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Isolde Kurz

Der Despot

Roman

Isolde Kurz

Der Despot

Roman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-962812-06-5

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Der Despot

Erin­nern Sie sich, lie­be Freun­din, wie Sie vor Zei­ten ein­mal mit dem Schrei­ber die­ser Blät­ter das klei­ne Fried­höf­chen von La Tour de Peilz am Gen­fer See be­such­ten? – Die ers­ten Vo­gel­stim­men wa­ren in der Luft, und die Bäu­me zeich­ne­ten ihr zar­tes Ge­äs­tel noch laub­los, aber schon mit ver­dick­ten, drän­gen­den Knöt­chen wie mit aber­tau­send Per­len in den tief­blau­en Äther. Sie spra­chen nur die zwei Wor­te: Hei­li­ges Le­ben! Dann aber blick­ten Sie mich fra­gend an, weil ich vor ei­nem na­men­lo­sen Grab­stein mit be­frem­den­der In­schrift ste­hen blieb. Und Ihr al­ter Freund ver­sprach, Ih­nen von dem Schlä­fer zu er­zäh­len, des­sen Ruhe die­se Grab­schrift hü­tet. Ein Men­schen­al­ter ver­ging, be­vor er dazu die Muße fand. Jetzt, da er sich sel­ber an­schickt, in den dunklen Na­chen zu stei­gen, sen­det er Ih­nen die­se Blät­ter. Ver­fah­ren Sie da­mit nach Ihrem Er­mes­sen: strei­chen Sie, kür­zen Sie nach Be­darf, las­sen Sie Jah­re, Jahr­zehn­te ver­ge­hen, las­sen Sie die gan­ze Welt sich wan­deln; je­ner Tote hat Zeit zu war­ten. Nur ein­mal noch soll er im Glanz der Ju­gend­ta­ge wie­der auf­ste­hen, ehe die einst so ver­hei­ßungs­vol­len Züge für im­mer ver­lö­schen.

Kann sein, es lebt noch da und dort ei­ner, der ihn ge­kannt und ge­liebt und dann ver­ur­teilt hat. Kann sein, es sind noch ir­gend­wo Spu­ren sei­nes Wer­kes er­hal­ten. Dann fin­det er viel­leicht spät noch das Ver­ste­hen und die Los­spre­chung, die dem Le­ben­den ver­sagt wa­ren.

Sein Freund und der Ihre
Ewers.

*

Was wa­ren das für gol­de­ne Tage, mei­ne Tü­bin­ger Stu­den­ten­ta­ge. Den­ke ich dar­an zu­rück, so höre ich tau­send Ler­chen zwit­schern!

Als Sohn deut­scher El­tern in Ame­ri­ka ge­bo­ren, hat­te ich schon ein Men­schen­le­ben hin­ter mir, als ich mit we­nig mehr als zwan­zig die klei­ne Uni­ver­si­tät am Neckar be­zog. Denn ich war seit frü­he­s­ter Ju­gend auf ei­ge­nen Fü­ßen ge­stan­den, hat­te als halb­wüch­si­ger Jun­ge in den Pam­pas klei­ne­re Jun­gen un­ter­rich­tet, war drei­zehn­jäh­rig in den Se­zes­si­ons­krieg ent­lau­fen, hat­te mit den In­dia­nern ge­lebt, war Zei­tungs­be­richt­er­stat­ter ge­wor­den, al­les ohne noch je­mals einen re­gel­rech­ten Un­ter­richt ge­nos­sen zu ha­ben. Da war dann plötz­lich in­mit­ten des tä­ti­gen Le­bens mein deut­sches Blut in mir er­wacht, das nach gründ­li­che­ren Kennt­nis­sen und ei­ner wis­sen­schaft­li­chen Aus­bil­dung dürs­te­te, und ich fuhr nach Eu­ro­pa, um mit ei­ner klei­nen Erb­schaft, die mir zu­ge­fal­len war, auf ei­ner deut­schen Hoch­schu­le durch Ge­schich­te, Li­te­ra­tur und ver­wand­te Fä­cher die Lücken mei­ner Weis­heit zu stop­fen.

In Tü­bin­gen fehl­te es mir aber zu­nächst an ei­nem pas­sen­den Um­gang. Zwi­schen ei­nem Men­schen von mei­ner bunt­sche­cki­gen Ver­gan­gen­heit und den Fa­mi­li­ensöh­nen, die ganz warm aus dem en­gen häus­li­chen Nest auf die Hoch­schu­le ka­men, war die Kluft zu groß. Ich ließ mir zu­wei­len einen der hart­tra­ben­den »Phi­lis­ters­gäu­le« sat­teln und ritt in den son­ni­gen Spät­herbst­ta­gen al­lein in die reiz­vol­le Ge­gend hin­aus. Im üb­ri­gen leb­te ich still über mei­nen Bü­chern und fand mich in­mit­ten des lau­ten Stu­den­ten­trei­bens ein­sam wie im Ur­wald.

Man spricht so­viel vom Blitz­strahl der Lie­be. Dass es auch einen Blitz­strahl der Freund­schaft gibt, wer­den we­ni­ge ver­ste­hen, ich aber soll­te es in je­ner Zeit er­fah­ren.

