cover image

Isolde Kurz

Die Pilgerfahrt nach dem Unerreichlichen

Lebensrückschau

Isolde Kurz

Die Pilgerfahrt nach dem Unerreichlichen

Lebensrückschau

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-962812-12-6

null-papier.de/531

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Ers­tes Ka­pi­tel – Ster­nen­stun­de

Zwei­tes Ka­pi­tel – Mut­ter­recht

Drit­tes Ka­pi­tel – Kin­des­see­le und Über­welt

Vier­tes Ka­pi­tel – Das Gestirn des Va­ters

Fünf­tes Ka­pi­tel – Noch ein­mal die Ju­gend­stadt

Sechs­tes Ka­pi­tel – Flo­renz

Sieb­tes Ka­pi­tel – Der Weg

Ach­tes Ka­pi­tel – Un­ser Tho­le

Neun­tes Ka­pi­tel – Die Vil­la mit dem Gra­nat­baum

Zehn­tes Ka­pi­tel – Durch­bruch

Elf­tes Ka­pi­tel – Wie Was­ser von Klip­pe zu Klip­pe ge­wor­fen

Zwölf­tes Ka­pi­tel – Le­bens­mit­te

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel – Wir be­grün­den ein Welt­bad

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel – Son­nen­wen­de

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel – Das Ver­glim­men

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel – Vor­bo­ten

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel – Im Welt­brand

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel – Den Du nicht ver­läs­sest

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

 

Ihr
Jür­gen Schul­ze

Newslet­ter abon­nie­ren

Der Newslet­ter in­for­miert Sie über:

htt­ps://null-pa­pier.de/newslet­ter

Erstes Kapitel – Sternenstunde

Aus freund­li­chen Le­ser­krei­sen bin ich wie­der und wie­der ge­fragt wor­den, warum ich mei­ne Ju­gen­derin­ne­run­gen, die mit der Über­sied­lung un­se­rer Fa­mi­lie nach Ita­li­en ab­schlie­ßen, nicht spä­ter wie­der auf­ge­nom­men und fort­ge­führt habe. Man woll­te die zahl­rei­chen Son­der­dar­stel­lun­gen, die den ein­zel­nen Glie­dern mei­nes Hau­ses so­wie den Men­schen mei­ner spä­te­ren Um­welt ge­wid­met sind, nicht für einen voll­wer­ti­gen Er­satz neh­men, weil man in dem ab­sicht­li­chen Zu­rück­stel­len der ei­ge­nen Per­son eine Art Aus­wei­chen zu se­hen mein­te, was es ja in ge­wis­sem Sin­ne auch war. Im Au­gen­blick, wo ein ge­lieb­ter Mensch die Au­gen schließt, er­lischt ganz plötz­lich die Ta­ges­be­leuch­tung mit den durch sie her­vor­ge­brach­ten Schat­ten und Ver­zeich­nun­gen, die großen Grund­li­ni­en ord­nen sich in ih­rem ei­ge­nen Lich­te zu dem gott­ge­woll­ten Ur­bild der un­voll­kom­me­nen und sich wi­der­spre­chen­den ir­di­schen Er­schei­nung. Mit die­sem hat der Bio­graf als mo­nu­men­ta­ler Künst­ler, der er sein muss, zu tun, und er be­sorgt sein zar­tes und ver­ant­wor­tungs­vol­les Amt am bes­ten, wenn er nicht sich sel­ber als Ge­gen­spie­ler zu den Dar­ge­stell­ten auf die Büh­ne be­gibt. Ich trat zu­rück, um ih­nen an kei­ner Stel­le durch mei­nen her­ein­fal­len­den Schat­ten das Licht zu be­ein­träch­ti­gen. Weil ich aber ei­nem eng ver­bun­de­nen Fa­mi­li­en­kreis an­ge­hört habe, des­sen ein­zel­ne Glie­der alle schick­sal­haft auf­ein­an­der be­zo­gen wa­ren – ein je­des von den an­dern grund­ver­schie­den, aber je­des für sich eine ein­heit­li­che Per­sön­lich­keit –, so kann ich kein Ka­pi­tel mei­nes Le­bens auf­rol­len, ohne dass das gan­ze Stern­bild sich mit­be­wegt. Ich kann dem Le­ser je­doch nicht zu­mu­ten, sich die Un­ter­grün­de und Zu­sam­men­hän­ge aus den ver­schie­de­nen Erin­ne­rungs­bü­chern zu­sam­men­zu­su­chen. Da bleibt nichts üb­rig, als ge­le­gent­lich in den al­ten Far­ben­topf zu grei­fen und den zu­vor in ih­rer Le­bens­fül­le ge­schil­der­ten Ge­stal­ten ihr Er­den­kleid we­nigs­tens leicht­hin wie­der um­zu­hän­gen. Da­bei ist es un­ver­meid­lich, dass aus mei­nem Le­ben her­aus ge­se­hen die zu­vor nur in ih­ren ei­ge­nen Wer­ten und Rech­ten Ge­schil­der­ten nun­mehr an­ders er­schei­nen und das gan­ze Blick­feld sich ver­än­dert. Auch von den aus­ge­präg­ten Ge­stal­ten, die von au­ßen her mei­nen Weg ge­kreuzt ha­ben, sind die meis­ten ent­we­der schon in Son­derab­hand­lun­gen dar­ge­stellt, oder sie ste­hen ir­gend­wo ver­klei­det in mei­nen Bü­chern, dann frei­lich so ver­wan­delt und in­ein­an­der um­ge­gos­sen, dass sie sich sel­ber nicht mehr er­ken­nen wür­den noch ihre Glie­der an sich zu neh­men ver­möch­ten, da das eine vom einen, das an­de­re vom an­dern stammt, und die­se ge­misch­ten Be­stand­tei­le nun­mehr na­tür­lich wie bei Le­ben­den in­ein­an­der­grei­fen und neue In­di­vi­dua­li­tä­ten bil­den. Ich glau­be, der große Schöp­fer hält es auch nicht an­ders, als dass er sei­ne Ge­bil­de im­mer wie­der mischt und an­ders zu­sam­men­setzt. Wie soll­te ich sol­che ver­tausch­ten Glie­der wie­der von­ein­an­der lö­sen und je­dem das sei­ne zu­rück­ge­ben? Die selbst­ge­schaf­fe­nen Bil­der sind dem Ur­he­ber, der sie mit Tei­len sei­nes ei­ge­nen We­sens ver­kit­tet, glaub­haf­ter und we­sent­li­cher als die leib­haf­ten Vor­la­gen, die, nach­dem sie ein­mal die­sen Dienst ge­leis­tet, in der Erin­ne­rung zu­rück­tre­ten und ver­blas­sen. Was die Dich­tung sich ein­mal zu­ei­gen ge­nom­men hat, das ge­hört ihr für im­mer und kommt für die Rück­ver­set­zung in die Wirk­lich­keit nicht mehr in Be­tracht. Ja, selbst mein ei­ge­nes Le­ben ist zum großen Tei­le nicht mehr mein, da es schon durch hun­dert Kanä­le, in Spie­ge­lun­gen und Par­al­le­len und in wirk­li­chen Epi­so­den, die ein­mal mein wa­ren und jetzt den er­fun­de­nen Per­so­nen ge­hö­ren, von mir ab­ge­flos­sen ist und da­mit eben­falls auf wei­te Stre­cken für die Selbst­bio­gra­fie un­brauch­bar ge­wor­den. Blei­be es, wo­hin ich es ge­ge­ben habe, sonst müss­te man­ches, was hier nur noch flüch­tig ge­streift wer­den kann, einen viel wei­te­ren Raum auf die­sen Blät­tern ein­neh­men.

Wenn ich mich nun trotz der be­schrän­ken­den Um­stän­de doch zu­letzt noch von mei­nem Vor­satz, die Fe­der nicht mehr zur Selbst­dar­stel­lung ein­zut­au­chen, ab­wen­dig ma­chen las­se, so be­we­gen mich dazu vor al­lem die man­nig­fa­chen ir­ri­gen Ver­mu­tun­gen über mein Werk und Le­ben, de­nen ich be­son­ders bei Ge­le­gen­heit mei­nes acht­zigs­ten Ge­burts­tags in der Pres­se be­geg­net bin. Die­se zu be­rich­ti­gen liegt mir nicht nur als Ein­zel­per­sön­lich­keit, son­dern auch als Trä­ge­rin wert­vol­ler Fa­mi­li­en- und Kul­tu­r­über­lie­fe­run­gen ob. Man kann aber ge­gen sol­che Miss­ver­ständ­nis­se nicht im ein­zel­nen an­ge­hen, man kann nur an Stel­le der Ver­zeich­nun­gen das rich­ti­ge Bild set­zen, wozu au­ßer mir selbst nie­mand in der Lage ist, weil sich mein Le­ben zum größ­ten Tei­le au­ßer­halb Deutsch­lands ab­ge­spielt hat und von sei­nen frü­he­ren Zeu­gen nur noch we­ni­ge am Le­ben sind. Dass ich nicht mehr mit der Fül­le bun­ter Ein­zel­hei­ten und in der kla­ren zeit­li­chen Ab­fol­ge be­rich­ten kann wie in den Schil­de­run­gen »Aus mei­nem Ju­gend­land«, ver­steht sich von selbst. Vom an­dern Zei­tu­fer her ver­wan­deln sich die Ge­stal­ten, die die Räu­me un­se­rer Erin­ne­rung be­völ­kern, aus selbst­stän­dig han­deln­den Per­so­nen mehr und mehr in sym­bo­li­sche, sie wer­den die un­be­wuss­ten Trä­ger schick­sal­for­men­der Zeit und Le­bens­ge­wal­ten, trei­ben­der und hem­men­der, mit de­nen man sich am Ende aus­ein­an­der­zu­set­zen hat.

