erinnerung. Konnte ihr Vater nicht wie ihre Mutter froh sein, dass nicht mehr passiert war? Dass sie noch lebte? Dass sie keine schwere Gehirnverletzung hatte?
Doch bevor sie sich weitere Gedanken darüber machen konnte, kam bereits die diensthabende Krankenschwester in ihr Zimmer. Luisa seufzte. Zeit, zu reflektieren, blieb einem in der Klinik nicht. Ständig kam jemand zu ihr.
Aber zumindest schaffte sie es an diesem Tag, mithilfe der Schwester und ihrer Krücken, zum Waschbecken zu humpeln und sich zu waschen, ehe die Visite kam. Es war ein gutes Gefühl, sich wenigstens etwas Selbstständigkeit und Normalität bewahren zu können.
Um Punkt neun kam die Stationsärztin Frau Dr. Morgenroth, die Luisa bereits am Vortag kennengelernt hatte, in ihr Zimmer.
»Wie geht es Ihnen heute?«, erkundigte sie sich nach Luisas Zustand. »Haben Sie Schmerzen?«
Unwillkürlich zuckte Luisa zusammen. Es konnte eigentlich gar nicht sein. Frau Dr. Morgenroth klang haargenau wie Jessica. Die etwas zu hohe, fast quietschende Stimme, der gleiche Tonfall, die gleiche Art, die Wörter zu betonen. Hätte Luisa es nicht besser gewusst, hätte sie denken können, dass sie Schwestern waren. Aber ihre Ex war Einzelkind. Ein typisches verwöhntes Einzelkind.
Ehe Luisa auf die Fragen antworten konnte, klingelte das Telefon von Frau Dr. Morgenroth.
»Verzeihen Sie.« Die Ärztin lächelte Luisa entschuldigend an und nahm ab. »Hallo, Christina. Ja, ich bin gerade bei ihr.« Frau Dr. Morgenroth runzelte die Stirn. »In Ordnung, dann warte ich.« Sie legte leicht kopfschüttelnd auf. Wieder eine Geste, die Luisa unwillkürlich an Jessica denken ließ. Das hatte Luisa gerade noch gefehlt. An ihre Ex wollte sie sich beim besten Willen nicht mehr erinnern. Sie war froh, sie die überwiegende Zeit aus ihrem Gedächtnis gestrichen zu haben.
»Es tut mir leid.« Die Stationsärztin wandte sich wieder an Luisa. »Das war Frau Dr. Wieders. Sie möchte zur Visite dazukommen.« Ihr Gesichtsausdruck zeigte deutlich ihre Verwunderung.
Als sich kurz darauf die Zimmertür öffnete und Christina lächelnd hereinkam, spürte Luisa, wie ihr Herz schneller schlug und sie sich freute. Schon im Bad hatte sie sich gefragt, ob sie die Oberärztin heute Morgen wiedersehen würde.
Luisa erwiderte Christinas Lächeln. Auch sie erkundigte sich nach Luisas Befinden, aus ihrem Mund klang es eindeutig interessierter als bei Frau Dr. Morgenroth.
»Ich habe ziemlich schlecht geschlafen«, sagte Luisa. »Aber ansonsten geht es bergauf.«
»Das freut mich zu hören.« Christina blätterte Luisas Akte durch. »Sie können noch mehr Schmerzmittel bekommen, wenn Sie möchten. Sie sind noch in einem sehr niedrigen Bereich.«
Luisa schüttelte den Kopf. »Nein danke, es geht schon.«
»Melden Sie sich aber bitte, wenn Sie doch noch etwas brauchen.« Christina sah Luisa tief in die Augen. Und für einen winzigen Moment vergaß Luisa, wo sie war. Christina schien es ähnlich zu gehen. Erst ein Räuspern von Frau Dr. Morgenroth ließ sie ihren Blick von Luisa abwenden. Sie drehte sich zu Frau Dr. Morgenroth: »Simone, du kannst ruhig schon gehen und weitermachen.« In Christinas Stimme lag ein leichtes Zittern. »Ich habe noch ein paar Fragen an Frau Harper. Wir sprechen dann später über den Rest.«
Frau Dr. Morgenroth warf Christina einen seltsamen Blick zu. »Wie du meinst.« Beim Hinausgehen konnte Luisa erkennen, wie sie die Augen verdrehte. Das, was sie dabei brummte, konnte Luisa nicht verstehen. Die Ähnlichkeit mit Jessica war verblüffend. Luisa schüttelte den Kopf, um die Erinnerung an ihre Ex zu vertreiben.
»Alles in Ordnung?«, hakte Christina vorsichtig nach. Sie musste Luisas Irritation bemerkt haben.
»Ja, mir ist gerade nur etwas eingefallen.«
»Haben Sie gestern mit der Physiotherapeutin geübt?«
»Ich bin ein paar Runden über den Flur gelaufen. Das hat ganz gut geklappt, aber war noch ziemlich anstrengend.«
Christina notierte etwas. »Wahrscheinlich werden Sie um eine Reha nach der stationären Behandlung nicht drum herumkommen. Es liegt noch ein gutes Stück Arbeit vor Ihnen.«
»Wie lange wird das dauern?« Luisa faltete ihre Hände. »Damit ich auch wegen des Studiums planen kann«, schob sie hinterher.