Ei­nes Mor­gens, als ich in ei­ner der lan­gen Al­leen spa­zie­ren­ging, die in drei­fa­cher Rei­he dem Städt­chen vor­ge­la­gert sind, be­geg­ne­te ich ei­nem jun­gen Mann von un­ge­wöhn­lich an­zie­hen­der Er­schei­nung, der in Gang und Hal­tung et­was Sol­da­ti­sches an sich hat­te, wo­mit ein selt­sam ab­we­sen­des, ver­träum­tes Auge im Wi­der­spruch stand. Er war mir durch sein ed­les Äu­ße­re schon frü­her in den Stra­ßen auf­ge­fal­len; auch zu Pfer­de hat­te ich ihn mehr­mals ge­se­hen und be­merkt, dass er kein Sonn­tags­rei­ter war, son­dern mit be­que­mer Selbst­ver­ständ­lich­keit im Sat­tel saß. Aber als er jetzt in dem ra­scheln­den Kas­ta­ni­en­laub nahe an mir vor­über­ging und mich mit ei­nem schnel­len Blick streif­te, da durch­fuhr mich’s: die­sen oder kei­nen suchst du dir zum Freund. Ich nahm es für eine gute Vor­be­deu­tung, dass ich ihn noch am sel­ben Vor­mit­tag in ei­nem Kol­leg über äl­te­re deut­sche Li­te­ra­tur wie­der­fand. Er saß nur we­nig von mir ent­fernt, und ich war die gan­ze Zeit über mehr mit ihm als mit dem Vor­trag be­schäf­tigt. Ich hät­te es kaum in Wor­te fas­sen kön­nen, was mich so ganz ei­gen zu ihm hin­zog. Aber al­les an ihm fes­sel­te mich: die Stirn, die un­ter dem dich­ten Haar mit ed­ler Wöl­bung in den Schä­del über­ging, die dunklen, über der Nase lei­se zu­sam­men­tref­fen­den Au­gen­brau­en, die Art, wie er den Kopf trug, lau­ter Äu­ßer­lich­kei­ten, die mir der Aus­druck für et­was wa­ren, wo­für ich noch kei­nen Na­men hat­te. Wäh­rend die an­de­ren mit vor­ge­neig­ten Köp­fen em­sig krit­zel­ten, hielt er die Au­gen ru­hig auf den Vor­tra­gen­den ge­hef­tet und mach­te nur dann und wann eine ra­sche Auf­zeich­nung. Von da ab sa­ßen wir fast einen Win­ter lang zwei­mal wö­chent­lich im glei­chen Hör­saal bei­sam­men, ohne je ein Wort zu tau­schen. Mein Herz brann­te da­nach, ihn an­zu­re­den, aber sein ab­ge­schlos­se­nes We­sen be­nahm mir den Mut. Und doch war ich si­cher, dass auch er mich be­merkt hat­te, denn bei je­dem be­son­de­ren An­lass be­geg­ne­ten sich un­se­re Au­gen. Ich will ihn Gu­stav Borck nen­nen, es ist der Name, den er sich spä­ter ge­wählt hat; warum ich sei­nen wirk­li­chen Na­men, dem ein »von« vor­ge­setzt war, nicht nen­ne, wird sich aus sei­ner Ge­schich­te von selbst er­klä­ren. Au­ßer dem Na­men konn­te ich nichts von ihm er­kun­den, als dass er Nord­deut­scher war, als Ju­rist im­ma­tri­ku­liert, und dass er ein Türm­chen hart am Neckar be­wohn­te, worin ein Uns­terb­li­cher in vier­zig­jäh­ri­ger geis­ti­ger Um­nach­tung ge­lebt hat­te. Dort konn­te man vom jen­sei­ti­gen Flus­sufer aus zu­wei­len sei­nen dunklen Kopf am Fens­ter er­ken­nen.

Was sich an­zieht, muss sich end­lich fin­den. Bei ei­nem Fest­kom­mers zu Ehren ei­nes schei­den­den Leh­rers er­gab es sich, dass wir bei­de ne­ben­ein­an­der zu sit­zen ka­men. Ich stell­te mich vor, wie ich’s die an­dern tun sah:

Ge­stat­ten Sie – – mein Name ist Ewers.

Er er­hob sich: Mein Name ist Borck.

Eine Ver­beu­gung, dann setz­ten wir uns, aber durch die dür­re For­mel hin­durch grüß­ten sich un­se­re See­len.

Sie sind Ame­ri­ka­ner, ich weiß von Ih­nen, sag­te er ver­bind­lich. Sie sind so glück­lich, ei­nem großen Ge­mein­we­sen an­zu­ge­hö­ren und schon viel ge­se­hen zu ha­ben. Ich be­nei­de Sie.

Die lei­se Bit­ter­keit die­ser Wor­te war die Fol­ge der un­säg­lich be­en­gen­den Ver­hält­nis­se des da­mals noch un­ge­ein­ten Deutsch­land. Ich aber fühl­te mich da­durch ge­ho­ben, als ob man mir ein Adels­di­plom auf den Tisch ge­legt hät­te.

Jene Nacht wur­de die Ge­burts­nacht ei­ner Freund­schaft, die durch eine Rei­he von Jah­ren den stärks­ten In­halt mei­nes Le­bens ge­bil­det hat. Wir schlos­sen uns zu­sam­men, wie wenn je­der dem an­dern bis­her zu sei­nem Da­sein ge­fehlt hät­te. Ich be­wun­der­te ihn als Vor­bild alt­ver­erb­ter, ver­edel­ter Kul­tur, er sah in mir, wo­nach sein hef­ti­ges Ver­lan­gen stand: Frei­heit und Welt­wei­te.

Sie ha­ben noch gar nichts ge­dacht, aber Sie ha­ben ge­lebt, pfleg­te er mir un­ter den ver­schie­dens­ten For­men im­mer wie­der zu sa­gen. Ich, der nicht le­ben darf, wan­de­re mit dem Geist durch Raum und Zeit; so ge­ben wir zwei zur Not einen gan­zen Men­schen.

