Denis Thériault
Die Verlobte des Briefträgers
Roman
Aus dem Französischen von Saskia Bontjes van Beek
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Denis Thériault wurde 1959 in Sept-Îles an der Nordküste des Sankt-Lorenz-Golfs geboren. Er studierte Psychologie in Ottawa und arbeitete als Schauspieler, Conférencier und Regisseur am Theater, bevor er erfolgreich als Drehbuchautor tätig wurde und Romane zu schreiben begann. 2001 veröffentlichte er seinen ersten Roman, ›Das Lächeln des Leguans‹, der mit mehreren Preisen ausgezeichnet wurde. Sein zweiter Roman, ›Siebzehn Silben Ewigkeit‹, erhielt 2006 den Prix littéraire Canada-Japon und wurde ein weltweiter Erfolg. Denis Thériault lebt mit seiner Familie in Montreal.
Bilodo, ein junger Briefträger aus Montreal, hat nach einem Unfall sein Erinnerungsvermögen eingebüßt. Als er aus dem Koma erwacht, sitzt Tanja an seinem Bett, die schüchterne Kellnerin aus seinem Lieblingslokal. Sie ist seit Langem unsterblich verliebt in Bilodo, dessen Herz einer anderen gehört. Doch Ségolène ist weit weg und Tanja nutzt die Gunst der Stunde: Sie behauptet, Bilodos Verlobte zu sein und ersinnt eine gemeinsame romantische Vergangenheit. Bilodos Zweifel sind groß. Erst als Tanja beschließt, Haikus zu schreiben – jene kurzen Gedichte, die mit siebzehn Silben die Ewigkeit einfangen –, scheint sie sein Herz zu erobern. Doch eines Tages kehrt schlagartig Bilodos Erinnerung zurück.
Deutsche Erstausgabe 2017
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel ›La fiancée du facteur‹ bei Les Éditions XYZ, Montreal
© 2016, Les Éditions XYZ inc.
© der deutschsprachigen Ausgabe: dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Umschlaggestaltung: Wildes Blut, Atelier für Gestaltung, Stephanie Weischer unter Verwendung eines Fotos von Trevillion Images/Irene Lamprakou
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eBook-Herstellung im Verlag (01)
eBook ISBN 978-3-423-43419-5 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-26164-7
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ISBN (epub) 9783423434195
In der Rue des Hêtres standen vor allem Ahornbäume. Buchen, wie der Straßenname sie ankündigte, waren nur ganz vereinzelt darunter. Diese denkbar unpassende Ortsbezeichnung war Tanja gleich aufgefallen, ohne dass es sie allerdings weiter beschäftigt hätte. Trotz dieser botanischen Ungenauigkeit besaß die Straße großen Charme: Die bunten Fassaden, eigenwilligen Giebel und zahlreichen Außentreppen verliehen dem Viertel Saint-Janvier-des-Âmes eine besondere Note. Tanja ging auf ihrem morgendlichen Weg zur Arbeit gern durch die Rue des Hêtres. Sie war Kellnerin im »Madelinot«, einem einfachen Restaurant an der Ecke zur Rue Sainte-Gudule.
Es war Sommer in Montreal. Nie wieder würde das Wetter so schön sein wie in jenem August, als Tanja dreiundzwanzig Jahre alt war.
