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Isolde Kurz

Phantasien und Märchen

Isolde Kurz

Phantasien und Märchen

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-962812-39-3

null-papier.de/540

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Inhaltsverzeichnis

Ha­schisch.

Der ge­borg­te Hei­li­gen­schein.

Ster­nen­mär­chen.

Die gol­de­nen Träu­me.

Kö­nig Filz.

Vom Leucht­kä­fer, der kein Mensch wer­den woll­te.

Dan­ke

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Haschisch.

Aus den Pa­pie­ren ei­nes Ver­schol­le­nen.

Won­ne­schau­er durch­rie­seln mich, ich lie­ge auf mei­nem Di­van aus­ge­streckt, des­sen Pols­ter mich wie wei­che Wol­ken tra­gen, eine stil­le al­les er­fül­len­de Se­lig­keit hat mein gan­zes We­sen durch­flu­tet. Mei­ne Ge­dan­ken zie­hen lang­sam und eben­mä­ßig hin wie ein Kahn den stil­len Fluss hin­un­ter­glei­tet an blü­hen­den Ufern vor­über; es ist ei­gent­lich gar kein Den­ken, son­dern ich schaue wie durch einen plötz­lich ge­ris­se­nen Schlei­er die Ur­be­stim­mung al­ler Din­ge. Das muss Nir­va­na sein, das »Nim­mer­wahn­land«, nach dem die Mensch­heit wie nach ei­ner glück­se­li­gen In­sel seufzt und in der Tat, kein Wahn­bild steigt mir auf, kei­ne ir­di­sche Vor­stel­lung kommt, mich in der Be­schau­ung des un­end­li­chen Glücks zu stö­ren. Die Welt ist mir gleich­gil­tig, Brü­der, Ver­wand­te, Freun­de habe ich nicht mehr, dies ist der Zu­stand der höchs­ten Phi­lo­so­phie und der höchs­ten Se­lig­keit. Ich habe vom Baum der Er­kennt­nis ge­ges­sen – der Baum der Er­kennt­nis heißt cana­bis in­di­ca – ich bin heu­te erst ge­bo­ren – ich bin wie Gott. –

Plötz­lich wur­de ich in der Be­trach­tung mei­nes se­li­gen Zu­stan­des durch das Krei­schen der Türe in den An­geln und durch eine tie­fe Bass­s­tim­me un­ter­bro­chen.

Es war Dr. H., der mit ei­ner Ci­gar­re im Mund und mit ei­ner Tas­se schwar­zen Kaf­fees in der Hand vor mich trat. Er bog sich über mich und be­mäch­tig­te sich mei­nes Hand­ge­lenks, um mir den Puls zu füh­len. Dies war mir im höchs­ten Gra­de läs­tig und ich hat­te ei­gent­lich Lust den un­be­ru­fe­nen Stö­rer weg­zu­schie­ben, dazu war mir aber mei­ne be­que­me Lage zu lieb.

»Gott sei Dank«, sag­te er, »dass Sie mir we­nigs­tens kei­nen Un­fug an­stel­len, die bei­den an­dern sind ganz von Sin­nen. Herr M. starrt mit ver­glas­ten Au­gen vor sich hin und be­haup­tet er sei trans­fe­rier­t und Herr B. woll­te so­eben zum Fens­ter hin­aus­flie­gen, ich muss ihn durch zwei Mann hal­ten las­sen. Das ver­wünsch­te Ex­pe­ri­ment! Ich fürch­te sehr, es nimmt ein bö­ses Ende.« –

Zu je­der an­dern Zeit hät­te die­se Nach­richt einen leb­haf­ten Ein­druck auf mich ge­macht, da die bei­den Ge­nann­ten mei­ne bes­ten Freun­de wa­ren, jetzt stör­te sie mich nur in­so­fern, als sie mei­ne Be­schau­ung un­ter­brach.

