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Isolde Kurz

Florentiner Novellen

Isolde Kurz

Florentiner Novellen

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-962812-21-8

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Inhaltsverzeichnis

Die Hu­ma­nis­ten

Die Ver­mäh­lung der To­ten

Der hei­li­ge Se­bas­ti­an

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Die Humanisten

Ganz Flo­renz war in Be­we­gung, als an ei­nem la­chen­den April­tag des Jah­res 1482 Graf Eber­hard von Würt­tem­berg, ge­nannt der Bär­ti­ge, mit ei­ner statt­li­chen Zahl von Rä­ten, Ed­len und Knech­ten sei­nen Ein­zug hielt.

Zwar war es den Flo­ren­ti­nern nicht un­ge­wohnt, frem­de Gäs­te in ih­ren Mau­ern zu be­her­ber­gen, wur­de ja der glän­zen­de Hof­halt des Me­di­ce­ers fast nie von Be­su­chern leer, und die­ser Rei­ter­zug er­reg­te die Auf­merk­sam­keit des schau­lus­ti­gen Völk­chens nur des­halb so stark, weil man wuss­te, dass er weit von jen­seits der Al­pen aus ei­nem kal­ten, fins­tern Bar­ba­ren­land kom­me, des­sen Lage und Be­schaf­fen­heit sich tief im Ne­bel der geo­gra­fi­schen Be­grif­fe ver­lor. Die Men­ge stand vie­le Rei­hen tief in den ge­schmück­ten Stra­ßen, durch wel­che die Rei­ter kom­men muss­ten, denn es war den­sel­ben ein mäch­ti­ger Ruf vor­an­ge­gan­gen, dass sie Zy­klo­pen von un­ge­heu­er­li­chem An­se­hen sei­en, mit lan­gen, feu­er­ro­ten Haa­ren und lo­dern­den Au­gen, de­ren Blick man nicht er­tra­gen kön­ne. Von dem Füh­rer aber ging die Rede, er habe einen Bart, der zu bei­den Sei­ten über den Bug des Pfer­des nie­der­wal­le und das Tier wie mit ei­nem Man­tel ver­hül­le.

Jetzt er­schi­en der Zug in ei­ner en­gen, von ho­hen Pa­läs­ten ge­bil­de­ten Gas­se, die sich in hal­ber Län­ge zu ei­ner drei­e­cki­gen Pi­az­zet­ta er­wei­ter­te.

Vor­über zo­gen die wal­len­den städ­ti­schen Gon­fa­lo­nen, die Blä­ser mit ih­ren lan­gen sil­ber­nen Trom­pe­ten, wor­an un­ter weißem Fe­der­bü­schel das Wap­pen der Re­pu­blik schwank­te, und die lus­ti­gen Pfei­fer mit der ro­ten Li­lie auf der Brust – doch als nun an der Spit­ze der Rei­ter die klei­ne, ha­ge­re Ge­stalt des Gra­fen Eber­hard in Sicht kam, des­sen Bart­wuchs zwar von statt­li­cher, doch nicht von un­er­hör­ter Län­ge war, da mal­te sich Ent­täu­schung auf den meis­ten Ge­sich­tern.

»Das ist der An­füh­rer der Bar­ba­ren – er ist ja klei­ner als der Ma­g­ni­fi­co! – Und wie ein­fach er sich trägt!« hieß es im Vol­ke, denn der er­lauch­te Lo­ren­zo war mit den Her­ren vom Ma­gis­trat und vie­len Ed­len, alle reich in da­mas­zier­ten Samt ge­klei­det und mit den In­si­gni­en ih­rer Wür­de ge­schmückt, dem fürst­li­chen Gas­te vor das Stadt­tor ent­ge­gen­ge­rit­ten und führ­te ihn jetzt auf ei­nem großen Um­weg nach sei­ner Woh­nung.

Nun dräng­ten sich die wei­ter hin­ten Ste­hen­den auch vor. – »Und nach Rom zie­hen sie? Zum Hei­li­gen Va­ter? Sind sie denn Chris­ten?« mur­mel­te es durch­ein­an­der. – »Nein, die hät­te ich mir viel merk­wür­di­ger vor­ge­stellt.«

Das glei­che moch­te das schö­ne Mäd­chen auf der ro­se­num­rank­ten, mit Tep­pi­chen be­häng­ten Log­gia den­ken, das zwi­schen zwei äl­te­ren Her­ren stand und den Zug auf­merk­sam mus­ter­te. Sie hat­te dazu den all­er­güns­tigs­ten Stand­punkt, da die lang­ge­streck­te Säu­len­hal­le mit der schma­len Sei­te nach der Stra­ße ging und mit der Längs­sei­te die Pi­az­zet­ta, auf wel­cher sich der Zug zu stau­en be­gann, ein­fass­te.

»Nun siehst du, Kind«, sag­te der be­tag­te­re von den bei­den Her­ren, ein bart­lo­ser Mann mit re­gel­mä­ßi­gen Zü­gen und dich­ten, noch schwar­zen Au­gen­brau­en, dem die Ka­pu­ze, wel­che zu sei­nem ro­ten Luc­co ge­hör­te, vom Kopf ge­glit­ten war, dass das wal­len­de Sil­ber­haar frei floss – »siehst du, dass es Men­schen sind wie wir, ohne Hör­ner und Klau­en.«

»Puh, was sie für Bär­te ha­ben«, sag­te das schö­ne Kind na­se­rümp­fend.

»Un­se­ren Schön­heits­be­grif­fen ent­spricht das al­ler­dings nicht«, ant­wor­te­te der Va­ter mit ge­las­se­ner Wür­de. Er sprach lang­sam und be­weg­te sich so schön, dass sein Luc­co bei je­der Wen­dung des Kör­pers ma­le­ri­sche Fal­ten warf. – »Aber es sind sehr bra­ve Leu­te. Be­trach­te dir den jun­gen Mann da vorn im schwar­zen Ha­bit – das scheint mein Freund, der ge­lehr­te Kap­ni­on zu sein, mit dem ich schon seit Jah­ren im Brief­wech­sel ste­he, wenn ihn auch die Au­gen mei­nes Lei­bes noch nie zu­vor er­blickt ha­ben. Eine Leuch­te der Wis­sen­schaft und wür­de es wahr­lich ver­die­nen, die Son­ne Vir­gils sei­ne Amme zu nen­nen.«

»Er wird Euch wohl die Hand­schrift brin­gen, nach der Ihr so lan­ge su­chen ließt, Va­ter?«

»Wenn der kost­ba­re Ko­dex noch vor­han­den ist, so möch­te er leicht­hin einen an­dern Lieb­ha­ber ge­fun­den ha­ben«, misch­te sich der drit­te, ein ha­ge­rer Mann mit schma­lem, ver­gilb­tem Ge­sich­te, ein, der den ent­haar­ten Schä­del durch ein flach­an­lie­gen­des schwarz­sei­de­nes Mütz­chen ge­schützt hielt.

»Ich dürf­te ihn dar­um nicht ein­mal schel­ten, Mar­can­to­nio«, ent­geg­ne­te der schö­ne Greis mit Sanft­mut. »Ist es doch ein Wett­kampf, in dem alle Waf­fen gel­ten.«

»Die ar­men Leu­te!« rief das Mäd­chen in ju­gend­li­chem Mit­ge­fühl, »es mag ih­nen wohl­tun, sich an un­se­rer freund­li­chen Son­ne zu wär­men. Da­rum zo­gen sie auch im­mer so ger­ne von ih­ren schnee­be­deck­ten Al­pen zu uns her­un­ter. Es muss kalt sein, sehr kalt in die­sem Ger­ma­ni­en.«

»Ja, es ist ein kal­tes, un­wirt­li­ches Land«, ant­wor­te­te der Alte. »Und wenn ich den­ke, wie vie­le un­se­rer glor­rei­chen Vä­ter noch dort ge­fan­gen lie­gen und in ih­ren dun­keln Bur­gen und feuch­ten Klös­tern der Be­frei­ung ent­ge­gen­schmach­ten!« setz­te er mit ei­nem Seuf­zer hin­zu.

Zum Ver­ständ­nis un­se­rer Le­ser sei es ge­sagt, dass der alte Herr mit die­sen Vä­tern die rö­mi­schen Au­to­ren mein­te, wel­che die Nacht des Mit­tel­al­ters hin­durch in sau­be­ren Ab­schrif­ten von den deut­schen Mön­chen er­hal­ten und ge­hü­tet wor­den wa­ren und jetzt, seit dem Wie­der­auf­blü­hen der klas­si­schen Stu­di­en, scha­ren­wei­se in ihr Ge­burts­land zu­rück­wan­der­ten.