Es kann sich also nur um das Wa­g­nis ei­ner Sinn­deu­tung des ei­ge­nen Da­seins han­deln, und dies ist es ja auch ganz ei­gent­lich, wozu ich auf­ge­ru­fen bin.

Frei­lich, hier stut­ze ich aufs neue. Kann aus ei­nem stil­len Ein­zel­ge­schick, das ab­seits von dem großen Strom der Zeit­ge­schi­cke ver­lau­fen ist, über­haupt so et­was wie ein ver­steck­ter Sinn, wie eine ab­sicht­li­che Füh­rung her­aus­ge­le­sen wer­den? Ist es nicht aus­schließ­lich eine Sa­che der Trä­ger des Welt­ge­sche­hens, uns zu sa­gen wie sie wur­den, was sie sind, und wo­hin sie zie­len? Das Amt des Dich­ters ist ein lei­se­res und so schwer mit Wor­ten zu um­zir­ken. Denn die künst­le­ri­schen Be­fruch­tun­gen ge­hen im Dun­kel vor sich, und das mensch­li­che Le­ben in sei­nem Ablauf weiß we­nig von sich. Ich habe das Men­schen­we­sen, das ich mit dem Wört­lein »Ich« be­zeich­nen muss, nie so lan­ge und tief ins Auge ge­fasst wie die äu­ße­ren Er­schei­nun­gen, und die Fe­der, die sich mit ihm be­schäf­ti­gen soll, ist bei der un­ge­wohn­ten Auf­ga­be im­mer in Ver­su­chung, auf ein Au­ßer­per­sön­li­ches ab­zuglei­ten. Sei­ne Be­deu­tung für mich be­stand vor al­lem dar­in, dass es geis­ti­ges Auge war, mein Auge, Or­gan, die Ge­gen­stän­de wahr­zu­neh­men, und Mit­tel­punkt, in dem die Strö­me des Le­bens sich kreuz­ten, nicht sel­ber Ge­gen­stand der Be­trach­tung. Wo ich den Blick auf mich sel­ber rich­ten will, sehe ich mich wie dun­kel ge­führt nach dem Un­er­reich­li­chen wan­dern. In­des­sen habe ich doch stets in mei­nem Da­sein et­was Gleich­nis­ar­ti­ges ge­spürt und sehe die über­dau­er­ten Zei­ten und Zu­stän­de sich in sei­nem lan­gen Lau­fe spie­geln. So sei denn der Ver­such ge­macht, von dem was mit­teil­bar ist, eine An­schau­ung zu ge­ben.

Hier muss ich nun zu­nächst ei­ner per­sön­li­chen Ei­gen­heit ge­den­ken, die mir erst ganz spät durch den mir frem­den Zwang, mich mit mir selbst wie von au­ßen her zu be­fas­sen, ganz deut­lich be­wusst wur­de: dass mir näm­lich die Zeit nie­mals ein li­nea­rer Be­griff ge­we­sen ist. Die Din­ge er­schie­nen mir nicht im Ver­folg, ei­nes aus dem an­de­ren ab­ge­lei­tet und ei­nes das an­de­re ab­lö­send; sie um­stan­den mich im Ring als zeit­los gleich­zei­ti­ge Ge­gen­wart. Es gab da nichts ei­gent­lich Ver­gan­ge­nes, nicht An­fang und Ende, Ju­gend und Al­ter, son­dern der Kreis hielt al­les bei­sam­men, im Kreis war das Le­ben ewig. Kei­ne Ent­wick­lung voll­zog sich bei mir li­ne­ar, son­dern im­mer nur durch Er­wei­te­rung des Krei­ses, der sich durch­ein­an­der­schob, mit mir lang­sam in der Spi­ra­le auf­stieg und mit zu­neh­men­den Jah­ren die Din­ge nur aus im­mer zu­neh­men­der Höhe zeig­te. Mei­ne Lieb­lings­fä­cher, de­nen ich von klein auf lei­den­schaft­lich nach­ging – auf ei­ge­ne Hand wie ge­zwun­ge­ner­ma­ßen al­les was ich trieb –, wa­ren die My­then, Sa­gen, Mä­ren der Völ­ker, nicht Ge­schich­te, nicht fer­ti­ge Li­te­ra­tur; die­se stand mir erst an zwei­ter Stel­le – son­dern ihr Roh­stoff: Volks­kun­de, Volks­ge­sang, Spra­che, Spra­chen mit ih­rem un­ter­ir­disch ver­schlun­ge­nen Wur­zel­werk: al­les Geis­ti­ge, was zeit­los und gleich­sam ve­ge­ta­tiv lebt, war mir na­tür­li­che Hei­mat. Woll­te ich mit der Ge­schich­te den­ken, so be­durf­te es ei­ner in­ne­ren lo­gi­schen Um­stel­lung, ich muss­te aus dem Kreis in die Li­nie tre­ten. Eben­so geht auch mein ei­ge­nes Schaf­fen nicht li­ne­ar, son­dern im Krei­se vor sich, als läge die gan­ze Ar­beit war­tend in ei­ner un­sicht­ba­ren Tie­fe und brauch­te nur ge­ho­ben zu wer­den. Wo be­gin­nen? In den sel­tens­ten Fäl­len vom An­fang her, son­dern es blitzt vom Bo­den auf – ir­gend­ein Glied der Ket­te – schnell muss es fest­ge­hal­ten wer­den, denn schon blitzt es an ei­ner an­de­ren Stel­le, an ei­ner drit­ten und vier­ten, der Stift darf sich ei­len um nach­zu­kom­men. So geht es wei­ter, bald da, bald dort, ohne Zu­sam­men­hang. Es sind lau­ter Stücke des Gan­zen, be­stimmt die Ent­wick­lung nach ei­nem vor­schwe­ben­den aber noch nicht streng fest­ge­setz­ten Plan zu schie­ben und da­durch erst vol­le Klar­heit auch in die­sen selbst zu brin­gen, fer­ti­ge Bau­stei­ne, die we­nig oder gar nicht mehr zu­be­hau­en wer­den müs­sen und ihre Stel­le im Bau­werk ha­ben, die auf sie war­tet. Geht ei­nes die­ser Stücke zu Ver­lust, so­dass es wil­lens­mä­ßig er­setzt wer­den muss, und es fin­det sich spä­ter das Ver­lo­re­ne wie­der, dann zeigt sich erst, wie viel fri­scher, tref­fen­der, ur­sprüng­li­cher die ers­te Ein­ge­bung ge­we­sen. Nun um­rin­gen sie mich im Kreis, die von selbst Ge­kom­me­nen, aber da­mit erst be­ginnt, und nicht sel­ten un­ter großen We­hen, die ei­gent­li­che Ar­beit: nun sol­len sie zu in­ein­an­der­grei­fen­der Ord­nung ge­fügt und ge­glie­dert, aus dem üp­pig­ge­sproß­ten Ne­ben­ein­an­der ein lo­gi­sches Nachein­an­der ge­macht wer­den. Und hier füh­le ich deut­lich, wie sich das el­ter­li­che Blut in mir ge­mischt hat. An Stel­le des Chao­ti­schen, das ich als Erb­teil mei­ner höchst ge­nia­len, aber al­lem Plan­mä­ßi­gen ab­hol­den, im Ur­stoff we­sen­den Mut­ter in mir ken­ne, tritt nun das Blut des Va­ters mit dem stren­gen Zwang zur Ge­setz­lich­keit und lässt mich nicht ru­hen, bis ich die­se gan­ze lose Ge­sell­schaft wie eine Kop­pel wild­wei­den­der Foh­len zu­sam­men­ge­spannt und zu rich­ti­ger Gan­gart fest in die Zü­gel ge­nom­men habe. Die­ser Zwang von der an­de­ren Sei­te her, ohne den ein be­wusst­ge­woll­tes, rhyth­misch-ab­ge­wo­ge­nes Kunst­ge­bil­de un­mög­lich wäre, dul­det kein ro­man­ti­sches Durchein­an­der, kein un­or­ga­ni­sches Ge­fü­ge, und er wal­tet um so stren­ger, je grö­ßer die An­ar­chie, durch die er sich durch­zu­rin­gen hat. Dass eine sol­che Ar­beits­wei­se nicht er­leich­ternd ist, liegt auf der Hand, aber sie hat den Vor­teil, dass sie je­des künst­li­che, er­zwun­ge­ne Füll­sel aus­schließt, weil sie im­mer mehr Stoff zur Ver­wen­dung hat als sie auf­brau­chen kann, und dar­um nur Ent­stan­de­nes, nichts Ge­mach­tes ver­wen­det. Wie der Ma­ler, der sich nie ge­nug tut, un­ter sein Werk ein pin­ge­bat, kein pin­xit schreibt, so gibt es auch für mei­ne Ar­beit kein Fer­tig­wer­den, weil sie mit mir geht, sich dreht, von al­len Sei­ten zu­gleich wächst, wie das wal­len­de Le­ben, aus dem sie ge­holt ist.

