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Isolde Kurz

Die Nacht im Teppichsaal

Erlebnisse eines Wanderers

Isolde Kurz

Die Nacht im Teppichsaal

Erlebnisse eines Wanderers

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-962812-09-6

null-papier.de/530

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Inhaltsverzeichnis

Wid­mung

Der Wan­de­rer

Die Mär von der schö­nen Ga­lia­na

Wie die Flo­ren­ti­ner Pisa be­hü­te­ten

Die Ver­damm­ten

Die Dame von For­li

Das bren­nen­de Herz

Dan­ke

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Widmung


Der
Her­rin und Ge­stal­te­rin
des
Wun­der­schlos­ses Bel­los­guar­do
im Ge­den­ken
an die ge­mein­sa­men Fahr­ten
durch
ita­li­sche Lan­de!

Der Wanderer

Er war über den Con­su­ma­pass ge­kom­men um das Ca­sen­ti­no nach al­len Rich­tun­gen zu Fuße zu durch­strei­fen. Früh­som­mer lag über der Berg­welt und ver­jüng­te ihre her­ben Züge durch das zwi­schen dem dunklen Ei­chen- und Kas­ta­ni­en­grün vor­drin­gen­de neue Bir­ken- und Bu­chen­laub; an den Ab­hän­gen leuch­te­te der gold­gel­be Gins­ter; die Son­ne hat­te schon be­trächt­li­che Kraft. Den Wan­de­rer stör­te sie nicht, sein seh­ni­ger Kör­per kann­te kei­ne Er­schlaf­fung. Er hielt in den Wäl­dern Mit­tags­rast, und wenn er ir­gend­wo an ver­schwie­ge­ner Stel­le un­ter der Brau­se ei­nes Wild­bachs ge­ba­det hat­te, fühl­te er sei­ne Glie­der kraft­voll und ge­schmei­dig wie den bieg­sams­ten Stahl.

Er war kein Wan­de­rer, wie sie alle Tage des We­ges ge­hen, um den Kopf zu lüf­ten und die Füße zu ver­tre­ten oder auch des blo­ßen An­kom­mens we­gen, er war viel­mehr ei­ner, der im­mer in Wan­der­schu­hen ging, dem das Wan­dern Zweck und Sinn des Da­seins, ein wäh­ren­der Tem­pel­dienst im Hei­lig­tum des Ge­schaf­fe­nen war. Nicht mehr jung und noch nicht alt, auf dem Schei­tel­punk­te des Le­bens, wo die Waa­ge für eine Wei­le still­zu­ste­hen scheint, ging er sei­nes We­ges, be­sitz­los und wunsch­los, als ein Lie­ben­der der Na­tur und ein Ge­hör für ihr heim­li­ches We­ben. Da­rum ver­irr­te er sich nie, noch frag­te er nach der Rich­tung, er hat­te die Land­schaft in sich und ging über­all wie im ei­ge­nen. Alle Vo­gel­stim­men kann­te er, und aus dem nächt­li­chen Ster­nen­schein las er die Stun­den ab wie von ei­nem Zif­fer­blatt. Er lieb­te es mit dem Lauf der Flüs­se zu ge­hen, und am nächs­ten fühl­te er sich dem Gött­li­chen, wenn er sie an ih­rem Ur­sprung auf­su­chen konn­te. Da­rum hat­te er un­ter­wegs die rau­en Fel­sen­pfa­de der Fal­te­ro­na nicht ge­scheut, um dem hoch­ge­bo­re­nen Arno als Kind­lein an der Wie­ge zu hul­di­gen und hat­te dann, auf das öst­li­che Ge­biet hin­über­wech­selnd, un­ter den Bu­chen des Mon­te Fu­ma­juo­lo den dort viel­fach ent­spru­deln­den Ti­ber­quel­len das glei­che ge­tan.