»Was kann das mei­ner Glück­se­lig­keit scha­den?« woll­te ich ent­geg­nen, fand es aber be­que­mer zu schwei­gen. Nach ei­ner Wei­le sag­te ich mit An­stren­gung: »Was ist die Uhr?« Mei­ne ei­ge­ne Stim­me klang mir rau und fremd und wie aus großer Fer­ne.

Aber ehe er ant­wor­ten konn­te, sprang die Türe auf und her­ein trat mit der Reit­peit­sche un­term Arm und Spo­ren an den Fü­ßen mein ver­stor­be­ner Freund, der Ritt­meis­ter von F. Ich wun­der­te mich nicht im ge­rings­ten über sein Er­schei­nen. Er kam dröh­nend mit sei­nen lan­gen, wuch­ti­gen Schrit­ten auf mich zu und sag­te mit dem ge­wöhn­li­chen Ton, mit dem er mich sonst zu ei­ner Mor­gen­pro­me­na­de ein­zu­la­den pfleg­te:

»He, Sie­ben­schlä­fer, ste­hen Sie auf und ma­chen Sie einen klei­nen Ritt mit mir, die Pfer­de ste­hen vor der Türe.«

»Der Sie­ben­schlä­fer sind Sie«, ent­geg­ne­te ich, aber nur in mei­nen Ge­dan­ken, denn ich brach­te kei­nen Ton her­vor. »Sie du­seln ja schon seit fast acht Jah­ren.«

Ich er­hob mich in­des­sen und folg­te ihm. Vor der Türe auf der däm­mern­den Stra­ße stan­den zwei ge­sat­tel­te Pfer­de. Er be­stieg sei­nen Brau­nen und ließ mir den Rap­pen, der mir we­gen sei­ner Tücken noch wohl im Ge­dächt­nis war.

»Fürch­ten Sie nichts«, sag­te er, ob­wohl ich mei­ne Be­denk­lich­kei­ten nicht hat­te laut wer­den las­sen. »Das Tier hat sich be­deu­tend ver­bes­sert, seit­dem es trans­fe­riert wur­de. Sie wis­sen ja, bei Se­dan – es ist mir un­ter dem Leib er­schos­sen wor­den.«

Ich be­merk­te jetzt, dass sei­ne Stim­me et­was To­tes, Ein­tö­ni­ges hat­te, was ihr sonst nicht ei­gen war.

Im Flug lie­ßen wir die däm­mern­de Cam­pa­gna, in der mei­ne Woh­nung lag, hin­ter uns, die Pfer­de schie­nen den Bo­den nicht zu be­rüh­ren, denn man hör­te kei­nen Huf­schlag. Als ich zu­fäl­lig nach dem Ber­gein­schnitt hin­über­blick­te, wo das Städt­chen Fie­so­le liegt, da sah ich einen un­ge­wohn­ten Lich­ter­glanz und der Kirch­turm, des­sen Zif­fer­blatt sonst bei Nacht im Mond­licht schim­mer­te, war ver­schwun­den.

»Die Fäs­su­la­ner be­ra­ten eben auf dem Forum, ob sie der rö­mi­schen Ge­sandt­schaft den ver­lang­ten Zu­zug be­wil­li­gen sol­len«, er­klär­te mir mein Beglei­ter, in­dem er mit der Reit­peit­sche nach der er­leuch­te­ten Stadt hin­über deu­te­te.

Ich hat­te kei­ne Zeit mich dar­über zu ver­wun­dern, denn eine rie­si­ge Mau­er, die ich vor­her nicht ge­se­hen hat­te, stieg plötz­lich schwarz vor mei­nen Au­gen auf und wir rit­ten durch einen en­gen Thor­weg, des­sen Pflas­ter un­ter uns ächz­te und dröhn­te.

»Das ist die Por­ta San Gal­lo, wir sind im al­ten Flo­renz«, sag­te mein Ge­fähr­te.