Ganz ver­wi­ckelt wird der Her­gang, wenn durch die hef­ti­ge Auf­wüh­lung tiefe­re, un­ter­halb des zu be­ar­bei­ten­den Stof­fes lie­gen­de Schich­ten der Ein­bil­dungs­kraft in Be­we­gung ge­setzt wer­den und ihre Ge­bil­de zwi­schen die obe­ren drän­gen. Sie kön­nen so ge­walt­tä­tig wer­den, dass sie das Strö­men der ers­ten hin­dern, in­dem sie sich vor die­se schie­ben. Es bleibt nichts üb­rig, als schnell auf an­de­re Zet­tel ihr Un­ge­stüm ab­la­den und zu­se­hen, wie man sich wie­der auf den ers­ten Weg zu­rück­fin­det. Auf die­se Wei­se kann aber auch das Cha­os Herr wer­den und alle Ge­stal­tung ver­schlin­gen, wo­durch mir un­zäh­li­ge Ent­wür­fe in der Hand zer­bro­chen sind: die an­drän­gen­den Ri­va­len hat­ten sie nicht ge­dul­det. Durch die­se Vor­gän­ge ist die Über­zeu­gung von der Prä­exis­tenz der Kunst­wer­ke in mir ge­weckt wor­den, die ich in jün­ge­ren Jah­ren ver­schie­dent­lich aus­ge­spro­chen habe: dass sie in ir­gend­ei­nem un­denk­ba­ren Raum fer­tig wei­len und dass, wer sie ans Licht bringt, nur ihr Fin­der, nicht ihr Schöp­fer ist, wenn sie auch wäh­rend der He­bung die Züge von ihm an­neh­men.

Mit ähn­li­chen Schwie­rig­kei­ten hat so­gar die Dar­stel­lung des ei­ge­nen Le­bens bei mir zu kämp­fen: in­dem Er­leb­tes, Ge­dach­tes, Ge­woll­tes, Er­reich­tes und Un­er­reich­tes mich in be­weg­tem, mit mir wan­deln­dem Krei­se um­ste­hen, kommt bei der lei­ses­ten Berüh­rung al­les ins Wal­len, so­dass sich kei­ne ma­ge­re Gera­de er­ge­ben kann. – Ein Ta­ge­buch habe ich nie ge­führt: Ta­ge­bü­cher, die­se Tum­mel­plät­ze des Selbst­kults, er­schie­nen mir stets, so­weit sie sich nicht auf das Ver­zeich­nen von Ge­scheh­nis­sen be­schrän­ken, durch die Be­lich­tung von Keim­vor­gän­gen, die kein Licht wol­len, und durch vor­zei­ti­ges Kris­tal­li­sie­ren des Wer­den­den als schäd­lich, wenn nicht gar als scham­los. Die Hand sträub­te sich so­gar, Na­men nie­der­zu­schrei­ben, die im Be­grif­fe stan­den im Le­ben eine noch nicht aus­ge­spro­che­ne Be­deu­tung zu ge­win­nen. Al­les Na­men­nen­nen ist Ma­gie: die Re­cken des Nord­lands hiel­ten es so­gar für tod­brin­gend, wäh­rend des Kamp­fes mit Na­men ge­ru­fen zu wer­den. Durch Be­re­den wird je­des stil­le in­ne­re We­ben ge­stört; ihm darf sich nur in ge­weih­ten Stun­den das Wort der Dich­tung nä­hern, die es gleich nach ih­ren ei­ge­nen Ge­set­zen lei­se um­ge­stal­tet. Also muss bei den Auf­zeich­nun­gen über mein Le­ben die in­ne­re Fol­ge und Wahr­heit an Stel­le der ge­naue­ren Chro­no­lo­gie ste­hen; ich wer­de er­zäh­len, wie der wal­len­de Kreis es mit sich bringt, bald vor-, bald zu­rück­grei­fend, ohne die Erin­ne­rung in eine künst­li­che Li­nie zu zwän­gen.

So güns­tig nach der Mei­nung der Astro­lo­gen die himm­li­schen Gestir­ne auf mei­ne Ge­burt schie­nen, so un­güns­tig, ja un­freund­lich war die äu­ße­re, die bür­ger­li­che Kon­stel­la­ti­on, die mich emp­fing, und der Wi­der­streit der bei­den Ein­flüs­se be­glei­te­te mich durchs Le­ben. Der güns­ti­ge trat in al­lem Na­tur­ge­ge­be­nen zu­ta­ge: zu­nächst in der Ab­stam­mung, in dem Hin­ein­ge­bo­ren­sein in ein durch die höchs­ten Be­lan­ge ver­edel­tes, ganz von den großen Zie­len der Mensch­heit er­füll­tes El­tern­haus, wes­halb ich mir ein hö­he­res Le­ben nicht zu er­kämp­fen brauch­te, son­dern es durch die Ge­burt be­saß. Fer­ner in der glück­li­chen Sau­ge­kraft, die mich fast ohne Lei­tung das mir Zu­kom­men­de, mir Ver­wand­te schnell er­fas­sen, das Nicht­ver­wand­te, Nicht­ge­mä­ße ab­leh­nen ließ, wo­durch sich frü­he in mir ein un­zer­stör­ba­res Welt­bild ge­stal­ten konn­te. Hin­zu­zäh­len darf ich noch einen wahr­haft brü­der­li­chen Fra­ter Cor­pus, der mich in nichts be­läs­tig­te oder hemm­te, und eine In­nen­welt, in der kein brü­ten­des Ich als »dun­ke­ler De­spot« sich sel­ber Un­heil spin­nend und weh­be­rei­tend saß – ein Vor­teil, der mir erst im Lauf des Le­bens an den vie­len ge­gen­tei­li­gen Bei­spie­len die ich sah be­wusst ge­wor­den ist. Aber mehr als für al­les an­de­re dan­ke ich der Gott­heit für das schöns­te ih­rer Ge­schen­ke die Fä­hig­keit zur Freu­de die mir auch in tief­dunklen Ta­gen nie­mals ganz ab­han­den kam und die mich aus den trübs­ten Er­fah­run­gen stets aufs neue mei­ne Fah­ne ret­ten ließ mit dem Wahl­spruch: Mensch, sei im­mer­zu dein ei­ge­ner la­chen­der Erbe – und wenn es un­ter Trä­nen wäre.

Der Ein­fluss der bö­sen Gestir­ne äu­ßer­te sich vor al­lem in dem her­ben Dich­ter­los mei­nes Va­ters, das auch das Schick­sal sei­ner Kin­der und vor­wie­gend das der Toch­ter über­schat­te­te. Ich habe ihn in mei­ner Her­mann-Kurz-Bio­gra­fie ge­schil­dert, wie er in un­se­rer Mit­te stand in sei­ner ge­bie­ten­den und doch so mil­den Grö­ße wie ein Kö­nig ohne Land; wir Kin­der fühl­ten die Be­deu­tung sei­ner Wer­ke, be­vor wir sie sel­ber le­sen konn­ten, aus der Be­geis­te­rung un­se­rer Mut­ter und der we­ni­gen ihm ge­blie­be­nen Freun­de, und fan­den doch sei­nen Na­men nicht vom Ruhm um­strahlt, sein Ver­dienst weit un­ter dem Wer­te ein­ge­schätzt, von viel Ge­rin­ge­ren ver­dun­kelt, den Er­trag sei­ner Ar­beit in um­ge­kehr­tem Ver­hält­nis zu ih­rer in­ne­ren Grö­ße. Die Mut­ter hat­te uns ge­lehrt, dass es eine Ehre für uns war, we­ni­ger zu ha­ben als die Kin­der der be­freun­de­ten Häu­ser, die kei­nen deut­schen Dich­ter zum Va­ter hat­ten, aber die­ses Los war nichts­de­sto­we­ni­ger eine der frü­hen Be­las­tun­gen, mit de­nen ich ins Le­ben trat. Noch in die Frem­de folg­te mir die Pein, dass ich de­nen, die mich nach mei­nem Va­ter frag­ten, nicht sa­gen konn­te, wer die­ser Dich­ter ge­we­sen, des­sen Na­men nie­mand nann­te: der Toch­ter al­lein hät­te man ja nicht ge­glaubt. Aber lie­ber woll­te ich ihn ganz im Dun­kel wis­sen als nur halb ge­wür­digt und bei den Geis­tern zwei­ten Ran­ges un­ter sei­nen Zeit­ge­nos­sen ein­ge­reiht. Mei­ne Brü­der ha­ben ge­wiss die Sach­la­ge nicht min­der herb emp­fun­den als ich, al­lein sie konn­ten nichts dazu, dar­um schwie­gen sie: ih­nen lag nur ob, auf ih­ren ei­ge­nen vor­ge­zeich­ne­ten We­gen ih­rer Her­kunft Ehre zu ma­chen, und das ha­ben sie ge­tan. Mir aber war von der Vor­se­hung mit dem Erbe des vä­ter­li­chen Be­rufs auch der Auf­trag mit­ge­ge­ben, der lan­gen Un­ge­rech­tig­keit ent­ge­gen­zu­tre­ten, für den Ver­kann­ten, Halb­ver­ges­se­nen den Platz im Na­tio­nal­hei­lig­tum sei­nes Vol­kes, der ihm zu­kam, ein­zu­for­dern. Jede Li­te­ra­tur­ge­schich­te, die schwei­gend über ihn weg­ging oder ihn ne­ben­säch­lich ab­tat, jede miss­ken­nen­de oder un­zu­läng­li­che Kri­tik trieb mir mit schmerz­haf­tem Sta­chel die Mah­nung von neu­em ins Herz. Aber durf­te ein jun­ges, noch ganz un­ge­schul­tes Mäd­chen, das nichts war noch hat­te, nicht ein­mal einen schir­men­den, för­dern­den Le­bens­kreis, hof­fen, ih­rer Stim­me der­einst so­viel Ge­hör zu ver­schaf­fen, da sie doch erst die ei­ge­nen Fä­hig­kei­ten rei­fen las­sen muss­te, den Kampf, der sei­ne Kraft zu früh ge­bro­chen hat­te, ge­gen eine ide­al­lo­se Zeit für sich sel­ber auf­neh­men und aus noch er­schwer­te­rer Stel­lung, der weib­li­chen her­aus, durch­füh­ren, be­vor sie mit ih­rer Sa­che auch der sei­ni­gen die­nen konn­te? Das zu hof­fen war Ver­mes­sen­heit, ich hoff­te es doch, wenn auch nur in ei­ner vor­schwe­ben­den Ah­nung, in ei­nem Licht­strahl, der aus ver­hüll­ter Zu­kunft her­über fiel: dass es den­noch so kom­men wer­de. Ich habe oft­mals in Zei­ten, wo ich nicht wuss­te, wo aus noch ein, der­glei­chen un­aus­schalt­ba­re in­ne­re Ge­wiss­heit ge­habt, dass mein Ziel ir­gend­wie mich fin­den wer­de, dass ohne ge­walt­sa­mes Drän­gen die Zeit sel­ber mir die Frucht rei­fen wer­de. In je­ner Nacht des 10. Ok­to­ber 1873 zu Tü­bin­gen, als mein Bru­der Ed­gar, da­mals ein blut­jun­ger Arzt, bei dem jäh­lings ge­schie­de­nen Va­ter al­lein die To­ten­wa­che hielt, ge­lob­te er ihm, dem er­erb­ten Na­men durch die ei­ge­ne Lauf­bahn Aus­zeich­nung zu er­wer­ben: er hat die­ses Ver­spre­chen in sei­nem pfeil­ge­ra­den si­che­ren Lauf glän­zend ge­löst. Ich blieb in mei­nen ma­gi­schen Kreis ge­bannt, wo die En­den bei­sam­men sind, und muss­te auf Ort und Stun­de war­ten, um das mei­ne, noch küh­ne­re, zu lö­sen.