Aber er war nicht nur ein Au­gen­mensch, dem bloß das Sicht­ba­re ge­hört, er war auch ein Be­schwö­rer, dem die Geis­ter Rede stan­den. Sch­lös­ser und Bur­gen frag­te er ab, was sie im Lauf der Jahr­hun­der­te ge­se­hen hat­ten; und über wel­che Stät­te er schritt, da ge­sell­te sich ihm der Ge­ni­us loci und mach­te ihn sei­ner Erin­ne­run­gen teil­haft. – Es gebe nichts Ver­gan­ge­nes, pfleg­te er zu sa­gen, was man so nen­ne, das sei nur in eine tiefe­re Schicht hin­ab­ge­stie­gen, aber auf den rech­ten An­ruf kom­me es ger­ne wie­der her­vor.

De­nen, die ihn auf sei­nem Wege ken­nen­lern­ten, war er ein wan­dern­des Ge­heim­nis, das, ehe man es lö­sen konn­te, ent­glit­ten war. Die Tie­fer­bli­cken­den er­kann­ten einen Mann, der sich aus hart­ge­prüf­ter, um­her­ge­wor­fe­ner Ju­gend nur eben heil auf die hö­he­re geis­ti­ge Ebe­ne ge­ret­tet hat­te, von wo er die Din­ge des Le­bens tief un­ter sich sah, und der so aus ei­nem un­glück­li­chen Men­schen ein na­he­zu glück­li­cher ge­wor­den war: denn wer nichts mehr für sich be­gehrt, der be­sitzt mit ei­nem Male al­les! So hat­ten wir ihn durch Jah­re ge­kannt, auf­tau­chend, ver­schwin­dend, ohne Will­komm noch Ab­schied; eine Zeit lang mit­ten un­ter uns; dann nicht mehr auf­zu­fin­den. – Fast hat­te er kei­nen Na­men mehr, alle nann­ten ihn nur den »Wan­de­rer«. Auch er selbst un­ter­schrieb sich auf den An­sichts­kar­ten, die er sei­nen Freun­den ge­le­gent­lich aus ir­gend­ei­nem fer­nen Ende des Glo­bus sand­te, am liebs­ten »Pe­re­gri­nus«.

Je­nes Ta­ges war er früh von dem hei­li­gen Fel­sen der Ver­na auf­ge­bro­chen, nach­dem er bei den from­men Brü­dern ge­näch­tigt und zu­vor den Abend mit ih­nen im Ge­spräch über ih­ren großen Stif­ter ver­bracht hat­te. Vor dem Ab­stieg hat­te er noch bei Ster­nen­schein die höchs­te Spit­ze des Ber­ges er­klet­tert, der das Tal des Arno von dem des Ti­ber schei­det, um den Auf­gang der Son­ne zu er­war­ten. Und die Nähe der bei­den Schick­salss­trö­me Ita­li­ens be­rühr­te ihn mit sol­cher Wei­he, dass er ih­ren Lauf durch Raum und Zeit im Geist be­glei­ten muss­te wie den Auf­bruch zwei­er Hel­den­brü­der, die hin­aus­zie­hen um Wel­truhm und Welt­macht zu ge­win­nen, der eine mit krie­ge­ri­schen Waf­fen, der an­de­re mit sol­chen des Geis­tes.

An Ta­gen, die er so in ge­ho­be­ner Stim­mung be­gann, konn­te ihm kei­ne Müh­sal des We­ges et­was an­ha­ben, noch ließ er sich durch einen un­lieb­sa­men Zu­fall stö­ren. Wo ihm aber eine be­deut­sa­me Be­geg­nung be­vor­stand, da fühl­te er es an ei­nem in­ne­ren Zuck, wie der Ru­ten­gän­ger, in des­sen Hän­den die Ga­bel aus­schlägt, wenn er die Stel­le ei­nes un­ter­ir­di­schen Was­ser­lau­fes be­tritt.