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Vormittags war im »Madelinot« gewöhnlich kaum etwas los, aber sobald es auf Mittag zuging, füllte sich das Restaurant schlagartig. Dann stellte Tanja ihr ganzes Talent unter Beweis. Um Punkt zwölf Uhr kam ihr großer Moment: Nun wurde sie zur schnellsten Kellnerin nördlich von Mexiko. Zwei Tagesgerichte für Tisch vier; zwei Poutines und eine Pizza Hawaii für Nummer sieben; einmal chinesische Nudeln an der Theke; ein Tomatensandwich für Monsieur Grandpré an Tisch zwei … Tanja setzte alles daran, die hungrigen Mäuler mit zuvorkommendem Eifer zu stopfen, aber damit war es noch nicht genug. Sie ging weit über die Anforderungen ihres Jobs hinaus, ja schien den Ehrgeiz zu haben, den Berufsstand der Kellnerin zur Kunst zu erheben. Man musste sie gesehen haben, wie wendig sie sich, mit Geschirrstapeln beladen, federnden Schrittes zwischen der Küche und den Tischen bewegte. Wie sie, geschickt mit Tellern und Gläsern jonglierend, bereits den Tisch gedeckt hatte, noch bevor sie die Frage »Hätten Sie gern die Karte?« ausgesprochen hatte, um dann leichtfüßig wie eine Gazelle hinter die Theke zu springen und mit sicherer, anmutiger Bewegung Kaffee einzuschenken. Wenn man Tanja bei der Arbeit zusah, hatte man den Eindruck, ein akrobatisches Ballett zu erleben, das von den Kaugeräuschen und dem Klirren des Geschirrs akustisch untermalt wurde. In der gastronomischen Geschichte Montreals hatte man wahrscheinlich noch nie eine so aufgeweckte, strahlende Kellnerin bei der Arbeit bewundern können. Tanja wurde immer wieder gefragt, wie sie es nur anstelle, so umsichtig zu sein, ohne je ihre gute Laune zu verlieren. Mancher erklärte sich ihre ungewöhnliche Leistungsfähigkeit mit ihren deutschen Genen – schließlich stammte Tanja aus Bayern. Sie war in der Nähe von München aufgewachsen, wie noch immer an ihrem leichten Akzent zu erkennen war. Andere hegten den Verdacht, dass sie über magische Kräfte verfüge oder die angeborene Gabe besitze, überall zugleich zu sein. Darüber konnte Tanja nur lachen. Die Erklärung war ganz einfach: Tanja liebte ihren Beruf. Sie mochte die Atmosphäre im »Madelinot« und respektierte die Gäste, sah es geradezu als ihre Pflicht an, diese zufriedenzustellen.
Tanja war fünf Jahre zuvor nach Montreal gekommen, um dort zu studieren und ihr Französisch, die zweite Fremdsprache, die sie im Gymnasium erlernt hatte, zu vervollkommnen. Der eigentliche Grund war jedoch ein junger Mann, den sie über das Internet kennengelernt hatte. Von ihm war sie enttäuscht gewesen, aber die Stadt gefiel ihr, weshalb sie beschlossen hatte zu bleiben. Tanja hatte keineswegs vor, ihr Leben lang als Kellnerin zu arbeiten. Eines Tages würde sie wohl ihr Studium abschließen, das sie aus Überdruss unterbrochen hatte. Doch bestand kein Grund zur Eile: Ihrer Arbeit im »Madelinot« verdankte sie vorerst das wohltuende Gefühl, innerlich ausgeglichen, im Einklang mit dem Universum zu sein.
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Tanja wohnte in einer ruhigen Straße im Stadtteil Villeray. Ihre Wohnung war klein, aber behaglich, in warmen Farben gehalten und mit einem Kamin ausgestattet. Tanja verbrachte dort angenehme Abende, las Romane, sah sich Filme an und hing in aller Ruhe ihren Träumen nach. Nur am Samstagabend ging sie aus – mit Noémie, ihrer einzigen Freundin. Aber selbst ihr hatte Tanja trotz ihres engen Verhältnisses noch nicht das große Geheimnis anvertraut, das sie seit dem Frühjahr insgeheim jubilieren ließ: In ihrem Leben gab es einen Mann.
Tanja war heimlich verliebt.
Er kam Tag für Tag um Punkt zwölf Uhr in seiner makellosen Briefträgeruniform zur Tür herein. Er war groß, eher hager und nicht wirklich gut aussehend, doch sein sanfter Blick und sein verhaltenes Lächeln ließen Tanjas Herz höher schlagen. Er hieß Bilodo.
