cover image

Isolde Kurz

Die Stunde des Unsichtbaren

Seltsame Geschichten

Isolde Kurz

Die Stunde des Unsichtbaren

Seltsame Geschichten

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-962812-18-8

null-papier.de/533

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Die vom Ber­ge Lat­mos

Fa­tum?

Der Iet­ta­to­re – Eine ver­ges­se­ne Ge­schich­te

Das Bild­nis der Un­be­kann­ten

Der alte Schrank

Fluch­gold

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

 

Ihr
Jür­gen Schul­ze

Newslet­ter abon­nie­ren

Der Newslet­ter in­for­miert Sie über:

htt­ps://null-pa­pier.de/newslet­ter

Die vom Berge Latmos

Der In­ge­nieur Fritz Wes­ter­land, nam­haft als Er­bau­er wich­ti­ger Bahn­stre­cken in Klein­asi­en, woll­te vor An­tritt ei­ner lei­ten­den Stel­lung in Chi­na sei­ne Ju­gend­stadt wie­der­se­hen, die er fast zwei Jahr­zehn­te grol­lend ge­mie­den hat­te. Um die Ver­gan­gen­heit mäch­ti­ger zu sei­ner See­le re­den zu las­sen, ver­schmäh­te er es, das Städt­chen vom Bahn­hof aus zu be­tre­ten, wo er ge­wiss war, auf stim­mungs­rau­ben­de Neue­run­gen zu sto­ßen, son­dern stieg an ei­ner frü­he­ren Hal­te­stel­le aus, um über wohl­be­kann­te Berg­pfa­de den Rest der Ent­fer­nung zu­rück­zu­le­gen und durch das alte Tor sei­nen Ein­zug zu hal­ten.

Nach mehr­stün­di­gem Stei­gen spal­te­te sich der Weg in zwei zu An­fang fast gleich­lau­fen­de Wege, die sich spä­ter in wei­tem Bo­gen von­ein­an­der trenn­ten. Der Wan­de­rer er­in­ner­te sich ge­nau der Stel­le, wo es leicht war, sich zu ver­ir­ren, und wähl­te mit Be­dacht den sei­ni­gen. Auf sein Ge­dächt­nis glaub­te er sich ver­las­sen zu dür­fen, und sein Orts­sinn war vor­züg­lich. Wenn er in der ein­ge­schla­ge­nen Rich­tung über einen wal­di­gen Ber­grücken weg einen fla­chen, mit Hei­de be­wach­se­nen Vor­sprung er­reich­te, muss­te er die Stadt im Tale mit Kirch­turm und mit­tel­al­ter­li­chen Mau­er­res­ten ge­ra­de un­ter sich se­hen. Und eben dies war die Stel­le, wo­hin es ihn am meis­ten zog, das Stück Hei­de­land mit dem an­stei­gen­den Bu­chen­wald da­hin­ter, war der Schau­platz un­ver­ge­ss­li­cher Ju­gend­stun­den.

›Un­ter der Lin­den an der Hei­de, wo ich mit mei­ner Trau­ten saß‹ – un­be­wusst sang er es vor sich hin, vom Zau­ber je­ner Tage wie­der er­fasst. – Aber eine Lin­de war es nicht, es war ein mäch­ti­ger Ul­men­baum, ein stren­ger al­ter Baum­kö­nig, sag­te er zu sich selbst, und nun sah er ihn so deut­lich vor sich mit der Aus­sichts­bank dar­un­ter, dass er ihn hät­te mit al­len sei­nen Äs­ten zeich­nen kön­nen. Auf wie viel Fes­te hat­te der Alte her­ab­ge­schaut, still­ver­schwie­ge­ne Lie­bes­fes­te und to­ben­den Über­mut, – zu­letzt auf je­nes Jo­han­nis­feu­er – hier schlug die Erin­ne­rung dem Wan­de­rer eine Kral­le ins Herz, dass er ra­scher aus­schritt wie um den ät­zen­den Ge­dan­ken zu ent­ge­hen.

Der stei­ni­ge Weg hob und senk­te sich, mehr als ein­mal äff­te ihn eine auf­leuch­ten­de Stre­cke von rot­blü­hen­dem Hei­de­kraut, aber der Ort, den er such­te, woll­te nicht kom­men. Hat­te er sich in der Ent­fer­nung ge­täuscht oder wur­de ihm das Stei­gen so viel schwe­rer als in den flü­gel­leich­ten Ta­gen der Ju­gend? Neun­zehn Jah­re la­gen zwi­schen dem Da­mals und dem Heut, neun­zehn Jah­re mit ih­ren Kämp­fen und Er­fol­gen, auch mit man­cher har­ten Schlap­pe, vor al­lem mit dem furcht­ba­ren grund­stür­zen­den Er­le­ben des Krie­ges, den­noch hat­te er sie nie als eine Last auf sei­nen Schul­tern ge­spürt. Er war fast schlan­ker und ge­stähl­ter aus dem furcht­ba­ren Rin­gen ge­kom­men, und die grau­en­vol­len Bil­der wa­ren ihm in den we­ni­gen Frie­dens­jah­ren schon zu ei­nem wir­ren, von der Erin­ne­rung ge­mie­de­nen Traum ver­blasst, über dem die Ju­gend­ge­stal­ten wie lie­be alte Stern­bil­der aufs neue em­por­stie­gen. Er be­griff nicht, wo­her ihm an die­sem Abend die blei­er­ne Mü­dig­keit kam, die all­mäh­lich das Wei­ter­stei­gen als eine hoff­nungs­lo­se Sa­che er­schei­nen ließ.