Gu­stav Borck stamm­te aus alt­preu­ßi­schem Mi­li­tära­del, für den es sich von selbst ver­stand, dass der ein­zi­ge Sohn ei­ner töch­ter­rei­chen Of­fi­ziers­fa­mi­lie, de­ren Vor­fah­ren die Schlach­ten Fried­richs mit­ge­schla­gen hat­ten, in der Kriegs­schu­le er­zo­gen wur­de. Al­lein die­ser feu­ri­ge und selbst­herr­li­che Mensch war wie durch ein Ver­se­hen der Na­tur in sei­ne steif­lei­ne­ne Um­welt hin­ein­ge­bo­ren; statt wie die Ka­me­ra­den mit vol­len Lun­gen den Kas­ten­geist ein­zuat­men, be­hielt er auch in der An­stalt sei­nen ei­ge­nen Geist, mit dem er bei Vor­ge­setz­ten und Mit­schü­lern an­s­tieß. Zu Hau­se in den Fe­ri­en war es fast noch schlim­mer, denn da herrsch­te die­sel­be strengs­ol­da­ti­sche Le­bens­auf­fas­sung, und er konn­te sich we­der mit den El­tern noch mit den Schwes­tern ver­ste­hen, die die Dienst­ord­nung aus­wen­dig wuss­ten und von nichts re­de­ten als von Übungs­platz und Trup­pen­schau. Sein Va­ter, ein Ve­teran aus den Schles­wig-Hol­stein­schen Kämp­fen, der mit ei­ner Ku­gel im Bein, die er sich vor den Düpp­ler Schan­zen ge­holt hat­te, und dem Obers­ten­rang ver­ab­schie­det war, er­war­te­te im stil­len Gro­ßes von die­sem Soh­ne, be­han­del­te ihn aber mit Stren­ge, um sein Frei­heits­ge­fühl und die Nei­gung zu au­ßer­mi­li­tä­ri­schen Din­gen in ihm nie­der­zu­hal­ten. Es half nichts, dass die­ser in der An­stalt nicht bloß als be­gab­tes­ter Kopf, son­dern auch als bes­ter Rei­ter und Fech­ter galt; was sein Va­ter an ihm ver­miss­te, konn­te und woll­te er sich nicht ge­ben. Nur an sei­ne frü­he­s­ten Ju­gend­jah­re, die er bei ei­nem müt­ter­li­chen Oheim in Pa­der­born zu­brach­te, dach­te er mit Freu­de als an die ein­zig glück­li­che Zeit sei­nes Le­bens zu­rück. Der alte Herr war Jus­tiz­be­am­ter, hat­te aber so et­was wie ein Poe­ten­ge­müt und wid­me­te sei­ne gan­ze freie Zeit der Er­kun­dung und Samm­lung va­ter­län­di­scher Al­ter­tü­mer. Sei­ne um­fang­rei­che Biblio­thek, worin der früh­rei­fe Kna­be un­ge­hin­dert wühl­te, und die Stil­le der nord­deut­schen Ebe­ne ga­ben sei­ner Fan­ta­sie eine über­schweng­li­che Nah­rung und för­der­ten den Hang zum Gren­zen­lo­sen, der von Na­tur in ihm lag. So konn­te er sich in ei­nem Be­ruf, wo je­der Schritt von oben ge­lenkt und nir­gends Raum für das Per­sön­li­che war, nicht an­ders als tod­un­glück­lich füh­len.

Da kam das Jahr Sechs­und­sech­zig. Mit Ju­bel zog er von der Kriegs­schu­le weg ins Feld, denn der Krieg be­deu­te­te ihm Frei­heit und Le­ben. Er fand bei der schwe­ren Ver­wun­dung sei­nes un­mit­tel­ba­ren Vor­ge­setz­ten die Ge­le­gen­heit, sich aus­zu­zeich­nen und kehr­te mit den Ach­sel­stücken und der Aus­sicht auf eine ra­sche Lauf­bahn im Ge­ne­ral­stab nach Hau­se. Jetzt war das Ent­zücken der Fa­mi­lie groß, aber nach zwei Jah­ren voll Zwie­spalt und Pein mach­te er al­lem Wün­schen und Hof­fen ein jä­hes Ende, in­dem er den bun­ten Rock aus­zog, um zu stu­die­ren. Je­ner Mut­ter­bru­der, dem er die schö­nen Jah­re sei­ner Kind­heit ver­dank­te, hat­te bei dem Ent­schluss mit­ge­wirkt. Da­mit wur­de die Kluft zwi­schen ihm und sei­nem El­tern­hau­se un­aus­füll­bar; die Mut­ter zog sich schein­bar noch wei­ter von ihm zu­rück als der Va­ter, sie schäm­te sich, dem Mann, den sie lieb­te, kei­nen Sohn nach sei­nem Her­zen ge­bo­ren zu ha­ben. Mit sol­chem Riss im Le­ben lief Gu­stav Borck in den er­sehn­ten Ha­fen der Hoch­schu­le ein. Nach Rat und Bei­spiel des Oheims wähl­te er die Ju­rispru­denz, der er denn auch mit Pf­licht­ge­fühl ob­lag, aber nur um jetzt am Ziel sei­ner Wün­sche zu er­ken­nen, dass ihn das Rechts­we­sen ge­nau so öde an­blick­te wie das Sol­da­ten­spiel im Frie­den. Nur an den brot­lo­sen Ne­ben­fä­chern, die er um so feu­ri­ger trieb, er­lab­te sich sei­ne lech­zen­de See­le. In die klei­ne Uni­ver­si­täts­stadt am Neckar hat­te ihn, wie so man­chen Nord­deut­schen, der Ruf ge­zo­gen, dass dort wohl­feil zu le­ben sei, auch war ei­ner der ju­ris­ti­schen Lehr­stüh­le glän­zend be­setzt; den Aus­schlag moch­te je­doch der Wunsch ge­ge­ben ha­ben, so weit wie mög­lich von sei­ner Fa­mi­lie ent­fernt zu sein.