Er wusste nicht, dass Tanja in ihn verliebt war. Er war genauso schüchtern wie sie, wenn nicht sogar noch eine Spur zurückhaltender.
Tag für Tag also tauchte er um zwölf Uhr mittags auf, ganz gleich bei welchem Wetter, und Tanja, die selbst stets pünktlich war, gefiel diese Zuverlässigkeit. Er war nicht wie die anderen Briefträger aus dem nahe gelegenen Briefverteilzentrum, die zur Essenszeit als grölende Meute einfielen, mit Tanja flirteten und ihr zotige Witze erzählten. Er gesellte sich nur selten zur Horde seiner ungehobelten Kollegen. Lieber setzte er sich an die Theke und aß in aller Ruhe. Tanja empfand seine Gegenwart als angenehm.
Nach dem Dessert wandte sich Bilodo seiner Lieblingsbeschäftigung zu. Aus seiner Tasche holte er ein Heft und Schreibfedern und widmete sich der Kalligrafie, der erhabenen Kunst des »Schönschreibens«. Tanja beobachtete aus dem Augenwinkel, wie er Auszüge aus der Speisekarte oder einige Zeilen aus der Zeitung abschrieb. Bilodo hatte lange schlanke Finger, deren Bewegungen mit der Feder Tanja fasziniert folgte. Ihre Aufgabe, allmorgendlich das Tagesgericht auf die Tafel zu schreiben, führte sie mit größter Sorgfalt in ihrer schönsten Schrift aus, in der Hoffnung, Bilodos Aufmerksamkeit darauf zu lenken. Nachdem sie sich ein wenig mit der Kalligrafie vertraut gemacht hatte, ging sie dazu über, seine Rechnung in der Unzialschrift, der offenbar seine Vorliebe galt, abzufassen und mit ihrem Vornamen zu unterschreiben, den sie mit zarten Schnörkeln versah. Bilodo schien dies zu gefallen, denn er gab ihr stets ein großzügiges Trinkgeld.
Seitdem Bilodo in ihr Leben getreten war, hatte Tanja das Gefühl, als würde ihr Bett Nacht für Nacht ein wenig breiter und wäre mittlerweile so unermesslich groß und kalt wie die Wüste Gobi. Wenn sie morgens vom Gezwitscher der Vögel geweckt wurde, galt ihr erster Gedanke seinem Lächeln, und abends, vor dem Einschlafen, dachte sie an seine Pianistenfinger und errötete bei der Vorstellung, wie sie gewandt ihren Körper erkundeten … Ihm galten ihre Tagträume, wenn sie in müßigen Momenten neben der Kasse stand; seinetwegen eilte sie um zehn vor zwölf in den Waschraum, um ihre Frisur zu richten und sich dezent zu schminken. Mit ihrem Spiegelbild war sie alles andere als zufrieden. Sie fand ihr Kinn zu lang, ihren Busen zu klein. Sie bedauerte, nicht mehr Sex-Appeal zu haben, nahm jedoch an, dass Bilodo hinter die Fassade zu blicken vermochte. Sie bemühte sich, ihre mangelnden weiblichen Reize auszugleichen, indem sie besonders zuvorkommend war. Zum Dessert servierte sie ihm stets eine doppelte Portion Zitronentarte.