Der Tag be­gann zu sin­ken, als ihm von dem Vor­sprung ei­ner stei­len Kup­pe eine Vil­la von ed­len Um­ris­sen in­mit­ten ei­nes mäch­ti­gen al­ten Parks ent­ge­gen­trat. Mi­che­lan­ge­lo habe sie ge­baut, be­haup­te­te der Wirt in der Os­te­ria am Wege, wo der Frem­de ein Glas küh­len Wein und einen Aben­dim­biss zu sich nahm. Moch­te die länd­li­che An­ga­be stim­men oder nicht – die Nähe von Mi­che­lan­ge­los Ge­burts­ort leg­te es nahe, dass auch Un­be­glau­big­tes auf sei­nen Na­men ging – die ma­gi­sche Rute zuck­te in sei­ner Hand: die­se Vil­la muss­te er se­hen. Ein Ein­druck von Ver­sun­ken­heit und Ver­las­sen­heit zog ihn be­son­ders an, und ehe noch sein Geist einen Be­schluss ge­fasst hat­te, wa­ren schon sei­ne Füße da hin­auf in Be­we­gung, wie um einen ihm ge­hö­ri­gen Ge­gen­stand in Be­sitz zu neh­men. Ein ge­schwun­ge­ner Fahr­weg, un­ge­pflegt und stei­nig, schmieg­te sich am Fels­ge­län­de hin, nach der Tal­sei­te zu von ei­nem en­gen, dop­pel­rei­hi­gen Zy­pres­sen­gang be­glei­tet. Das Tor war ver­schlos­sen, ein ros­ti­ger Glo­cken­zug muss­te mehr­mals mit Kraft ge­ris­sen wer­den, bis ein al­ter Mann, dem Aus­se­hen nach der Gärt­ner, mit ver­wun­der­ten Au­gen vor dem Be­su­cher stand.

Ob es er­laubt sei Haus und Gar­ten zu be­sich­ti­gen, frag­te die­ser. Der Alte woll­te ger­ne den Be­such des Parks ge­stat­ten, aber we­gen des Hau­ses mach­te er Schwie­rig­keit, weil er nicht er­mäch­tigt sei, in Ab­we­sen­heit der Herr­schaft je­man­den hin­ein­zu­füh­ren. Der Wan­de­rer schritt in­des­sen schon den Kies­weg zwi­schen den Lor­beer­he­cken ent­lang, als kön­ne es nicht an­ders sein. Der Gar­ten, der ge­mäß der Bo­den­ge­stal­tung in fla­chen Stu­fen an­ge­legt war, ließ frei­lich er­ken­nen, dass ihm das Auge des Ge­bie­ters seit lan­gem fehl­te. Die Pracht des Pflan­zen­wuch­ses ging schon in Ver­wil­de­rung über, der die Hand des al­ten Gärt­ners nicht mehr zu steu­ern ver­moch­te. Das tief­ge­leg­te, von Kü­bel­pflan­zen um­stan­de­ne Vier­eck des Was­ser­be­ckens war ver­schlammt und sein Sprüh­strahl schlief. Den selt­sams­ten An­blick ge­währ­ten die mäch­ti­gen Schlepp­kas­ta­ni­en auf dem Ra­sen­plan vor dem Haus­ein­gang, de­ren un­ters­te Zwei­ge wie lan­ge Schlan­gen am Bo­den schleif­ten und Fall­stri­cke für die Füße leg­ten. Das Gan­ze ein Bild des be­gin­nen­den Wie­der­ein­bruchs der Na­tur in die von Men­schen­hand ge­schaf­fe­ne Ord­nung. Nur die gut be­schnit­te­nen He­cken und der zärt­lich ge­pfleg­te Blu­men­flor lob­ten den Fleiß und die Lie­be des al­ten Man­nes. Er war ei­ner von den al­ten Gärt­nern, wie man sie nicht sel­ten auf sol­chen ver­wahr­los­ten ita­lie­ni­schen Vil­len fin­det, ganz mit dem Bo­den, den er be­bau­te, ver­wach­sen und für kei­ne Ver­pflan­zung mehr zu ha­ben. Ich kann den Park nicht so pfle­gen wie ich möch­te, sag­te er ent­schul­di­gend zu dem Be­su­cher, der durch sein le­ben­di­ges Ein­ge­hen gleich sein Ver­trau­en ge­won­nen hat­te. Ich bin ganz al­lein hier, die jun­ge Herr­schaft lebt im­mer in Pa­ris und ist über­haupt noch nie­mals hier ge­we­sen. Sie schickt mir auch kein Geld für den Gar­ten. Ich könn­te ihn gar nicht er­hal­ten, wenn ich nicht Blu­men zöge zum Ver­kauf für die großen Kir­chen­fes­te in der Um­ge­gend und fei­nes Ge­mü­se, das ich nach Bib­bie­na lie­fe­re. Da­für kann ich ge­ra­de das Al­ler­nö­tigs­te be­schaf­fen. Er hat­te Trä­nen im Auge, als er das sag­te. Mein Ge­halt ist auch aus­ge­blie­ben, seit die alte Herr­schaft tot ist, setz­te er hin­zu. Nun, ich lebe auch so. Ich habe mein klei­nes Häu­schen von zwei Zim­mern und ei­ner Feu­er­stel­le, den Kü­chen­be­darf zie­he ich mir selbst, ein paar Hüh­ner hal­te ich auch – ein Schwein – ich lei­de kei­ne Not. Die Frau ist tot, die Kin­der sind drau­ßen in der Welt. Ich zie­he mei­ne klei­ne En­ke­lin auf, das Kind mei­ner ver­stor­be­nen Toch­ter. Sonst habe ich nichts als mei­nen Gar­ten, ich stür­be, wenn ich ihn ver­las­sen müss­te.