»Wenn alles gut geht, können Sie in ungefähr einer Woche nach Hause. Wir werden die Reha beantragen, aber es kann gut sein, dass Sie noch einige Tage zu Hause sind, bevor es losgeht. Und in der Regel dauert die Reha noch mal ungefähr drei Wochen.« Christina neigte den Kopf ein wenig zur Seite. »Aber bis Sie wieder ganz einsatzbereit sind, wird es sicherlich mindestens drei Monate dauern.«
»Die werden schon vorübergehen.« Etwas Ähnliches hatte Luisa sich schon gedacht.
»Auf jeden Fall. Und Sie haben noch ihr ganzes Leben vor sich.«
»Dank Ihnen.« Luisa rutschte es einfach raus. »Sie haben mich gerettet.«
»Auch wenn ich Ihre Notärztin war, Sie hätten den Unfall glücklicherweise auch ohne mich überlebt.« Christina lachte warm. »Es war eher ein Schutzengel, der Sie gerettet hat.« Sie zwinkerte Luisa zu, dann sah sie auf ihre Uhr. »Ich muss jetzt leider weiter.« In ihren Augen lag Bedauern. »Aber ich werde heute Abend nach der Physiotherapie noch mal nach Ihnen sehen.«
»In Ordnung«, sagte Luisa, auch wenn sie eigentlich nicht wollte, dass Christina wieder ging. »Bis nachher.« Ihr fiel nichts Besseres ein, erst recht nichts, was Christina vielleicht doch zum Bleiben gebracht hätte.
In ihren Gedanken durchlebte Luisa die Visite noch einmal, als die Tür hinter Christina ins Schloss gefallen war. Auch Frau Dr. Morgenroth schien sich über Christinas Verhalten gewundert zu haben. Oder hatte sich Luisa das nur eingebildet?
Sie war einfach nur eine Patientin – für Christina genauso wie für Frau Dr. Morgenroth. Was wollte sie auch mehr? Sie hatte genug von der Liebe, von Beziehungen. Der Gedanke an Jessica hatte ihr gereicht.
Sie brauchte sich nicht noch einmal betrügen lassen. Es hatte genügt, dass Jessica sie so schamlos hintergangen hatte. Luisa hatte sich nicht umsonst geschworen, die Finger von den Frauen zu lassen. Zumindest fürs Erste.
Luisa nahm eins der Magazine von ihrem Nachttisch, die Vanessa ihr mitgebracht hatte, und begann es durchzublättern. Alles war besser, als an ihre gescheiterte Beziehung zu denken. Oder an eine unerfüllte Schwärmerei, die von vorneherein zum Scheitern verurteilt war, selbst ein stupides Modemagazin.
Ein lautes Klopfen weckte Luisa, aber es blieb ihr keine Zeit, richtig wach zu werden. Nur wenige Sekunden später standen fünf weiß gekleidete Menschen vor ihr und sahen sie interessiert an.
Es dauerte einen Augenblick, bis Luisa realisierte, wo sie war und was passiert war. Noch immer hingen zahlreiche Kabel an ihr. Überall waren Monitore. Es piepste.
Ein junger Mann, der neben ihrem Bett stand, begann einem älteren Herrn etwas zu erzählen. Mit Mühe konnte Luisa auf seinem Namensschild entziffern, dass er der Chefarzt war.
»Frau Harper hatte gestern einen Unfall, als sie als Fahrradfahrerin von einem PKW erfasst wurde.« Er blickte in die Akte, die er in der Hand trug, und blätterte hin und her. »Operativ versorgte Schenkelhalsfraktur links, Commotio cerebri, einige Schürfwunden.« Luisa verstand kein Wort. Offensichtlich fasste er ihre Krankengeschichte zusammen. Es war ein komisches Gefühl, wenn so viele Menschen um einen herumstanden und über einen redeten, als wäre man gar nicht anwesend.
Der ältere Herr nickte. Dann wandte er sich an Luisa. »Da haben Sie aber einen Schutzengel gehabt. Es hätte noch viel mehr passieren können.« Er verzog seine Mundwinkel zu etwas, das aussah wie ein angedeutetes Lächeln, aber seine Augen blieben ausdruckslos. »Wie geht es Ihnen?«
Erst jetzt dachte Luisa darüber nach, wie es ihr ging. Der Kopf tat nicht mehr weh, nur ihr Bein schmerzte noch. »Ganz gut, glaube ich.«
»Das ist schön zu hören.« Der Chefarzt sah zu dem jungen Arzt, der seinem Schild nach Torsten Gosepeter hieß. »Dann kann sie heute auf die Normalstation verlegt werden.« Er nickte einer Krankenschwester, der einzigen Frau in der Runde, zu. Sie notierte etwas, während sich der Tross bereits wieder in Bewegung setzte und das Zimmer verließ.