Vi­el­leicht war es die nahe Ver­wirk­li­chung des lan­ge ge­wünsch­ten und doch ver­scho­be­nen Wie­der­se­hens, die ihm läh­mend in den Glie­dern saß. Ein­mal muss­te ja der letz­te Strich un­ter das Ver­gan­ge­ne ge­macht, ein­mal muss­te das große Fra­ge­zei­chen sei­nes Le­bens aus­ge­löscht wer­den. Aber durch die­sen letz­ten Strich wur­de die Ver­gan­gen­heit selbst ge­tö­tet, mit dem noch im­mer pei­ni­gen­den Fra­ge­zei­chen ver­lösch­te zu­gleich der bes­te In­halt sei­ner Ju­gend, und das war es, was ihn bis­her von der al­ten Hei­mat zu­rück­ge­hal­ten hat­te. Erst der Ruf nach Chi­na mach­te dem Zau­dern ein Ende, jetzt muss­te die­ses Letz­te ge­sche­hen, ehe er in die ferns­te Fer­ne ging.

Thea! Thea! Thea! sag­te er im Ge­hen vor sich hin und schlürf­te be­gie­rig den Klang des Na­mens, den er seit neun­zehn Jah­ren sei­nem Ohr nicht mehr ge­gönnt hat­te. Denn seit die Trä­ge­rin sich von ihm schied, hat­te er es ver­mie­den, ihr auch nur im Mun­de der an­de­ren wie­der zu be­geg­nen. Seit­dem hat­te er wohl mehr als ei­ner Frau na­he­ge­stan­den, aber kei­ne hat­te mehr so wie jene den gan­zen Fritz Wes­ter­land be­ses­sen, son­dern nur ein Stück von ihm. Der viel­um­wor­be­ne, er­folg­rei­che Mann, der sich kei­ne Emp­find­sam­keit mer­ken ließ und das Le­ben zu meis­tern schi­en, ge­hör­te zu de­nen, die nur ein­mal lie­ben.

Auf dem alt­be­kann­ten Pfa­de wan­dernd, leg­te er sich die wun­der­li­che Fra­ge vor: Wenn man all die Stre­cken, die un­se­re Füße ge­mein­sam durch­schrit­ten ha­ben, zu­sam­men­le­gen könn­te, wel­che Mei­len­zahl das wohl er­ge­ben wür­de? Nun tauch­ten alle die Ber­ge und Tä­ler, die sie in lang­jäh­ri­ger Ju­gend­nei­gung sel­ban­der durch­streift hat­ten, vor sei­nem Geis­te wie­der auf, mit al­len ge­mein­sam ge­nos­se­nen Freu­den, be­son­ders der letz­ten und größ­ten ih­rer Freu­den, der Fuß­rei­se über den Gott­hard bis Ita­li­en hin­un­ter, die schon wie ein Vor­schmack der Hoch­zeits­rei­se war, denn wenn auch ein paar gute Ka­me­ra­den teil­nah­men, sie bei­de wa­ren doch im­mer wie un­ter vier Au­gen ge­we­sen. Wie hat­ten sie sich schwei­gend vor den Hei­lig­tü­mern der Kunst ver­stan­den, wenn den an­dern die oft ver­ständ­nis­lo­se Rede über­lief! – Dann aber, dann war das Un­be­greif­li­che, Nie­er­klär­te ge­sche­hen, Theas Ab­fall, dem kein Wink noch Zei­chen vor­an­ging, der ihn wie ein bren­nen­der Me­teor­stein zu Bo­den schlug: erst die ver­säum­te Zu­sam­men­kunft an der Bank un­ter der Ulme, die sie so oft bei­sam­men ge­se­hen hat­te, dann die un­be­ant­wor­te­ten Brie­fe, und der töd­li­che Schmerz, dass er ihre Ver­mäh­lung zu­erst durch Drit­te er­fuhr, ein ver­le­ge­ner Ab­schieds­gruß von ihr, den er nicht er­wi­der­te, und als letz­tes Ende zwi­schen bei­den: das tie­fe, le­bens­lan­ge Schwei­gen. Um die­ses zu bre­chen, be­vor es zum ewi­gen Schwei­gen wur­de, war er nun ge­kom­men, von ei­ner ver­söhn­ten in­ne­ren Mah­nung un­wi­der­steh­lich her­ge­zo­gen. Doch bei der un­ge­wohn­ten Mü­dig­keit, die alle Wan­der­lust aus sei­nen Glie­dern nahm, über­schlich es ihn mit wach­sen­der Ent­täu­schung, als sei sein Kom­men zweck­los und das Ziel, das er sich ge­setzt hat­te, die Auss­pra­che mit ihr, doch nicht mehr zu er­rei­chen.