So viel Treue zur Schol­le ge­fiel dem Wan­de­rer, und die of­fe­ne Men­sch­lich­keit in dem gu­ten Ge­sicht und in den noch hel­len stahl­blau­en Au­gen hob ihm den Mann des Vol­kes aus der Ge­wöhn­lich­keit. Er hat­te un­ter­des­sen in sei­ner Ge­sell­schaft alle Baum­gän­ge und An­la­gen des Parks durch­wan­delt, der die gan­ze Brei­te der Hü­gel­stu­fe ein­nahm, und fühl­te sich mehr und mehr ge­fes­selt. Die Lage des Hü­gels zwi­schen zwei Flus­stä­lern, dem brei­te­ren west­li­chen, vom Sil­ber­ban­de des Arno durch­sch­lun­ge­nen, und dem en­gen öst­li­chen mit ei­nem klei­nen Was­ser­lauf, der sei­nem jun­gen Zins­herrn, dem Ti­ber, zu­streb­te, gab ihm et­was Ei­ge­nes, Be­deut­sa­mes, das sich nicht so leicht an­der­wärts wie­der­hol­te. Wie schön müss­te es sein, hier oben eine Nacht mit Mond und Ster­nen zu ver­brin­gen und in kur­z­em Ab­stand Son­nen­un­ter- und -auf­gang hin­ter den sich ge­gen­über­lie­gen­den Hö­hen zu er­le­ben. Auch das Haus wur­de von al­len Sei­ten um­gan­gen. Es war im Stil der ita­lie­ni­schen Re­naissance-Vil­len an­ge­legt, ein bei ge­rin­ger Höhe lang hin­ge­streck­ter Bau mit vor­tre­ten­der Ter­ras­se, zu der die schön ge­schwun­ge­ne dop­pel­te Freitrep­pe, eine spär­lich tröp­feln­de Brun­nen­nis­che um­rah­mend, em­por­führ­te. Man sah es den Räu­men von au­ßen an, dass sie nie zum be­hag­li­chen Woh­nen, nur zu fest­li­cher Glan­zent­fal­tung ge­dient ha­ben konn­ten. Oben auf der Ter­ras­se zwi­schen bei­den Auf­gän­gen wuch­sen aus ei­ner mäch­ti­gen Ro­sen­scha­le zwei stei­ner­ne Put­ten, um de­ren Nackt­heit ein blü­hen­der Ro­sen­busch neckisch sei­ne Zwei­ge schlang. Hier war je­doch die Gren­ze des Le­bens, die Wohn­stät­te sel­ber lag ent­seelt, ihre Fens­ter­la­den wa­ren ge­schlos­sen wie die schwe­ren Au­gen­de­ckel ei­nes To­ten.