So kam es, dass Gu­stav Borcks Le­bens­weg sich auf die­sem Kreu­zungs­punkt mit dem mei­nen tref­fen muss­te, und von all den viel­ge­stal­ten Be­geg­nun­gen mei­nes Le­bens ist kei­ne in­ner­lich be­deu­tungs­vol­ler für mich ge­wor­den als die­se. Auf al­len Ge­bie­ten des Geis­tes, die ich als tas­ten­der Neu­ling be­trat, ge­hab­te er sich wie ein Kö­nig im an­ge­stamm­ten Rei­che. Gin­gen wir nach der Vor­le­sung noch eine Stre­cke zu­sam­men, so ver­nahm ich aus sei­nem Mun­de man­ches Wort über den glei­chen Ge­gen­stand, das mir hun­dert­mal mehr zu den­ken gab, als die Wor­te des Leh­rers, und vie­les hat sich da­mals mei­nem Ge­dächt­nis ein­ge­prägt, was ich erst in rei­fe­ren Ta­gen rich­tig ver­ste­hen konn­te. Es schi­en mir dann im­mer, als hät­te er einen Ge­heim­schlüs­sel zu all den Din­gen, vor de­ren Tür die an­dern im Dun­kel tapp­ten.

Ei­nes Ta­ges nach ei­nem tro­ckenen Sha­ke­s­pea­re-Kol­leg, das ich je­doch pflicht­schul­dig nach­ge­schrie­ben hat­te, soll­te ich plötz­lich inne wer­den, was für ein Schlüs­sel das war.

O die Metho­de! die Metho­de! sag­te er. Die Erb­sün­de der Deut­schen! Mit was für He­beln und Schrau­ben ge­hen sie dem ar­men Ge­ni­us zu Lei­be. Der aber macht sich schlank und schlüpft ih­nen aus den Hän­den und lässt die gan­ze stau­nens­wer­te Ge­lehr­sam­keit im Dun­keln su­chen und ra­ten, wie er zu Wer­ke geht.

Wie geht er nach Ih­rer An­sicht zu Wer­ke? frag­te ich, nach je­dem sei­ner Wor­te be­gie­rig wie nach ei­nem Gold­korn ha­schend.

Er lach­te lei­se vor sich hin.

So ist’s recht. Sie fra­gen wie ein Mo­hi­ka­ner, ohne alle Ge­lehr­sam­keit, aber zum Zweck. Wie geht er zu Wer­ke? Gar nicht geht er zu Wer­ke. Er sucht nicht die Poe­sie, sie kommt zu ihm, er at­met sie ein und aus, er fin­det nur sie im Le­ben, weil er al­les an­de­re als lee­re Scha­le lie­gen lässt.

Aber auf wel­chem Wege kommt sie zu ihm?

Durchs Ohr.

Durchs Ohr?

Ja­wohl, durch das of­fe­ne Ohr, in das al­les Le­ben­de sei­ne Beich­te flüs­tert. Wa­rum sind Goe­the, Sha­ke­s­pea­re, Dan­te so groß, als weil sie die größ­ten Beicht­vä­ter des Men­schen­ge­schlech­tes wa­ren? Und kei­ner ist be­rech­tigt, sich einen Dich­ter zu nen­nen, dem es nichts von sei­nen ge­heims­ten Heim­lich­kei­ten an­ver­trau­en mag. Es sind aus­ge­plau­der­te Beicht­ge­heim­nis­se, wo­mit uns Sha­ke­s­pea­re oft so jäh­lings bis ins Mark er­schüt­tert.

Mein­te nicht der tro­ckene Herr auf dem Ka­the­der et­was ähn­li­ches, als er von des Dich­ters Le­bens­kennt­nis und Beo­b­ach­tung sprach?

Le­bens­kennt­nis! Beo­b­ach­tung! rief er em­pört, als wäre er per­sön­lich be­lei­digt. Ist denn der Dich­ter ein De­tek­tiv? Was soll­te er mit der Beo­b­ach­tung? Nichts, was das Le­ben lie­fert, kann die Dich­tung, so wie es ist, ge­brau­chen, und doch sind alle ihre Ge­bil­de schon ir­gend­wo auf Men­schen­bei­nen ge­gan­gen. Ver­ste­hen Sie, lie­ber Un­kas, wie ich es mei­ne?

»Un­kas« nann­te er mich nach dem »Letz­ten Mo­hi­ka­ner« aus dem »Le­der­strumpf«, wenn er mir be­son­ders wohl­woll­te.

Ich muss­te be­ken­nen, dass ich ihn ganz und gar nicht ver­stand, es schi­en mir viel­mehr, als ob er sich ge­ra­de­zu wi­der­spre­che.