Bei tief­ge­sun­ke­nem Abend ge­lang­te er end­lich auf eine vom Wald­ge­birg über­türm­te Hoch­flä­che, aber der Ort, den er such­te, war es nicht: kein be­bau­tes Tal öff­ne­te sich in der Tie­fe, viel­mehr ging der Blick in lau­ter be­wal­de­te Schluch­ten, worin schon Dun­kel­heit nis­te­te. Wohl aber stand in der Nähe ei­nes Stein­kreu­zes eine ver­wit­ter­te Bank, die in sol­che Ein­sam­keit nicht zu pas­sen schi­en, und die gan­ze Lich­tung war von ro­tem Hei­de­kraut freund­lich und ein­la­dend wie die Stät­te sei­ner Erin­ne­rung über­blümt. Von plötz­li­cher Schlaf­sucht be­wäl­tigt, ließ er sich auf die Bank sin­ken, und sein Kopf nick­te vorn­über. Gleich­zei­tig mein­te er aus wei­ter Fer­ne einen Glock­en­ton zu ver­neh­men. Er riss sich noch ein­mal in die Höhe und schau­te um­her: es war al­les fremd wie zu­vor, und er schloss aufs neue die Au­gen. Da traf ihn ein ro­ter Strahl des auf­ge­hen­den Mon­des durch den Lid­spalt, dass er auf­blick­te. Doch er wur­de so ver­wirrt wie ei­ner, der sich schla­fend im Bet­te um­ge­dreht hat und beim Er­wa­chen sich in sei­nem Zim­mer nicht zu­recht­fin­den kann, denn er war mit dem Berg­wald im Rücken ein­ge­nickt und hat­te jetzt den Mond im Ge­sicht, der über der Wal­dung auf­stieg, dass er sei­ne Um­ge­bung nicht mehr er­kann­te. In die­ser Be­nom­men­heit fiel ihm ein Baum am Wald­rand in die Au­gen, an dem et­was Wei­ßes wie ein Tä­fel­chen glänz­te. Auch schi­en dort ein Weg vom Berg her­un­ter auf die Lich­tung zu füh­ren. Er hoff­te also et­was wie einen Weg­wei­ser zu fin­den, er­hob sich noch halb­tau­melnd und ging auf die Stel­le zu. Im Mond­schein, der jetzt Hel­le ver­brei­te­te, las er über ei­nem Pfeil, der auf­wärts zeig­te, die Wei­sung: Zum Ber­ge Lat­mos.

Die Fremd­ar­tig­keit des Wor­tes, das kei­ne ein­hei­mi­sche Orts­be­zeich­nung sein konn­te, er­weck­te in dem Ver­irr­ten die Vor­stel­lung ei­ner na­hen Un­ter­kunft; viel­leicht war es der Name ei­ner Schutz­hüt­te oder ei­nes Ber­ga­syls. Dazu ge­sell­te sich der er­freu­li­che An­blick ei­nes ge­pfleg­ten Wald­wegs, der auf die Nähe ei­ner mensch­li­chen An­sied­lung deu­te­te. Un­ver­züg­lich schlug er die Rich­tung des Pfei­les ein, und schon nach we­ni­gen Schrit­ten wich der Wald­bo­den ei­nem schö­nen Wie­sen­grund mit Park­an­la­gen und flie­ßen­dem Was­ser, das von zwei Sei­ten über künst­li­che stei­ner­ne Trep­pen in ein edel­ge­form­tes Be­cken rann.

Wäh­rend er mit er­staun­ten Au­gen die un­er­war­te­te Fei­er­lich­keit und Groß­heit des Park­ein­gangs in sich auf­nahm, kam ihm von oben her­ab ein Mann in dunklem, kut­ten­ar­ti­gem Ge­wand, bar­häup­tig und mit Fü­ßen, die nackt in kräf­ti­gen San­da­len steck­ten, ent­ge­gen.

Fried­rich Wes­ter­land? frag­te der Be­geg­nen­de in ei­nem Tone, der die Be­ja­hung vor­aus­nahm. Du scheinst mich nicht zu ken­nen?

O ja, ge­wiss, ja­wohl, ent­geg­ne­te der An­kömm­ling mit ei­ner freu­di­gen Be­to­nung, die ihn selbst in Stau­nen ver­setz­te, weil sie über die an­ge­neh­me Emp­fin­dung, in der Berg­wild­nis ei­nem Men­schen zu be­geg­nen, hin­aus­ging, und so pein­lich ihm die falsche Lage war, in der er sich da­bei fühl­te, ver­hin­der­te ihn doch eine ihm ganz un­be­greif­li­che Be­fan­gen­heit, auf­rich­tig aus­zu­spre­chen, dass ihm zwar die Per­sön­lich­keit sehr be­kannt er­schi­en, dass er aber kei­nes­wegs wuss­te, wen er vor sich sah, und dass er nicht ein­mal ahn­te, wo­her die Be­kannt­schaft sich schrieb.

Und wie kommst du zu so spä­ter Stun­de in die­se Ein­sam­keit? frag­te der an­de­re in gü­ti­gem Ton.

Fritz Wes­ter­land er­klär­te, in­dem er die un­mit­tel­ba­re An­re­de mit dem ihm noch frem­den Du ver­mied, dass er die Bahn nach X. auf ei­ner der letz­ten Sta­tio­nen ver­las­sen habe, um über das Ge­birg die Stadt zu Fuße zu er­rei­chen, jetzt aber sehe, dass er ver­irrt sei.

Nach X. fin­dest du die­sen Abend nicht mehr, du bist gänz­lich aus der Rich­te. Es bleibt dir für heu­te nichts üb­rig, als mit ei­nem Nacht­la­ger auf ›Berg Lat­mos‹ vor­lieb­zu­neh­men.

O Sie sind – du bist sehr freund­lich, lie­ber Freund. Aber was be­deu­tet nur die selt­sa­me Be­zeich­nung ›Berg Lat­mos‹, die man zu ver­ste­hen glaubt und doch nicht ver­steht?

Je­ner lä­chel­te ei­gen.

Erin­nerst du dich nicht mehr aus der My­tho­lo­gie der Grie­chen an den ka­ri­schen Hir­ten am Ber­ge Lat­mos, zu des­sen Schlaf die Mond­göt­tin her­un­ter­stieg?

Fritz Wes­ter­land war in sei­nen Schul­jah­ren ein schwa­cher Grie­che ge­we­sen; be­son­ders die vie­len Göt­ter und Göt­tin­nen mit ih­ren zahl­lo­sen Lieb­schaf­ten konn­te er nie so recht aus­ein­an­der­hal­ten. Den­noch däm­mer­te ihm jetzt eine Erin­ne­rung auf, und er sag­te:

En­dy­mi­on!