Dem al­ten Gärt­ner, der sel­ten mehr die Wohl­tat ei­nes Ge­sprächs mit Hö­her­ge­bil­de­ten ge­noss, war un­ter­des­sen das Herz weit auf­ge­gan­gen, und er hat­te den Wan­de­rer in die gan­ze Ge­schich­te der herr­schaft­li­chen Fa­mi­lie durch meh­re­re Ge­ne­ra­tio­nen, so wie sie ihm sel­ber be­kannt war, ein­ge­weiht. Dass die­ser zwar nicht um die Per­sön­lich­kei­ten, wohl aber um die ein­schlä­gi­gen Ver­hält­nis­se Be­scheid wuss­te, ver­mehr­te sein Zu­trau­en und ließ ihm den un­er­war­te­ten Be­su­cher fast wie einen al­ten Be­kann­ten er­schei­nen. Nun rück­te der Frem­de mit sei­nem Wunsch, hier oben schla­fen zu dür­fen, her­aus. Der alte Mann blick­te be­denk­lich: in sei­ner Gärt­ner­woh­nung sei kein Raum und sie wäre auch zu ge­ring für einen sol­chen Gast. Der Herr­schaft wür­de ja frei­lich kein Un­recht ge­sche­hen und sie brauch­te es auch gar nicht zu er­fah­ren, wenn er den frem­den Herrn in ei­nem ih­rer Pri­vat­zim­mer im un­te­ren Stock­werk schla­fen lie­ße, er hät­te aber da­bei doch das Ge­fühl, sei­ner Pf­licht un­treu ge­wor­den zu sein. Der obe­re Stock aber mit den Räu­men für Gäs­te und Die­ner­schaft sei im Ver­fall und auch ganz voll­ge­pfropft mit Ge­rüm­pel, bis auf den Tep­pich­saal, der al­lein noch heil sei, aber un­ter den Wand­tep­pi­chen kön­ne ein Mensch nicht schla­fen.

Ei­nen Tep­pich­saal habt Ihr hier oben? frag­te der Wan­de­rer mit an­ge­neh­mer Über­ra­schung. Und warum soll man in dem nicht schla­fen kön­nen? Nun, es sei doch nicht an­ge­nehm, ganz al­lein zu sein mit den frem­den Ge­sich­tern, die einen von der Wand her­ab an­starr­ten, mein­te der Gärt­ner. Er habe ein­mal mit sei­ner En­ke­lin eine Nacht da oben zu­ge­bracht, als ihm der Sturm­wind das Dach sei­nes Häu­schens ab­ge­tra­gen hat­te. Aber das Kind habe sich vor den Fi­gu­ren so ge­fürch­tet, dass auch ihm ganz un­be­hag­lich zu­mu­te ge­wor­den sei.

Ihr wer­det mich aber doch nicht von hier weg­schi­cken, Groß­va­ter, ohne dass ich Eure Kunst­schät­ze we­nigs­tens ge­se­hen habe? Eine Samm­lung al­ter Wand­tep­pi­che mit fi­gür­li­chen Dar­stel­lun­gen? Um die hät­te sich’s ja al­lein ver­lohnt, den Weg hier­her zu ma­chen.

Ach nein, Herr, Sie dür­fen sich nichts Be­son­de­res vor­stel­len. Kunst­schät­ze sind es nicht, es sind nur so alte ge­web­te Din­ger, schä­big und an­ge­fres­sen, die schon seit Hun­der­ten von Jah­ren dahän­gen und wei­ter ver­stau­ben. Nein, Sie se­hen gar nichts dar­an und la­chen mich aus, wenn ich Sie hin­füh­re. Bloß bei Nacht, wenn man die Ker­ze bren­nen lässt oder wenn der Mond drü­ber hin­streift, ma­chen sie so son­der­ba­re Ge­sich­ter, dass man denkt, sie schau­en einen an. Aber in den un­te­ren Sä­len hän­gen schö­ne Ge­mäl­de, die will ich Sie ger­ne se­hen las­sen, da­mit Sie nicht um­sonst her­auf ge­wan­dert sind.

Er schloss die Ein­gangs­tür auf.