Aber wäh­rend der Va­ter sich nach der Stra­ße hin­ab­beug­te und mit sehn­süch­ti­gen Au­gen dem ge­lehr­ten Kap­ni­on, vul­go Jo­hann Reuch­lin, folg­te, hing der Blick des Töch­ter­leins an ei­nem ju­gend­li­chen Rei­ter, der hin­ter dem Zuge zu­rück­ge­blie­ben war, um sein un­ge­stü­mes Pferd zu bän­di­gen, das sich stell­te und auf dem Pflas­ter der Pi­az­zet­ta Fun­ken schlug. Er re­gier­te das hef­ti­ge Tier nur mit der Lin­ken, wäh­rend er mit der frei­en rech­ten Hand einen star­ken Lor­beerzweig, den er un­ter­wegs ge­pflückt hat­te, über das Ge­sicht hielt, um sich vor der un­ge­wohn­ten Son­ne zu schüt­zen, die blit­zend auf sei­nem blan­ken Stahl­ge­hen­ke und den Me­tall­plat­ten sei­nes le­der­nen Kol­lers spiel­te.

Als sein Auge das an eine Säu­le ge­lehn­te, mit Ro­sen­ran­ken spie­len­de Mäd­chen traf, senk­te er lang­sam wie zum Gru­ße den Lor­beerzweig und ließ ein ge­bräun­tes, an­ge­neh­mes Ge­sicht, von blon­dem Kraus­haar um­rahmt, se­hen. Da über­kam das Mäd­chen der Mut­wil­le, dass sie ein Ro­sen­zweig­lein brach und dem hüb­schen Bar­ba­ren zu­warf. Die­ser er­hob sich in den Bü­geln, ließ den Lor­beer fal­len und hasch­te ge­schickt das Rös­lein, wor­auf er sich dan­kend ver­neig­te. Noch ein ra­scher Blick aus den blau­en, leuch­ten­den Au­gen, und gleich dar­auf war der Rei­ter fast un­ter der Mäh­ne des Rap­pen ver­schwun­den, der un­ter sei­nem Schen­kel­druck hoch auf­stieg und ihn dann mit we­ni­gen Sät­zen dem Zuge nachtrug.

»Gar nicht übel für einen Bar­ba­ren«, lä­chel­te der alte Herr, der sich eben um­ge­wandt hat­te, wohl­wol­lend, »was meinst du, Kind?«

Das Mäd­chen schwieg, sie hät­te um al­les in der Welt nicht ge­ste­hen mö­gen, wie sehr ihr der Rei­ter ge­fal­len hat­te, aber wäh­rend sie alle drei von der Log­gia zu­rück­tra­ten, leg­te sie sich im stil­len die Ge­wis­sens­fra­ge vor, ob es wohl mög­lich sei, einen Bar­ba­ren zu lie­ben.

Das Volk hat­te sich schon ver­lau­fen, denn al­les dräng­te ju­belnd und lär­mend dem Zug zum Palas­te des Me­di­ci nach, in des­sen küh­lem Ho­fraum zwi­schen an­ti­ken Mar­mor­sta­tu­en, plät­schern­den Brun­nen und le­ben­di­gem Grün der Im­biss für die frem­den Gäs­te be­rei­tet war.

Doch als nach ei­ner Vier­tel­stun­de das Mäd­chen noch ein­mal flüch­tig auf der Log­gia er­schi­en, wie um auf dem Pflas­ter, das schon wie­der sei­ne All­tags­mie­ne trug, nach den Spu­ren des jun­gen Rei­ters zu su­chen, da sah sie an der Stra­ßen­e­cke den un­ge­stü­men Rap­pen des We­ges zu­rück­kom­men, von ei­nem Reit­knecht am Zü­gel ge­führt, und ge­wahr­te nicht ohne ge­hei­mes Wohl­ge­fal­len, dass ein Die­ner des Me­di­ci den frem­den Knecht nach der Her­ber­ge zu den »Drei Moh­ren« wies, die auf der Pi­az­zet­ta ih­rer Log­gia schräg ge­gen­über lag.

Der Wirt trat her­aus, half das Tier zum Stal­le brin­gen und führ­te dann den frem­den Knecht in sei­ne Schen­ke zu ebe­ner Erde.

Dort schob der Schwa­be die Müt­ze zu­rück, trock­ne­te sei­ne schweiß­be­deck­te Stir­ne und öff­ne­te das Wams ein we­nig, dann ließ er einen Blick über die an­we­sen­den Gäs­te glei­ten und setz­te sich schwer auf die alte Holz­bank vor ei­nes der klei­nen Mar­mor­tisch­chen. Der Wirt mach­te sich gleich an ihn her­an.

»Cal­do, eh!« be­gann er zu­trau­lich. »Was, kalt!« rief der Kriegs­knecht ent­rüs­tet. »Esel, sieht Er nicht, wie ich schwit­ze? Bring mir Wein!«

Als­bald stand ein mäch­ti­ger, mit Stroh um­bun­de­ner Fias­co vor ihm. Er schenk­te sich das rote Nass von Chi­an­ti ein und stürz­te ein Glas auf einen Zug hin­un­ter. Dann be­stell­te er in sei­ner Mut­ter­spra­che zu es­sen, und auch die­ser Be­fehl fand au­gen­blick­lich Fol­ge. Er freu­te sich, dass ihm die Spra­che so we­nig Schwie­rig­keit be­rei­te. Als er aber mit dem Es­sen fer­tig war und sich, durch den Wein zur Ge­sel­lig­keit an­ge­regt, mit dem Wirt in ein län­ge­res Ge­spräch ein­las­sen woll­te, da er­kann­te er zu sei­nem Ver­druss, dass die­ser der schwä­bi­schen Lau­te nicht Meis­ter war.

Doch wink­te der ge­fäl­li­ge Flo­ren­ti­ner ihm ver­hei­ßungs­voll zu und ent­fern­te sich ei­lig, um in Bäl­de mit ei­nem wun­der­li­chen Men­schen­ge­bil­de zu­rück­zu­kom­men, lang und schwank wie ein Ha­sel­rohr, aber so ge­brech­lich, dass man fürch­ten muss­te, es zer­kni­cke bei der ers­ten Berüh­rung in der Mit­te, wo es am schwächs­ten schi­en. Dün­nes ro­tes Haar, mit Weiß ge­mischt, hing schlaff um ein fah­les bart­lo­ses Ge­sicht, ei­nes je­ner Ge­sich­ter, die nie zur Mann­heit aus­rei­fen, son­dern in die spä­te­ren Jah­re eine wel­ke Ju­gend­lich­keit hin­über­neh­men. Jede sei­ner Be­we­gun­gen war un­na­tür­lich, von den schmach­ten­den Wen­dun­gen des ma­ge­ren Hal­ses zu dem ge­zier­ten Gang, der im Tanz­schritt an­setz­te und den Bo­den un­ter den Fü­ßen zu ver­schmä­hen schi­en. Nur ein paar blaue Au­gen, die ehr­lich und wohl­wol­lend aus fast un­be­wim­per­ten Li­dern her­vor­sa­hen, ver­söhn­ten ein we­nig mit der dürf­tig-an­spruchs­vol­len Er­schei­nung.

Die­ses selt­sa­me We­sen kam un­ter Ver­beu­gun­gen her­an und frag­te den Schwa­ben in schlech­tem Deutsch, was des Herrn Lands­manns Be­gehr sei, und es war pos­sier­lich an­zu­se­hen, wie sich beim Spre­chen sei­ne Ell­bo­gen zu ei­ner flü­gel­schla­gen­den Be­we­gung er­ho­ben und das Ge­wand we­del­te, als woll­te die gan­ze luf­ti­ge Ge­stalt zum Him­mel ent­flat­tern.

Der Kriegs­knecht sah den Ro­ten ver­dutzt an, denn er wuss­te nicht, was er aus ihm ma­chen soll­te, und fuhr mit der Hand nach der Müt­ze, be­sann sich aber auf hal­b­em Wege an­ders und kratz­te sich nur am Kopf.

Er sei kein Herr, stot­ter­te er ver­le­gen, son­dern nur der Pe­ter von Lorch, im Dienst des Ed­len Veit von Rech­berg-Stauf­fen­eck, ei­nes der bes­ten Rit­ter im Schwa­ben­land. Die Er­wäh­nung sei­nes Herrn stärk­te sein Selbst­ge­fühl, denn er ge­wann nun die Kühn­heit, auch den Ro­ten nach Stamm und Na­men zu fra­gen, wo­bei er je­doch ge­flis­sent­lich die di­rek­te An­re­de ver­mied, um ihm we­der zu viel noch zu we­nig Ehre zu ge­ben.

Er hei­ße Lu­ci­us Ru­fus, ant­wor­te­te der an­de­re mit sei­ner ho­hen und dün­nen Stim­me, die die gan­ze Er­schei­nung wun­der­bar vollen­de­te, und sei Ma­jor­do­mus in dem schö­nen Palas­te ge­gen­über. Auch er dür­fe sich ei­nes Ge­bie­ters rüh­men, der hin­ter kei­nem Mann der Erde zu­rück­ste­he, denn ganz Flo­renz ken­ne den ed­len Herrn Ber­nar­do Ru­cel­lai als Ur­bild al­ler Bür­ger­tu­gend und als den wah­ren Va­ter der Weis­heit.