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Bilodo verbarg ein Geheimnis, das spürte Tanja genau. Hatte er in seiner Vergangenheit irgendetwas Dramatisches erlebt? War ihm etwas Schlimmes zugestoßen? Tanja stellte Mutmaßungen an und musste sich eingestehen, dass sie so gut wie nichts über ihn wusste. Nur das eine, das allerdings von entscheidender Bedeutung war: Bilodo war Junggeselle. Das wusste Tanja dank seiner Kollegen von der Post, die ihn immer wieder damit aufzogen. Was bewegte Bilodo in seinem Herzen? Was fing er mit seinen Nächten an? Tanja malte sich gern aus, wie er ein nur der Kalligrafie gewidmetes mönchisches Dasein führte und Körper und Geist für die glückliche Pilgerin aufsparte, die den Weg zu seiner Seele finden würde – eine Rolle, die in ihren Augen genau auf sie zugeschnitten war. Aber wie stand es mit ihm? Empfand er etwas für sie? Tanja glaubte allen Grund zu der Annahme zu haben, dass sie ihm nicht gänzlich gleichgültig war – warum sonst setzte er sich immer wieder zu ihr an die Theke? Dabei konnte sie sich wegen der chronischen Schüchternheit, die sie beide verstummen ließ, keineswegs sicher sein. War Bilodos Lächeln als Aufforderung zu deuten, oder wollte er nur einfach freundlich sein? Da sie sich noch kein endgültiges Urteil erlauben konnte, verhielt sich Tanja lieber abwartend. Aus Angst, Bilodo zu verschrecken, hoffte sie darauf, dass er den ersten Schritt unternahm.
So waren bereits sechs Monate vergangen, und dieser seltsame Zustand hätte bis in alle Ewigkeit anhalten können, wenn sich nicht das Schicksal eingeschaltet und den Tod über die Rue des Hêtres gebracht hätte.
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Es war der letzte Tag im August, ein Gewitter zog herauf. Der Himmel war im Laufe des Vormittags immer bleierner geworden und hatte sich schließlich kurz vor zwölf in einem Wolkenbruch entladen, der die Rinnsteine zum Überlaufen brachte. Als die Elemente sich gerade ein wenig zu beruhigen begannen, hörte Tanja zu ihrem Entsetzen einen Krankenwagen vorbeifahren. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es bereits zehn nach zwölf war. Zum ersten Mal verstieß Bilodo gegen seine eigene Pünktlichkeitsregel. In dem Moment tauchte Odysseus auf, ein Obdachloser, der Stammgast im »Madelinot« war. Aufgeregt verkündete er, soeben habe sich ein Unfall ereignet, weiter unten in der Rue des Hêtres sei jemand von einem Lastwagen angefahren worden.
Da Tanja wusste, dass diese Straße zu Bilodos täglicher Runde gehörte, wurde sie hellhörig. Als sie ihn aufforderte, genauer zu werden, berichtete Odysseus, das Opfer sei Stammgast im Restaurant, und am Unfallort befänden sich mehrere Postbeamte. Tanja bekam weiche Knie. Sie war plötzlich erfüllt von der schrecklichen Gewissheit, dass sie Bilodo soeben verloren hatte, dass alles schon zu Ende war, bevor es überhaupt hatte beginnen können. Dann aber enthüllte Odysseus, dass es sich bei dem Verstorbenen um »den bärtigen Typ mit der roten Blume« handele. Diese Beschreibung traf nur auf eine einzige Person zu. Tanja atmete tief durch. Sie war zwar erschüttert über die Nachricht, dass der Tote Gaston Grandpré war, ein gern gesehener Gast, aber es überwog die Erleichterung, dass Bilodo nichts zugestoßen war.
Bilodo traf gegen 13:15 Uhr ein, gefolgt von seinem Kollegen Robert, der für die Leerung der Briefkästen zuständig war. Um ein Haar hätte sich Tanja dem jungen Briefträger in die Arme geworfen, aus lauter Freude darüber, dass er unversehrt war. Bilodos Uniform war blutbeschmiert. Robert, dieser Schwätzer, verkündete genüsslich, sie seien Zeugen des Unfalls gewesen. Er habe sich direkt vor ihren Augen, während das Unwetter über ihnen tobte, vor einem Briefkasten ereignet, den er in aller Eile geleert habe. Weiterhin schilderte Robert, wie Grandpré sich in den sintflutartigen Regen gestürzt habe, um einen Brief einzuwerfen, und über die Straße gelaufen sei, ohne den nahenden Lastwagen zu bemerken, und PENG! Der Arme habe, als sie sich über ihn beugten, schon in den letzten Zügen gelegen und in ihren Armen sein Leben ausgehaucht.