Zwar hatte Luisa alles gehört, was die Ärzte ihr gesagt hatten, begriffen hatte sie es jedoch nicht. Zumindest nicht vollständig.
Sie drehte sich auf die Seite und schloss ihre Augen. Aber auch wenn sie noch müde war, konnte sie nicht mehr schlafen.
Viel zu viele Gedanken kreisten in ihrem Kopf umher. Weitere Tage im Krankenhaus, der Unfall, die verhauene Klausur, ihr Studium.
Was war eigentlich genau passiert? Wie würde es nun weitergehen? Sie versuchte, alle Bruchstücke zu ordnen, in ihrer Erinnerung fehlte allerdings einiges. Nur ganz langsam kam nach und nach alles wieder.
Es klopfte erneut an der Zimmertür. Eine junge Schwester, die höchstens in Luisas Alter war, trat ein.
»Hallo, ich bin Amelie und heute Vormittag für Sie zuständig«, stellte sie sich vor. Amelie lächelte Luisa an. Sie wedelte mit einem weißen Plastikteil vor Luisas Augen. Es klapperte. »Hier habe ich Ihre Schmerztabletten.« Sie stellte das Schälchen auf Luisas Nachttisch ab. »Das Frühstück kommt auch jeden Moment.« Amelie zog so schwungvoll die Vorhänge auf, dass ihr brauner Pferdeschwanz auf und ab hüpfte. »Ich lasse mal etwas Licht in das Zimmer.«
Es war Luisa ein Rätsel, wie man am frühen Morgen schon so gut gelaunt sein konnte.
»Kann ich noch etwas für Sie tun? Brauchen Sie noch etwas?« Amelie legte den Kopf ein wenig schief und sah Luisa erwartungsvoll an.
»Kann ich mich duschen?«
Amelie schüttelte den Kopf. »Noch nicht, die OP-Wunde ist noch zu frisch. Aber ich bringe Ihnen gleich eine Schüssel mit Wasser, dann können Sie sich etwas waschen.«
Großartig, dachte Luisa. Jetzt musste sie sich im Bett notdürftig fertigmachen. Und wahrscheinlich brauchte sie dazu auch noch Hilfe.
Kurz darauf brachte eine andere Frau ihr das Frühstück. Luisa wunderte sich über den Trubel, der bereits morgens in einem Krankenhaus herrschte. Bisher hatte sie damit keine Erfahrungen gehabt. Sie war noch nie ernsthaft krank gewesen und kannte Krankenhäuser nur als Besucherin. Glücklicherweise.
Als sie den Deckel von ihrem Teller abhob, knurrte ihr Magen wie auf Kommando. Erst in diesem Moment wurde ihr bewusst, dass sie fast vierundzwanzig Stunden nichts mehr gegessen hatte. Sie nahm sich ein Brötchen. Es hatte eher die Konsistenz von Gummi, aber es duftete appetitlich frisch.
Direkt nach dem Frühstück wurde Luisa auf die Normalstation verlegt. Endlich war sie die ganzen Kabel los und es piepste nicht mehr ständig irgendetwas.
Luisa verstaute ein paar Sachen in ihrem neuen Nachttisch. Offensichtlich hatten ihre Eltern ihr gestern einige persönliche Dinge mitgebracht. Sie konnte sich nicht erinnern. Die Reisetasche mit ihren Kleidungsstücken ließ sie einfach auf dem Boden stehen. Das Bett verlassen durfte sie ohnehin nicht, bis jemand von der Krankengymnastik bei ihr gewesen war und ein paar Schritte mit ihr geübt hatte. Luisa hatte das Gefühl, plötzlich wieder ein Kind zu sein, das nichts allein konnte und erst wieder alles üben musste.
Es klopfte abermals an der Tür. Mittlerweile wunderte sich Luisa nicht mehr darüber.
»Guten Morgen.« Eine große Frau in einem rot-orangefarbenen Outfit, das Luisa sonst nur vom Rettungsdienst kannte, betrat das Zimmer. Die Uniform stand der schlanken Frau ausgezeichnet und verlieh ihr eine ganz besondere Ausstrahlung. Genauso wie ihr zauberhaftes Lächeln. Von so einer Frau würde ich mich gern retten lassen, schoss es Luisa durch den Kopf.
»Christina Wieders.« Sie reichte Luisa zur Begrüßung die Hand. Ihr Händedruck war fest, aber angenehm. »Erinnern Sie sich noch an mich?« Die ansprechend weiche, tiefe Stimme klang Luisa vertraut.
Irgendwie zumindest.
Luisa sah die Fremde genauer an. Aber sie erkannte sie nicht. »Nein«, sagte sie wahrheitsgemäß. »Ich kann mich nicht an Sie erinnern.« Diese dunkelbraunen Augen hätte sie nicht vergessen. Ganz bestimmt nicht. »Tut mir leid.« Sie zuckte mit den Schultern. Obwohl – je länger sie darüber nachdachte, irgendwie kam die Frau Luisa doch bekannt vor. Irgendwo hatte sie diese schönen Augen schon mal gesehen, diese Stimme gehört. Nur wo? Und wann?