»So«, ent­geg­ne­te Pe­ter mit brei­tem La­chen. »Ich habe wohl zu­wei­len un­se­ren Pfar­rer sa­gen hö­ren, Vor­sicht sei die Mut­ter der Weis­heit, aber dass der Herr Rut­schel ihr Va­ter ist, war mir nicht be­kannt.«

Der Rote be­lä­chel­te her­ab­las­send die­sen Witz und setz­te sich ne­ben dem Lands­mann nie­der, wäh­rend der Wirt ei­lig auch ihm ein Glas voll­schenk­te. Bald ka­men noch an­de­re von den schwä­bi­schen Kriegs­knech­ten nach, die ihre Pfer­de gleich­falls im Stall der »Drei Moh­ren« un­ter­stell­ten und vom Wirt dienst­be­flis­sen zu dem Paar am Mar­mor­tisch ge­führt wur­den. Doch sie wuss­ten sich schlecht in die Un­ter­hal­tung zu fin­den und spra­chen in ih­rer Ver­le­gen­heit um so mehr dem Wei­ne zu, denn der Rote, dem es ein Ver­gnü­gen mach­te, sei­ne bar­ba­ri­schen Lands­leu­te zu ver­blüf­fen, flö­ßte ih­nen durch ge­schraub­te fremd­län­di­sche Re­dens­ar­ten eine ge­wis­se Scheu ein.

So­eben er­zähl­te er, dass er aus Augs­burg ge­bür­tig sei – Au­gus­ta Vin­de­li­corum – wie er er­läu­ternd hin­zu­setz­te, und wenn sein Stamm­baum nicht ver­lo­ren wäre, so lie­ße sich leicht­lich nach­wei­sen, dass er von ei­nem ge­wis­sen Lu­ci­us Ru­fus ab­stam­me, der Un­ter­be­fehls­ha­ber im Hee­re des Kai­sers Au­gus­tus ge­we­sen und der die Stadt habe grün­den hel­fen. Er selbst habe vor­mals den Be­ruf ei­nes Haar- und Bart­künst­lers in sei­ner Va­ter­stadt ge­übt und sei den Mit­bür­gern nur als der rote Lutz be­kannt ge­we­sen, denn die Nacht der Un­wis­sen­heit habe noch schwer auf ihm ge­las­tet. Erst in Flo­renz habe er den Na­men sei­nes Ahn­herrn wie­der an­ge­nom­men und sei »an­tik« ge­wor­den.

»Was ist das?« frag­ten alle wie aus ei­nem Mund.

Der Rote leuch­te­te auf, denn er war jetzt ganz in sei­nem Fahr­was­ser, und er be­müh­te sich, sei­nen Zu­hö­rern eine fass­li­che Er­klä­rung des Wor­tes zu ge­ben.

Das An­ti­ke, be­deu­te­te er sie, sei die schö­ne Ma­nier in Spra­che und Ge­bär­den, die von den Al­ten stam­me und in Flo­renz zur Bil­dung und gu­ten Sit­te un­ent­behr­lich sei. Dazu ge­hö­re vor al­lem auch eine Haus­ein­rich­tung im Sti­le der al­ten Rö­mer, und nun be­schrieb er den sprach­los da­sit­zen­den Kriegs­knech­ten die Gast­mäh­ler sei­nes Herrn, wo­bei die Ge­la­de­nen mit be­kränz­tem Haupt sich nicht zu Ti­sche setz­ten, son­dern leg­ten, wäh­rend er nach dem Takt der Mu­sik das Es­sen auf­tra­ge und das Fleisch zer­schnei­de; denn so ver­lan­ge es der rö­mi­sche Brauch. Ehe das Mahl be­gin­ne, spren­ge sein Herr eine Scha­le vom bes­ten Wein auf den Bo­den, als Wei­he­guss für die al­ten Göt­ter, die in Mar­mor her­um­stün­den, und spre­che einen la­tei­ni­schen Vers dazu, und das al­les, wenn es mit der schö­nen Art ge­macht sei, nen­ne man an­tik.

Die Knech­te stie­ßen sich heim­lich mit den Ell­bo­gen an, und Pe­ter sag­te, sich be­kreu­zend: »Straf mich Gott! Das ist ja heid­nisch; seid ihr denn kei­ne Chris­ten?«

Lu­ci­us ent­geg­ne­te mit nach­sich­ti­gem Lä­cheln: »Frei­lich; aber die hei­li­ge Jung­frau und den Bam­bi­no in Ehren, die­se Ge­be­te an die al­ten Göt­ter ge­hö­ren zum Gan­zen, zum Stil und zur Ein­rich­tung, mit ei­nem Wort zum An­ti­ken, und selbst der Hei­li­ge Va­ter hält es nicht an­ders.«

Nun fuhr er in sei­ner Le­bens­ge­schich­te fort und er­zähl­te, wie in sei­ne Bar­bier­stu­be häu­fig ein fah­ren­der Schü­ler ge­kom­men sei, der un­ter dem Sei­fen­schaum la­tei­ni­sche Ver­se zu de­kla­mie­ren pfleg­te, und wie er auf die­se Wei­se ein schön Stück La­tein und vie­le Ver­se aus ei­nem Ge­dicht ken­nen­ge­lernt habe, das von den Irr­fahr­ten des Tro­jer­hel­den Äne­as hand­le. Da sei die Wan­der­lust so mäch­tig in ihm ge­wor­den, dass er sein Hand­werk an den Na­gel häng­te und in Diens­ten ei­nes Kauf­manns nach der Le­van­te zog. Dort ge­riet er aber durch den Tod sei­nes Herrn in großes Elend, so­dass er wie­der zu sei­nem frü­he­ren Hand­werk grei­fen und vie­le Tür­ken­bär­te sche­ren muss­te, bis ihm ei­nes Ta­ges ein wel­scher Bart un­ter die Hän­de kam, der ei­nem ed­len Flo­ren­ti­ner an­ge­hör­te. Die­ser er­kann­te aus der blu­men­rei­chen, von Zi­ta­ten wim­meln­den Spra­che sei­nes Bar­biers, dass solch ein Mann zu et­was Hö­he­rem ge­bo­ren sei, und nahm ihn von der Ba­der­stu­be weg in sei­ne Diens­te. Der Flo­ren­ti­ner war nach dem Fall von Kon­stan­ti­no­pel in die Le­van­te ge­kom­men, um in klein­asia­ti­schen und grie­chi­schen Klös­tern auf alte Ma­nu­skrip­te zu fahn­den, und da sich Lu­ci­us eben­so­wohl auf die tür­ki­sche wie auf die frän­ki­sche Spra­che ver­stand, muss­te er bei die­sen Un­ter­hand­lun­gen den Dol­metsch ma­chen. Sein Herr rich­te­te ihn mit der Zeit auf alte Klas­si­ker ab, wie einen Fal­ken auf den Rei­her­fang.

Als sie nun schon ei­ni­ge hun­dert Bän­de ge­sam­melt hat­ten und mit der kost­ba­ren Fracht die Rück­rei­se nach dem Abend­land an­tre­ten woll­ten, lit­ten sie im Ägäi­schen Mee­re Schiff­bruch und muss­ten es an­se­hen, dass all die kost­ba­ren Bü­cher, die ein gan­zes Ver­mö­gen ver­schlun­gen hat­ten, in den Wel­len ver­san­ken.

Bet­tel­arm kehr­te der Flo­ren­ti­ner in sei­ne Hei­mat zu­rück und starb da an ge­bro­che­nem Her­zen, hat­te aber zu­vor noch den ge­treu­en Lu­ci­us bei Ber­nar­do Ru­cel­lai, sei­nem bes­ten Freun­de, un­ter­ge­bracht.

Dies al­les be­rich­te­te der Rot­haa­ri­ge sei­nen Zech­ge­nos­sen mit man­chen Aus­schmückun­gen und großem Schwulst, zu­wei­len sei­ne Rede mit ei­nem la­tei­ni­schen Spruch durch­flech­tend. Auch mach­te er viel Rüh­mens von dem An­se­hen und Reich­tum sei­nes Herrn und vor al­lem von den un­er­mess­li­chen Bü­cher­schät­zen, um de­ret­wil­len aus der gan­zen Welt viel vor­neh­me und ge­lehr­te Män­ner im Hau­se Ru­cel­lai zu­sam­men­ström­ten, und er such­te dem stumpf­sin­nig drein­bli­cken­den Pe­ter den Wert sol­cher Samm­lun­gen be­greif­lich zu ma­chen.