Der zwei­te hem­men­de Ein­fluss, der über mei­nem Le­ben stand, war mein Ge­schlecht. Kaum dürf­te je die Frau in Deutsch­land nied­ri­ger ge­stan­den ha­ben als im letz­ten Drit­tel des vo­ri­gen Jahr­hun­derts, in das mei­ne Ju­gend fiel. Dass es eine Bet­ti­na, eine Ka­ro­li­ne Schle­gel, eine Gün­de­ro­de, ge­ge­ben hat, Frau­en, von de­nen ihre Zeit, die ja auch die Zeit Goe­thes war, die Fär­bung mit emp­fing, das wirk­te nicht mehr nach, es lag als blo­ßer Wis­sens­stoff ein­ge­sargt in der Li­te­ra­tur­ge­schich­te. Eine Pf­licht zur Aus­bil­dung der Töch­ter kann­te we­der der Staat noch die Fa­mi­lie, es stand ganz bei den El­tern, ob und was sie die­se ler­nen las­sen woll­ten. In den bür­ger­li­chen Krei­sen, auch in den ge­bil­de­ten, so­weit sie nicht wohl­ha­bend wa­ren, be­gnüg­te man sich oft ge­nug da­mit, ih­nen die häus­li­chen Ar­bei­ten bei­zu­brin­gen und sie zu un­be­zahl­ten Dienst­bo­ten her­an­zu­zie­hen, be­son­ders wenn das Stu­di­um der Söh­ne die el­ter­li­chen Mit­tel er­schöpf­te. Und wenn auch bes­ser­ge­stell­te Häu­ser die ih­ri­gen zur Schnell­blei­che in ir­gend­ein fran­zö­sisch spre­chen­des In­sti­tut schick­ten, der Geist, der die Er­zie­hung durch­wal­te­te, blieb der glei­che. Er­wach­sen, hat­te ein sol­ches Mäd­chen kei­ne drin­gen­de­re Auf­ga­be, als sich nach dem künf­ti­gen Er­näh­rer um­zu­se­hen, der die Sor­ge für sie über­nahm und dem sie nun mit ih­rem gan­zen Sein zu die­nen, nach dem sie sich bis zur völ­li­gen Auf­ga­be ih­res ei­ge­nen gott­ge­schaf­fe­nen Selbst zu mo­deln hat­te. Der schar­fe Wett­be­werb auf dem Hei­rats­markt lähm­te je­des hö­he­re Stre­ben und verd­arb auch den weib­li­chen Cha­rak­ter. Selbst das hohe Amt der Mut­ter­schaft ver­moch­te ihn nicht mehr zu he­ben, denn wenn der Wett­lauf un­ter Zu­rück­drän­gung der Mit­be­wer­be­rin­nen ge­won­nen war, so be­gann er bald aufs neue und fast noch schär­fer um die Zu­kunft der her­an­wach­sen­den Töch­ter. Es fragt sich, ob nicht die phy­si­sche Mut­ter­schaft, die ihr He­gen und Sor­gen auf den Kreis der ei­ge­nen Ge­bur­ten be­schränkt, un­ter Um­stän­den dem hö­he­ren Mut­ter­tum im Wege ist: aus­schließ­lich auf einen Punkt ge­rich­te­te Lie­be macht lie­be­leer ge­gen die an­de­ren. Da­rum ge­hör­te wirk­li­che Frau­en­freund­schaft, ja, nur ein ech­tes Wohl­wol­len von Frau zu Frau zu den sel­tens­ten Aus­nah­men. So blieb nicht nur der Geist der Frau völ­lig un­ent­wi­ckelt und in einen um­lau­fen­den Kreis von Klei­nig­kei­ten ge­bannt, ohne Aus­sicht auf das Gro­ße und Gan­ze, auch ihr See­len­le­ben war ent­wür­digt und entadelt. Schlim­mer noch als der tat­säch­li­che Zu­stand war es, dass die­ses öde, ver­küm­mer­te Ge­bil­de als Ideal­bild der deut­schen Frau die bür­ger­li­che Ge­sell­schaft be­herrsch­te. Gehe ich fehl, wenn ich die Ge­stalt des Gret­chen da­für mit­ver­ant­wort­lich ma­che? Es ist ein selt­sa­mes Ver­häng­nis, dass ge­ra­de der Dich­ter, der dem We­sen der Frau am nächs­ten kam und es in viel­fa­chen Spie­ge­lun­gen am ech­tes­ten dar­ge­stellt hat, die Ge­stalt er­schuf und mit dem Schmelz der höchs­ten Poe­sie um­klei­de­te, die die deut­sche Frau um Jahr­hun­der­te zu­rück­wer­fen half. Der Gret­chen­kult war ein all­zu be­que­mer, man konn­te ihr in Hem­d­är­meln die­nen, sie stell­te kei­ne kul­tu­rel­le For­de­rung an den männ­li­chen Part­ner und er­höh­te sein Selbst­ge­fühl durch ihre tie­fe Un­ter­wor­fen­heit. Noch tönt mir aus Ju­gend­ta­gen das viel­ge­sun­ge­ne Braut­lied in die Ohren: »Mein ho­her Herr, du willst her­ab dich las­sen / be­se­li­gend zu dei­ner ar­men Magd.« Hei­ne da­ge­gen sang fri­vol: »Den Leib möcht ich noch ha­ben, / den Leib so zart und jung, / die See­le könnt ihr be­gra­ben, / hab sel­ber See­le ge­nung.« De­mü­ti­ge Magd oder Weib­chen – Leib ohne See­le – das mach­te der männ­li­che For­mungs­wil­le aus dem hand­li­chen Pla­sti­lin. Und das Pla­sti­lin kam ihm wil­lig ent­ge­gen, es war stolz auf sei­ne Hö­rig­keit die kei­ne Mühe kos­te­te, es trug sei­ne geis­ti­ge Ar­mut wie einen Schmuck, worin der Lie­bes­zau­ber steckt. Man­che gab sich so­gar aus Ge­fall­sucht är­mer und schwä­cher als sie war. Sie durf­te ja gar kei­nen geis­ti­gen Be­sitz mit in die Ehe brin­gen, sie hat­te das wei­ße Blatt zu sein, auf das der Mann sei­ne Schrift ein­trug. Eine Schrift, die auch wie­der zu lö­schen war im Fall ei­ner zwei­ten Ehe, denn sie pfleg­te nicht all­zu­tief ein­zu­drin­gen. Ih­rer Wiß­be­gier, wenn sie sol­che hat­te, wur­den alle Ge­gen­stän­de zer­klei­nert wie ei­nem Vö­gel­chen in den Schna­bel ge­steckt. Ich ken­ne eine Da­men­bü­che­rei aus dem vo­ri­gen Jahr­hun­dert, wo sich noch ein Ku­rio­sum be­fin­det, eine »Stern­kun­de für Da­men«! Alle Ge­brei­ten des Le­bens ge­hör­ten aus­schließ­lich und un­wei­ger­lich dem Man­ne, die Frau galt in der Ge­sell­schaft nur als sein An­häng­sel, auch wenn sie zu­fäl­lig die Be­deu­ten­de­re war; ver­wit­wet fiel sie in ihr Nichts zu­rück. Als Un­ver­mähl­te blieb sie le­bens­läng­lich miss­ach­tet und auf die Sei­te ge­scho­ben. Nur sel­ten ge­lang es ei­ner, durch große künst­le­ri­sche Leis­tung auf ir­gend­ei­nem Ge­bie­te die­sen Bann zu bre­chen. Sonst war es ein Kle­ben im Pech, mit lee­rem Kopf und un­ter­drück­ten Le­bens­in­stink­ten, im Her­zen nur die Angst, den rech­ten Zeit­punkt zu ver­pas­sen. Wie viel ein­fa­cher und na­tür­li­cher leb­te sichs doch im Vol­ke; bei Töch­tern aus gu­ten Häu­sern wa­ren Schwer­mut und Wahn­sinn kei­ne sel­te­ne Er­schei­nung. Da kam dann frei­lich der Mann als Er­lö­ser und konn­te nicht lan­ge dar­auf­hin an­ge­se­hen wer­den, ob er der Rech­te sei: die Sa­che war ei­lig, nach zwan­zig hör­te schon meist die Ju­gend auf, denn der Durch­schnitts­käu­fer ver­lang­te die fri­sche­s­te Ware. So blieb die Frau ein un­er­lös­ter Mensch und ein durch und durch ge­fälsch­tes Er­zeug­nis ei­ner falschen Zi­vi­li­sa­ti­on; ihr wah­res We­sen kann­te nie­mand, auch sie sel­ber nicht. – Von Schil­ler stammt der Auss­pruch, dass die Frau nicht nur kein geis­ti­ges Ei­gen­le­ben be­sit­ze, son­dern dass der Mann auch in ih­rem Geist kei­ne dau­ern­de Pflan­zung an­le­gen kön­ne. Goe­the hat ihr we­nigs­tens das Recht zu­ge­bil­ligt, da­bei zu sein, »wenn klu­ge Män­ner re­den«. Ver­ga­ßen die Dich­ter, dass am Auf­gang der Dich­tung ein Frau­en­na­me steht, vor dem das klas­si­sche Al­ter­tum sich neig­te, der ewi­ge Name Sapp­ho? Wo von der Ein­zi­gen eine Stro­phe laut wird, da ver­sin­ken die Jahr­tau­sen­de zwi­schen ihr und uns. Sie nennt ih­ren Quit­ten­baum, und wir hö­ren den lau­en Re­gen Io­ni­ens durch sei­ne Zwei­ge rau­schen; steht er nicht un­ten in un­se­rem Gar­ten? Die Grie­chen strit­ten nicht, ob sol­che Höhe der Frau er­reich­bar sei, sie lie­ßen die Wahr­heit der Er­schei­nung gel­ten. – In Athen war die Frau durch Ge­setz und Sit­te un­ter­drückt, aber die Dich­tung des So­pho­kles hob sie auf die höchs­te, mensch­li­cher Na­tur er­reich­ba­re Stu­fe. Auch hin­der­te die öf­fent­li­che Mei­nung Aspa­sia nicht, über Pe­ri­kles und durch Pe­ri­kles über Athen zu herr­schen. Eben­so­we­nig konn­te die Stim­me der All­ge­mein­heit jene Pries­te­rin der eleu­si­ni­schen De­me­ter schre­cken, die sich al­lein dem von der gan­zen Pries­ter­schaft ge­gen den Al­ki­bia­des ge­schleu­der­ten Bann­fluch zu wi­der­set­zen wag­te. –