Bilodo war sichtlich erschüttert. Mit gequälter Miene sah er zu Grandprés Stammplatz am Fenster hinüber. Tanja war genauso bekümmert wie er. Der Verstorbene würde ihr fehlen. Sie würde Gaston Grandprés Liebenswürdigkeit vermissen und seinen feinen Humor. Seitdem sie im »Madelinot« arbeitete, hatte der Literaturprofessor, der aussah wie ein zerstreuter Gelehrter, hier Tag für Tag immer das gleiche Sandwich gegessen, im Knopfloch eine rote Nelke, die er, bevor er ging, in den Zuckertopf steckte – ein ungewöhnliches kleines Ritual, das Tanja schmunzelnd registrierte. Schrecklich, was Monsieur Grandpré zugestoßen war. Und doch ertappte sie sich ein wenig beschämt bei dem Gedanken, erleichtert zu sein, dass er tot war und nicht Bilodo.
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In jener Nacht träumte Tanja von Gaston Grandpré: Das Gewitter tobte, und er lag unmittelbar nach dem Unfall auf der Straße. Nur war es eben nicht Grandpré, sondern Bilodo, der blutüberströmt auf dem überfluteten Asphalt mit dem Tode rang. Mit zitternder Hand nahm er die rote Nelke aus dem Knopfloch seiner Briefträgerjacke, reichte sie ihr und flehte sie an, ihn nicht zu vergessen … Dann schreckte sie aus dem Schlaf, entsetzt über das, was sich als bloßer Albtraum herausstellte.
Als Tanja wieder zu sich gekommen war, erinnerte sie sich daran, dass Bilodo sehr wohl am Leben war. Sie schaltete ihre Nachttischlampe ein und hatte in dem Moment eine Erleuchtung: Sie wurde sich schlagartig der Vergänglichkeit, der schrecklichen Kürze des Lebens bewusst und nahm dies als Vorzeichen. Sie durfte nicht länger zögern: »Worauf wartest du noch, Tanja Schumpf? Wenn du möchtest, dass Bilodo dein wird, dann ergreife die Initiative, bevor es zu spät ist«, sagte sie laut zu sich. Sie musste endlich zur Tat schreiten. Gerührt gedachte Tanja Gaston Grandprés, dem sie diese Erkenntnis zu verdanken meinte. Sie bat ihn um Verzeihung, dass ihr sein Tod lieber war als der Bilodos, und dankte ihm, ihr damit die Augen geöffnet zu haben.
Tags darauf kaufte Tanja auf dem Weg zum »Madelinot« beim Blumenhändler eine rote Nelke, die sie umgehend in den Zuckertopf auf Grandprés Lieblingstisch steckte, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. »Die Initiative ergreifen, ja. Aber wie?«, fragte sie sich, während sie gedankenverloren die einsame Blume betrachtete. Wie konnte sie nur eine Brücke zu Bilodo bauen? Wie ihm näherkommen?
Diese Frage beschäftigte Tanja unentwegt. Zum Glück ließ die Antwort nicht lange auf sich warten: Eine Gelegenheit bot sich, als Bilodo plötzlich seine Liebe zur asiatischen Dichtkunst entdeckte. Eines Mittags im September zeigte er Tanja ein Buch mit dem Titel Traditionelle Haikus aus dem 17. Jahrhundert und erzählte ihr voller Begeisterung von jenen bezaubernden kleinen Gedichten, die aus nur drei Zeilen und siebzehn Silben bestünden. Im Laufe der Tage war nicht mehr daran zu zweifeln, dass die japanische Poesie Bilodos neueste Marotte war: Er hatte der Kalligrafie den Rücken gekehrt und widmete sich nunmehr dem Verfassen von Haikus. Das war die Gelegenheit, auf die Tanja gewartet hatte: Über die verschlungenen Pfade des Internets eignete sie sich alle Kenntnisse an, die sie über Haikus finden konnte.