Dem aber war der un­ge­wohn­te wel­sche Wein zu Kopf ge­stie­gen, und die Ruhm­re­dig­keit des Ro­ten be­gann ihn zu ver­drie­ßen. Er schlug auf den Tisch und rief her­aus­for­dernd: »Und mein Herr ist doch noch ein viel grö­ße­rer Herr, das sag ich. Der schlägt mit der ge­pan­zer­ten Faust einen Och­sen nie­der, und den stärks­ten Rit­ter hebt er aus dem Sat­tel, als ob es ein Stroh­mann wäre. Acht Wöl­fe hat er ein­mal an ei­nem Tag er­legt, und die Diens­te, die er dem Hau­se Würt­tem­berg bei der Mühl­häu­ser Feh­de ge­leis­tet, wird ihm der Graf ge­wiss zeit­le­bens nicht ver­ges­sen. Und was den Reich­tum be­trifft, so brau­che ich nur die Burg Stauf­fen­eck zu nen­nen, mit Dör­fern, Wäl­dern und Äckern, und die Herr­schaf­ten im Ober­land, gar nicht zu re­den von den klei­ne­ren Hö­fen und Wei­lern zwi­schen Stau­fen und Rech­berg, die ihm zins­pflich­tig sind. Es lebt kein bes­se­rer Rit­ter im gan­zen rö­mi­schen Reich, und wer’s nicht glaubt, der hat mit mir zu tun.«

Die an­de­ren Kriegs­knech­te lie­ßen ein bei­stim­men­des Mur­meln ver­neh­men.

»Ich glau­be es ja gern, ihr Her­ren«, be­gü­tig­te Lu­ci­us. »Aber seht: An­de­re Völ­ker, an­de­re Sit­ten! wie der La­tei­ner sagt. Bei uns gilt der Mann mehr nach dem Kopf als nach der Faust, und eine schö­ne Bü­che­rei hat grö­ße­ren Wert als Sch­lös­ser und Bur­gen. Da ist zum Bei­spiel Herr Mar­can­to­nio, das al­ter ego mei­nes Ge­bie­ters; nun, wer ihn sieht, der muss be­ken­nen, dass die Göt­tin der Lie­be nicht an sei­ner Wie­ge ge­stan­den hat, und den­noch darf er um das schöns­te Mäd­chen von Flo­renz, um un­se­re Lu­cre­zia, wer­ben, und mei­ne al­ten Au­gen wer­den es noch er­le­ben, dass Hy­mens Fa­ckel ih­nen den Braut­ge­sang tönt. Das kommt da­her, dass er vor ein paar Jah­ren ein Buch ge­schrie­ben hat, ein la­tei­ni­sches Buch« – Lu­ci­us dämpf­te sei­ne Stim­me zum Flüs­tern, als ob er sich in der Nähe des Al­ler­hei­ligs­ten be­fän­de – »seit den großen Al­ten sei nichts Schö­ne­res ge­schrie­ben, sagt Sei­ne Ma­g­ni­fi­zenz, der er­lauch­te Lo­ren­zo, der nicht nur ein Ken­ner ist, son­dern auch sel­ber den Pe­li­kan be­steigt.«

Er sah sich im Krei­se nach Bei­fall um, fand aber nur gleich­gül­ti­ge Ge­sich­ter.

»Bü­cher«, sag­te Pe­ter weg­wer­fend, »die wach­sen bei uns wie Un­kraut, aber wir fra­gen nichts da­nach, denn das ist für die Kle­ri­sei, nicht für Kriegs­leu­te. Mein ei­ge­ner Herr hat eine groß­mäch­ti­ge Tru­he voll von dem Zeug in sei­nem Kel­ler ste­hen und hat sich in sei­nem Le­ben noch nicht nach ihr ge­bückt.«

Der Rot­haa­ri­ge stieß einen Laut der Über­ra­schung oder des Zwei­fels aus.

»Ich weiß, was ich sage!« rief Pe­ter, sich er­hit­zend, »ich habe sie selbst ge­se­hen, denn ich bin ein­mal, es ist schon lan­ge her, in un­se­ren Burg­kel­ler auf Schloss Stauf­fen­eck heim­lich ein­ge­stie­gen. Ich hat­te einen stör­ri­schen Hengst im Bur­g­hof ge­tum­melt, dass er und ich von Schweiß trof­fen, denn es war ein hei­ßer Som­mer­tag. Da be­merk­te ich nicht weit von dem großen run­den Turm ein Loch im Bo­den, durch das man in den Kel­ler hin­ab­se­hen konn­te, und der Qua­der­stein an die­ser Stel­le war los­ge­brö­ckelt, denn es ist ein gar al­tes Ge­mäu­er. Ich, nicht faul, hebe den Stein aus und drücke mich durch die Öff­nung hin­un­ter. Es war ein üb­ler Weg, wie ihr euch den­ken könnt, und ich kam halb ge­schun­den auf dem feuch­ten Bo­den an, aber ich hoff­te einen tüch­ti­gen Schluck zu tun, denn mir schien’s, als sei hier der Weg zum großen Fass. Aber ich be­fand mich in ei­nem en­gen Bret­ter­ver­schlag und konn­te nur durch die Lat­ten nach den schö­nen Wein- und Most­fäs­sern hin­über­schie­len. Durch einen en­gen Gang aber kam ich in ein an­de­res aus­ge­mau­er­tes Ge­lass und stieß dort auf eine große ei­ser­ne Tru­he. Da fiel mir ein, was ich ein­mal ge­hört hat­te, dass in die­sem Ge­wöl­be der Klos­ter­schatz von Sankt Bla­si­en ver­gra­ben sei, und ich sah mich um, ob nicht auch in ei­ner Ecke der Hund mit den feu­ri­gen Au­gen sit­ze, der die Tru­he hü­ten soll. Aber da war nichts Le­ben­di­ges au­ßer mir. Also, ich gehe hin und hebe den De­ckel auf, und was glaubt ihr, dass ich drin­nen fand? Ver­gol­de­te Al­tar­leuch­ter und sil­ber­ne Be­cher? – Ja, wisch dir den Mund ab! Lau­ter ver­schim­mel­tes Schweins­le­der mit Kra­ckel­fü­ßen dar­auf und mit far­bi­gen Bild­chen am Rand. Ich, wie­der zu­ge­klappt und nicht ge­muckst von dem Fund, denn wer hät­te auch et­was da­von ge­habt? Ja, wä­ren es har­te Ta­ler ge­we­sen! Dort muss die Be­sche­rung noch lie­gen, und es hat kein Hahn da­nach ge­kräht bis auf den heu­ti­gen Tag. Was das Un­ge­zie­fer üb­rig lässt, das frisst der Schim­mel. Un­ser Jun­ker weiß gar nichts da­von, der Un­rat stammt noch aus des Her­ren se­lig Zeit, der hat­te es mit den Mön­chen.«

Hier aber ward Pe­ter un­ter­bro­chen durch eine Stim­me, scharf und schnei­dend wie ein Peit­schen­hieb, die sei­nen Na­men rief. Er stol­per­te ei­lig die Trep­pe hin­auf in das Zim­mer sei­nes jun­gen Herrn, der eben vom Gast­mahl des Me­di­ce­ers zu­rück­kam, denn er wuss­te, dass es nicht rät­lich war, den Ge­stren­gen auch nur eine Mi­nu­te war­ten zu las­sen. Als er des­sen Be­fehl ent­ge­gen­ge­nom­men hat­te und zu dem neu­en Freund zu­rück­keh­ren woll­te, war die­ser schon da­von­ge­eilt, um sei­nem Ge­bie­ter von dem merk­wür­di­gen Bü­cher­fund des neu­en Ge­gen­über zu be­rich­ten.

Der jun­ge Rit­ter stand am Fens­ter und blick­te un­ru­hig nach der säu­len­ge­tra­ge­nen, ganz von klei­nen schwe­fel­gel­ben Sch­lin­gröschen um­rank­ten Hal­le hin­über, wo ihm beim Ein­tritt jene flüch­ti­ge rei­zen­de Er­schei­nung auf­ge­taucht war. Er ge­dach­te ei­nes Auf­trags, den ihm sei­ne ju­gend­li­che Lan­des­mut­ter auf die Rei­se mit­ge­ge­ben hat­te. Wenn ihr Herr Veit eine rech­te Freu­de ma­chen wol­le, hat­te sie ge­sagt, so möge er von Ita­li­en, wo es der schö­nen Mäd­chen vie­le gebe, die schöns­te, die er fin­de, nach Hau­se brin­gen als sei­ne ehe­li­che Wir­tin, da­mit Frau Bar­ba­ra auch in ih­rem Re­si­denz­schloss zu Stutt­gart die Lau­te der ge­lieb­ten Mut­ter­spra­che ver­neh­me.

*

Veit, der in Grä­fin Bar­ba­ra das Mus­ter der Frau­en ver­ehr­te, hat­te seit dem ers­ten Schritt auf ita­lie­ni­schem Bo­den kei­nen an­de­ren Ge­dan­ken mehr, als ein Weib zu fin­den, das der an­mu­ti­gen Ge­bie­te­rin glei­che. Aber je län­ger er such­te, de­sto schwie­ri­ger fand er die Wahl. Von ei­ner stol­zen Vis­con­ti, die ihm beim Ein­zug in Ve­ro­na mit ih­rem fürst­li­chen Braut­ge­lei­te wie die Kö­ni­gin von Saba be­geg­net war, bis her­ab zu der an­mu­ti­gen Spin­ne­rin in Holz­schu­hen, die es ihm auf den Apen­ni­nen an­ge­tan hat­te, woll­te sein Herz gar nicht mehr zur Ruhe kom­men, und er be­kann­te sei­nen Rei­se­ge­fähr­ten, dass er Mu­sel­mann wer­den und einen gan­zen Ha­rem nach Hau­se brin­gen müss­te, um den Auf­trag sei­ner Her­rin rich­tig zu voll­zie­hen.