Der Stoff, den der Dich­ter zu kne­ten be­kom­men hat, sag­te er mit Nach­druck, mehr und mehr in Feu­er ge­ra­tend, ist im­mer nur er selbst. Wohl fin­det er auch in sei­ner Um­welt die le­ben­di­gen An­sät­ze zu sei­nen Cha­rak­ter­ge­bil­den, und wo ihm ein sol­cher be­geg­net, da schie­ßen ihm gleich die ver­wand­ten Züge von al­len Sei­ten zu. Aber den zeu­gen­den Ur­stoff, in dem sie sich zur un­lös­li­chen, na­tur­ge­woll­ten Ein­heit zu­sam­men­fin­den, den Le­bens­fun­ken, der sie erst ste­hen und ge­hen macht, holt er aus dem ei­ge­nen In­nern. Denn in sich hat er das Zeug zu al­len Cha­rak­teren und Lei­den­schaf­ten, er um­spannt mit sei­ner Na­tur die gan­ze Stu­fen­lei­ter der Mensch­heit und reicht von der einen Sei­te bis an den Hei­li­gen, mit der an­dern an den Ver­bre­cher. Die­se Fä­hig­kei­ten aber, die ihm nicht des Han­delns we­gen ge­ge­ben sind, ru­hen zu­nächst un­be­wusst und un­tä­tig in ihm; sie wol­len erst auf­ge­regt und be­fruch­tet sein. Da­für ist nun das Le­ben da. Es be­rührt ihn mit ir­gend­ei­ner Er­fah­rung, ei­nem in­ne­ren Er­leb­nis, das viel­leicht für einen an­de­ren gar kei­nes wäre, denn was ein rech­ter Poet ist, der er­leb­t fort und fort, von au­ßen und von in­nen. Solch ein Er­leb­nis, sei es ein Vor­gang oder viel­leicht nur ein Wort, eine er­hasch­te Ge­bär­de, ir­gend­ein Laut aus den Tie­fen der Men­schen­brust, ein Blick, der stär­ker ge­trof­fen hat, springt wie ein Keim in sei­ne See­le. Da bleibt er un­be­wusst lie­gen, aber er ruht nicht, er ver­wan­delt sich ganz lei­se und un­be­merkt, er ist in Bäl­de nicht mehr, was er ur­sprüng­lich ge­we­sen. Er wächst im­mer wei­ter, in­dem er ver­wand­te Stof­fe des In­nern an sich zieht. Von die­sen form­lo­sen, aber in­ner­lich be­fruch­te­ten Zel­len­ge­bil­den ist des Dich­ters See­le ganz voll, sie tau­chen be­stän­dig in ihm auf und nie­der, er greift hin­ein, wenn er ih­rer be­darf. Sie sind gleich­sam der Ur­ne­bel, aus dem er sei­ne Ge­stal­ten formt. So mein­te ich das. Habe ich mich jetzt ver­ständ­lich ge­macht?

Ich nick­te, um ihm nur nicht ganz als Bö­otier zu er­schei­nen. Aber tat­säch­lich schwank­te mir das Hirn. Ich raff­te alle mei­ne Geis­tes­kräf­te zu­sam­men, um zu der na­he­lie­gen­den Fra­ge zu kom­men: Wo­her wis­sen Sie denn, wie dem Dich­ter zu­mu­te ist?

Weil ich auch ei­ner bin.

Ich sah ihn mit scheu­em Stau­nen von der Sei­te an. Alle Ar­ten von Men­schen hat­te ich schon ge­se­hen, Kauf­leu­te und Sol­da­ten, Rich­ter, Geist­li­che und Zei­tungs­schrei­ber, einen Dich­ter nie­mals. Aber au­gen­blick­lich stand es in mir fest: Ja, er ist ei­ner, so muss ein Dich­ter aus­se­hen.

Gu­stav aber lach­te plötz­lich laut und bit­ter auf und schlug sich mit der Faust auf den Mund.

Ich ein Dich­ter? – Ein Bru­der Lang­ohr bin ich, der sei­nen Sack zur Müh­le trägt wie die an­de­ren auch. Ver­ges­sen Sie, was ich Ih­nen da vor­ge­schwatzt habe. Wer darf über­haupt von sol­chen höchs­ten Din­gen re­den? Es geht al­les irre, ist al­les nur Ge­stam­mel und Wi­der­spruch.

Wenn ich mei­nem neu­en Freund auch nicht im­mer auf sei­nen Denk­we­gen fol­gen konn­te, so dan­ke ich es doch ihm, dass ich nicht wie tau­send an­de­re mit ei­nem Ran­zen voll fer­ti­ger Be­grif­fe, wor­an sich her­nach nichts mehr än­dern lässt, von der Hoch­schu­le ge­kom­men bin. Denn nie ließ er mich un­ge­stört die be­que­me Stra­ße ein­schla­gen, auf der die Mehr­zahl der stu­die­ren­den Ju­gend hin­ter den Wor­ten des Meis­ters her­wan­del­te, im­mer wies er auf ir­gend­ei­nen ab­sei­ti­gen Fuß­pfad, der nach ei­nem ein­sa­men Aus­sichts­punkt führ­te.

All­mäh­lich fand sich ein klei­ner Kreis von jun­gen Leu­ten zu­sam­men, die alle in der glei­chen Ge­dan­ken­welt leb­ten. Wir tra­fen uns des Abends in dem be­lieb­ten Stu­den­ten­kaf­fee­haus Mol­fetta. Ein klei­nes Sei­ten­ge­lass, nicht grö­ßer als ein Al­ko­ven, hart ne­ben der An­rich­te, wo die Schwes­ter des Wirts, eine schö­ne blas­se Süd­ti­ro­le­rin, den Kaf­fee brau­te, das köst­lich duf­ten­de Ge­tränk von Mok­ka, Por­to­ri­ko und ge­brann­tem Zu­cker, für das sie eben so be­rühmt war wie für ihre dunklen, schwer­mü­ti­gen Au­gen, war der Schau­platz un­se­rer Zu­sam­men­künf­te. Die­ser be­schei­de­ne Raum hör­te da­mals man­chen an­re­gen­den Ge­dan­ken, man­ches un­ge­wöhn­li­che Wort, das man gern in sein spä­te­res Le­ben hin­über­ge­nom­men hät­te, zum Ge­nuss des Au­gen­blicks ver­rau­schen. Denn dort sa­ßen wir die hal­be Nacht hin­durch, fünf, sechs jun­ge Ge­sel­len mit Gu­stav Borck als un­se­rem Kö­nig.