Spiegel: Im Auge
einer Libelle
der Gipfel eines Berges
Eines Herbstmorgens
sah ich im Spiegel
das Antlitz meines Vaters
Manchmal sind Wolken
Atempausen für
die Anbeter des Mondes
Unterm Sommergras
erschauern noch jetzt
die Träume eines Kriegers
Das erste Haiku stammte von Buson, das zweite von Kijō und die beiden anderen von Bashō, alle drei anerkannte Meister dieses Genres. Bestehend aus drei Zeilen – zwei fünf- und einer siebensilbigen – und insgesamt siebzehn Silben, zielte das Haiku darauf, das Unwandelbare und das Vergängliche einander gegenüberzustellen. Ein gelungenes Haiku sollte, maßvoll und präzise, einen Verweis auf die Natur (kigo) oder eine über den Menschen hinausweisende Realität enthalten. Die Kunst des Haiku bestand im Erfassen eines Moments, eines Details; es war ein lebensnahes Gedicht, das nicht etwa an den Intellekt, sondern an die Sinne appellierte.
In ihrer Begeisterung über die scheinbare Einfachheit dieses Konzepts versuchte Tanja, einige Haikus zu verfassen. Aber schon bald musste sie feststellen, dass es alles andere als leicht war. Sie nahm eine Anthologie mit japanischen Haikus mit ins »Madelinot« und gab Bilodo die ihrer Meinung nach schönsten Gedichte daraus zu lesen. Er war angenehm überrascht, dass Tanja sich wie er für Haikus interessierte, weigerte sich aber, ihr diejenigen, an denen er gerade arbeitete, zu zeigen, unter dem Vorwand, sie seien zu persönlich. Doch wenigstens hatte Tanja seine Aufmerksamkeit geweckt: Das war immerhin ein Anfang.
Aus dem Internet lud Tanja eine Auswahl japanischer Lieder herunter, die sie jeden Tag um Punkt 11:55 Uhr abspielte. Sie machte sich mit Ikebana und Origami vertraut, schmückte das Restaurant mit Blumenarrangements und bestückte es mit hübschen Tieren aus gefaltetem Papier. Diese Kunstgriffe schienen ihre Wirkung auf Bilodo zu verfehlen, umso mehr fielen sie seinem Kollegen Robert auf, der schon seit geraumer Zeit ahnte, dass Tanja eine Schwäche für den jungen Briefträger hatte.
Eines Mittags nahm er sie zur Seite: »Mir ist schleierhaft …«, setzte er an.
»Was denn?«, fragte Tanja argwöhnisch, denn sie misstraute Robert.
Selbstgefällig und laut wie er war, führte Robert die ausgelassene Horde aus Postbeamten an, deren Sensationslust er mit laufend aktualisierten Berichten über seine weiblichen Eroberungen und sagenhaften sexuellen Abenteuer stillte. Da er sich für eine Art Casanova hielt, hatte er angefangen, Tanja mit anzüglichen Anspielungen und zweideutigen Gesten den Hof zu machen, was sie tunlichst ignorierte.
»Mir ist schleierhaft, was du an ihm findest«, verkündete Robert mit einer Handbewegung in Richtung Bilodo, der, über die Theke gebeugt, ins Schreiben versunken war. »Warum verschwendest du deine Zeit an diesen Spinner?«
Tanja warf ihm einen eisigen Blick zu. Am meisten ärgerte sie an diesem Postbeamten, auf welch niederträchtige Art und Weise er Bilodo behandelte. Obwohl Robert behauptete, Bilodos bester Freund zu sein, nutzte er jede Gelegenheit, sich über ihn lustig zu machen. Er verspottete diesen wegen seines nicht enden wollenden Zölibats und versuchte ihn in seiner selbst gewählten Rolle als Kuppler mit allem, was nicht bei Drei auf den Bäumen war, zusammenzubringen. Er meldete ihn bei Partnervermittlungsagenturen an und veröffentlichte ohne Bilodos Wissen derbe Annoncen in den sozialen Netzwerken. Er hatte sogar Bilodos Namen entstellt und ihn Libido getauft, worüber sich die anderen Postbeamten köstlich amüsierten. Wie sich Bilodo fühlen mochte, wenn man ihn so nannte, konnte Tanja besser als jeder andere nachempfinden, denn als Kind hatte sie Ähnliches durchgemacht. Ihr aus dem Rheinland stammender, für bayerische Ohren befremdlich klingender Familienname Schumpf war von ihren Klassenkameraden umgewandelt worden in Schlumpf – wie die kleinen blauen Kobolde. Tanja Schlumpf! Oder auch Schlumpfine … Lächerliche Spitznamen, die ihre Jugend überschattet hatten. Tanja hatte unter ihnen gelitten, und wenn sie mitansehen musste, wie Bilodo dieselbe Demütigung widerfuhr, tat er ihr leid und sie fühlte sich ihm besonders nahe.