Siehst du, dein Ge­dächt­nis ist bes­ser, als du sel­ber weißt, ant­wor­te­te der Un­be­kann­te auf den un­aus­ge­spro­che­nen Ge­dan­ken des Gas­tes. Nun, und dar­um nen­nen wir uns: Die vom Ber­ge Lat­mos.

Die­ses ›Da­rum‹ war dem Fra­ger voll­kom­men un­ver­ständ­lich, aber wenn er wei­ter­frag­te, ge­riet er in Ge­fahr, sich eine Blö­ße zu ge­ben. Also schwieg er und dach­te, wer die ›Wir‹ sein möch­ten, zu de­nen je­ner sich sel­ber rech­ne­te.

Vi­el­leicht ist es ein Ge­ne­sungs­heim im Wal­de, sag­te er sich, oder eine Er­zie­hungs­stät­te, wie man sie neu­er­dings in die Ein­sam­keit zu ver­le­gen liebt.

Je län­ger er ne­ben dem gast­li­chen Beglei­ter hin­schritt, de­sto be­kann­ter er­schi­en ihm des­sen Ge­sicht und We­sen, das ein mit Scheu ge­misch­tes Ver­trau­en ein­flö­ßte. Er sah ihn mit­un­ter for­schend von der Sei­te an, bald woll­te ihm die­ser, bald je­ner Zug ein ge­mein­sa­mes Er­leb­nis we­cken, aber er fand den Fa­den nicht, der aus die­sem Irr­gar­ten führ­te. Der an­de­re moch­te im glei­chen Le­bensal­ter ste­hen wie er selbst, doch in sei­nen Schul- und Hei­ma­terin­ne­run­gen kam die­ses Ge­sicht nicht vor. Sie muss­ten sich also auf spä­te­ren Le­bens­we­gen be­geg­net sein, aber die­se lie­fen bei Fritz Wes­ter­land so ver­schlun­gen, dass je­des Su­chen aus­sichts­los war, wenn ihm nicht eine plötz­li­che Er­kennt­nis vom Him­mel fiel.

Durch sie­ben hän­gen­de Gär­ten geht der Weg ins Haus, er­klär­te sein Füh­rer, wäh­rend sie zu­sam­men die brei­te stei­ner­ne Mit­tel­trep­pe hin­an­stie­gen, wir ha­ben sie­ben stu­fen­för­mi­ge Er­hö­hun­gen des Ber­ges da­für aus­genützt. Der ers­te ist der Gar­ten der Ver­hei­ßung, weil er zu­erst den ru­he­su­chen­den Wan­de­rer auf­nimmt und ihm ein si­che­res Ob­dach ver­spricht. Die­ser, den wir jetzt be­tre­ten ha­ben, heißt der Gar­ten des Ge­den­kens.

Eine hohe Mo­sa­ik­wand, die bo­gen­för­mig in den Berg ein­ge­wölbt und von der hö­her­füh­ren­den Trep­pe durch­bro­chen war, schloss die Platt­form nach oben ab und stütz­te zu­gleich den nächs­ten dar­über­lie­gen­den Gar­ten. Sie hat­te zur Rech­ten und Lin­ken der stei­ner­nen Trep­pe Ni­schen von mä­ßi­ger Tie­fe, worin männ­li­che und weib­li­che Stein­fi­gu­ren, bild­nis­haft und doch über das Men­sch­li­che hin­aus er­ho­ben, in idea­ler Ge­wan­dung stan­den. Da­zwi­schen si­cker­te aus Lö­wen­mäu­lern Was­ser in schön ge­schweif­te Be­cken. Schmä­le­re Trep­pen führ­ten in schö­ner Schwin­gung auf seit­li­che Gar­ten­ter­ras­sen hin­über, die zwi­schen hoch­stäm­mi­gen Wun­der­pflan­zen al­ler­hand sym­bo­li­sches Bild­werk aus grau­em Sand­stein tru­gen.

Mehr und mehr be­trof­fen von der Er­ha­ben­heit und dem Reich­tum die­ser An­la­gen, de­ren Be­sit­zer er sich als einen men­schen­freund­li­chen Na­bob vor­stel­len muss­te, konn­te der Wan­de­rer sich der Fra­ge nicht ent­hal­ten, wem denn der ›Berg Lat­mos‹ ge­hö­re.

Nimm an, dass ›Berg Lat­mos‹ eben­so dir ge­hört wie ir­gend­ei­nem an­dern, der hier Auf­nah­me sucht, war die Ant­wort. Wir, die das Haus be­woh­nen, sind nur sei­ne Hü­ter.

Der Be­su­cher schwieg be­schämt, er mein­te eine un­ge­heu­er­li­che Dumm­heit ge­sagt zu ha­ben.

Hier ge­dul­de dich ein we­nig, Fried­rich Wes­ter­land, ich muss die Brü­der auf dein Kom­men vor­be­rei­ten.