Das In­ne­re der Vil­la war, wie es der Wan­de­rer er­war­tet hat­te. Wei­te Prun­kräu­me ohne Wohn­lich­keit, au­gen­schein­lich zu Empfangs­zwe­cken ge­baut, eine je­ner an­spruchs­vol­len Vil­len, die von den Be­sit­zern nur vor­über­ge­hend be­zo­gen wer­den, um hoch­ste­hen­de Gäs­te fest­lich zu be­wir­ten; auf die­se Be­stim­mung wie­sen auch die bau­fäl­li­gen Stal­lun­gen und Wa­gen­schup­pen im Hofe hin. An den Wän­den eine lan­ge Rei­he von Bild­nis­sen tos­ka­ni­scher Herr­scher, bei Co­si­mo I. be­gin­nend, alle hö­fisch lang­wei­lig, da­zwi­schen ein paar leid­li­che Ko­pi­en nach Wer­ken der großen Kunst. Nur we­ni­ges, aber mäch­ti­ges Haus­ge­rä­te, echt und alt mit der un­säg­li­chen Stim­mung von Ver­waist­heit und Schwer­mut, wie sie sol­che seit Men­schen­ge­den­ken nicht be­nütz­ten Räu­me aus­at­men. In den Schlaf­ge­mä­chern die schö­nen, frei­ste­hen­den Rie­sen­bet­ten mit bro­ka­te­nen Pracht­ge­hän­gen und der da­zu­ge­hö­ren­den rei­chen Tru­he am Fu­ßen­de, ve­ne­zia­ni­sche Spie­gel, ein­ge­leg­te Spin­de, kunst­rei­che Kan­de­la­ber, lau­ter Kost­bar­kei­ten ver­gan­ge­ner Ge­schlech­ter, un­ter de­nen zu ru­hen der Ein­dring­ling gar kei­ne Lo­ckung spür­te.

Auf sein Drän­gen führ­te ihn der Alte dann auch eine brei­te Stein­trep­pe hin­auf in das obe­re Ge­schoss. Hier war das Reich der Spinn­we­ben und des Ver­falls, die Luft sto­ckig, alle Räu­me mit über­zäh­li­gem Haus­rat an­ge­füllt oder völ­lig leer­ge­las­sen, weil die Fens­ter fehl­ten.

Und der Tep­pich­saal?

Hier ist er.

Eine ver­quol­le­ne Tür wird auf­ge­sto­ßen, und ein lang­ge­streck­ter, schmä­ler­er Raum, das gan­ze Haus der Brei­te nach von West nach Ost durch­zie­hend, mehr Ga­le­rie als Saal, emp­fängt die Ein­tre­ten­den. Die Schmal­wän­de sind fast ganz von den mäch­ti­gen drei­ge­teil­ten Fens­tern ein­ge­nom­men, je zwei an ei­ner Sei­te, die, wenn die Lä­den ge­öff­net sind, Licht und Luft in Strö­men ein­las­sen, eine schön kas­set­tier­te De­cke, de­ren ge­bräun­tes Gold in der Abend­son­ne auf­leuch­tet, an bei­den Längs­wän­den nichts als die Tep­pi­che. Ein Blick ge­nügt dem Kun­di­gen, um zu er­ken­nen, dass er eine zwar schlecht er­hal­te­ne, aber nicht un­be­deu­ten­de Samm­lung vor sich hat. Es ge­schieht ihm nicht zum ers­ten Mal, dass er an ganz ver­wahr­los­ter Stät­te einen Kunst­wert ent­deckt, für den sei­ne Be­sit­zer blind ge­we­sen. Da­rum pflegt er sich auch fest­zu­ha­ken, wo er so et­was wie eine Wit­te­rung hat; aber eine Ern­te wie die­se ist doch eine Über­ra­schung.