Doch in Flo­renz er­eil­te ihn sein Ge­schick, denn seit ihm Ber­nar­do Ru­cel­lais Toch­ter je­nes Rös­lein zu­ge­wor­fen hat­te, war ihm al­les wei­te­re Schau­en leid und wid­rig ge­wor­den, er hät­te am liebs­ten die Au­gen schlie­ßen mö­gen, um die­ses Bild durch kei­ne an­de­ren Bil­der mehr ver­wi­schen zu las­sen. Er fand, dass sie der Grä­fin glei­che, nur war ihr Wuchs hö­her und schlan­ker, und ein Lieb­reiz ging von ihr aus, der in des Jun­kers Au­gen al­les über­traf, was er bis jetzt ge­se­hen hat­te. Er brauch­te sich nicht zu fra­gen, ob Lu­cre­zia Ru­cel­lai auch wirk­lich die Schöns­te sei, denn sie war gleich bei dem ers­ten Blick für ihn die Ein­zi­ge ge­wor­den. Ihren Na­men hat­te er durch einen der Flo­ren­ti­ner Her­ren, die den Zug ge­lei­te­ten, er­fah­ren, aber mehr wuss­te er nicht von ihr, und jetzt fühl­te er sich zum ers­ten Male et­was ver­zagt, wenn er be­dach­te, dass die Be­sit­zer die­ses Klein­ods doch wohl schwer­lich auf einen wild­frem­den Land­fah­rer ge­war­tet hat­ten, um es los­zu­schla­gen.

Die klei­ne Ent­fer­nung von sei­nem Fens­ter zu ih­rem Hau­se be­deu­te­te also wohl eine un­über­schreit­ba­re Kluft, und den­noch lä­chel­te der jun­ge Mann lei­se vor sich hin, wäh­rend sei­ne Fan­ta­sie eine bun­te Brücke in den Far­ben des Re­gen­bo­gens hin­über­bau­te.

Da ging drü­ben am Hau­se, das mit der Log­gia ver­bun­den war, die Türe auf, und her­aus trat zu Veits fro­her Über­ra­schung Jo­hann Reuch­lin, Graf Eber­hards ju­gend­li­cher Ge­heim­schrei­ber, ge­lei­tet von je­nem schö­nen wür­de­vol­len Greis im Sil­ber­haar, den Jun­ker Veit ne­ben dem Mäd­chen er­blickt hat­te, und er sah, dass die bei­den sich auf der Schwel­le herz­lich wie alte Freun­de ver­ab­schie­de­ten.

Veit sprang mit klir­ren­den Spo­ren un­ge­stüm die Trep­pe hin­ab, um den Ge­heim­schrei­ber an der Stra­ßen­e­cke zu stel­len und über die Be­woh­ner je­nes Hau­ses zu be­fra­gen. Da er­fuhr er, dass der wür­de­vol­le alte Herr Ber­nar­do Ru­cel­lai hei­ße, ein Stern des Hu­ma­nis­mus sei, durch Fa­mi­li­en­ban­de dem Herr­scher­haus ver­knüpft und zu­gleich na­her An­ver­wand­ter je­nes be­rühm­ten Mar­can­to­nio Ru­cel­lai, den die ge­lehr­te Welt als den glän­zends­ten neu­la­tei­ni­schen Au­tor ver­eh­re.

»Lei­der muss­te ich dem al­ten Herrn eine schmerz­li­che Ent­täu­schung be­rei­ten«, fuhr der Ge­heim­schrei­ber fort. »Er hat­te ge­hofft, ich wür­de ihm ein ein­zig vor­han­de­nes Ma­nu­skript zur Stel­le schaf­fen, einen ur­al­ten Ci­ce­ro, auf den die Ru­cel­lai seit drei­ßig Jah­ren fahn­den. Doch mei­ne Be­mü­hun­gen wa­ren ver­geb­lich, und nun schmerzt es mich, dass der alte Herr wohl im stil­len den­ken mag, ich habe den kost­ba­ren Ko­dex auf die Sei­te ge­bracht, denn lei­der, Jun­ker, gibt es un­ter Ge­lehr­ten we­der Treu noch Glau­ben, so­bald ein al­ter Au­tor auf dem Spie­le steht.«

Der Jun­ker hör­te die­sen Er­klä­run­gen nur mit hal­b­em Ohre zu, denn ganz an­de­res lag ihm am Her­zen als der alte Herr mit sei­nen li­te­ra­ri­schen Nö­ten.

»Habt Ihr auch sei­ne Fa­mi­lie ken­nen­ge­lernt, Herr Ge­heim­schrei­ber?« frag­te er zö­gernd.

»Herrn Mar­can­to­ni­os Be­kannt­schaft ist mir auf mor­gen ver­spro­chen«, ent­geg­ne­te Reuch­lin nicht ohne eine klei­ne Bos­heit, fuhr aber, als er die un­be­frie­dig­te Mie­ne sei­nes Rei­se­ge­nos­sen sah, gleich gut­mü­tig fort: »Für euch hat wohl der Au­tor der ›Fa­ce­ti­en‹ min­de­re An­zie­hungs­kraft als Herrn Ber­nar­dos schwarz­äu­gi­ges Töch­ter­lein. Nun, die­se wer­det Ihr mor­gen bei dem Lan­zen­ren­nen se­hen, das Sei­ne Ma­g­ni­fi­zenz zu Ehren un­se­res Herrn ver­an­stal­tet. Ich höre so­eben, dass Fräu­lein Lu­cre­zia den Sie­ger krö­nen soll. Wenn also Euer be­währ­ter Ruhm Euch treu bleibt, so wer­det Ihr mei­ne We­nig­keit mor­gen nicht mehr zu be­nei­den brau­chen. Und nun, ver­zeiht, ich muss noch zu un­se­rem Herrn, der mich hier schlecht ent­beh­ren kann. Gute Nacht, Herr Rit­ter, und mö­gen Euch die Ster­ne güns­tig sein.«

Mit die­sen Wor­ten ging der Ge­heim­schrei­ber ei­ligst von dan­nen.

Das glän­zen­de Kampf­spiel war zu Ende, und Herr Ber­nar­do hat­te sein be­wun­der­tes Töch­ter­lein zu Pferd durch die gaf­fen­de Men­ge nach Hau­se be­glei­tet. Ihr rei­ches Fest­kleid lag schon wie­der im Schrein, und Lu­cre­zia war in die ein­fa­che Haustracht ge­schlüpft, die ihr nicht min­der lieb­lich stand. Der Tag war nicht er­schöp­fend ge­we­sen, denn die Son­ne hat­te sich wie aus Mit­leid mit den ei­sen­be­schwer­ten Rei­tern wäh­rend des Tur­niers ver­bor­gen ge­hal­ten, den­noch brann­ten Lu­cre­zi­as Wan­gen, und ihre Au­gen strahl­ten einen Glanz aus, vor dem sie im Spie­gel sel­ber er­schrak. Eine Stim­me lag ihr in den Ohren, die sie heu­te zum ers­ten Male ge­hört hat­te, aber nie wie­der ver­ges­sen zu kön­nen glaub­te, de­ren Klang sie noch in der Ein­sam­keit wie mit kör­per­li­cher Ge­gen­wart um­schweb­te.

»Möch­te es nicht das letz­te Mal sein, dass mei­ne Au­gen Euch er­bli­cken!« mur­mel­te sie vor sich hin, und such­te den fremd­ar­ti­gen Ton der Stim­me nach­zuah­men, die die­se Wor­te ge­spro­chen hat­te. Sie muss­te sich da­bei ein bräun­li­ches, wohl­ge­form­tes Ge­sicht vor­stel­len, das un­ter dem ho­hen Helm mit Reh­ge­weih zu­ver­sicht­lich zu ihr auf­blick­te. Sie hör­te wie­der das Stamp­fen und Wie­hern der Pfer­de, sah das fun­keln­de Waf­fen­ge­wühl und den Staub der Are­na und folg­te un­ver­wandt je­nem Hel­me mit Reh­ge­weih, der blitz­ar­tig da und dort auf­tauch­te, alle an­de­ren Helm­zei­chen weit über­ra­gend. Es wa­ren schlan­ke­re, schö­ne­re Ge­stal­ten auf dem Kampf­platz als die­ser Fremd­ling und Halb­bar­bar, des­sen her­ku­li­scher Kraft auch von den ei­ge­nen Lands­leu­ten kei­ner ganz ge­wach­sen war, aber die Men­ge schi­en den blon­den Deut­schen vor al­len an­de­ren zu be­vor­zu­gen, denn sie grüß­te sein Er­schei­nen im­mer mit hel­lem Ju­bel. Lu­cre­zia wuss­te sel­ber nicht, warum ihre Au­gen su­chend um­her­lie­fen, so­bald das Reh­ge­weih ver­schwand, und wie es kam, dass sie kei­nem Gang mit rech­ter Auf­merk­sam­keit fol­gen konn­te, an dem der Trä­ger die­ses Zei­chens nicht be­tei­ligt war. Wenn er als Sie­ger vor ihr er­schi­en und sei­ne Au­gen fest auf die ih­ri­gen hef­tend lei­se sag­te: »Nicht zum letz­ten Male, Ma­don­na!« so wünsch­te sie ihn be­klemmt und un­ru­hig weit hin­weg, so­bald er sich aber vom Kampf­platz ent­fern­te, hat­te das gan­ze Schau­spiel sei­nen Reiz ver­lo­ren. Für die Ar­tig­kei­ten ih­rer Lands­leu­te, die wie im­mer mit über­trie­be­nen Hul­di­gun­gen nicht karg­ten, hat­te sie heu­te nur eine Re­gung der Un­ge­duld, weil ihr da­durch der Ma­gnet ih­rer Au­gen ent­zo­gen ward.