Kaum dass der Füh­rer dies ge­spro­chen hat­te, war er weg und nir­gends mehr zu se­hen. Der Gast be­trach­te­te auf­merk­sam die Stand­bil­der in den Ni­schen; sie er­in­ner­ten ihn, aber nur von fer­ne, an die Len­ker und Len­ke­rin­nen sei­ner Ju­gend, de­nen er, wie so man­chen Spä­te­ren, den Dank für ihre Wohl­ta­ten schul­dig ge­blie­ben war. Da der Bru­der noch im­mer nicht zu­rück­kam, setz­te er sich auf den Rand ei­nes Be­ckens, das der Vor­der­sei­te ei­nes mit Blu­men über­schüt­te­ten of­fe­nen Säu­len­baus vor­ge­la­gert war, die fla­che, vor­sprin­gen­de Stu­fe mit sei­nem dunklen Was­ser be­spü­lend. Ein sil­ber­ner Strahl stieg dar­in auf, der sich in drei Strah­len teil­te und beim Zu­rück­fal­len eine durch­sich­tig-wei­ße Geis­ter­li­lie bil­de­te, vom Mond­licht glei­ßend be­schie­nen. Als der Spring­quell für einen Au­gen­blick ver­sieg­te und die Flä­che sich glät­te­te, war es dem Be­schau­er, als tauch­te aus grün­gol­de­ner Däm­me­rung ein von trie­fen­dem Haar über­flos­se­nes Frau­en­haupt em­por und ein Ober­kör­per, der sich ihm ent­ge­gen­reck­te, aber kraft­los zu­rücksank. Dann stieg die Li­lie wie­der auf, und das wal­len­de Was­ser ver­lösch­te das Bild. Es war nicht das Haupt, das er so lan­ge ge­liebt hat­te und um des­sent­wil­len er aus­ge­zo­gen war. Un­säg­li­che Weh­mut über­wäl­tig­te ihn, und Trä­nen stürz­ten aus sei­nen Au­gen, sie gal­ten sei­ner Ohn­macht, ein neu­es Glück, das ihn such­te, zu fas­sen und fest­zu­hal­ten. Ein Vo­gel warf sei­nen kur­z­en Abend­ge­sang wie eine Auf­for­de­rung in die tie­fe Stil­le. Fritz Wes­ter­land stand auf und blick­te sich nach dem Sän­ger um, der un­ter dem Säu­len­dach zu nis­ten schi­en. Da­bei ent­deck­te er im In­nern des Tem­pel­chens ein schön durch­bro­che­nes Mar­mor­ge­län­der, das ihm ent­ge­genglänz­te. Er fand eine Trep­pe im Bo­den, stieg meh­re­re Stu­fen hin­un­ter, wo­bei er in einen dunklen Gang ge­riet, der sich nach ab­wärts senk­te, an ei­ner Ecke scharf um­bog und in noch tiefe­rer Fins­ter­nis wei­ter­führ­te, bis an ei­ner zwei­ten Ecke ein Strom von Licht her­ein­fiel und vor dem Er­staun­ten sich der Gar­ten des Pa­ra­die­ses auf­tat: ein Wie­sen­grund mit tau­send Blu­men be­stickt, der auf eine zau­be­ri­sche Früh­lings­land­schaft nie­der­sah, weiß­stäm­mi­ge Bir­ken im ers­ten zar­ten Len­zes­schmuck hü­gel­an stei­gend wie jun­ge Bräu­te, die zur Kir­che ge­hen, und schön ge­ord­ne­te Bee­te von leuch­ten­der Blu­men­fül­le un­ter ei­nem Him­mel der Ver­klä­rung. Un­mög­lich, bei die­sem An­blick nicht an Ju­gend und Lie­be zu den­ken.

Ein Tö­nen weh­te ihn an, worin Ju­bel und Weh zu­sam­men­klan­gen: Liebs­ter!

Thea! Thea! Wo bist du? – rief er au­ßer sich. – Hier bin ich, hier, ant­wor­te­te es wie aus ei­ner Äols­har­fe. Er sah zwei Au­gen vor sich, und lang­sam bil­de­ten sich sei­ner er­schaf­fen­den Sehn­sucht aus der durch­hell­ten Luft Züge und Ge­stalt der Ein­zi­gen.

Du! Du! End­lich! hauch­te er mit ver­sa­gen­dem Atem, ohne sich zu rüh­ren.

End­lich! End­lich! kam es eben­so zu­rück.

Kein Wort wei­ter, kein Kuss, kei­ne Umar­mung, nur die Au­gen, die in­ein­an­der fest­hin­gen, durs­tig, un­er­sätt­lich, wie um neun­zehn Jah­re der Ent­beh­rung nach­zu­ho­len, ein end­lo­ses Ge­gen­über. Sie re­de­ten nicht mit Lau­ten der Spra­che zu­ein­an­der, aber sie ver­stan­den ei­nes das an­de­re.

Thea! Thea! Thea! – Fried­rich! Mein, mein Fried­rich!

Thea hat­te nie die un­ter den Freun­den bräuch­li­che Ab­kür­zungs­form sei­nes Na­mens ge­liebt, weil ihr je­der Buch­sta­be kost­bar war, denn in je­dem web­te es wie ein Teil von ihm. Fritz Wes­ter­land, den alle such­ten, ge­hör­te der Welt, ihr Fried­rich ge­hör­te nur sei­ner Thea.

Wie jung du ge­blie­ben bist, Thea, und wie schön!

Auch du bist jung, Fried­rich, weißt du es nicht? Dies ist ja der Gar­ten der Ju­gend.

Und doch sehe ich et­was Neu­es in dei­nen Zü­gen, Thea. Es steht dir schön, aber ich kann­te es frü­her nicht.

Der Schmerz, Fried­rich.

Lei­dest du Schmer­zen, Thea?

Du kannst fra­gen, Fried­rich? Ver­lo­re­ne Lie­be, ver­lo­re­nes Le­ben.

Ach warum, Thea, warum muss­te das ge­sche­hen? Lieb­test du den an­de­ren?

Nie­mals.

Und doch, Thea?

Du kennst das Mit­leid nicht, das die tiefs­te Schwä­che des Frau­en­her­zens ist?

Mit­leid habe ich für die Hilflo­sen, für die stam­meln­de Kind­heit und das ge­brech­li­che Al­ter; sonst ken­ne ich nur die Ehr­furcht vor der Kraft.

Aber das Un­glück, Fried­rich?

Von dem Un­glück hal­te ich mich fer­ne, gleich­falls aus Ehr­furcht.