Da seid ihr ja, dach­te be­frie­digt der Wan­de­rer, denn es schi­en ihm in die­sem Au­gen­blick fast, als ob er der Tep­pi­che we­gen ge­kom­men sei. Denn Fi­gu­ren­tep­pi­che wa­ren sei­ne Lei­den­schaft, er zog sie der Ma­le­rei bei wei­tem vor, und er pfleg­te zu ver­si­chern, dass das größ­te Meis­ter­ge­mäl­de sich nicht an er­grei­fen­der Aus­drucks­kraft mit der stei­fen Un­ge­schick­lich­keit so ei­nes ge­web­ten Tep­pich­bil­des ver­glei­chen kön­ne. Sie ta­ten eine ähn­li­che Wir­kung auf ihn wie die Ma­rio­net­ten, die ihn auch in tiefe­re Ent­zückung ver­set­zen konn­ten als die größ­te Dar­bie­tung dra­ma­ti­scher Kunst. Denn die Pup­pen, sag­te er, das sei­en die wah­ren Künst­ler, sie stell­ten nicht das Ein­ma­li­ge dar, son­dern das Ab­so­lu­te, die ewi­ge Idee. Al­les Leid der Erde sei in so ei­nem Kas­perl bei­sam­men, wenn er hilf­los an der Wand leh­ne und nur die Hand noch lei­se be­we­ge, über­wäl­tigt von Schmerz. Dann sei es schwer, sich der Trä­nen zu ent­hal­ten. So gehe es ihm auch mit der frü­hen, noch ein­fäl­ti­gen Tep­pich­schil­de­rei, denn je fer­ner der Wirk­lich­keit, je nä­her der Vor­stel­lung, die das wah­re Le­ben sei.

Hier an der ab­ge­le­gens­ten Stel­le des Ca­sen­ti­no, in ei­nem Raum, den seit lan­ge nur Spin­nen und As­seln be­wohn­ten, fand er sei­ner Lieb­ha­be­rei eine Be­frie­di­gung, de­ren Fül­le ihm fast den Atem nahm. Blei­ben! sag­te eine Stim­me in ihm, die­sel­be, die ihm ge­bo­ten hat­te zu kom­men. Die Tep­pi­che an der dem Ein­gang ge­gen­über­lie­gen­den Nord­wand zo­gen ihn be­son­ders an, sie schie­nen die äl­tes­ten zu sein, ihre Far­ben wa­ren teil­wei­se ver­blasst, auch hat­ten die Mot­ten da und dort an ih­nen ge­ar­bei­tet, aber alle ent­stamm­ten sie ei­ner schöp­fe­ri­schen Fan­ta­sie und ed­ler, ziel­si­che­rer Kunst­ge­sin­nung. Da gibt es Frau­en in Prunk­ge­wän­dern, ge­wapp­ne­te Rit­ter, be­la­ger­te Fes­tun­gen, ren­nen­de Ros­se und ge­fäll­te Lan­zen, Lie­bes­gär­ten mit jun­gen Paa­ren; gan­ze Zeiträu­me voll wil­der und zärt­li­cher Be­geb­nis­se, Ge­schich­te oder Le­gen­de, sind auf die­ser Wand bei­sam­men. Wo der Raum nicht aus­ge­füllt ist, schie­ben sich Schmal­stücke mit flo­rea­len Dar­stel­lun­gen, so­ge­nann­te »Ver­dü­ren«, ein. Min­der fes­selt ihn die ge­gen­über­lie­gen­de süd­li­che, die mehr­fach von Tü­ren un­ter­bro­chen ist. Ihre Tep­pi­che sind bei wei­tem bes­ser er­hal­ten, weil sie nicht aus Wol­le, son­dern aus Sei­de ge­wirkt und mit Gold­fä­den durch­zo­gen sind, aber an Kunst­wert er­schei­nen sie dem emp­find­li­chen Auge beim flüch­ti­gen Über­blick ge­rin­ger, weil die leb­haft be­weg­ten Grup­pen von au­gen­schein­lich his­to­ri­schem In­halt stark und an­spruchs­voll aus der Wand her­austre­ten. Ei­nem Kind moch­te wohl da­bei das Fürch­ten kom­men.