»Das habe ich mir schon fast gedacht.« Christina lächelte noch immer freundlich. »Ich bin die Notärztin, die Sie gestern in die Klinik gebracht hat.«
»Oh«, entfuhr es Luisa. Christina hatte sie schon gerettet! Und Luisa hatte das alles komplett vergessen. Sie merkte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Sie räusperte sich. »Danke.«
»Kein Grund, sich zu bedanken.« Christina lachte. »Das ist doch selbstverständlich. Das ist mein Job.« Sie holte sich einen Stuhl und schob ihn neben Luisas Bett. »Darf ich mich setzen?« Ihre Frage war augenscheinlich nur rhetorisch, denn sie hatte bereits Platz genommen.
»Natürlich«, erwiderte Luisa dennoch aus Höflichkeit. Sie war interessiert, was Christina ihr zu sagen hatte. Sie studierte die Notärztin eingehender. Ihr leicht gebräuntes Gesicht wurde von ihren durchgestuften kinnlangen Haaren, die noch dunkler waren als ihre Augen, umrandet. Doch trotz der genauen Betrachtung konnte sich Luisa an das Gesicht nicht erinnern. Offensichtlich hatte ihr Kopf doch mehr abbekommen, als sie wahrhaben wollte.
»Ich wollte sehen, wie es Ihnen geht.« Christinas Augen strahlten eine angenehme Wärme aus.
Luisa versuchte, möglichst zufrieden auszusehen. »Danke, ganz okay.«
»Haben Sie Schmerzen?« Christina griff Luisas Hand.
Luisa zuckte bei der unerwarteten Berührung zusammen.
»Entschuldigen Sie.« Christina wollte ihre Hand sofort wieder zurückziehen.
»Nein, schon gut.« Luisa wollte nicht, dass Christina sie losließ. Die Berührung war schön. »Die Schmerzmittel scheinen zu wirken. Mir tut nichts mehr weh. Zumindest nicht viel.« Sie biss sich auf die Unterlippe, als sie versuchte, ihr linkes Bein zu bewegen.
»Dann werde ich Sie wieder allein lassen. Wir sehen uns bestimmt morgen wieder. Ich bin die zuständige Oberärztin auf dieser Station.« Sie zwinkerte Luisa zu. »Aber nachdem ich die ganze Nacht gearbeitet habe, habe ich jetzt erst einmal Feierabend.« Christina stand auf und lächelte Luisa ein weiteres Mal zu, ehe sie die Zimmertür hinter sich schloss.
Seufzend ließ sich Luisa zurück in ihr Bett fallen. Wenn sie schon hierbleiben musste, hatte sie zumindest großes Glück mit ihrer Ärztin. Nicht nur, dass sie sehr nett schien, sie sah auch noch umwerfend aus.
So ein Unsinn, mahnte sie sich selbst. Sie umklammerte ihre Decke und zog sie über ihr Gesicht. Sie sollte einfach daran denken, wieder gesund zu werden und so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Das war jetzt das einzig Wichtige.
Luisa musste doch erneut eingeschlafen sein. Das Öffnen ihrer Zimmertür ließ sie hochschrecken. Christina kam herein und schob ein Gerät vor sich her. Beinahe hätte Luisa sie nicht wiedererkannt. Sie hatte die Notarztklamotten gegen eine weiße Hose und einen Kittel ausgetauscht. Aber das stand ihr mindestens genauso gut.
»Hallo, Frau Harper.« Christina stellte das Gerät ab und setzte sich auf Luisas Bettkante.
»Was machen Sie denn hier? Ich dachte, Sie haben längst Feierabend.«
»Ich habe meine Pläne geändert.« Christina räusperte sich. »Ich habe gesehen, dass heute noch kein neuer Ultraschall bei Ihnen gemacht worden ist.«
Luisa nickte. »Zumindest kann ich mich nicht daran erinnern. Allerdings ist mein Gedächtnis im Moment eher wenig verlässlich.« Sie lachte, auch wenn ihr dieser Gedanke doch etwas unbehaglich war.
Christina stimmte in das Lachen mit ein. »In diesem Fall täuscht Ihr Gedächtnis Sie nicht.« Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und wurde wieder ernst. »Jedenfalls sollte man nach so einem Unfall gucken, dass die Milz keinen Riss hat. Manchmal zeigt sich eine Blutung erst am nächsten Tag. Deswegen wollte ich das gern noch einmal kontrollieren, wenn das für Sie in Ordnung ist.«
»Selbstverständlich.« Luisa wusste nicht, was sie dagegen haben sollte. »Aber Sie müssen für mich keine Überstunden machen.« Sie wollte nicht schuld daran sein, dass die Oberärztin länger arbeiten musste.
»Das mache ich wirklich gern.« Christina lächelte sie an, ihr Gesicht wirkte ganz entspannt. Es schien ihr tatsächlich nichts auszumachen. Ob sie das für jede Patientin tat?