Das Herz der Frau emp­fin­det an­ders, Fried­rich. Wenn ein Ero­be­rer ihr Kro­nen bringt und sie sieht den Bet­tel­mann am Wege ste­hen, – Fried­rich, er kann sie mit ei­nem Bli­cke zwin­gen, in sei­ne Köt­ze zu sprin­gen wie im Mär­chen, das wir zu­sam­men la­sen.

Thea! Thea! Ich kann dich so nicht re­den hö­ren. Lass mich lie­ber dich an­schaun und das Ge­sche­he­ne ver­ges­sen.

Ver­giss es, Ge­lieb­ter.

Nur das eine musst du mir noch sa­gen, wann es ge­sche­hen ist, Thea, das Un­be­greif­li­che. Ich ahn­te ja nichts von al­lem.

Weißt du nicht mehr un­se­re letz­te Jo­han­nis­nacht?

Als ob ich die ver­ges­sen könn­te!

Wir tanz­ten um den flam­men­den Holz­stoß, die Mäd­chen mit lan­gen far­bi­gen Schlei­ern. Du warst ein wil­der Tän­zer an je­nem Abend. Stier­hör­ner trugst du auf dem Kopf und schwar­zes Sei­den­ge­we­be eng auf dem Leib, über das du einen ro­ten Man­tel ge­schla­gen hat­test. Ein jun­ger Sieg­fried warst du. Alle Mäd­chen blick­ten dir nach, wenn du dich durch die Rei­hen schlangst.

Und ich sel­ber sah nur die Eine.

Die Glut war noch kaum ge­sun­ken, da tra­test du zu mir und botst mir die Hand, um als die ers­ten durch die Flam­me zu sprin­gen. Mein blau­er Schlei­er und dein ro­ter Man­tel feg­ten zu­sam­men über das Feu­er, dass uns ein lan­ger Schre­ckens­schrei der Zuschau­er be­glei­te­te, aber mit ei­nem Sieg­friedss­prung brach­test du mich heil hin­über, und kein Fä­ser­chen mei­nes Ge­wan­des war ver­sengt. Ich hat­te nicht dar­an ge­zwei­felt.

Weil du und ich wie die zwei Flü­gel ei­nes Vo­gels wa­ren.

Nein, die Ge­schick­lich­keit war nur dei­ne. Ein Rausch des Le­bens hat­te dich er­fasst, du sprangst wie­der und wie­der, und im­mer trugst du einen der far­bi­gen Schlei­er mit dir. Alle wa­ren sie be­reit, dir zu fol­gen, kei­ne zö­ger­te auch nur se­kun­den­lang. Kaum dass die an­de­ren jun­gen Män­ner sich gleich­falls zu dem Sprung ent­schlos­sen, da tra­test du schon mit zwei Beglei­te­rin­nen vor, an je­der Hand eine, und trotz dem War­nungs­ruf der Al­ten sprangst du mit bei­den heil durch die Flam­men.

War es das, was dich ver­letz­te, dass ich auch mit den an­dern sprang?

Nein, o nein, ich sah dir mit Stolz und Freu­de zu. Aber da war et­was, das mir zu­raun­te, dass du mei­ner nicht be­dür­fest, dass du der jun­ge Sieg­fried seist, der Son­nen­sohn, dem al­les zu­fällt und für den es nichts Ver­sag­tes gibt. Und im Dun­kel der ho­hen Ulme, Fried­rich, stand ein an­de­rer, ei­ner, der mein be­durf­te, der we­nigs­tens glaub­te, mei­ner zu be­dür­fen, und der mir die­sen Glau­ben bei­brach­te.

Der dia­bo­li­sche Gei­gen­mann?

Du magst ihn so nen­nen. Du konn­test sei­ne Mu­sik nicht lie­ben, du, der du nur Son­ne und Klar­heit liebst. Mir sprach sie von der Nacht­sei­te des Le­bens, wo der an­de­re Teil mei­nes We­sens wur­zelt, von all den Din­gen, von de­nen ich zu dir nicht spre­chen durf­te. Und von ei­nem großen Lei­de, das auf ihm lag. Er geig­te mir das Herz ent­zwei, er geig­te sich in alle mei­ne Träu­me. Seit Mon­den war es so, du sahst es nicht in dei­ner Si­cher­heit. Je­ner Abend soll­te mich von dem Bann er­lö­sen, ich such­te Schutz in dei­ner Nähe, aber ge­ra­de je­ner Abend riss uns von­ein­an­der.

Sen­ta und der Hol­län­der! sag­te Fried­rich bit­ter.

Er war ein großer Künst­ler, Fried­rich, aber ein kran­ker Mensch.

Als einen großen Ko­mö­di­an­ten kann­ten ihn alle.

Er war kein Ko­mö­di­ant, nur ein Op­fer sei­nes Wahns. Aus den Tö­nen, die er form­te, floss es in sei­ne Ein­bil­dung hin­über und füll­te sie mit dä­mo­ni­schen Schre­cken oder mit wil­der bac­chan­ti­scher Lus­tig­keit. Und in mir war et­was, das die­ses Ra­sen von Pol zu Pol ver­stand. So glaub­te ich, sei­ner großen Kunst das Op­fer mei­nes Glückes brin­gen zu müs­sen.

Und an je­nem Abend?

Du konn­test dich vom Zau­ber des Feu­ers nicht tren­nen, ich war zu Hau­se er­war­tet, so brach­te er mich al­lein durch den Wald. Und er sprach mir von dir, mein Fried­rich.

Der Elen­de, er hat mich bei dir ver­leum­det.