Mit wel­cher Herr­lich­keit tre­ten auch die Sha­ke­s­pea­re­schen Frau­en, die Töch­ter des Geis­tes der Re­naissance ein­her! Wie ge­bie­tend die kö­nig­li­che He­tä­re Kleo­pa­tra und das »Über­weib« Lady Mac­beth. Wie viel Geist, Ent­schlos­sen­heit und Tat­kraft in dem hol­den Mut­wil­len ei­ner Por­zia, ei­ner Bea­tri­ce, in der hin­ge­ben­den Lie­bes- und Treue­pflicht ei­ner Imo­gen. Nir­gends eine in De­mut aus­ge­lösch­te Per­sön­lich­keit. Sol­che We­sens­zü­ge strö­men aus der Dich­tung ins Le­ben über und bau­en das Wunsch­bild, die­ses hilft die Wirk­lich­keit bau­en. Auch Gott­fried Kel­lers Schwei­ze­rin­nen ste­hen kraft­voll und hoch­wüch­sig auf der müt­ter­li­chen Erde. Wie aber stand es in der Li­te­ra­tur des vo­ri­gen Jahr­hun­derts um das Bild der deut­schen Frau? Man blät­te­re in den Wer­ken des fei­nen Paul Hey­se, des da­ma­li­gen Lieb­lings der Le­ser­welt, den man den Frau­en­lob je­ner Tage nen­nen könn­te; wie zer­bla­sen sein Frauen­ide­al und wie spie­le­risch fast durch­weg in sei­ner Dich­tung das tra­gi­sche Rin­gen der Ge­schlech­ter. Da gibt es meist nur einen hol­den mäd­chen­haf­ten Ei­gen­sinn zu über­win­den, der sich ge­gen den über­le­ge­nen Wil­len des Man­nes auf­bäumt, um schnell zer­knirscht mit sü­ßen Reu­e­trä­nen zu sei­nen Fü­ßen zu sin­ken, wo­mit das Pro­blem Mann und Weib ge­löst ist. Kein heu­ti­ger Mann, und wäre er der rück­stän­digs­te, wür­de an der Frau, wie jene Tage sie for­der­ten, sein Ge­nü­ge fin­den. Die Lan­ge­wei­le, die von der un­geis­ti­gen Frau aus­ging, trieb den geis­ti­gen Mann vom Fa­mi­li­en­tisch fort ins Wirts­haus zu Sei­nes­glei­chen. Der Grund, warum der Trunk in deut­schen Lan­den zu­rück­ge­gan­gen ist, liegt nicht al­lein in der schlech­teren Wirt­schafts­la­ge, son­dern auch dar­in, dass der ge­bil­de­te Mann jetzt bei der ge­bil­de­ten Frau zu Hau­se geis­ti­ge Nah­rung fin­det. Denn auch dem Man­ne war mit der Ent­wer­tung der Frau per­sön­lich nicht ge­dient. Der Feh­ler, der in der Rech­nung lag, verd­arb viel­fach auch ihm das Da­sein. Im Zu­sam­men­le­ben mit ei­ner klein­li­chen, hin­ter­grün­di­gen, über Um­we­gen und Hin­ter­trep­pen herr­schen­den Hälf­te san­ken auch ihm die Flü­gel, wenn er sol­che hat­te, nie­der.

Was große Ge­lehr­te wie Ja­kob Grimm und J. J. Ba­cho­fen über den chtho­ni­schen Ur­grund des Wei­bes und ihr aus der Erd­ver­bun­den­heit her­vor­ge­gan­ge­nes Über­ge­wicht über das männ­li­che Prin­zip in der Vor­zeit sa­gen, das fin­det man auch heu­te noch in den meis­ten al­ten Ehen. Der Mann ist der Ero­be­rer der Na­tur, ihre Fül­len und Gna­den aber hat die Frau zu ver­spen­den. Hat er in sei­ner Voll­kraft sich die Na­tur dienst­bar ge­macht, so be­ginnt er im Al­tern sein all­mäh­li­ches Er­lie­gen vor ihr zu ah­nen, und nun klam­mert er sich an die Frau als an die der Na­tur im­mer ver­traut Ge­blie­be­ne, jetzt auch bio­lo­gisch Stär­ke­re – was kei­nes­wegs im­mer mit ih­ren meist jün­ge­ren Jah­ren zu­sam­men­hängt – und sucht ih­ren Schutz. Die Frau wird zur Mut­ter des Man­nes, und der Mut­ter hängt er wie­der wie in der Kin­der­zeit am Kleid. Man sieht auf der Stra­ße mehr alte Ehe­paa­re wo die Frau den Mann stützt als um­ge­kehrt. Wenn ein al­tern­des Paar sich un­ter­ein­an­der Va­ter und Mut­ter nennt, so meint sie den Va­ter ih­rer Kin­der, er meint sei­ne ei­ge­ne Mut­ter. Eine Rei­he der treff­lichs­ten, männ­lichs­ten Män­ner sah ich im Al­ter die halt­be­dürf­ti­gen Söh­ne ih­rer Frau­en wer­den. Wenn es die Män­ner vor­aus­sä­hen, so wür­den sie be­grei­fen, dass es nicht in ih­rem Vor­teil liegt, die Frau klein und schwach zu wol­len, ganz ab­ge­se­hen von dem Ein­fluss auf den Nach­wuchs: denn wie ihre Frau­en sind, so wer­den sie selbst am Ende ih­rer Tage sein.

Die Fra­ge hat­te aber auch noch eine an­de­re Sei­te, die über das Ein­zel­schick­sal hin­aus ins All­ge­mei­ne wirk­te. Da die Mensch­heit ein Gan­zes ist und nur durch den Kunst­griff der Na­tur in zwei Hälf­ten ge­teilt, um sie bes­ser zu ver­bin­den, so muss­te durch die Ver­küm­me­rung des einen Ge­schlechts das an­de­re mit­ge­schä­digt wer­den, und mit­tel­bar die gan­ze Na­ti­on. Denn die Frau schafft das äu­ße­re Ge­prä­ge ei­ner Kul­tur; sie ist die Er­zie­he­rin des Man­nes zu Form und Schön­heit, und ihr fei­ne­rer Tast­sinn ist be­ru­fen, sei­ne star­re, ab­strak­te Sach­lich­keit zu mil­dern. Es braucht nun ein­mal den Sporn des Eros um die Sit­ten zu ver­fei­nern und das Le­ben zu ver­edeln. Der Man­gel an Takt und äu­ße­rem An­stand, die Schroff­heit, hin­ter der sich oft nur ge­sell­schaft­li­che Un­si­cher­heit ver­barg, und was sonst noch das Aus­land dem Deut­schen vor­warf und zum gu­ten Teil heu­te noch vor­wirft, nach­dem es mit die­sen Din­gen bes­ser ge­wor­den – denn wie lan­ge dau­ert es, bis eine ge­präg­te Mei­nung sich be­rich­tigt –, war in dem man­geln­den ge­sell­schaft­li­chen Ein­fluss der Frau be­grün­det. Wes­halb auch die deut­sche Kul­tur nie im­stan­de war, eine Ge­sell­schaft mit be­stimm­tem äu­ße­rem Form­cha­rak­ter zu bil­den wie die ro­ma­ni­sche oder die an­gel­säch­si­sche und da­mit für den deut­schen Men­schen die kenn­zeich­nen­de Sil­hou­et­te zu prä­gen, die ihn ein­heit­lich und ge­fäl­lig von den Nach­barn ab­ge­ho­ben hät­te. Dass er da­heim die Form ver­schmäh­te, trieb ihn dazu, sie aus­wärts um so rück­halt­lo­ser zu be­wun­dern und nach­zuah­men. Weil er sich für sein Deutsch­tum kein ge­sell­schafts­fä­hi­ges Kleid ge­schaf­fen hat­te, leg­te er im Aus­land das sei­ne ab, und nahm – wie oft hat es mich ge­wurmt! – die äu­ße­re Form des Wirts­vol­kes an.