Christina schloss das Ultraschallgerät an und verdunkelte das Zimmer. »Legen Sie sich am besten ganz entspannt auf den Rücken und ziehen Sie bitte Ihr Oberteil etwas hoch.«
Luisa befolgte die Aufforderung, während sich Christina einen Stuhl neben das Bett rückte. »Ich muss zuerst Ihren Bauch abtasten.«
Kurz darauf spürte Luisa Christinas Finger auf ihrem Bauch, die sorgsam jeden Millimeter abtasteten. Erst ganz sanft, dann fester.
Kleine Stromschläge schienen Luisa zu durchfahren. Ihr ganzer Körper kribbelte unter den Berührungen. War sie jetzt von allen guten Geistern verlassen? Das war einfach eine Untersuchung, wie sie tausende Male am Tag durchgeführt wurde.
»Ich kann nichts tasten. Jedenfalls nichts Schlimmes.« Christina hielt kurz inne. »Nur Ihre Bauchmuskeln.« Sie sah Luisa direkt an. »Sie sind sehr sportlich, oder?«
Luisa merkte, wie sie errötete. Zwar hatte Christina recht, sie war sehr sportlich, aber dennoch war es ihr etwas unangenehm. Nicht, dass es sie nicht freute, wenn sie von Christina ein Kompliment bekam, aber sie war schließlich ihre Ärztin. Und außerdem ging es im Moment um etwas ganz anderes. Sie sollte gar nicht erst über so etwas nachdenken. »Ich bemühe mich«, erklärte sie schließlich.
Christina tippte einiges in den PC. »Verraten Sie mir noch Ihr Geburtsdatum?«
»Dreißigster Sechster achtundachtzig«, sagte Luisa.
»Mein Gott, Sie sind noch so jung.« Christina gab das Datum ein. »Das hätte ich fast vergessen.« Ihre Wangen röteten sich.
»Sehe ich etwa so viel älter aus?«, neckte Luisa Christina.
»Nein, natürlich nicht.« Christina grinste.
»Das hoffe ich aber auch.« Sie grinste ebenfalls.
Christina nahm eine große weiße Flasche und gab etwas von dem Inhalt auf den Ultraschallkopf. »Das könnte jetzt etwas kalt werden.«
Während Christina den Schallkopf auf Luisas Bauch hielt, gleichzeitig den Bildschirm studierte und einige Knöpfe drückte, schwiegen sie.
Christina beugte sich etwas mehr über Luisa. Ihr Duft stieg Luisa in die Nase, ein Hauch von Orchidee. Luisa schloss die Augen. Das Parfüm passte perfekt zu Christina. Anmutig und elegant, genau wie sie es war.
Luisa spürte ihren Herzschlag gegen ihren Brustkorb hämmern. War es ein gutes Zeichen, dass Christina nichts sagte? Sie öffnete die Augen wieder und sah zu der Oberärztin. Sie wirkte hoch konzentriert, ihrem Gesicht war nichts anzusehen. Weder eine gute noch eine schlechte Nachricht.
Luisa hatte das Gefühl, dass die Untersuchung eine halbe Ewigkeit dauerte.
»Ich denke, das reicht.« Christina steckte den Schallkopf wieder in die dafür vorgesehene Halterung zurück. Sie gab Luisa etwas Papier. »Für den Bauch.«
Luisa wischte sich das Gel ab. Dann setzte sie sich auf. »Und?« Sie versuchte, ruhig zu atmen.
Christina sah Luisa direkt in die Augen.
Luisa hielt die Luft an.
»Es ist alles in bester Ordnung. Die Milz sieht ganz gesund aus. Es gibt keinen Grund zur Sorge.« Christina schaltete das Gerät aus und zog den Stecker. »Aber jetzt gehe ich wirklich nach Hause.« Sie zog die Vorhänge zur Seite und schenkte Luisa noch ein letztes Lächeln, bevor sie verschwand.
Fast bedauerte Luisa es, dass sie bis zum nächsten Tag warten musste, bis sie Christina wiedersah. Was hatte diese Ärztin nur an sich, dass sie Luisa so faszinierte?
Wenigstens konnte sie sich so den Krankenhausaufenthalt ein wenig netter gestalten. Und wenn es nur in ihrer Fantasie war.
Im Gegensatz zu den vorausgegangenen Tagen war samstags im Krankenhaus nicht viel los. Abseits der regelmäßigen Mahlzeiten passierte nichts. Aber Luisa konnte diese Ruhe gebrauchen. Etwas Zeit, durchzuatmen.
Christina hatte ihr Versprechen gehalten und war gestern am späten Abend noch bei ihr gewesen.
Christina . . . Luisa seufzte. Die Ärztin hatte sich in den letzten Tagen sehr häufig in ihre Gedanken und ihre Träume geschlichen. Wie gern hätte sie mehr über sie erfahren, sich mit ihr über Persönliches unterhalten. Doch bisher hatte sie Christina gegenüber nur von sich selbst erzählt. Luisa hatte von der Ärztin nichts erfahren. Sie war immer professionell geblieben.