Nie, o nim­mer­mehr. Kei­ner hat je­mals schö­ner von dir ge­spro­chen. Du seist der Glück­lich­ge­bo­re­ne, sag­te er, der den Rhyth­mus des Siegs schon in den Glie­dern tra­ge, der Mann der Tat, der Rei­che in sich selbst, der kei­nes an­dern be­dür­fe. Es wa­ren mei­ne ei­ge­nen Ge­dan­ken, die er mir zu hö­ren gab. Hat­te er sie mir, hat­te ich sie ihm un­wis­send ein­ge­ge­ben? Dann sprach er vom Rech­te des Un­glücks und dass die große Kunst sich vom großen Schmerz näh­re. Und er nann­te mich das Schäf­chen des ar­men Man­nes. Da ward sei­ne dunkle Ge­walt mäch­ti­ger über mir. An je­nem Abend, Fried­rich, ha­ben wir uns für im­mer ver­lo­ren.

Aber warum kein Wort, kein Ab­schied, warum die ver­säum­te Zu­sam­men­kunft?

Weil mein Herz ge­spal­ten war, weil ich dir nicht mehr ins Auge se­hen konn­te.

Und dann? Wie ward es dann?

Dann ward es wie es wer­den muss­te: ich war an einen Geis­tes­kran­ken ge­fes­selt, des­sen Ir­re­sein ich vor der Welt ver­ber­gen muss­te und der mich selbst an die Gren­ze des Irr­sinns trieb.

Arme, un­glück­li­che Thea!

Ich war es durch zehn lan­ge Jah­re, ehe ich Wit­we ward.

Und jetzt, Thea, jetzt?

Jetzt ste­he ich am Ziel und bin glück­li­cher, als ich je­mals noch zu hof­fen wag­te, denn ich habe dich und mei­ne Ju­gend wie­der­ge­se­hen.

Aufs neue blick­ten sie sich lan­ge und schwei­gend in die Au­gen. Die blas­se Ge­stalt wur­de im­mer bläs­ser. Am Ende frag­te sie:

Du trägst kei­nen Ring, Ge­lieb­ter?

Ich konn­te mich nie mehr zu ei­nem dau­ern­den Bund ent­schlie­ßen.

Tu es, Fried­rich. Dein Herz ist nicht ge­schaf­fen, um al­lein zu sein.

Der große Ver­lust hat mich für im­mer zum Ein­sa­men ge­macht.

Es gibt Bes­se­re als mich, Fried­rich, und Wei­se­re. Ich weiß, dass du ge­liebt bist, und du wirst noch glück­lich wer­den.

Er schüt­tel­te lei­se das Haupt.

Was ist die­ser Berg Lat­mos, wo wir uns ge­fun­den ha­ben, für ein Ort? Ist es ein Schloss? Ist es das dei­ne? frag­te er.

Ich kam hier­her als Ver­irr­te und wur­de auf­ge­nom­men wie du.

Ist denn der Berg Lat­mos ein Asyl?

Für sol­che, die vom Lei­den Er­lö­sung su­chen.

Also eine Heil­stät­te?

Er ist auch die­ses.

Und die sie­ben Gär­ten, von de­nen mein Füh­rer sprach?

Durch den Gar­ten der Ver­hei­ßung tra­test du ein und den Gar­ten des Ge­den­kens hast du durch­wan­dert. Jetzt stehst du in dem der Ju­gend, der der schöns­te ist von al­len, du hast dich noch kein ein­zi­ges Mal nach sei­nem Ro­sen­wald und Schwa­nen­wei­her um­ge­schaut.

Weil du mir al­les bist, Ju­gend und Ro­sen­wald und Schwa­nen­wei­her.

Jetzt aber, Fried­rich, wird der Bru­der kom­men, der mich in den nächs­ten, in den des Schwei­gens, führt.

Wer ist der Bru­der, sag’ es mir, Ge­lieb­te. Sein An­ge­sicht scheint mir be­kannt, und doch weiß ich mich nicht auf ihn zu be­sin­nen.

So er­scheint er al­len, die er zu füh­ren kommt.

Ist er Arzt? – Leh­rer? – Pries­ter?

Eine Ve­rei­ni­gung von al­len drei­en.

Wie hei­ßen die Gär­ten, die auf den des Schwei­gens fol­gen?

Des Er­wa­chens und des Er­ken­nens. Der letz­te, sie­ben­te, wird nicht ge­nannt.

Wird der Bru­der uns durch alle füh­ren?

Das zu fra­gen ist uns nicht ge­stat­tet.

Noch nie hat mir ein Mensch so tie­fes Ver­trau­en ein­ge­flö­ßt wie die­ser Bru­der.

Du darfst dich ihm ganz er­schlie­ßen. Aber nie­mals wirst du ihm et­was von dir sa­gen kön­nen, was er nicht schon wüss­te.

Die wei­ße Ge­stalt war jetzt so blass, dass ihre Um­ris­se kaum noch er­kenn­bar blie­ben, und ihre Stim­me klang wie eine hin­ster­ben­de Flö­te. Als der Bru­der zu ih­nen trat, sank sie ohn­mäch­tig in sei­ne Arme.

Sie will jetzt ein­schla­fen, las­sen wir sie al­lein, sag­te die­ser.

Wird sie denn wie­der auf­wa­chen? frag­te der Be­su­cher angst­voll.

Sie wird, das ist ganz ge­wiss.

Fried­rich woll­te ihm hel­fen, die Hin­ge­sun­ke­ne zu tra­gen, die der Bru­der leicht wie eine Fe­der auf­hob, aber die­ser wehr­te ab:

Berüh­re sie nicht, du wür­dest sie er­we­cken. Sie braucht jetzt nichts an­de­res mehr als Ruhe.

Du hast uns bei­den die tiefs­te Wohl­tat er­wie­sen, Bru­der. Wie kann ich dir dan­ken?

Dan­ke mir nicht, denn zum Hel­fen sind wir da.