In sei­nem Werk über das Mut­ter­recht sagt der große Ba­cho­fen über die gy­nä­ko­kra­ti­sche Welt­pe­ri­ode als die »Poe­sie der Ge­schich­te«: »Sie wird dies durch die Er­ha­ben­heit, die he­ro­i­sche Grö­ße, selbst durch die Schön­heit, zu der sie das Weib er­hebt, durch die Be­för­de­rung der Tap­fer­keit und rit­ter­li­chen Ge­sin­nung un­ter den Män­nern, durch die Be­deu­tung, wel­che sie der weib­li­chen Lie­be leiht, durch die Zucht und Keusch­heit, wel­che sie von dem Jüng­ling for­dert: ein Ve­rein von Ei­gen­schaf­ten, die dem Al­ter­tum in dem­sel­ben Lich­te er­schie­nen, in dem un­se­re Zeit die rit­ter­li­che Er­ha­ben­heit der ger­ma­ni­schen Welt sich vor­stellt. Wie wir so fra­gen jene Al­ten: Wo sind jene Frau­en, de­ren un­tad­li­ge Schön­heit, de­ren Keusch­heit und hohe Ge­sin­nung selbst die Lie­be der Uns­terb­li­chen weck­ten, hin­ge­kom­men? – Wo aber auch jene Hel­den ohne Furcht und ohne Ta­del, die rit­ter­li­che Grö­ße mit ta­del­lo­sem Le­ben, Tap­fer­keit mit frei­wil­li­ger Aner­ken­nung der weib­li­chen Macht ver­ban­den? Alle krie­ge­ri­schen Völ­ker ge­hor­chen dem Wei­be, sagt Ari­sto­te­les, und die Be­trach­tung spä­te­rer Wel­tal­ter lehrt das glei­che: Ge­fah­ren trot­zen, jeg­li­ches Aben­teu­er su­chen und der Schön­heit die­nen, ist un­ge­bro­che­ner Ju­gend­fül­le stets ver­ein­te Tu­gend.« (Vor­re­de zum Mut­ter­recht S. 18).1

Und an an­de­rer Stel­le:

»Dass in der Herr­schaft des Wei­bes und sei­ner re­li­gi­ösen Wei­he ein Ele­ment der Zucht und Ste­tig­keit von großer Stär­ke ent­hal­ten war, muss be­son­ders für jene Ur­zei­ten an­ge­nom­men wer­den, in de­nen die rohe Kraft noch wil­der tob­te, die Lei­den­schaft noch kein Ge­gen­ge­wicht hat­te in den Sit­ten und Ein­rich­tun­gen des Le­bens und der Mann sich vor nichts beug­te als vor der ihm selbst un­er­klär­li­chen zau­ber­haf­ten Ge­walt der Frau über ihn. Der wil­den un­ge­bän­dig­ten Kraft­äu­ße­rung der Män­ner tra­ten die Frau­en als Ver­tre­te­rin­nen der Zucht und Ord­nung, als ver­kör­per­tes Ge­setz, als Ora­kel an­ge­bo­re­ner ah­nungs­rei­cher Weis­heit wohl­tä­tig ent­ge­gen. Gern er­trägt der Krie­ger die­se Fes­sel, de­ren Not­wen­dig­keit er fühlt. – – In dem Be­wusst­sein der in sei­ne Hand ge­ge­be­nen Herr­schaft muss das Weib je­ner al­ten Zeit mit ei­ner, spä­te­ren Wel­tal­tern rät­sel­haf­ten Grö­ße und Er­ha­ben­heit er­schie­nen sein. Der spä­te­re Ver­fall sei­nes Cha­rak­ters hängt we­sent­lich mit der Be­schrän­kung sei­ner Wirk­sam­keit auf die Klein­lich­kei­ten des Da­seins, mit sei­ner Knecht­stel­lung, mit dem Aus­schluss von al­ler grö­ße­ren Tä­tig­keit und dem da­durch her­bei­ge­führ­ten Hang zu ver­steck­tem Ein­fluss durch List und Int­ri­guen zu­sam­men. Sol­che Wei­ber an der Spit­ze ei­nes Staa­tes und die­sen als wohl­ge­ord­net ge­prie­sen zu se­hen, das lässt sich al­ler­dings mit un­se­rer heu­ti­gen Er­fah­rung nicht ver­ei­ni­gen. – – Wie las­sen sich die heu­ti­gen mit der Ur­zeit, zu­mal der ger­ma­ni­schen, mes­sen? Das Be­wusst­sein der Herr­schaft und Macht­be­fä­hi­gung ver­edelt Leib und See­le, ver­drängt die nie­de­ren Wün­sche und Emp­fin­dun­gen, ver­bannt die ge­schlecht­li­chen Aus­schwei­fun­gen und si­chert den Ge­bur­ten Kraft und Hel­den­ge­sin­nung. Für die Er­zie­hung ei­nes Vol­kes zur Tu­gend in dem al­ten der­ben, nicht in dem schwind­süch­ti­gen Sin­ne heu­ti­ger Zeit, gibt es kei­nen mäch­ti­ge­ren Fak­tor als die Ho­heit und das Macht­be­wusst­sein der Frau. Es ist je­den­falls tie­fe Be­deu­tung in der Er­zäh­lung, wo­nach der Rö­mer Hel­den­volk von Sa­bi­ne­rin­nen ganz ama­zo­ni­scher Er­schei­nung ab­stammt. Sol­chen Frau­en kön­nen kei­ne Weich­lin­ge und kei­ne glei­ßen­den Wol­lüst­lin­ge ge­fal­len.« (Mut­ter­recht, Kre­ta S. 125) Mö­gen auch man­che Schlüs­se des großen For­schers und Pfad­fin­ders wis­sen­schaft­lich um­strit­ten sein, der sitt­li­chen­de Ein­fluss der Frau, wie ihn Ba­cho­fen in My­the und Früh­ge­schich­te der Mensch­heit er­kennt, wird sich nie­mals weg­leug­nen las­sen. Man hat so oft Goe­the sei­nen Zug zum Adel, zur Hof­ge­sell­schaft vor­ge­wor­fen, als ob der Frank­fur­ter Bür­ger­sohn sich da­mit ei­nes Man­gels an Man­nes- und Bür­ger­stolz schul­dig ge­macht hät­te. Und doch wis­sen wir es aus sei­nem ei­ge­nen Mun­de, dass eine all­sei­ti­ge Aus­bil­dung der Per­sön­lich­keit im bür­ger­li­chen Stan­de gar nicht zu er­lan­gen war. »Er hat Per­son«, sag­ten un­se­re Klas­si­ker von ei­nem, der mit dem An­stand des Welt­manns auf­trat, und das gab es nur in den hö­he­ren Krei­sen; der bür­ger­lich Ge­bo­re­ne hat­te bloß ein Amt aber kei­ne Per­son. Er war Schul­leh­rer, Amt­mann, No­tar, aber als Per­sön­lich­keit hat­te er sich aus­zu­lö­schen, woll­te er nicht we­gen frat­zen­haf­ter An­ma­ßung ver­lacht sein. Hö­he­re Um­gangs­for­men wa­ren sonst nur noch auf der Büh­ne zu ge­win­nen, wo Wil­helm Meis­ter sei­nen Kur­sus durch­macht, der ihn erst be­fä­hi­gen muss, un­ter den Vor­neh­men als Glei­cher zu ste­hen. Soll­te nun der­je­ni­ge Deut­sche, dem es be­stimmt war, sei­nem Volk auf ei­nem Kul­tur­weg vor­an­zu­ge­hen, wo es ihn bis heu­te nicht ein­ge­holt hat, auf die Ent­wick­lung sei­ner bei­spiel­haf­ten Per­sön­lich­keit von vorn­her­ein ver­zich­ten? Ge­wiss lag der Reiz, den Frau von Stein auf ihn aus­ge­übt hat, we­sent­lich in der Selbst­ver­ständ­lich­keit vollen­de­ter Welt­for­men und dem ge­nau­en Wis­sen, »was sich ziemt«, worin sie ihm Lehr­meis­te­rin war. Aus Kind­heits­ta­gen er­in­ne­re ich mich noch ge­wis­ser un­wahr­schein­lich gro­tes­ker Ge­stal­ten der äl­te­ren Ge­ne­ra­ti­on, die aus Un­schick und Blö­dig­keit über ihre ei­ge­nen Bei­ne stol­per­ten. Nicht ein­mal im Be­sit­ze sei­ner Glied­ma­ßen war viel­fach der deut­sche Mann, be­vor er durch die all­ge­mei­ne Dienst­pflicht ge­drillt, durch den Sport ge­schmei­digt, durch ge­sell­schaft­li­chen Um­gang, den Um­gang mit ge­bil­de­ten Frau­en, ver­fei­nert wur­de. Es ist klar, dass wo die Frau eine kul­tu­rel­le Be­deu­tung hat, der Mann nie­mals in sol­chem Gra­de äu­ßer­lich aus­ar­ten kann, weil sie sich nicht mit dem ers­ten bes­ten be­gnü­gen und weil sie auch auf das Wer­den des Soh­nes ein Auge ha­ben wird.