Wem machte Luisa eigentlich etwas vor? Es war ihr längst klar, dass Christina ihr Interesse geweckt hatte.
Christina war eine tolle Frau, äußert attraktiv dazu. Sie übte einen ungeahnten Reiz auf Luisa aus. Sie konnte sich nicht dagegen wehren. Den ganzen Tag hatte Luisa sich auf das Wiedersehen gefreut und als es immer später wurde, hatte sie schon gedacht, Christina würde nicht mehr kommen. Enttäuschung hatte sich breitgemacht.
Und dann war sie doch noch gekommen. Es musste längst nach Feierabend gewesen sein. Aber Christina hatte es nicht eilig gehabt. Sie hatte sich unendlich viel Zeit genommen, um mit Luisa zu reden.
»Überraschung.« Annettes Stimme riss Luisa aus ihren Gedanken. Ihre beste Freundin stand plötzlich in ihrem Zimmer. Sie umarmte Luisa und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
»Annette! Das ist wirklich eine Überraschung.«
»Ich habe es leider nicht früher geschafft.« Annette zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Ich wollte dich schon längst besucht haben, aber die Kanzlei hat mich festgehalten.«
»Kein Problem. Ich freue mich, dass du hier bist.« Erst jetzt löste Luisa die Umarmung. »Hast du Lust auf einen Kaffee? Dann könnten wir ins Panorama-Café gehen. Die Aussicht über die Stadt ist großartig.« Ihr Blick fiel auf ihr verletztes Bein. Sie zog eine Grimasse. »Gehen ist vielleicht doch nicht der richtige Ausdruck. Aber wenn es dir nichts ausmacht, könnten wir einen Rollstuhl nehmen und du schiebst mich.« Sie grinste Annette breit an.
»Klar. Und dann erzählst du mir alles, was passiert ist. Aus deiner SMS bin ich nicht schlau geworden.« Annette legte einen Arm um Luisas Schulter. »Und was interessiert mich die Aussicht über die Stadt, wenn ich dich habe?«
Luisa knuffte ihre beste Freundin in die Seite. »Gegen Manuela habe ich doch gar keine Chance.« Schon seit der Studienzeit neckten sich die beiden gegenseitig – das zeichnete ihre Freundschaft aus – dabei hatte keine von ihnen jemals ernsthaft Interesse an der anderen gehabt, das über eine Freundschaft hinausging.
»Komm.« Luisa humpelte zum Safe und nahm ihr Portemonnaie heraus. Wenige Schritte konnte sie mittlerweile ganz gut bewältigen, auch wenn es immer noch Mühe kostete und schmerzte.
»Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt«, sagte Annette, während Luisa Platz in einem Rollstuhl nahm, der neben ihrem Bett stand. Annette schob sie auf den Flur. »Was dir alles hätte passieren können!«
Vor dem Fahrstuhl blieben sie stehen. Luisa betätigte den Knopf. »Glaub mir, ich hätte es auch lieber anders gehabt.«
»Ach, hallo, Frau Harper.« Plötzlich stand Christina neben ihnen. »Ich war gerade bei Ihnen auf dem Zimmer, da habe ich Sie wahrscheinlich genau verpasst.«
Luisas Herz klopfte heftig und sie musste unwillkürlich lächeln, debil grinsen traf es vielleicht besser. »Was machen Sie denn hier, Frau Dr. Wieders? Haben Sie am Wochenende nicht frei?«
Christina wippte leicht auf und ab, trat von einem Fuß auf den anderen. »Eigentlich schon. Aber ich muss noch einige Dinge erledigen, zu denen ich in der Woche nicht gekommen bin.«
»Obwohl Sie schon immer so lange hier sind?«
Christina zuckte mit den Schultern. »Na ja, es ist immer eine Frage der Prioritäten.«
Die Fahrstuhltür öffnete sich.
»Wir wollen ins Café«, erklärte Luisa. Als ihr Blick auf Annette fiel, die sich in die geöffnete Fahrstuhltür gestellt hatte, fügte sie noch hinzu: »Und das ist meine beste Freundin, Annette Gerhardt. Wir haben zusammen studiert.«
»Freut mich.« Christina streckte ihre Hand aus. »Ich bin Christina Wieders, die behandelnde Ärztin von Luisa.«
Annette ergriff Christinas Hand. »Schön, Sie kennenzulernen.« Luisa entging der Blick nicht, mit dem Annette Christina ausgiebig musterte. »Passen Sie gut auf Luisa auf. Ich brauche Sie noch.«
Christina lachte. Die kleinen Lachfältchen um ihren Mund standen ihr ausgesprochen gut. »Versprochen.« Dann wurde ihr Gesichtsausdruck wieder ernst. »Also gut, ich muss weitermachen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.«
Fast genauso plötzlich wie sie gekommen war, verschwand Christina wieder.
Annette schob Luisa in den Fahrstuhl. »Diese Ärztin hat dich aber ganz schön angestrahlt«, sagte sie, nachdem sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte.