Ich sah mich mit großen Au­gen um, ver­schwun­den war der Via­le mit sei­nen Blü­ten­bäu­men, mit sei­nem Wei­her und sei­nen An­la­gen, eine eng zu­sam­men­ge­dräng­te schwar­ze Häu­ser­mas­se starr­te mir ent­ge­gen, aus der sich nur ein­zel­ne Tür­me und Be­fes­ti­gungs­wer­ke noch dunk­ler und dro­hen­der ab­ho­ben, aber mein Er­stau­nen wuchs, als wir in die en­gen fins­tern Gas­sen ein­bo­gen. Laut­lo­ses Men­schen­ge­wim­mel füll­te alle Stra­ßen und Plät­ze, zer­lump­te halb­nack­te Ge­stal­ten mit fah­len Ge­sich­tern und ver­glas­ten Au­gen lehn­ten an den Häu­sern oder la­gen auf dem Bo­den, Pries­ter dräng­ten sich mit ih­ren Rauch­fäs­sern durch die schwei­gen­de gleich­sam ver­stei­ner­te Men­ge, die schwar­zen Brü­der der Mi­se­ri­cor­dia eil­ten fa­ckel­tra­gend mit Bah­ren und Sär­gen vor­über, Sär­ge wur­den aus den Häu­sern ge­tra­gen, aus den Fens­tern nie­der­ge­las­sen, Sär­ge be­deck­ten den Bo­den, ganz Flo­renz schi­en ein ein­zi­ger, großer schwar­zer Sarg. Und da­bei summ­te und dröhn­te es mir vor den Ohren, wie das Ge­läut von hun­dert Glo­cken und eine feuch­te, mo­der­ar­ti­ge At­mo­sphä­re um­weh­te mich wie Gra­bes­luft.

»Das ist die Pest, die hier ihre Ern­te hält«, sag­te mein Ge­fähr­te, »vor­wärts, vor­wärts!«

Die Pfer­de flo­gen wei­ter, mir aber war es, als ob alle Tür­me der Stadt mit den Köp­fen zu wa­ckeln an­fin­gen, und als ob sich die Häu­ser ge­gen­ein­an­der neig­ten, um sich wie ein Gr­ab­ge­wölb über un­sern Häup­tern zu schlie­ßen. Wei­ter, wei­ter, die schwe­ren Pa­läs­te be­gan­nen zu tan­zen, die Kir­chen schwank­ten hin und her, al­les schi­en aus den Fu­gen ge­ris­sen, ohne Bo­den sich im Lee­ren zu dre­hen. Ängst­lich such­te ich den Turm des Palaz­zo Vec­chio, da­mit er mei­nem Auge einen Halt gebe, denn das war der ein­zi­ge fes­te Punkt in die­sem tol­len Ge­wim­mel.

Als wir die alte Pi­az­za del­la Si­gno­ria er­reich­ten, fan­den wir das Ge­wühl noch dich­ter als in den an­dern Stadt­tei­len. Ich sah aber kei­ne Pest­kran­ken mehr, son­dern ein lär­men­des, to­ben­des Volk, das sich un­ter­ein­an­der dräng­te und stieß und die Häl­se reck­te, um ir­gend ein au­ßer­ge­wöhn­li­ches Schau­spiel zu er­ha­schen. Nie­mand be­merk­te uns, nie­mand wich uns aus und doch glit­ten un­se­re Pfer­de durch das dich­tes­te Ge­wühl ohne je­mand zu be­rüh­ren, es war als sei al­les nur Rauch und Dunst und Sche­men. Vor dem Palaz­zo Vec­chio rag­te ein Gerüst aus Schei­tern, Söld­ner mit Hel­le­bar­den um­stan­den es, Rats­her­ren in wal­len­den To­gen schrit­ten ma­je­stä­tisch die Trep­pe des Palas­tes her­un­ter und wur­den vom Vol­ke ju­belnd be­grüßt.

»Was ist das? Ein Au­to­da­fe!?« frag­te ich mei­nen Beglei­ter.