Als nun end­lich der letz­te Gang, das große und nicht ge­fahr­lo­se Lan­zen­ren­nen be­gann und sie auch den Rech­ber­ger wie­der in die Schran­ken rei­ten sah, sie­ges­ge­wiss den Hals sei­nes star­ken Tie­res klop­fend, da war­te­te sie mit sol­cher Un­ru­he auf die Ent­schei­dung, als wäre sie selbst als letz­ter und höchs­ter Kampf­preis ge­setzt. Sie hat­te kei­nen Sinn für all den Auf­wand von Waf­fen­kunst, der vor ih­ren Au­gen ent­fal­tet wur­de, sie nahm kei­nen Teil an der bren­nen­den Fra­ge, ob die Bar­ba­ren ih­ren Lands­leu­ten an Stär­ke über­le­gen sei­en, und ob die Flo­ren­ti­ner wie­der­um jene an Ge­wandt­heit über­trä­fen, es be­schäf­tig­te sie nicht ein­mal, dass der frem­de Graf mit der dunklen Klei­dung und dem erns­ten Ge­sicht sich dies­mal selbst mit ei­nem der Flo­ren­ti­ner Her­ren maß; sie ver­folg­te im­mer das Reh­ge­weih und den Schild mit den zün­geln­den Rech­ber­gi­schen Lö­wen. Sie mein­te noch in der Erin­ne­rung die Ge­walt der Stö­ße, das Sp­lit­tern der Schäf­te, das grau­sa­me Auf­ein­an­der­pral­len der Pfer­de zu ver­neh­men und das ängst­li­che Klop­fen ih­res ei­ge­nen Her­zens, bis der He­rold als Sie­ger den blon­den Deut­schen mit dem un­aus­sprech­li­chen Na­men ver­kün­de­te und die Büh­ne von dem Jauch­zen, Stamp­fen und Tü­cher­schwen­ken der Men­ge wank­te. Ihre Bli­cke hat­ten sich um­flort und ihre Hän­de ge­zit­tert, als sie ein Kränz­lein le­ben­di­ger Ro­sen mit gol­de­nen Blät­tern an der Lan­zen­spit­ze des Jun­kers be­fes­tig­te, und es war ihr, als habe sie mit die­sem Kränz­lein das ei­ge­ne Ich hin­weg­ge­ge­ben. Er aber lä­chel­te sie­ges­froh, blick­te ihr mit den gu­ten blau­en Au­gen fest ins Ge­sicht und sag­te mit sei­nem frem­den Ak­zent: »Ma­don­na, ich hof­fe, Euch wie­der­zu­se­hen.«

Ein Flo­ren­ti­ner hät­te sich schwung­vol­ler und zier­li­cher aus­ge­drückt, aber die ste­te Wie­der­ho­lung der schlich­ten Wor­te, als ob der Spre­cher nichts zu den­ken noch zu sa­gen ver­mö­ge als nur das eine, den Wunsch, sie wie­der­zu­se­hen, hat­te sie er­schüt­tert und er­schreck­te sie zu­gleich mit der Ah­nung, dass die­se un­wi­der­steh­lich star­ken Arme nun auch sie er­grei­fen und nicht wie­der frei­ge­ben wür­den. Doch wäh­rend sie sich ge­gen die­sen Zwang zu weh­ren such­te, freu­te sie sich selbst im stil­len, dass heu­te Abend der un­aus­sprech­li­che Name des Fremd­lings in al­ler Mun­de war, als ob sie sel­ber an sei­nem Tri­umph einen Teil hät­te.

Gleich­zei­tig er­eig­ne­te sich der selt­sa­me Fall, dass des Va­ters Ge­dan­ken nicht min­der leb­haft mit dem an­zie­hen­den Fremd­ling be­schäf­tigt wa­ren als die der Toch­ter; frei­lich aus sehr ver­schie­de­nem Grund. Seit er die Nach­richt von je­nen ver­gra­be­nen Bü­cher­schät­zen auf Schloss Stauf­fen­eck er­hal­ten hat­te, war in Ber­nar­dos See­le die fast aben­teu­er­lich küh­ne Hoff­nung auf­ge­keimt, dass der ver­schwun­de­ne Ko­dex viel­leicht mit in je­ner Tru­he lie­ge. Es war zu­erst nur eine Ein­ge­bung des ro­ten Lutz ge­we­sen, die der Ge­bie­ter selbst be­lä­chel­te; aber in lan­ger Nacht hat­te er die Orts­na­men, die fest in sei­nem Ge­dächt­nis haf­te­ten, mit den An­ga­ben über den letz­ten Ver­bleib des Ma­nu­skrip­tes ver­gli­chen, und zu sei­ner ei­ge­nen Über­ra­schung stimm­ten sie wun­der­bar. In sei­nen schlaflo­sen Grü­belei­en hat­te er noch dem Zwei­fel Raum ge­gönnt, aber am Mor­gen, als die freu­di­gen Licht­flu­ten durch das Fens­ter ström­ten, öff­ne­te er sein Herz der fro­hen Über­zeu­gung, dass es der Schat­ten des großen Rö­mers sel­ber sei, der aus dem Mun­de ei­nes bar­ba­ri­schen Kriegs­knechts um Er­lö­sung fle­he.

Herr Ber­nar­do war vor al­len Din­gen Hu­ma­nist, und die Lei­den­schaft für das klas­si­sche Al­ter­tum er­stick­te in ihm jede an­de­re mensch­li­che Emp­fin­dung. Da­rum konn­te auch Lu­cre­zia kein Herz zu ih­rem Va­ter fas­sen, ob­wohl sie nie ein un­gü­ti­ges Wort von ihm zu hö­ren be­kam, aber er schi­en ihr glatt und kühl wie ein Aal, und wenn er ein­mal zärt­lich wur­de, so hat­te sie den Ein­druck, als sei es ihm nur um die wohl­tö­nen­den Re­den zu tun, die leicht und ele­gant von sei­nen Lip­pen ström­ten.

*

In sei­nem Stu­dier­zim­mer sa­ßen an den Win­ter­aben­den die Mit­glie­der der Pla­to­ni­schen Aka­de­mie un­ter ei­ner Mar­mor­büs­te Ci­ce­ros bei­sam­men, der Herr Ber­nar­dos stärks­ter Hei­li­ger war und dem er ein ewi­ges Lämp­chen un­ter­hielt, wie sein Freund Mar­si­lio Fi­ci­no dem Pla­to. Jahraus jahrein ar­bei­te­ten die bes­ten Meis­ter der Gold­schmie­de­kunst an sei­nem be­rühm­ten, den an­ti­ken Mus­tern nach­ge­bil­de­ten Ta­fel­ge­schirr; er selbst trug im Hau­se statt des Flo­ren­ti­ner Luc­co eine rö­mi­sche Toga und be­weg­te sich mit dem An­stand, der die­sem Ge­wan­de ent­sprach. Er re­de­te nie­mals mit Hef­tig­keit, noch ließ er je eine Er­re­gung des Ge­mü­tes bli­cken, so­dass er zu je­der Stun­de an jene rö­mi­schen Se­na­to­ren ge­mahn­te, die in ih­ren ku­ru­li­schen Stüh­len sit­zend das Her­an­na­hen des Gal­liers er­war­te­ten. Sein Spre­chen war so ge­wählt, dass er nie einen Satz un­voll­en­det ließ, und dass jede sei­ner ab­ge­run­de­ten Pe­ri­oden für eine voll­kom­me­ne Stil­übung gel­ten konn­te. Im La­tein, das da­zu­mal die hö­he­re Um­gangs­spra­che war, leg­te er sich lie­ber den Zwang auf, sei­nen Ge­sprächss­toff zu be­schrän­ken, als ein Wort zu ge­brau­chen, wel­ches nicht durch die Au­to­ri­tät Ci­ce­ros ge­deckt war. Und die­sem Man­ne, der so hoch und si­cher im Le­ben stand, des­sen Söh­ne die ers­ten Ehren­pos­ten des Staa­tes be­klei­de­ten, fehl­te nur ei­nes zur Zufrie­den­heit, die­ses eine aber fehl­te ihm so sehr, dass es ihm fast die an­de­ren Gü­ter ent­wer­te­te, näm­lich je­ner ur­al­te, ci­ce­ro­nia­ni­sche Ko­dex, des­sen Trug­bild ihm so­eben aufs neue zwi­schen den Hän­den zer­ron­nen war.