»Ach, Unsinn«, wiegelte Luisa mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. »Das hast du dir nur eingebildet.« Sie merkte selbst, dass ihre Stimme nicht sehr überzeugend klang. Aber Annette beließ es dabei. Zumindest vorerst.
Es war voll in der Cafeteria, doch Luisa und Annette fanden noch einen freien Tisch.
Schnell wurde ihre Bestellung aufgenommen.
»Und jetzt erzähl mir, was passiert ist«, forderte Annette.
Luisa berichtete alles von Anfang an, von der nicht bestandenen Klausur, von dem Fahrradunfall, von ihrer Rettung durch Christina, von der OP und den ersten Gehversuchen.
»Mein Gott«, entfuhr es Annette, nachdem Luisa ihre Ausführungen beendet hatte. »Du hättest tot sein können.«
»Ich hatte Glück im Unglück.« Luisa nippte an ihrem Kaffee, der zwischenzeitlich an den Tisch gebracht worden war.
»Das kann man wohl so sagen.« Annette war der Schreck deutlich anzusehen. »Ich darf gar nicht daran denken.«
»Mich kriegt so schnell nichts klein. Du weißt doch, Unkraut vergeht nicht.« Luisa grinste. »Ich könnte mir zwar etwas Besseres als ein gebrochenes Bein vorstellen, aber das heilt schon wieder zusammen.«
Annette lächelte. »Das liebe ich so an dir.« Sie rührte mit ihrem Löffel in ihrem Latte macchiato. »Du suchst immer das Positive.«
Unweigerlich musste Luisa an Christina denken. Sie war eindeutig das Positive an der ganzen Geschichte.
Schon wieder Christina. Und dann musste sie sie auch noch ausgerechnet heute treffen, als Annette – die Neugierde in Person – bei ihr war. Aber wahrscheinlich waren die ganzen Gedanken an sie reine Zeitverschwendung. Wahrscheinlich hatte Christina außerhalb der Arbeit überhaupt kein Privatleben, überhaupt kein Interesse an einer Beziehung. Weder mit ihr, noch mit irgendeiner anderen Frau. Oder vielleicht hatte sie sogar einen Mann. Was wusste Luisa schon von ihr?
Nichts, rein gar nichts.
Außer, dass Christina immer in der Klinik zu sein schien. Und das jeden Tag bis spät abends und sogar am Wochenende.
Luisa stocherte in ihrem Apfelkuchen herum.
»Woran denkst du?«, fragte Annette.
»Ähm . . .« Luisa überlegte fieberhaft. Sie wollte das Thema nicht wieder auf die Oberärztin lenken. »An den Buchladen«, log sie. Das war eine gute Ausrede.
»Sascha wird auch mal ein paar Tage ohne dich auskommen«, behauptete Annette sofort.
»Das klang am Telefon gestern ganz anders, als ich ihm gesagt habe, dass ich krank bin und ich heute und die nächsten Wochen nicht arbeiten kann.« Eigentlich arbeitete Luisa samstags immer in einem kleinen Buchladen als Aushilfe. Es war für sie der perfekte Nebenjob – Geldverdienen mit ihrer großen Leidenschaft, dem Lesen.
»Du kennst Sascha doch nun schon lange genug. Er übertreibt gern.« Annette grinste. »Und so wie er dich anhimmelt, könntest du dir alles erlauben.«
»Quatsch.« Luisa merkte, dass sie etwas errötete. »Sascha interessiert sich doch nicht für mich.« Das hatte sie ihrer besten Freundin schon oft versucht zu erklären, aber Annette bestand darauf, dass sie recht hatte und Sascha total in Luisa verknallt war.
»Du würdest nicht mal merken, dass eine Frau Interesse an dir hat, wenn sie mit einem Strauß roter Rosen vor dir stehen und dir ihre Gefühle gestehen würde.« Annette drehte ihr Latte-macchiato-Glas zwischen ihren Handflächen. »Stimmt’s?«
»Unsinn.«
»Kein Unsinn. Du kümmerst dich einfach zu viel um andere statt um dich und dein Glück.« Annette wurde ernst. »Deine Schwester muss nur ein Wort sagen und du bist sofort bei ihr und hilfst ihr. Ob in der Apotheke oder privat. Du würdest nie Nein sagen, wenn sie dich braucht. Sie würde das aber nie für dich tun.«
Luisa wusste, dass Annette nicht viel von ihrer Schwester hielt. Aber das beruhte auf Gegenseitigkeit. »Sie kümmert sich um Floh«, brachte sie zu Vanessas Verteidigung vor. Dass Vanessa das nur widerwillig tat, verschwieg Luisa besser.
»Na dann.« Annette verdrehte die Augen.