Als ich in Flo­renz le­bend zum ers­ten Mal von der in Deutsch­land ein­ge­lei­te­ten Be­we­gung zu­guns­ten des Frau­en­stu­di­ums und der hö­he­ren Frau­en­be­ru­fe las, schüt­tel­te ich den Kopf; ich hielt da­von so we­nig wie der ver­bis­sens­te Frau­en­ver­äch­ter. Zu gut war mir der weib­li­che Un­geist be­kannt, wenn ich auch un­ter­des­sen weib­li­che Ge­müts­ei­gen­schaf­ten hat­te schät­zen ler­nen. In Frau­en­ge­sell­schaf­ten ging ich nie, und wenn ich vor der Türe um­keh­ren muss­te bei der Ent­de­ckung, dass nur weib­li­che Gäs­te am Tee­tisch sa­ßen. Die Ar­mut der Be­lan­ge und die Un­fä­hig­keit zur Be­griffs­bil­dung, die je­des erns­te­re Ge­spräch ver­hin­der­ten, wirk­ten auf mich wie läh­men­des Gift. Wie gründ­lich soll­te ich spä­ter­hin um­ler­nen, als mir in Deutsch­land ein neu­es, in geis­ti­gem Lich­te her­an­ge­wach­se­nes Frau­en­ge­schlecht ent­ge­gen­trat. Es hat­te ge­nügt, den Blick­punkt auf den Mann zu än­dern und den Sinn für das Über­per­sön­li­che zu we­cken, so stand die Frau – nicht we­sens­gleich, aber eben­bür­tig ne­ben ihm. Ich darf die tap­fe­ren Weg­be­rei­te­rin­nen rüh­men, denn ich habe nicht zu ih­nen ge­hört. Sie ha­ben den Nach­kom­men­den einen Bo­den ge­schaf­fen, auf dem sich woh­nen und wer­ken lässt. So glück­lich war die Welt noch nicht, in die ich Ende des Jah­res 1853, am Tag der Win­ter­son­nen­wen­de, trat.

*

Da mei­ne Ge­burt mit der Neu­ge­burt des Lich­tes un­ter dem Zei­chen des Stein­bocks, dem Juel­fest un­se­rer ger­ma­ni­schen Vor­fah­ren, zu­sam­men­fiel, so wur­de die nahe Weih­nacht auf die­sen Tag vor­ver­legt. Es gab für mich so­mit nur ein Fest im Jah­re, aber die­ses war ein kos­mi­sches, wor­an die gan­ze Erde teil hat­te. Nach mei­nen kind­li­chen Be­grif­fen ver­lor ich zwar den zwei­ten Ga­ben­tisch des Jah­res, doch auf dem Tag, der mich ge­bracht hat­te, lag eine hö­he­re Wei­he, ein fei­er­li­che­rer Nach­druck. Die da­mit ge­ge­be­ne Vor­aus­be­deu­tung er­füll­te sich bei mei­nem Heran­wach­sen in dem Sinn, dass in dem großen Ge­schwis­ter­kreis das meis­te Licht auf die ein­zi­ge Toch­ter fiel, dass ich aber ge­mäß den An­schau­un­gen der Zeit mit al­len ir­di­schen An­sprü­chen hin­ter den Brü­dern ver­schwin­den muss­te. In mei­nem spä­te­ren Le­ben, als ich den licht­su­chen­den Cha­rak­ter des Stein­bocks er­kannt hat­te, fühl­te ich mich ihm dienst- und le­hens­pflich­tig und stell­te mir ihn oder sein astro­no­mi­sches Zei­chen zum Sinn­bild und Wap­pen auf.

In »Dich­tung und Wahr­heit« be­merkt Goe­the, das gan­ze Le­ben ei­nes Men­schen hän­ge von dem Jahr­zehnt sei­ner Ge­burt ab: zehn Jah­re spä­ter zur Welt ge­kom­men und sein Le­bens­gang wäre ein völ­lig an­de­rer ge­wor­den. Wie viel mehr gilt das von ei­nem Frau­en­le­ben! Zehn Jah­re spä­ter, und ich hät­te mei­nen Weg schon nicht mehr so un­gang­bar ge­fun­den, mein Er­schei­nen wäre nicht so un­be­greif­lich fremd­ar­tig ge­we­sen und so er­bit­tert be­kämpft wor­den, wie es auf dem Riss zwi­schen zwei Zeit­al­tern, ei­nem das lang­sam sich zum Aus­klin­gen an­schick­te und dem von mir un­be­wusst vor­aus­ge­nom­me­nen neu­en, der Fall war.

Auf die­sen Riss war ich zu­nächst ganz ohne mein Zu­tun schon im un­mün­di­gen Al­ter ge­stellt wor­den. Ich hat­te ja zur Mut­ter eine Frau, de­ren Hal­tung zu dem da­ma­li­gen Frau­en­tum im stärks­ten Ge­gen­satz stand. Da sie aus al­tem Adel stamm­te, dazu äu­ßerst fort­schritt­lich war, konn­te sie auf die bür­ger­li­chen Vor­ur­tei­le her­un­ter­se­hen; ihr wa­ren bes­se­re Bil­dungs­mög­lich­kei­ten zu Ge­bo­te ge­stan­den, sie hat­te sich auch auf ei­ge­ne Hand wei­ter­ge­hol­fen und brach­te zwar kein sys­te­ma­ti­sches Wis­sen aber ein wei­tes Ge­sichts­feld und eine un­end­li­che Be­geis­te­rung für al­les Gro­ße und Schö­ne, für Dich­tung, Spra­chen, Phi­lo­so­phie und Ge­schich­te, be­son­ders die des Al­ter­tums, mit in die Ehe. Was sie nur teil­wei­se er­reich­te, woll­te sie in der Toch­ter vollen­det se­hen. Aber die Mit­tel fehl­ten, denn es war ei­ner der Fäl­le, wo die Kna­ben­er­zie­hung die el­ter­li­che Kas­se er­schöpf­te. Ihr Heim war jetzt kein frei­herr­li­ches mehr, son­dern das höchst be­schei­de­ne ei­nes deut­schen Dich­ters, dem die Stumpf­heit sei­ner Zeit­ge­nos­sen den Er­folg vor­ent­hielt. Für mich gab es kei­ne fran­zö­si­schen und eng­li­schen Bon­nen, kei­ne im La­tein un­ter­rich­ten­den Haus­leh­rer wie einst für sie. Von den Mäd­chen­schu­len fan­den die El­tern, kei­ne Schu­le wäre bes­ser. So un­ter­rich­te­te sie mich sel­ber, aber frei­lich ohne Ord­nung und Metho­de und selbst ohne fes­ten Stun­den­plan, je nach­dem die häus­li­chen Ge­schäf­te ihr ge­ra­de Zeit lie­ßen. Ich habe ihr das Leh­ren leicht ge­macht, ob­wohl ich kei­nen rich­ti­gen Lern­kopf hat­te und Wis­sen als Häu­fung von Tat­sa­chen mich nicht im ge­rings­ten reiz­te; die Din­ge lie­fen mir von selbst ent­ge­gen und ich ih­nen, weil ihre feu­ri­ge Fan­ta­sie schnell die mei­ni­ge ent­zün­de­te und al­les le­ben­dig mach­te. Von den Schul­auf­ga­ben der Brü­der, die sie ab­hör­te, fie­len auch nahr­haf­te Bröck­lein ab und wur­den mir zu­ge­tra­gen. Im üb­ri­gen muss­te ich mir hel­fen, wie ich konn­te; ich las un­glaub­lich viel, auch in frem­den Spra­chen, die von selbst an mir hän­gen blie­ben. Frei­lich muss­te ich spä­ter die schnel­le Ent­wick­lung bü­ßen, da ich im­mer wie­der an den Grund­mau­ern nach­zu­bes­sern hat­te. Zum Grie­chen­tum, das le­bens­lang un­ser bei­der Hei­mat blieb, lie­fer­te sie mir zu­erst den Schlüs­sel, in­dem sie mir in ganz frü­her Kind­heit die bei­den großen ho­me­ri­schen Ge­sän­ge in die Hand gab. Ihre Ge­stal­ten wur­den mir das Ver­trau­tes­te was ich hat­te; ich kann­te sie alle per­sön­lich, sie wuch­sen mit mir, und ich sah sie auch gar nicht als Vor­zei­trie­sen, au­ßer­mensch­lich und fremd­ar­tig, wie sie dem Grü­nen Hein­rich er­schie­nen, der sie als Jüng­ling zu­erst ken­nen­lern­te. Ihre Maße wa­ren viel­mehr der Maß­stab, den ich an alle mei­ne Wunsch­bil­der leg­te, und sie wur­den der An­lass, dass ich mich le­bens­lang bei den wech­seln­den Li­te­ra­tur­mo­den so jäm­mer­lich übel be­fand, ja vie­le der be­rühm­tes­ten Ta­ge­s­er­zeug­nis­se, die der Kri­tik und dem Pub­li­kum wie Ka­vi­ar auf der Zun­ge zer­gin­gen, schlech­ter­dings nicht hin­un­ter­brach­te. – Er­wach­sen ließ ich mich dann durch mei­nen Ju­gend­ka­me­ra­den Ernst Mohl in die grie­chi­sche Spra­che ein­füh­ren und ge­lang­te da­mit aus der Vor­hal­le in die Cel­la des Tem­pels.