Er nick­te. »Sie er­war­ten eben den Fra Gi­ro­la­mo. Vor­wärts!«

Un­se­re Pfer­de wand­ten sich dem Arno zu. Da sah ich, wie aus ei­ner der Ni­schen, die die Hal­len der Uf­fi­zi­en schmücken, eine ge­wal­ti­ge Ge­stalt lang­sam her­un­ter­stieg. Sie trug einen Lor­beer­kranz um die stren­gen Schlä­fen, in der Lin­ken hielt sie ein Buch, die Rech­te war dro­hend er­ho­ben, wie zu ei­ner schwe­ren Ver­wün­schung. Mein Beglei­ter wich ehr­er­bie­tig zur Sei­te. »Den Hut ab«, flüs­ter­te er mir zu, »es ist Dan­te.«

Aber so ver­wor­ren es auch in mei­nem Kop­fe aus­sah, das war mir doch zu stark und mein his­to­ri­sches Ge­wis­sen be­gann sich zu sträu­ben. Zu­gleich über­fiel mich aber auch eine töd­li­che Angst, denn es war, als müs­se ich wahn­sin­nig wer­den.

»Um Got­tes­wil­len«, rief ich, »was ist das? Sa­vo­na­ro­la, Dan­te, Rö­mer in Fie­so­le? In wel­chem Jahr­hun­dert le­ben wir denn? Was ist aus der Zeit­fol­ge ge­wor­den?«

»Zeit­fol­ge?« sag­te mein Beglei­ter ge­heim­nis­voll. »Das ist auch so ein be­schränk­ter ir­di­scher Be­griff. Es ist ja al­les gleich­zei­tig vor­han­den, die Staub­ge­schöp­fe kön­nen es nur nicht auf ein­mal fas­sen und ha­ben es des­halb in tau­send klei­ne Schach­teln ein­ge­teilt. Se­hen Sie, das Heu­te ist zu­gleich Ges­tern und Mor­gen, die To­ten sind noch le­ben­dig, die Le­ben­den sind zu­gleich schon tot und die noch Un­ge­bo­re­nen sind schon von Ur­be­ginn vor­han­den. Ver­ste­hen Sie mich?«

So un­sin­nig das al­les war, so glaub­te ich es doch in die­sem Au­gen­blick sehr gut zu ver­ste­hen und es war mir als wür­de es plötz­lich hell in mei­nem Kopf.

»Ja«, rief ich ent­zückt, »das ist die Wahr­heit, sie ist mir oft schon blitz­ar­tig durch den Kopf ge­zuckt, aber ich konn­te sie nicht hal­ten. Jetzt aber habe ich sie ganz er­fasst. Ja, es ist al­les gleich­zei­tig, Ge­gen­wart, Ver­gan­gen­heit und Zu­kunft, al­les durch­dringt sich, al­les ist eins.«

»Sie wer­den dies spä­ter nim­mer ver­ste­hen, ar­mer Freund«, sag­te der an­de­re »und es wird sein, als hät­ten Sie nichts ge­schaut.«

Wir hat­ten jetzt die fins­te­re Stadt­mau­er im Rücken und braus­ten in schwin­deln­der Eile über ein wei­ches Erd­reich hin; Land­häu­ser, Fel­der, Dör­fer tauch­ten auf Se­kun­den auf und ver­schwan­den eben­so schnell in der Nacht. Ich hat­te nicht Zeit, auf das al­les zu ach­ten, ich war nur be­schäf­tigt, die Er­leuch­tung, die plötz­lich über mich ge­kom­men war, fest­zu­hal­ten. »Al­les ist gleich­zei­tig, al­les ist eins«, wie­der­hol­te ich mir un­auf­hör­lich.

Wei­ter und wei­ter ging’s, da öff­ne­te sich end­lich eine wei­te, von za­cki­gen Fel­sen be­grenz­te Ebe­ne vor un­se­ren Au­gen, in der Fer­ne däm­mer­te die schrof­fe Apen­ni­nen­wand.