Der Bru­der be­schleu­nig­te sei­nen Gang mit der ohn­mäch­ti­gen Frau auf den Ar­men, aber Fried­rich Wes­ter­land folg­te ihm auf den Fer­sen eine neue Trep­pe hin­an, bis sich eine bron­ze­ne Tür im Ge­stein öff­ne­te, um den Bru­der ein­zu­las­sen.

Blei­be hier und ruhe auch du, sag­te der Hel­fer, die Schwel­le mit sei­ner Last be­tre­tend.

Fried­rich hasch­te nach sei­nem ent­schwe­ben­den Rock­flü­gel.

Ist denn Hoff­nung für sie, Dok­tor? frag­te er.

Der an­de­re wand­te sich noch ein­mal um:

Un­se­re Hoff­nung steht bei der bes­ten Hoff­nung, lä­chel­te er ge­heim­nis­voll.

Fried­rich Wes­ter­land stand al­lein vor ei­ner stei­ner­nen Mau­er, über die Sinn­grün und Myr­ten nie­der­hin­gen. Von ei­ner Tür war nichts mehr zu se­hen. Und auch der Gar­ten war kein Gar­ten mehr, son­dern ein hoch­ge­wölb­ter Kup­pel­saal mit leuch­ten­dem De­cken­ge­mäl­de, das den tief­blau­en Nacht­him­mel mit den in Gold ge­mal­ten Ge­stal­ten des Tier­krei­ses dar­stell­te.

Wo habe ich sol­che De­cken­bil­der schon ge­se­hen? grü­bel­te er und konn­te die Ant­wort nicht fin­den. Aber plötz­lich sah er sich als Jüng­ling mit Thea und den an­dern Rei­se­ka­me­ra­den im Schlos­se von Man­tua, das er seit­dem nicht wie­der be­sucht hat­te, und hör­te Thea sa­gen: Eine sol­che De­cke muss auch ein­mal über un­se­rem Schlaf­zim­mer sein – und ver­nahm sei­ne ei­ge­ne Stim­me, die zur Ant­wort gab: Du sollst es nicht schlech­ter ha­ben, als Isa­bel­la von Este.

Ein kö­nig­li­ches Bett mit schwe­ren, weit zu­rück­ge­schla­ge­nen Fal­ten stand nach herr­schaft­li­chem Brauch, nur mit dem Kop­fen­de die Wand be­rüh­rend, frei im Raum, sonst war kein an­de­res Gerät­stück vor­han­den. Ehe er in den köst­li­chen sei­de­nen Kis­sen ver­sank, öff­ne­te er noch ein­mal weit die Au­gen, denn oben fiel der Schein des Mon­des auf ein wun­der­vol­les Ge­mäl­de, das er taghell er­leuch­te­te. Es war die Mond­göt­tin, in wei­ße, durch­sich­ti­ge Schlei­er gehüllt, wie sie mit der gol­de­nen Si­chel auf der Stirn, die eine Hand aus­ge­streckt, mit der an­de­ren die Fa­ckel hal­tend, aus dunk­ler Bläue zu dem schla­fen­den Hir­ten nie­der­schweb­te. Das gan­ze Ge­mäl­de war leicht wie eine Zeich­nung auf die Wand ge­haucht, die spinn­web­dün­nen Schlei­er der Se­le­ne, von zar­ten Gold­fä­den ein­ge­säumt, lie­ßen eine gött­lich er­ha­be­ne, über­sinn­lich keu­sche Nackt­heit durch­schei­nen, vom Bo­den reck­ten sich ge­heim­nis­vol­le tro­pi­sche Blu­men von traum­haf­ter, aber durch­sich­tig zar­ter Far­benglut steil em­por, um mit weit ge­öff­ne­ten Kel­chen das Mond­licht zu trin­ken, der schö­ne Schlä­fer aber lag halb­aus­ge­streckt, mit ei­nem Arm un­ter dem Kopf, auf ro­ter De­cke, und sein Hund mit gelb­li­chem Zot­tel­haar bell­te auf­ge­regt der Licht­ge­stalt ent­ge­gen. Wie von ei­nem jä­hen Blitz in­ner­lich er­hellt, ver­stand Fried­rich Wes­ter­land mit ei­nem­mal die Be­deu­tung der Sage, und sei­ne Lip­pen mur­mel­ten: Im Traum ent­hüllt sich das Ver­bor­ge­ne –, noch ehe er die In­schrift un­ter dem Bild ge­le­sen hat­te: Som­nio pa­tent oc­cul­ta. Dann ver­sank er in die Kis­sen, wäh­rend ihm die Züge Theas mit de­nen der Mond­göt­tin ver­schmol­zen.

Er er­wach­te an ei­nem Licht­schein, der durch sei­nen Lid­spalt fiel. Wie ist das mög­lich? dach­te er, der Mond steigt über dem Wald em­por, ge­nau so wie im Au­gen­blick, wo ich mich er­hob, um den Berg Lat­mos zu be­tre­ten. Ich habe also eine Nacht und einen vol­len Tag durch­ge­schla­fen.

Die tie­fe Er­qui­ckung, die er emp­fand, mach­te die­se An­nah­me sehr wahr­schein­lich. Aber da er sich nun im Bett auf­stütz­te, griff er statt ei­nes wei­chen Pfühls an har­tes Holz. Als er sich vollen­de auf­rich­te­te, fand er sich auf ei­ner zer­morsch­ten Holz­bank in der Nähe ei­nes stei­ner­nen Kreu­zes sit­zend, und hin­ter ihm stand der ent­laub­te und halb­ver­kohl­te Stamm ei­ner vom Blitz ge­spal­te­nen Ulme. Un­ten im Tale aber schwan­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­