»Du brauchst einen richtigen Mann«, setzte Robert noch eins drauf.
»Und du behauptest, sein Freund zu sein?«, empörte sich Tanja.
»Das hat nichts mit Freundschaft zu tun. Es geht um das glühende Verlangen, das ich für dich empfinde, meine schöne Tanja«, sagte Robert anzüglich.
Tanja, die ihren Widerwillen kaum verbergen konnte, strafte ihn mit Nichtachtung.
Den ganzen Herbst über frönte sie weiterhin ihrer Vorliebe für alles Japanische: Sie stellte einen Bonsai auf die Theke und überredete den Koch Monsieur Martinez, die Speisekarte um Sushi zu bereichern. Zu Halloween verkleidete sie sich natürlich als Geisha.
»Konichiwa«, sagte sie zu Bilodo, der sie verwundert ansah, als er das Lokal betrat, und verneigte sich.
Er verneigte sich ebenfalls und gratulierte ihr zu ihrem hübschen Kostüm. Kaum hatte er seine Mahlzeit hinuntergeschlungen, vertiefte er sich auch schon in seine Haikus. Seine halbherzige Reaktion enttäuschte Tanja, schließlich hatte sie sich mit ihrer Verkleidung viel Mühe gegeben – zwei Stunden hatte sie allein in Make-up und Frisur investiert.
»Schöner Versuch, Madame Butterfly«, sagte Robert spöttisch, als Tanja in ihren Schuhen mit den Holzsohlen an seinen Tisch schwankte, um ihm Kaffee nachzuschenken. »Gehen wir doch lieber zu mir: Dann zeige ich dir mein prächtiges Samuraischwert.«
»Lieber mache ich Harakiri!«
Doch Robert ließ nicht locker und malte ihr in den loderndsten Farben ein Hiroshima fleischlicher Lüste aus. Tanja allerdings war schon mit Wichtigerem beschäftigt: Bilodo war im Aufbruch begriffen. »Sayonara, mein Liebster!«, sagte sie still für sich.
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Ticktack macht die Uhr
im Sekundentakt
Doch mein Herz schlägt nur für dich
Tanja zerknüllte das Gedicht und warf es in den Kamin, wo es sich in Rauch auflöste. Sie seufzte. Ob Bilodo wohl dieselben kreativen Nöte durchmachte? Es sah nicht danach aus: Jeden Mittag arbeitete er mit unerschütterlicher Disziplin an seinen eigenen Haikus, offenbar immun gegen die Angst vor dem leeren Blatt. Auch wenn ihm Tanjas anhaltendes Interesse an seinen Werken schmeicheln mochte, weigerte er sich hartnäckig, ihr das Geschriebene zu zeigen, und schlug hastig sein Heft zu, sobald sie in seine Nähe kam. Tanja war diese Geheimniskrämerei nicht geheuer, und sie rätselte, ob Bilodos Gedichte womöglich sie betrafen, weshalb sie es kaum erwarten konnte, einen Blick darauf zu werfen. Und so kam sie auf die Idee, ein Renku zu beginnen.
Auf diesen Begriff war sie beim Durchblättern des Bandes Geschichte der japanischen Dichtkunst