»Du bist unbelehrbar.«
Annette schüttelte grinsend den Kopf. »Aber eigentlich bin ich ja froh darüber, dass du bist, wie du bist.« Sie legte einen Zeigefinger an ihr Kinn, so als würde sie nachdenken. »Vielleicht sollten wir noch über etwas anderes reden.« Sie fixierte Luisa mit gespielt strengem Blick. »Wie wäre es zum Beispiel mit dieser Ärztin? Dieser ziemlich attraktiven Ärztin, wohlgemerkt.«
Luisas Wangen begannen zu glühen. Sie hätte ahnen können, dass Annette dieses Thema noch einmal zur Sprache bringen würde. »Da gibt es nicht viel zu sagen.«
»Luisa Harper, ich kenne dich lange genug, um zu wissen, dass du gerade lügst.« Annette kniff die Augen etwas zusammen. »Eure Blicke vorhin, dein Gesichtsausdruck, als du von ihr erzählt hast – eindeutiger geht es gar nicht.« Sie machte eine kurze Pause. »Du hast dich verknallt.«
Ertappt senkte Luisa ihren Blick. »Und selbst wenn. Was will so eine tolle Oberärztin mit einer gescheiterten Studentin wie mir? Sie hat sicherlich kein Interesse daran, eine Frau kennenzulernen, die nichts auf die Reihe bekommt.«
Annette ergriff Luisas Hände. »Das ist doch Blödsinn. Erstens kannst du dein Studium wieder aufnehmen, wenn du das überhaupt willst. Eine nicht bestandene Klausur ist kein Weltuntergang. Du bist also beim besten Willen nicht gescheitert, selbst wenn du dich entscheidest, das Studium abzubrechen. Das ist auch ein Zeichen von großer Stärke. Und zweitens hast du in deinem Leben schon jede Menge tolle Sachen auf die Reihe bekommen.«
Luisa seufzte. »Außerdem bin ich gerade mal seit zwei Monaten getrennt. Ich sollte mich nicht gleich in ein weiteres vergebliches Liebesabenteuer stürzen.«
»Du bist eine Meisterin in Ausreden.« Annette verdrehte abermals die Augen. »Und es sagt niemand, dass es vergeblich ist. Wenn du es gar nicht erst versuchst, kann es ja auch nicht klappen.«
»Ich weiß nicht. Immerhin ist sie meine Ärztin.« Luisa spürte ein unangenehmes Ziehen in ihrem Magen. »Das ist alles sinnlos.«
»Sinnlos ist nur, es gar nicht erst zu versuchen.« Zur Bekräftigung ihrer Worte schlug Annette mit ihrer Faust leicht auf den Tisch. »Also, halt dich ran. Lass deinen Charme und deine Reize spielen. Dann wird sie dir schon nicht widerstehen können.«
»Und wenn sie gar nicht auf Frauen . . .«
»Schluss jetzt«, unterbrach Annette sie barsch. »Ich will keine weiteren Ausreden hören.« Sie lächelte Luisa ermutigend an. »Ich habe ein sehr gutes Gefühl bei euch.«
Als die Wohnungstür hinter Christina ins Schloss fiel, umfing sie augenblicklich die Müdigkeit wie ein bleierner Umhang. Es war eine lange Nacht gewesen, ohne Schlaf, dafür voller ungekannter Empfindungen.
Dabei hatte alles harmlos angefangen, bis zu dieser Sekunde, als sie zufällig diesen Unfall beobachtet hatte. Dieser unerwartete Einsatz hatte alles durcheinandergebracht.
Sie stellte ihre Tasche ab und zog Jacke und Schuhe aus. Es gab wenig schönere Momente, als nach einem Nachtdienst nach Hause zu kommen.
In der Küche schaltete sie den Wasserkocher ein. Es war ihr typisches Ritual. Nach jedem Dienst trank sie einen Kräutertee, bevor sie ins Bett ging. Christina hängte einen Teebeutel in ihre Lieblingstasse, schüttete das kochende Wasser hinein und ging mit der Tasse hinüber zur Couch.
Kaum hatte sie sich hingesetzt, erschien ein Bild von Luisa vor ihren Augen. Christina seufzte.
Luisa.
Was für ein schöner Name. Und was für eine bezaubernde Frau.
Luisa ist nicht mehr als deine Patientin, ermahnte sie sich. Nicht anders als andere. Es gab keinen Grund, zu Hause an sie zu denken.
Außer vielleicht ihr umwerfendes Lächeln, ihre bildhübschen grünen Augen. Ihre herzliche Art.
Christina nahm einen Schluck aus der Tasse. Der Tee war noch so heiß, dass sie sich fast die Zunge verbrannte.
Wären sie sich außerhalb der Klinik begegnet, hätte Christina sicherlich einen Annäherungsversuch gewagt. Und meistens hatte sie damit Erfolg. Nur selten bekam sie eine Abfuhr, auch wenn nie mehr als ein paar aufregende Wochen daraus wurden. An mehr hatte sie aber auch kein Interesse.
Christina seufzte. Die Müdigkeit ließ sie verrücktspielen. Sie musste dringend ins Bett. In ein paar Stunden würde die Welt anders aussehen. Normal. Ohne Gefühlsduseleien.
Sie ließ den Tee Tee sein und ging ins Bad. Wenige Minuten später schlüpfte sie unter ihre Bettdecke. Doch obwohl sie hundemüde war, gönnte ihr Gedankenkarussell ihr keine Ruhe.