Wenn ich an die Ta­fel­run­de bei Mol­fetta zu­rück­den­ke, so drän­gen sich vor al­lem drei blon­de, echt ger­ma­ni­sche Häup­ter in mei­ne Erin­ne­rung. Da war ein großer, ha­ge­rer Rhein­län­der mit blei­chem Ge­sicht und star­ken Ba­cken­kno­chen, der einen ver­kürz­ten Arm hat­te, Kuno Schüt­te, der nach­ma­li­ge be­kann­te Theo­soph. Er war schon da­mals ein Son­der­ling, der es lieb­te, nie ge­nau wis­sen zu las­sen, was er tat, und sich einen An­schein von All­ge­gen­wart zu ge­ben, in­dem er im­mer auf­tauch­te, wo man ihn nicht er­war­te­te. Er hat­te den­sel­ben un­wi­der­steh­li­chen Zug zu Gu­stavs We­sen wie ich, leg­te ihn aber auf sei­ne ei­ge­ne mys­ti­sche Wei­se aus, in­dem er sich ein­bil­de­te, ihm ir­gend­wann in ab­ge­leb­ten Zei­ten na­he­ge­stan­den zu ha­ben. Da war der stäm­mi­ge, blat­ter­nar­bi­ge Hein­rich Som­mer, Preu­ße von Ge­burt und ehe­ma­li­ger Theo­lo­ge, der sich lan­ge mit re­li­gi­ösen Zwei­feln ge­quält hat­te und noch in ho­hen Se­mes­tern zur Me­di­zin über­ge­gan­gen war, um spä­ter ein nam­haf­ter Chir­urg zu wer­den. Da war end­lich un­ser Ben­ja­min, der rüh­rend ju­gend­li­che und schö­ne Olaf Han­sen, ein Lan­des­kind, aber von schwe­di­schen Ur­el­tern stam­mend. Die üb­ri­gen wa­ren mehr oder we­ni­ger Stroh­män­ner, stum­me Per­so­nen, und ge­hör­ten nicht zum fes­ten Be­stand un­se­res Krei­ses. Wir Fün­fe aber hin­gen fest zu­sam­men, durch Gu­stavs Über­le­gen­heit wie mit ei­nem ge­mein­sa­men Stem­pel ge­prägt. Nach Stu­den­ten­brauch stan­den wir alle bald auf Du; nur Gu­stav Borck blieb au­ßer der Ver­trau­lich­keit und im­mer von ei­nem letz­ten Rät­sel wie von ei­ner ge­heim­nis­vol­len Wol­ke um­ge­ben. Er be­herrsch­te das Ge­spräch, auch wenn er schwieg, was oft hal­be Aben­de lang der Fall war; er wirk­te dann durch sei­ne blo­ße Ge­gen­wart geis­tig ein. Kam es zu Re­de­kämp­fen, so gab sein Wort den Aus­schlag, und da­bei fiel mir auf, dass er sel­ten et­was ganz Au­ßer­or­dent­li­ches, son­dern meist nur das schein­bar Na­he­lie­gen­de sag­te, das wir an­de­ren über­se­hen hat­ten. War es aus­ge­spro­chen, so ver­stand es sich von selbst. Ein­zig Olaf Han­sen traf zu­wei­len den Na­gel noch bes­ser auf den Kopf, aber bei ihm klang es, wie wenn ein Kind et­was Tief­sin­ni­ges sagt, des­sen Trag­wei­te ihm sel­ber ver­bor­gen ist.

Am glück­lichs­ten war ich, wenn Borck ein Buch aus der Ta­sche zog und aus Sha­ke­s­pea­re oder Kleist vor­las. Er be­saß zwar nicht die Gabe, von ei­ner Rol­le in die an­de­re zu schlüp­fen und dem Dich­ter­wort mit der Stim­me Kör­per und Far­be zu ge­ben, da­für war sein nor­di­sches We­sen zu sprö­de, aber er leb­te dann so ganz in der Dich­tung, dass kei­ne Schön­heit un­ge­fühlt vor­über­ging, und der Raum füll­te sich mit über­mensch­li­chen Ge­stal­ten. Mit­un­ter las er auch Ge­dich­te vor, in der­sel­ben gleich­mä­ßig ge­ho­be­nen Ton­art, und ver­lang­te un­ser Ur­teil zu hö­ren. Wir ahn­ten, dass es die sei­ni­gen wa­ren, und da wir alle un­ter sei­nem Ban­ne stan­den, so fan­den wir die Ge­dich­te wun­der­voll und lob­ten sie über die Ma­ßen. Nur Olaf sag­te ge­le­gent­lich in sei­ner ein­fa­chen Art, dass ihn dies oder je­nes nicht be­frie­di­ge, doch ohne sein Ur­teil be­grün­den zu kön­nen. Dann zer­riss Borck das Blatt auf der Stel­le. Ich glaub­te, es ge­sch­ehe aus Är­ger, und mach­te ihm ein­mal Vor­wür­fe dar­über, wo­bei mir die Be­mer­kung ent­fuhr, dass Olaf doch zu jung sei, um mit sei­ner Mei­nung ernst ge­nom­men zu wer­den.

Die Jah­re tun nichts zur Sa­che, ant­wor­te­te Gu­stav ab­wei­send.

Auch Olaf mach­te Ver­se, die er uns dann und wann vor­trug. Er sag­te sie mit lei­ser, et­was zit­tern­der Stim­me ganz kunst­los her, wo­bei er die Au­gen schloss und sehr bleich wur­de. Es klang nur, wie wenn ein Bäch­lein über Kie­sel mur­melt. Ich wun­der­te mich, dass Gu­stav Borck mit wah­rer An­dacht zu­hör­te, denn für uns an­de­re war es nur ein Ge­stam­mel.

Die Ver­se des gu­ten Jun­gen sind aber doch gar zu kind­lich, äu­ßer­te ich ein­mal ge­gen ihn, da sah er mich selt­sam an und er­wi­der­te: Gott ist mehr im Säu­seln der Blät­ter als im Heu­len des Stur­mes. Las­sen Sie mir Olafs Ver­se un­ge­rupft.