Was die Grie­chen mir ga­ben, hat auf al­len Al­ter­s­stu­fen ein neu­es Ge­sicht ge­tra­gen und mich im­mer zu neu­em Dank ver­pflich­tet. Denn die­ses Volk hat sich ja im­mer wie­der mit neu­en Zü­gen vor der al­tern­den Welt ver­jüngt, und ihre Be­deu­tung wird nie­mals aus­zu­schöp­fen sein. Für mich ging sie über den poe­ti­schen Ge­nuss weit hin­aus ins Ethi­sche, in die ei­gent­li­che Le­bens­an­schau­ung über. Der tra­gi­sche Un­ter­grund, auf dem sie ste­hen, gab schon dem Kin­de die Ah­nung von der Un­si­cher­heit al­les mensch­li­chen Ge­schicks und dass das Leid mit­über­nom­men wer­den muss, wenn un­se­rem hö­he­ren Ich sein Wil­le ge­sche­hen soll. Die­se Er­kennt­nis, im Ge­fühl ent­sprun­gen, wenn auch noch nicht im Be­griff er­fasst, stärk­te mich für die Wi­der­wär­tig­kei­ten, de­nen ich an der Schwel­le der Ju­gend ent­ge­gen­ging.

Jene Art Un­ter­drückung, die an der glei­chen Fä­hig­keit des weib­li­chen Geis­tes zwei­felt, habe ich an mir sel­ber nicht er­fah­ren. Geis­tes­we­ge la­gen vor mir, sie gin­gen strah­lig nach vie­len Sei­ten: der Hu­ma­nis­mus war mit der Mut­ter­milch über­kom­men, spä­ter brach­ten die Brü­der die Na­tur­wis­sen­schaf­ten ins Haus, frei­lich nur in den fer­ti­gen Schlüs­sen, nicht mit dem Weg, auf dem sie er­ar­bei­tet wa­ren.

Auch das Va­te­rer­be des Hu­ma­nis­mus war zu­nächst nur in sei­nen Aus­wir­kun­gen vor­han­den, als Le­bens­stil wie als in­ne­re Stel­lung­nah­me. Im ein­zel­nen hieß es, das Erbe er­wer­ben, um es zu be­sit­zen; hie­für gab es Wink und Fin­ger­zeig, es gab un­er­müd­li­che An­re­gung von sei­ten ei­ner Mut­ter von un­er­schöpf­li­cher Geis­tig­keit, aber sprung­haf­tem, al­lem Sys­tem wi­der­stre­ben­dem Na­tu­rell. Un­ser abend­li­ches Le­sen der grie­chi­schen Ge­schich­te aus dem He­ro­dot war mehr ein Spie­len mit Bau­stei­nen als ein wirk­li­ches erns­tes Bau­en, den­noch hat es uns alle in der Welt der Grie­chen für im­mer hei­misch ge­macht. Nur Er­win, der Zweit­jüngs­te, der als Au­gen­mensch und künf­ti­ger Künst­ler mehr im Sicht­ba­ren zu Hau­se war, ent­zog sich die­sen An­re­gun­gen, hat aber das da­mals Über­se­he­ne in rei­fen Jah­ren glü­hend nach­ge­holt.

Ich wuss­te nichts von der Um­welt, in der ich leb­te, denn ich kann­te nur mein El­tern­haus. Aber die­se Um­welt wuss­te lei­der von mir und nahm an dem blo­ßen Da­sein des fremd­ar­ti­gen Kin­des, das mit den Hero­en und Göt­tern Grie­chen­lands auf­wuchs, An­stoß, denn sie sel­ber war das Rück­stän­digs­te, was es gab, wenn­schon die hoch­ge­lehr­te Uni­ver­si­täts­stadt des hoch­ge­lehr­ten Schwa­ben­lan­des. Aber die­se Ge­lehr­sam­keit glänz­te nur auf dem Ka­the­der; in den Fa­mi­li­en, die trotz der aus­ge­präg­tes­ten Män­ner­herr­schaft, viel­leicht ge­ra­de des­halb, ganz das Ge­prä­ge der Frau, näm­lich der un­wis­sen­den, tru­gen, herrsch­te die dun­kels­te Un­bil­dung. Mit mei­nem Heran­wach­sen wuchs der Ge­gen­satz. Al­les Schö­ne, wo­für ich er­glüht war: Poe­sie und Kunst, Pfle­ge und Stäh­lung des Kör­pers durch das was man heu­te Sport nennt und was nur ge­gen den Wi­der­spruch der öf­fent­li­chen Mei­nung durch­zu­set­zen war, galt für na­he­zu dia­bo­li­schen Ur­sprungs. Am meis­ten wehr­ten sich die Müt­ter und Töch­ter der klei­nen Stadt ge­gen solch ein jun­ges Men­schen­we­sen, in des­sen of­fen­bar ver­früh­tem Er­schei­nen sie das Her­auf­däm­mern ei­ner neu­en, ihr gan­zes Her­kom­men in Fra­ge stel­len­den Zeit ah­nen moch­ten. Die Tra­gik die­ser Ver­früht­heit, in die mich die Na­tur ge­ru­fen hat­te, war die wid­rigs­te von den wid­ri­gen Schick­sals­mäch­ten, die mich an der Schwel­le des Le­bens emp­fin­gen. Dass es mir ohne äu­ße­re Hil­fe ge­lang, sie we­nigs­tens teil­wei­se zu über­win­den, schrei­be ich der Gna­de des freund­li­chen Gestir­nes zu, das mich bei der Ge­burt an­ge­blickt hat­te. »Das meis­te näm­lich ver­mag die Ge­burt«, singt Höl­der­lin, »und der Licht­strahl, der dem Neu­ge­bor­nen be­geg­net.« Eine selt­sa­me Na­tu­r­an­la­ge half da­bei nach, die mich die feind­se­li­ge Au­ßen­welt in Au­gen­bli­cken, wo ich nicht un­mit­tel­bar un­ter ihr litt, mehr wie einen bö­sen Traum als wie eine le­ben­di­ge Wirk­lich­keit an­se­hen ließ oder höchs­tens wie eine wil­de In­sel, auf die mich ein Schiff­bruch ver­schla­gen hät­te.


  1. Aus: Der My­thus von Ori­ent und Ok­zi­dent  <<<

Zweites Kapitel – Mutterrecht

Die im Vor­ste­hen­den ge­schil­der­ten Zu­stän­de schu­fen nur den äu­ße­ren Ring der Schwie­rig­kei­ten, die mei­nen Weg ins Le­ben um­la­ger­ten. Es gab noch einen en­ge­ren, der aus der nächs­ten Um­welt, aus dem An­ge­hö­ri­gen­krei­se sel­ber kam. Ich habe mich spä­ter in der Welt oft­mals ge­wun­dert, wie lo­cker in den meis­ten Fa­mi­li­en der Zu­sam­men­hang ist, wie schnell das Band zwi­schen den Ge­schwis­tern ver­sagt, wenn sie ein­mal das ge­mein­sa­me Nest ver­las­sen ha­ben, und wie we­nig auch Kin­der be­deu­ten­der Men­schen von der Ju­gend und so­gar von dem mit­er­leb­ten Le­ben ih­rer El­tern wis­sen; von den Gro­ß­el­tern ganz zu schwei­gen, die im Zwie­licht zu ver­däm­mern pfle­gen. Bei uns war es an­ders. Wir bil­de­ten nicht nur eine Fa­mi­lie, son­dern eine eng­ge­schlos­se­ne Geis­tes­ge­mein­schaft, die auch in das drit­te Fol­ge­ge­schlecht nach­wir­ken soll­te. Aus die­ser na­hen Ver­bun­den­heit her­aus konn­te ich nicht nur die Ge­schich­te mei­ner El­tern, son­dern auch die der Vor­el­tern er­zäh­len, weil mir das lan­ge Ge­dächt­nis mei­ner Mut­ter und das noch län­ge­re ih­rer Jo­se­phi­ne, ge­nannt Fina, die sie in Win­deln be­treut hat­te, zur Ver­fü­gung stand. In un­se­rem Hau­se konn­te es auch kei­nen Kampf der Ge­ne­ra­tio­nen ge­ben, denn mei­ne El­tern hat­ten sel­ber schon so weit vor­ne be­gon­nen, dass die Zeit ih­nen noch lan­ge nicht nach­kam. Die­ser ge­mein­sa­me Ge­gen­satz ge­gen eine noch lan­ge nicht nach­kom­men­de Zeit war es dann auch, was uns Ge­schwis­ter so enge zu­sam­men­band, dass wir eine ei­ge­ne, ganz auf sich ge­stell­te Welt bil­de­ten, in der wir uns ge­gen­sei­tig Wohl und Wehe be­deu­te­ten und aus der wir uns die Maß­stä­be für das Le­ben hol­ten, wo aber auch die in­ne­ren Er­schüt­te­run­gen nie zur Ruhe ka­men. Es sei je­doch be­tont, was heu­te nicht mehr so selbst­ver­ständ­lich ist wie da­mals: dass den vie­len Rei­bun­gen nie­mals ein ma­te­ri­el­ler An­lass zu­grun­de lag und dass die Fra­ge von Mein und Dein, Miss­gön­nen und Sel­ber­ha­ben­wol­len im Fa­mi­li­en­kreis nie eine Rol­le ge­spielt hat.

Als der Dich­ter Her­mann Kurz aus dem ur­al­ten, schon um 1400 ge­nann­ten Reut­lin­ger Bür­ger­hau­se der Glo­cken­gie­ßer und Rats­herrn Kurz (rich­ti­ger Kurtz) die hoch­ge­mu­te, von Va­ter­sei­te aus kur­län­di­schem Adel stam­men­de Frei­in von Brun­now hei­ra­te­te, er­wuchs aus die­sem Bun­de zwei­er kris­tall­kla­rer, von den glei­chen Idea­len er­füll­ter und geis­tig eben­bür­ti­ger, aber im Na­tu­rell grund­ver­schie­de­ner Men­schen eine Nach­kom­men­schaft, in der die el­ter­li­chen Züge sich so misch­ten und ver­meng­ten, dass je­des eine ge­schlos­se­ne Ein­heit dar­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­