»Wir sind zu Pi­sto­ja«, sag­te mein Beglei­ter. Das gan­ze Feld war über­sät von Trup­pen, die wie zum An­griff ge­rüs­tet stan­den. Ich ver­nahm ver­wor­re­nes Ge­tö­se, ich sah Waf­fen und Hel­me blin­ken und bog mich im Sat­tel vor, um das Feld­zei­chen zu er­ken­nen, das aus ih­rer Mit­te her­vor­rag­te und ei­nem rö­mi­schen oder fran­zö­si­schen Ad­ler glich.

»Sind das die Le­gio­nen Na­po­le­ons«, frag­te ich, »oder be­rei­tet sich hier im Dun­keln eine Schlacht der Zu­kunft vor, die noch in kei­nem Ge­schichts­buch ver­zeich­net steht?«

»Wir sind im La­ger Ca­ti­li­nas«, war die Ant­wort, »dort ne­ben dem Ad­ler steht der Feld­herr und gibt eben das Si­gnal.«

In die­sem Au­gen­blick er­scholl Trom­pe­ten­ge­schmet­ter, die Ko­hor­ten rück­ten im Lauf­schritt vor, die feind­li­che Rei­te­rei flog von der an­dern Sei­te her­bei, die Hee­re ver­misch­ten sich un­ter marker­schüt­tern­dem Ge­tö­se. Mein Beglei­ter woll­te mich zu­rück­hal­ten, aber schon hat­te mich der Schlacht­ruf mit­ge­ris­sen und mein Pferd trug mich an der Sei­te des Füh­rers in das dich­tes­te Ge­wühl. Ich sah einen ver­wor­re­nen Knäu­el von Men­schen und Pfer­den, ich hör­te das Stöh­nen der Ver­wun­de­ten, und das Klir­ren der Har­ni­sche, die auf­ein­an­der prall­ten, denn hier wur­de Mann an Mann ge­run­gen. Ein See von Blut stieg vor mei­nen Au­gen auf, im­mer wei­ter riss mich die Schlacht, ich saß jetzt auf Pfer­de­kno­chen und ar­bei­te­te mich durch gan­ze Hü­gel von Lei­chen durch. Sieh, wer liegt da am Bo­den ent­seelt, aber mit dro­hend ge­fal­te­ter Stirn, mit der im Tod er­starr­ten Rech­ten noch den Griff des Schwer­tes um­klam­mernd? Ich er­kann­te das trot­zi­ge Ge­sicht des Feld­herrn, teil­neh­mend beug­te ich mich zu ihm nie­der, da er­scholl plötz­lich eine nä­seln­de Stim­me hin­ter mir:

»Pau­lu­lum eti­am spi­rans, fero­ciam­que ani­mi quam ha­bu­e­r­at vi­vus in vol­tu re­ti­nens.« Er­staunt dreh­te ich mich um und er­kann­te mei­nen Beglei­ter, der ne­ben mir stand. Es war aber nicht mehr der Ritt­meis­ter von F., son­dern mein al­ter Prä­zep­tor M., der mit ei­ner Ta­baks­do­se in der Hand auf dem Ka­the­der thron­te und den Sal­lust er­klär­te, in­dem er sich an den mar­kigs­ten Stel­len durch mo­ra­li­sche Be­trach­tun­gen un­ter­brach.

»Ja«, nä­sel­te er und nahm eine Pri­se, »da­hin ha­ben noch im­mer Ehr­geiz und Ver­derbt­heit ge­führt. O Ca­ti­li­na, du warst ein tüch­ti­ger Sol­dat, aber durch­aus kein mo­ra­li­scher Cha­rak­ter. Hü­tet euch, ihr Jüng­lin­ge, ihm nach­zu­ei­fern.«

»Aber so kom­men Sie doch her­un­ter, viel­leicht ist noch Hil­fe mög­lich«, rief ich angst­voll und griff nach der Hand des To­ten.