Die­ser Ko­dex hat­te im Haus der Ru­cel­lai schon eine schick­sals­schwe­re Rol­le ge­spielt. Zu­erst war es Do­na­to Ru­cel­lai, Ber­nar­dos äl­te­rer Bru­der, ge­we­sen, der vor mehr als drei­ßig Jah­ren bei ei­nem Be­such auf der In­sel Rei­chenau den kost­ba­ren Fund ge­tan. Der da­ma­li­ge Abt be­fand sich häu­fig in Geld­ver­le­gen­hei­ten und wäre ger­ne be­reit ge­we­sen, das Buch zu ver­kau­fen, aber er tat, als er das Ent­zücken des Ent­deckers sah, eine so un­ge­heu­re For­de­rung, dass der Ita­lie­ner mit lee­ren Hän­den ab­zie­hen muss­te, denn eine Ab­schrift zu neh­men wur­de ihm nicht ge­stat­tet.

Doch sein Ver­zicht ließ Herrn Do­na­to kei­ne Ruhe. Er ver­kauf­te ein Land­gut, leg­te die Sum­me bei ei­nem deut­schen Bark­haus nie­der und be­gab sich wie­der auf die Fahrt. Un­ter­des­sen hat­te aber das Ma­nu­skript den Be­sit­zer ge­wech­selt, da es pfand­wei­se in ein würt­tem­ber­gi­sches Klos­ter über­ge­gan­gen war. Land­fremd, der Spra­che nur zur Not kun­dig, und im ärm­lichs­ten Auf­zug, um kei­nem We­ge­la­ge­rer zur Beu­te zu fal­len, ver­folg­te der weich­li­che Hu­ma­nist un­ter schwe­ren Mü­hen und Ent­beh­run­gen die Spu­ren ei­nes Schat­zes, die ihn bis tief in den Schwarz­wald führ­ten.

Dort stand un­ter end­lo­sen fins­tern Tan­nen­wäl­dern, die dem licht­ge­wohn­ten Soh­ne des Sü­dens wie die Pfa­de der Un­ter­welt er­schie­nen, das ehr­wür­di­ge Klos­ter Hir­sau – in ita­lie­ni­schem Mun­de Ir­sa­va ge­spro­chen. In die­ser Ab­tei war Do­na­to zum letz­ten Male ge­se­hen wor­den, denn ein an­de­rer ita­lie­ni­scher Ma­nu­skrip­ten­samm­ler hat­te ihn dort ge­trof­fen, als der Uner­müd­li­che eben im Be­grif­fe stand, nach ei­nem Klös­ter­lein des hei­li­gen Bla­si­us im Os­ten des Lan­des, nicht gar weit von der al­ten Stau­fen­fes­te, auf­zu­bre­chen, wo­hin ein Hir­sau­er Bru­der den kost­ba­ren Ko­dex ver­schleppt ha­ben soll­te.

Dies war die letz­te Kun­de, die von Do­na­to Ru­cel­lai nach Flo­renz drang, und der edle Ge­lehr­te war nie in sei­ne Hei­mat zu­rück­ge­kehrt. Nach­fra­gen wur­den an­ge­stellt, aber sie brach­ten nur zu­ta­ge, dass je­nes Klös­ter­lein, wel­ches Do­na­tos letz­tes Rei­se­ziel ge­we­sen, durch eine Feu­ers­brunst vom Bo­den ver­schwun­den sei. Es war da­mals viel Krieg und Feh­de in schwä­bi­schen Lan­den, wo­bei man es mit Men­schen­le­ben nicht sehr ge­nau nahm, und von dem Tief­be­trau­er­ten wur­de nie­mals wie­der eine Spur ge­fun­den.

Jah­re­lang war nun auch der Ko­dex ver­schol­len, und die Fa­mi­lie der Ru­cel­lai hat­te vor Ci­ce­ros ir­rem Geist Ruhe. Da kam vor nun­mehr sie­ben Jah­ren ein rei­sen­der Kauf­mann nach Flo­renz und be­rich­te­te, im sue­vi­schen Lan­de habe man eine ur­al­te Hand­schrift aus dem neun­ten oder zehn­ten Jahr­hun­dert ent­deckt, wel­che al­lem An­schein nach der von den Ru­cel­lai ge­such­te Ci­ce­ro sei. Ein Kle­ri­ker sei sein jet­zi­ger Be­sit­zer; der­sel­be ver­lan­ge einen so ho­hen Preis für das ein­zig vor­han­de­ne Ma­nu­skript, dass er es im Lan­de nicht los­schla­gen kön­ne und dass er des­halb in Ita­li­en einen Käu­fer su­che.

Wie der Keim ei­ner Seu­che, der jah­re­lang ver­schlos­sen ge­le­gen, plötz­lich wie­der an die Luft tre­ten und aufs neue eine An­ste­ckung be­wir­ken kann, so ging es hier. Das Gift der Biblio­ma­nie kroch in Herrn Ber­nar­dos Adern und ent­zün­de­te jetzt in ihm je­nes fie­ber­haf­te Ver­lan­gen nach Ci­ce­ros li­ber jo­cu­la­ris, dem sein un­glück­li­cher Bru­der zum Op­fer ge­fal­len war. Sein An­ver­wand­ter, Mar­can­to­nio Ru­cel­lai, der da­mals noch ein un­be­rühm­tes Da­sein führ­te, er­bot sich, das Buch durch einen tüch­ti­gen Agen­ten, den er für den An­kauf und das Ko­pie­ren al­ter Ma­nu­skrip­te in den ale­man­ni­schen Lan­den ge­wor­ben hat­te, zur Stel­le zu schaf­fen. Doch nach Jah­res­frist kehr­te der Agent mit dürf­ti­ger Aus­beu­te nach Flo­renz zu­rück, denn die Zeit der großen Bü­cher­fun­de war vor­über, und die Nach­richt je­nes Rei­sen­den hat­te sich, wie Mar­can­to­nio sei­nem Bluts­freund be­rich­ten muss­te, ein­fach als Fop­pe­rei er­wie­sen.

Aber der ci­ce­ro­nia­ni­sche Ko­dex um­spann den ed­len Ber­nar­do be­reits mit ei­nem dä­mo­ni­schen Zau­ber, und auch die un­ge­sühn­ten Ma­nen sei­nes Bru­ders, des­sen Ge­bei­ne viel­leicht un­be­stat­tet auf frem­der Erde la­gen, dräng­ten sich wie­der kla­gend vor sei­nen Geist.

Auf Reuch­lin stütz­ten sich nun­mehr sei­ne Hoff­nun­gen, aber ach, seit Do­na­tos Ver­schwin­den wa­ren drei­ßig Jah­re ver­flos­sen, und der wei­se Kap­ni­on ge­hör­te ei­ner an­de­ren Ge­ne­ra­ti­on an als die deut­schen Ge­lehr­ten, die einst dem ed­len Flo­ren­ti­ner auf sei­ner Rei­se mit Rat und Tat bei­ge­stan­den hat­ten. Wie soll­te man nach so lan­ger Zeit noch von ei­nem ver­schol­le­nen frem­den Wan­de­rer und von ei­nem längst nie­der­ge­brann­ten Klös­ter­lein, des­sen Lage un­ge­wiss und des­sen Name kein sel­te­ner war, Nach­richt er­lan­gen? Ber­nar­do be­griff es wohl, aber den­noch konn­te sei­ne Fan­ta­sie von dem lieb­ge­wor­de­nen Ge­gen­stand nicht mehr las­sen, und er­regt durch die wie­der auf­ge­rühr­ten Erin­ne­run­gen knüpf­te er an die Prah­le­rei­en des ale­man­ni­schen Knech­tes als­bald den neu­en Hoff­nungs­fa­den an.

Die fol­gen­schwe­re Mit­tei­lung war ihm ges­tern erst nach Weg­gang sei­nes Be­su­ches ge­macht wor­den, und so lag es ihm sehr am Her­zen, den neu­en Freund so rasch wie mög­lich ins Ver­trau­en zu zie­hen und für die För­de­rung sei­ner Ab­sich­ten zu ge­win­nen. Doch Reuch­lin war wäh­rend des Kampf­spiels durch sei­ne Dol­met­scher­pflich­ten so sehr in An­spruch ge­nom­men, dass er für die sehn­süch­ti­gen Bli­cke Ber­nar­dos kein Ver­ständ­nis hat­te, und erst als die Herr­schaf­ten sich zum Auf­bruch rüs­te­ten, war es dem al­ten Herrn noch rasch ge­lun­gen, sich mit sei­nem An­lie­gen an den Ge­heim­schrei­ber her­an­zu­drän­gen.