Der Be­trach­ter wen­det sich wie­der zu der ers­ten Wand zu­rück, de­ren Far­ben sich jetzt in der Abend­glut mehr und mehr ent­zün­den, dass auch hier die For­men plas­ti­scher her­aus­kom­men und die gan­ze Flä­che ein be­weg­te­res, aber nicht un­ru­hi­ges Le­ben emp­fängt. Da und dort rührt ein dar­ge­stell­ter Ge­gen­stand an einen Win­kel sei­ner Erin­ne­rung, wo er den Schlüs­sel dazu ver­mu­tet, ohne ihn so­gleich zu fin­den; die letz­te Grup­pe aus­ge­nom­men, de­ren Be­deu­tung nicht zu ver­ken­nen ist. Auf die Fra­ge, ob man wis­se, was die an­de­ren Bil­der dar­stell­ten, schüt­telt der Füh­rer den Kopf. Er kennt ja die Tep­pi­che von klein auf, denn er ist auf dem Gut ge­bo­ren, wo sein Va­ter vor­dem den glei­chen Pos­ten in­ne­ge­habt, und er hat sie von je miss­ach­tet ge­se­hen, ja, er hat sich in frü­he­rer Zeit, als noch die alte Herr­schaft ab und zu auf der Vil­la wohn­te, in ihre See­le hin­ein ge­schämt, dass man nicht dar­an dach­te, die al­ten ver­staub­ten Lap­pen weg­zu­neh­men und sie durch eine lus­ti­ge bun­te Pa­pier­ta­pe­te zu er­set­zen, die dem Raum nach sei­ner Mei­nung viel bes­ser an­ge­stan­den hät­te. Aber die Be­wun­de­rung des Frem­den mach­te ihn nun doch an sei­nem Kunst­ge­schmack irre, und da er sah, dass die­ser wie ge­bannt un­ter den Tep­pi­chen ver­weil­te, bald den einen, bald den an­de­ren vor- und zu­rück­tre­tend aufs ge­naues­te mus­ter­te und sich of­fen­bar gar nicht da­von tren­nen konn­te, bot er ihm nun sel­ber die Ver­güns­ti­gung an, die Nacht hier oben zu ver­brin­gen. Er wol­le ihm eine La­ger­statt im Tep­pich­saal auf­schla­gen, auch Tisch und Stuhl und sonst das Not­wen­digs­te hin­ein­stel­len, da­mit der Gast blei­ben und sein Herz am An­blick der wun­der­li­chen Din­ger sät­ti­gen kön­ne.

Er setz­te sich auch gleich in Be­we­gung und schaff­te mit sei­ner En­ke­lin, ei­nem sehr klei­nen vier­zehn­jäh­ri­gen Mäd­chen, das über dem Er­schei­nen des Frem­den die Spra­che ver­lo­ren hat­te und auf kei­ne sei­ner Fra­gen Ant­wort gab, aber de­sto eif­ri­ger war ihm zu die­nen, aus den ver­schie­de­nen Rum­pel­kam­mern mehr Ge­gen­stän­de her­bei, als der ge­nüg­sa­me Wan­de­rer be­durf­te, ließ es sich auch nicht neh­men, die Lie­ge­statt aus sei­nem ei­ge­nen zwar gro­ben aber blü­ten­wei­ßen Wä­sche­be­stand zu über­zie­hen. Nur eins be­rei­te­te ihm Sor­ge, der Man­gel an Be­leuch­tung.

Wir ha­ben kein elek­tri­sches Licht hier oben, in der Herr­schafts­woh­nung sind wohl Pe­tro­le­um­lam­pen, aber kein Pe­tro­le­um, ich sel­ber be­hel­fe mich mit ei­nem alt­mo­di­schen Öl­lämp­chen und kann dem Herrn nichts an­bie­ten als ein eben­sol­ches.

Dies sa­gend stell­te er eine der ho­hen tos­ka­ni­schen Mes­singlam­pen, ein blitz­blank glei­ßen­des Ding mit zier­li­chen Kett­chen, wor­an Putz­sche­re und Ver­schluss­de­ckel hin­gen, auf den Tisch. Aber die Bim­ba, wie die Klei­ne ge­nannt wird, springt leicht­fü­ßig weg und bringt auf der ab­ge­bro­che­nen Spit­ze ei­nes al­ten Kan­de­la­bers den Stum­pen ei­ner arm­di­cken Wachs­ker­ze. Auch ein Glas und zwei Kar­af­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­