»Hin­weg«, rief er, und streck­te mir das klei­ne Stöck­chen, in das die Reit­peit­sche ein­ge­schrumpft war, ent­ge­gen: »Sie sind der schlech­tes­te La­tei­ner in der gan­zen Klas­se, Sie ha­ben kein Recht an die­sen To­ten.«

Be­stürzt ließ ich den Arm des Ge­fal­le­nen fah­ren, denn ich sah in die­sem Au­gen­blick, wie der Ka­the­der mei­nes klei­nen Prä­zep­tors den Hals aus­reck­te, sich dehn­te und in die Höhe schwoll und sich plötz­lich als ein rie­si­ger Strauß in die Lüf­te er­hob. Gleich­zei­tig fühl­te ich, dass auch mir der Bo­den un­ter den Fü­ßen schwand, ein Et­was, von dem ich nicht wuss­te, ob es ein Luft­bal­lon, ein Vo­gel oder ein Pferd war, trug mich schwin­deln­den Flugs in die Höhe, dass bald die höchs­ten Za­cken der Apen­ni­nen wie Sand­kör­ner un­ter mir la­gen. Aber Ent­set­zen sträub­te mir die Haa­re, als ich zur Erde nie­der­sah: ich er­blick­te einen wahn­sin­ni­gen Wirr­warr, Mee­re, Ge­bir­ge und Län­der tanz­ten aus den Fu­gen ge­ris­sen in chao­ti­schem Ge­wim­mel, Bla­sen spran­gen auf, aus ih­nen stie­gen an­de­re Bla­sen em­por, al­les misch­te und ver­schlang sich und ganz un­ten saß eine rie­si­ge Kreuz­spin­ne, die end­lo­se Fä­den spann, mit de­nen sie al­les um­strick­te, und ei­ner die­ser Fä­den spann sich bis an mein Hirn em­por. Nir­gends war ein fes­ter Punkt, nur die Zah­len stan­den in Reih’ und Glied, Ge­wehr bei Fuß und zo­gen gleich­sam einen star­ren mi­li­tä­ri­schen Kor­don um das Gan­ze, wie ein streng dis­ci­pli­nier­tes Ar­mee­korps eine auf­rüh­re­ri­sche Stadt ein­schließt.

Im­mer hö­her ging’s mit rei­ßen­der Schnel­le, ich wun­der­te mich selbst, dass mir nicht der Atem ver­ging. Wohl­be­kann­te geo­me­tri­sche Fi­gu­ren saus­ten, hin­k­ten und ku­gel­ten je nach ih­rer Lei­bes­be­schaf­fen­heit an mir vor­über, ei­ni­ge nick­ten mir höh­nisch zu und ich mein­te ge­ra­de die­je­ni­gen zu er­ken­nen, die mir wäh­rend mei­ner Schul­zeit das meis­te Kopf­zer­bre­chen ver­ur­sacht hat­ten, ich sah wie sich par­al­le­le Li­ni­en in der Unend­lich­keit schnit­ten; ein un­förm­li­ches, vier­e­cki­ges We­sen, das mit zwei Ar­men wie mit Wind­müh­len­flü­geln um sich focht, wälz­te sich mir ent­ge­gen und ächz­te und quiek­te: »Das Qua­drat der Hy­po­thenu­se ist gleich dem Qua­drat –«

»Um Got­tes­wil­len«, schrie ich, »das ist ja der py­tha­go­räi­sche Lehr­satz, er kommt, er will mich zwin­gen, ihn zu be­wei­sen.«

»Sei­en Sie ru­hig«, be­schwich­tig­te mein Beglei­ter, den ich jetzt wie­der ganz deut­lich er­kann­te. »Hier muss nichts mehr be­wie­sen wer­den, hier ver­steht sich al­les von selbst, wir sind jetzt in der Sphä­re der Phi­lo­so­phie.«

Hier be­gann mir das At­men schon merk­lich schwe­rer zu wer­den, Schwin­del er­fass­te mich und ich bat mei­nen Beglei­ter zu­rück­blei­ben zu dür­fen.