Wenn wir an­de­ren auch mit Olafs Ge­dich­ten nicht viel an­zu­fan­gen wuss­ten, für die le­ben­di­ge Poe­sie sei­ner Ge­gen­wart hat­ten wir alle eine Emp­fin­dung. Wenn er her­ein­trat, so war’s, als wür­de ein Veil­chen­strauß auf den Tisch ge­stellt. Jun­ge Mäd­chen, auch die lieb­lichs­ten und un­schul­digs­ten, schie­nen im Ver­gleich zu ihm ir­di­scher und min­der rein. Von der Welt wuss­te er so gut wie nichts und miss­trau­te nie­mand. Er sah aus, als ob er die Spra­che der Tie­re ver­stün­de und mit den Na­tur­kräf­ten auf du und du sei. Er hat­te kein ei­gent­li­ches Fach­stu­di­um, son­dern hör­te nur we­ni­ge Kol­le­gi­en, die ihn be­son­ders an­zo­gen, aber er las viel, um die Män­gel sei­ner Vor­bil­dung aus­zu­glei­chen, weil er durch Kränk­lich­keit am re­gel­rech­ten Schul­be­such ver­hin­dert wor­den war. Zu­kunfts­plä­ne mach­te er auch kei­ne, und er glich ei­ner Pflan­ze, die nur zum Blü­hen, nicht zum Früch­te­tra­gen be­stimmt ist. Es war ein of­fe­nes Ge­heim­nis, dass er mit schwär­me­ri­scher Ver­eh­rung an der blas­sen Ade­le hing, die ih­rer­seits nur Au­gen hat­te für Gu­stav Borck. Wenn sie mit der Be­die­nung der Korps­stu­den­ten, die im großen Saa­le über uns ih­ren Stamm­sitz hat­ten, fer­tig war, kam sie her­un­ter und setz­te sich zu uns an den Tisch, um Gu­stav vor­le­sen zu hö­ren.

Er nahm aber ihr Wohl­ge­fal­len kalt auf, und als ich ihn ein­mal da­mit neck­te, sag­te er oben­hin:

Es gilt ja doch al­les bloß der Mon­tur (wo­mit er sei­ne stol­ze männ­li­che Er­schei­nung mein­te), für das Bes­te in uns ha­ben die Mäd­chen kei­ne Fühl­hör­ner.

Über­haupt ge­fiel er mir in Frau­en­ge­sell­schaft am we­nigs­ten. Ohne ir­gend frech zu sein, lag doch in sei­ner Stel­lung zum weib­li­chen Ge­schlecht so et­was wie eine lei­se Missach­tung.

Olaf Han­sen sah dies auch, und es kränk­te ihn für die mit An­dacht Ge­lieb­te, wes­halb er Gu­stav lan­ge Zeit mit Zu­rück­hal­tung be­geg­ne­te. Auch moch­te das straf­fe­re, ziel­be­wuss­te, nord­deut­sche We­sen den harm­los vor sich Hin­le­ben­den be­frem­den. Er war der ein­zi­ge, der sich, frei­lich in der sanf­tes­ten Wei­se, sei­ner Herr­schaft ent­zog. Da­ge­gen beug­te sich je­ner stol­ze Geist vor Olafs Kin­der­see­le, und selt­sam war es, dass, wäh­rend wir an­de­ren Olaf lieb­ten und heg­ten, Gu­stav aber be­wun­der­ten, die­ser der zar­ten, ver­letz­li­chen Men­schen­blu­me eine Art von Ehr­furcht ent­ge­gen­brach­te. Die miss­ver­stan­de­nen Grie­chen, sag­te er ein­mal, wuss­ten wohl, warum sie im Jüng­ling, nicht in der Jung­frau, die auf­ge­bro­che­ne Blü­te der Mensch­heit ver­ehr­ten. Das Mäd­chen ist das un­fer­ti­ge, der Jüng­ling das vollen­de­te Ge­bild. Sei­ne Un­schuld ist nicht Na­tur­zu­stand wie die ihre, dumpf und pflan­zen­haft, sie ist ein Zu­stand der Gna­de, se­hend, all­um­fas­send wie das Son­nen­licht; in ihr spie­geln sich die ewi­gen Din­ge.

Und spä­ter, setz­te er weg­wer­fend hin­zu, glaubt der Mann fort­zu­schrei­ten, weil er die ver­gäng­li­chen bes­ser sieht.

Ei­nes Abends ge­sell­te sich ein Durch­rei­sen­der zu uns, der durch einen von der Ge­sell­schaft ein­ge­führt war. Er ge­hör­te nicht zu den aka­de­mi­schen Krei­sen, hat­te aber da­für ein Stück Welt ge­se­hen und be­trug sich vor­laut und takt­los. Als es ge­gen Mit­ter­nacht ging und er schon meh­re­re Glä­ser Li­kör ge­leert hat­te, be­gann er sich in Zwei­deu­tig­kei­ten zu ge­fal­len, die Fräu­lein Ade­le ver­an­lass­ten, sich un­auf­fäl­lig in ih­ren An­richt­win­kel zu­rück­zu­zie­hen. Trotz der kal­ten Auf­nah­me, die er fand, und trotz der ab­len­ken­den Zwi­schen­re­den des Ver­wand­ten, der ihn mit­ge­bracht hat­te, blieb der Ein­dring­ling in der an­ge­schla­ge­nen Ton­art und be­gann ge­wis­se Hi­stör­chen zu er­zäh­len, die er für wit­zig hielt, die aber nur ge­mein wa­ren.