Zu Hau­se trat er gleich an sein Fens­ter und starr­te mit den brüns­ti­gen Au­gen ei­nes Lieb­ha­bers nach den ge­schlos­se­nen Lä­den ge­gen­über. Die nie­der­ge­hen­de Son­ne setz­te den gan­zen Him­mel in Flam­men, und Ber­nar­do Ru­cel­lai er­blick­te eine se­li­ge Vi­si­on, schön wie der Ruhm und die Uns­terb­lich­keit; die far­ben­durch­glüh­ten Abend­wol­ken zeig­ten ihm in pur­pur­nen, dun­kel­vio­let­ten und gol­de­nen Let­tern die Schrift: M. T. Ci­ce­ro­nis li­ber jo­cu­la­ris nunc pri­mum re­per­tus et in lu­cem edi­tus.

Aus sei­ner Ver­zückung schreck­te ihn Huf­schlag auf dem Pflas­ter, und das Herz be­gann ihm zu klop­fen wie ei­nem Mäg­de­lein beim Her­an­na­hen des Ge­lieb­ten. Es war aber nicht Jun­ker Veit von Rech­berg, der sein Pferd um die Ecke lenk­te, son­dern der er­lauch­te Lo­ren­zo selbst, und in der mun­ters­ten Lau­ne, wie es schi­en, denn er wink­te schon von wei­tem her­auf mit ei­nem fei­nen Lä­cheln, das ein schalk­haf­tes Ge­heim­nis barg. Die gan­ze Die­ner­schaft steck­te die Köp­fe zu­sam­men, als gleich dar­auf der alte Herr mit der Mie­ne wür­dig ver­hal­te­ner Neu­gier sei­nen er­ha­be­nen Be­su­cher, der nicht auf­hör­te zu lä­cheln, die Trep­pe her­auf nach sei­nem Stu­dier­zim­mer führ­te. Auch Lu­cre­zia sah den Herr­scher ein­tre­ten, der ihr Pate war, denn sie stand gleich­falls am Fens­ter und blick­te in den bren­nen­den Abend­him­mel, aber für sie hat­te das ma­gi­sche Far­ben­spiel eine an­de­re Be­deu­tung als für ih­ren Va­ter: in den Um­ris­sen der se­geln­den Gold­wölk­chen mein­te sie ein blon­des ger­ma­ni­sches Haupt zu er­ken­nen. Ah­nung sag­te ihr, dass et­was Au­ßer­ge­wöhn­li­ches im An­zug war, und et­was, das sie selbst be­traf. Sie woll­te sich zur Ruhe zwin­gen und zur ge­wohn­ten Be­schäf­ti­gung, aber kei­ne Ar­beit glück­te, sie war un­fä­hig selbst zu der ge­rings­ten Ver­rich­tung und muss­te sich, von Zim­mer zu Zim­mer ir­rend, dem qual­vol­len Zu­stand die­ser rast­lo­sen Muße er­ge­ben.

End­lich brach Lo­ren­zo auf, und der Va­ter ge­lei­te­te ihn bis vor die Schwel­le des Hau­ses. In sein Ar­beits­zim­mer zu­rück­ge­kehrt, schloss sich Ber­nar­do ein und schritt lan­ge ge­gen sei­ne Ge­wohn­heit auf­ge­regt hin und her. Nach ge­rau­mer Zeit kam er end­lich her­aus, ging in den Bü­cher­saal, und Lu­cre­zia sah von der halb­of­fe­nen Türe aus, wie er in der Däm­me­rung ein in kar­me­sin­ro­tes Le­der ge­bun­de­nes Buch vom Schran­ke nahm. Er schlug auf gut Glück auf und trat dann an das Fens­ter, um bei dem schwin­den­den Ta­ges­licht die Stel­le zu ent­zif­fern, die sein Fin­ger be­zeich­ne­te. Jetzt wuss­te Lu­cre­zia, dass der Va­ter eine schwe­re Ent­schei­dung sei­nem Vir­gil an­heim­ge­stellt hat­te.

Bei Tisch je­doch zeig­te Ber­nar­do sein ge­wöhn­li­ches un­durch­dring­li­ches Ge­sicht und die olym­pi­sche Ruhe, die ihm stets ein so großes Über­ge­wicht über die Um­ge­bung ver­lieh. Er scherz­te mit Lu­ci­us, der die Be­die­nung der Ta­fel über­wach­te, und sprach so schön und ge­wählt wie im­mer, wäh­rend sei­ne Toch­ter kei­nen Bis­sen ge­noss. End­lich nach ei­ner qual­voll lan­gen Stun­de wur­de un­ter den üb­li­chen Förm­lich­kei­ten die Ta­fel auf­ge­ho­ben, und nach­dem der Va­ter noch lang­sam und wohl­be­dacht die zu der Ge­sund­heits­pfle­ge nö­ti­gen tau­send Schrit­te ab­ge­schrit­ten hat­te, ließ er die Toch­ter in sein Stu­dier­zim­mer ru­fen, das die schwe­ben­de Am­pel jetzt freund­lich er­leuch­te­te, wäh­rend die Fens­ter und In­nen­lä­den ge­gen Nacht­luft und Zanza­ren1 ver­schlos­sen wa­ren.

Dort emp­fing sie die Mit­tei­lung, dass der frem­de Graf ihr die Ehre an­ge­tan habe, durch Sei­ne Ma­g­ni­fi­zenz um ihre Hand für je­nen jun­gen Rit­ter zu wer­ben, der bei den Kampf­spie­len so große Ehren ge­won­nen habe.

Lu­cre­zia saß auf ei­nem klei­nen Sche­mel zu Fü­ßen des Va­ters und rang nach Atem, wäh­rend er ru­hig fort­fuhr, ihr die Vor­tei­le die­ser Hei­rat und die eh­ren­vol­le Stel­lung, der sie am Hofe der Grä­fin Bar­ba­ra ent­ge­gen­ging, zu er­klä­ren.

»Ich will dir nicht ver­heh­len, dass mich die Wer­bung er­schüt­tert hat«, sprach er, lang­sam die Wor­te wä­gend, »denn ich hat­te an­de­res mit dir im Sin­ne. Aber es gibt hö­he­re Pf­lich­ten als die des Blu­tes. Wenn nicht alle Zei­chen trü­gen, so ist die­ser jun­ge Bar­bar der jet­zi­ge Be­sit­zer der Hand­schrift, nach der wir seit drei­ßig Jah­ren su­chen. Ich will nicht da­von re­den, was die­ser Fund für mich be­deu­tet, noch dass dein Oheim sein Le­ben da­für ge­las­sen hat. Aber den­ke an die Wis­sen­schaft und die gan­ze Ge­sit­tung un­se­rer Tage. Ein Ci­ce­ro! Sein li­ber jo­cu­la­ris! Den­ke, was es hei­ßen will, die­sen Ge­ni­us, den wir in der Ruhe, im Zorn, in der Be­geis­te­rung be­wun­dert ha­ben, jetzt auch im fei­nen at­ti­schen Scherz, in der mun­te­ren Wein­lau­ne ken­nen­zu­ler­nen! Nicht mehr als feu­ri­gen Red­ner oder als Phi­lo­so­phen, nein, als ge­sel­li­gen Tischnach­barn, mit Ca­jus und Ti­ti­us über All­tags­ge­gen­stän­de plau­dernd, doch voll köst­li­chen Sal­zes, voll fei­ner Wor­te und Wört­chen!« Herr Ber­nar­do schloss die Au­gen und mach­te ein Ge­sicht, als ob er Ka­vi­ar auf der Zun­ge zer­ge­hen las­se.

»Ich brau­che nichts wei­ter zu sa­gen, du bist un­ter­rich­tet ge­nug, um zu wis­sen, was auf dem Spie­le steht. Der Schatz ist reif, wenn wir ihn nicht he­ben, so ver­sinkt er viel­leicht auf ewig in den Schoß der Erde. Ein Ci­ce­ro!«

Längst war sein et­was ge­küns­tel­tes Spre­chen in den Ton wah­rer Emp­fin­dung über­ge­gan­gen. Jetzt riss ihm der Fa­den ent­zwei, er schlug die Au­gen zum Him­mel und wie­der­hol­te mit in­ni­ger An­dacht: »Li­ber jo­cu­la­ris! Li­ber jo­cu­la­ris!« in­des zwei Trä­nen lang­sam über das ehr­wür­di­ge Ge­sicht nie­der­ran­nen.

Lu­cre­zia schwieg noch im­mer. Die Ent­schei­dung war so jäh­lings über sie ge­kom­men, dass sie völ­lig über­wäl­tigt war. Erst nach ei­ner lan­gen Pau­se sag­te sie sto­ckend: »Habt Ihr Eure Zu­sa­ge ge­ge­ben?«

»Er wird sie sich mor­gen ho­len. Sie ist an eine Be­din­gung ge­knüpft, die du er­rätst. Er klä­re das dunkle Ende dei­nes Oheims auf und brin­ge mir den Ko­dex. Am Tage, wo Ci­ce­ros li­ber jo­cu­la­ris un­ver­sehrt vor mei­nen Au­gen liegt, wird er dein Gat­te, es sei ihm ge­schwo­ren.«

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