»Nein, nein«, rief er, »Sie ha­ben die Wahr­heit noch nicht ge­se­hen, wir müs­sen wei­ter, hö­her, ich neh­me Sie mit in die rei­ne Abstrak­ti­on.«

»Gna­de, Gna­de«, schrie ich voll Ent­set­zen, »ich kann nicht mit in die Abstrak­ti­on, ich bin ja Fleisch und Blut.«

»Das macht nichts, Sie wer­den dort oben schon ab­stra­hiert wer­den, die gan­ze Welt muss ab­stra­hiert wer­den, im­mer fort, im­mer fort bis sie schließ­lich von sich sel­ber ab­stra­hiert, das ist die Zu­kunft des Uni­ver­sums. Nur Mut, wir ha­ben nicht mehr weit bis zur ers­ten Sta­ti­on, bis da­hin rei­chen die Zah­len, dann hö­ren aber auch die auf, weil der Wel­täther zu dünn wird.«

Und in der Tat, da stan­den sie noch im­mer und stie­gen und türm­ten sich auf, die wohl­be­kann­ten Zah­len mit ih­rer Deszen­denz ins Äo­nen­haf­te, doch im­mer noch in der Re­gi­on der We­sen­heit, sie ga­ben mei­nem Be­wusst­sein den letz­ten An­halts­punkt, wie soll­te es aber nach­her wer­den? Hö­her und hö­her ging’s, schwin­deln­de blitz­ar­ti­ge Ide­en zuck­ten vor mir auf, ich mein­te schon sie zu fas­sen, aber weg wa­ren sie. Gro­tes­ke Ge­dan­ken­for­ma­tio­nen – ich kann sie nicht an­ders be­zeich­nen – schos­sen an mir vor­über und schri­en im Tone der Flo­ren­ti­ner Drosch­ken­kut­scher: »Vuo­le, Si­gno­re, vuo­le?« Phi­lo­so­phi­sche Sys­te­me bo­ten sich an, uns in die rei­ne Abstrak­ti­on zu füh­ren; mein Beglei­ter stieß sie mit der Reit­peit­sche zu­rück und es ging wei­ter. Auf ei­nem Mei­len­stei­ne saß eine ver­hüll­te Ge­stalt, die mir mit der Hand wink­te. »Es ist die Mys­tik, wei­chen Sie aus«, raun­te mir mein Ge­fähr­te zu. Schau­er er­griff mich und zu­gleich emp­fand ich eine hef­ti­ge An­zie­hung, un­wi­der­steh­lich woll­te es mich nach je­ner Sei­te rei­ßen, aber mein Füh­rer fass­te mich noch recht­zei­tig bei den Haa­ren und zerr­te mich in der ent­ge­gen­ge­setz­ten Rich­tung fort. Ei­nen Au­gen­blick ris­sen die Wol­ken und ich mein­te einen schö­nen wohl­be­kann­ten Frau­en­kopf zu er­bli­cken, aber als­bald ver­wisch­ten sich die Züge und es ward wie­der Nacht um mich.

Aber halt, was ragt dort un­be­weg­lich wie ein Mei­len­zei­ger aus dem Cha­os her­vor und streckt den Arm aus? »Das ist der Weg­wei­ser nach der Sphä­re der rei­nen Abstrak­ti­on«, sag­te mein Füh­rer. Als ich ihn aber nä­her an­sah, er­kann­te ich einen mensch­li­chen Kopf und die­ser Kopf trug ganz deut­lich die Züge des Kö­nigs­ber­ger Phi­lo­so­phen. Im Nu stürz­te ich auf ihn zu und um­klam­mer­te ihn mit Hef­tig­keit, als ob er mich schüt­zen kön­ne. Da las ich auf sei­nem Arm die Auf­schrift: »Zur rei­nen Abstrak­ti­on.« Die Arme san­ken mir her­ab und wil­len­los ließ ich mich wei­ter zie­hen.