Sei’s, dass uns der Kopf schon schwer war vom ge­nos­se­nen Punsch, sei’s, dass die Ödig­keit sei­nes Spre­chens sich läh­mend auf uns leg­te, wir sa­ßen an­ge­wi­dert aber stumm und fan­den nicht den rich­ti­gen Au­gen­blick, ihm das Wort zu ent­zie­hen; er brach­te auch nichts ge­ra­de­zu Gro­bu­n­an­stän­di­ges vor, es war nur wie lei­ses Ein­si­ckern von schmut­zi­gem Was­ser und dazu noch ganz un­säg­lich al­bern. Olaf leg­te den Kopf ge­gen die Stuhl­leh­ne und schloss die Au­gen, als ob ihm kör­per­lich übel wür­de.

Da er­hob sich Borck, der bis­her mit ver­ächt­lich zu­cken­den Mund­win­keln ge­ses­sen hat­te, und be­weg­te sich nach dem un­te­ren Ti­schen­de. Ich glaub­te, er wol­le sei­nen Hut vom Na­gel neh­men, um fort­zu­ge­hen, aber er pack­te den Ein­dring­ling am Kra­gen, schüt­tel­te ihn mit ei­ner Kraft, die nie­mand hin­ter sei­ner schlan­ken Ge­stalt ge­sucht hät­te, und stieß ihm den Kopf auf die Tisch­plat­te, riss ihn dann wie­der in die Höhe, drück­te ihn aber­mals auf den Tisch, und so sechs- bis sie­ben­mal in re­gel­mä­ßi­gen Ab­sät­zen, dass es dröhn­te und dem Ge­maß­re­gel­ten Hö­ren und Se­hen ver­ging. Dann kehr­te er ge­las­sen an sei­nen Platz zu­rück, als wäre nichts ge­sche­hen. Nie­mand sag­te ein Wort zu dem selt­sa­men Auf­tritt, auch nicht der Ge­züch­tig­te selbst, der eine Zeit lang ganz be­nom­men saß, mit blö­den Au­gen vor sich hin­glotz­te und sich dann tau­melnd ent­fern­te.

Wir wa­ren noch alle stumm nach die­sem un­er­war­te­ten Straf­ge­richt, als Olaf sein Kelch­glas er­hob und fei­er­lich sag­te:

Auf Ihr Wohl, Borck!

Da spran­gen alle auf die Füße und stie­ßen mit an, auch je­ner Mit­gast, der den Un­hold ein­ge­führt hat­te und sich jetzt sei­nes Schütz­lings schäm­te.

Als wir auf­bra­chen, glitt Ade­le wie eine La­zer­te her­bei und sag­te, in­dem sie dem Hel­den des Abends den Hut reich­te:

Das ha­ben Sie groß­ar­tig ge­macht, Herr von Borck. Ich wer­de es nie ver­ges­sen, wie Sie den gars­ti­gen Men­schen pack­ten. Und ich muss Ih­nen sehr, sehr dan­ken.

Zum Dan­ken liegt kein Grund vor, ant­wor­te­te er kühl. Glau­ben Sie denn, ich möch­te sel­ber im Schmutz­was­ser ba­den? Ganz zer­knickt schlich die Ärms­te an ih­ren An­richt­tisch zu­rück und hob die Au­gen nicht mehr auf, aus de­nen lang­sam zwei große Trä­nen her­ab­roll­ten.

*

Stu­den­ten­ta­ge! Fül­le des Da­seins, wie ich sie nir­gends wie­der­ge­fun­den habe. Äu­ßer­lich fast un­be­wegt, aber mit ge­heim­nis­vol­len Schät­zen in der Tie­fe, wie ein glat­ter See­spie­gel über kris­tal­le­nen Wun­der­pa­läs­ten. Al­les war un­ser im Dies­seits und Jen­seits, wo­hin wir mit un­se­ren Ge­dan­ken rei­chen konn­ten; Ho­mer und Goe­the, Pla­ton und Scho­pen­hau­er, Kunst, Lie­be, Uns­terb­lich­keit. Durch Gu­stavs Nähe be­sa­ßen wir das al­les. Mit sei­ner über­mäch­ti­gen Fan­ta­sie zog er wie die thes­sa­li­schen Zau­be­rer Mond und Ster­ne zu sich her­un­ter und häng­te sie als Ta­fel­be­leuch­tung auf, dass wir oft nicht mehr wuss­ten, in wel­cher Welt wir wa­ren.

Vom Ge­ni­us der Völ­ker sprach er gern, und wie das eine sich vom an­de­ren un­ter­schei­de. Wenn ich mich wun­der­te, wo­her er all die­se Kennt­nis ei­nes Weit­ge­reis­ten brach­te, so lach­te er mich aus:

Im kleins­ten Teil ist das Gan­ze ent­hal­ten. Zeigt ei­nem Künst­ler eine Hand, einen Fuß, er er­kennt dar­aus die gan­ze Ge­stalt. Gebt mir ein ein­zi­ges Dich­ter­werk ei­nes Vol­kes, so weiß ich die­ses Vol­kes We­sen und Wol­len.

Frank­reich lob­te er, aber er lieb­te es nicht. Es war ihm das Land der großen Schrift­stel­ler und der klei­nen Dich­ter. Sein Schrift­tum ver­glich er ei­nem brei­ten, künst­lich an­ge­leg­ten Be­rie­se­lungs­feld, wo bei äu­ßers­ter Aus­nüt­zung mä­ßi­ger Na­tur­mit­tel eine rei­che Ern­te er­zielt wird. Das war die Ein­lei­tung zu An­kla­gen feu­ri­ger Lie­be ge­gen das ei­ge­ne Volk.

Deutsch­land, du ewig mor­gi­ges, sag­te er, du Wi­der­spruch der Na­tur, Kind des Über­flus­ses und der Not, das sei­ne Fül­le nicht be­herr­­­­­­­­­­