»Se­hen Sie hin­ab«, ge­bot plötz­lich mein Beglei­ter. Ich sah hin­ab und er­kann­te un­ser gan­zes Pla­ne­ten­sys­tem, das vor mei­nen Au­gen aus­ge­brei­tet lag. Statt des form­lo­sen Cha­os er­blick­te ich jetzt deut­lich un­zäh­li­ge ein­zel­ne Welt­kör­per, die sich in gleich­mä­ßi­gen Schwin­gun­gen durch­ein­an­der dreh­ten, aber ihre Ge­sich­ter wa­ren schmerz­ver­zerrt und zu­gleich schlu­gen tau­send­stim­mi­ge, mark­zer­rei­ßen­de Jam­mer­lau­te an mein Ohr.

»Das ist der so­ge­nann­te Welt­schmerz«, er­klär­te mein Füh­rer, »und die­se Mu­sik nennt man Sphä­ren­har­mo­nie.«

»Ist’s mög­lich?« rief ich er­schüt­tert aus, »also auch sie lei­den? Aber was tun sie denn?«

»Das Glei­che wie die Klei­nen auch: sie quä­len und wer­den ge­quält.«

»Aber um Got­tes­wil­len, wie kön­nen sie das? Sie ha­ben ja kei­nen Wil­len und ge­hen nur ge­wie­se­ne Bah­nen.«

»Ha­ben wir denn einen Wil­len und ge­hen wir nicht auch ganz ge­wie­se­ne Bah­nen? Gera­de so nimmt sich das Men­schen­le­ben in der Vo­gel­per­spek­ti­ve aus, nur in ver­klei­ner­tem Maß­stab.«

»O Gott«, rief ich, »also hat der Pes­si­mis­mus recht und ich muss­te bis hier her­auf kom­men, um das zu er­fah­ren!«

»Pes­si­mis­mus«, sag­te er streng, »das ist grund­ver­kehrt und ganz ir­disch.«

»Aber die gan­ze Schöp­fung ist doch nur ein dis­har­mo­ni­sches Jam­mer­ge­schrei.«

»Un­sinn«, sag­te er, »vor dem ver­ste­hen­den Ohr wer­den die­se Töne zur schöns­ten Me­lo­die. Ha­ben Sie nie eine Kat­zen­or­gel ge­se­hen? Man kneipt eine Rei­he Kat­zen am Schwanz ein und bringt je­der einen Schmerz bei. Jede kreischt ihre Note und man kann so ein gan­zes Kon­zert auf­füh­ren. So wer­den auch die­se Schmer­zen­s­tö­ne da oben zum rei­nen Voll­ak­kord.«

Ich glaub­te ihn völ­lig zu ver­ste­hen. »Ja«, rief ich hin­ge­ris­sen – »Sphä­ren­har­mo­nie, Welt­schmerz, Kat­zen­or­gel – das ist das Rät­sel, über des­sen Lö­sung Jahr­tau­sen­de ge­son­nen ha­ben. Wenn mir nur die­se gött­li­che Er­kennt­nis nicht wie­der ab­han­den kommt!«

Jetzt aber fühl­te ich, dass mir der Atem aus­ging, das Blut quoll mir aus den Fin­ger­spit­zen und ich emp­fand eine na­men­lo­se Qual, wäh­rend wir im­mer noch hö­her stie­gen.

»Nur Mut«, flüs­ter­te mein Beglei­ter, »wir nä­hern uns schon der rei­nen Abstrak­ti­on, wir sind gleich vollends am Ziel.«

Das be­täu­ben­de Ge­tö­se, das uns bis hier­her be­glei­tet hat­te, ver­stumm­te all­mäh­lich, bläu­li­cher Äther um­floss mich, und mach­te mir das At­men un­mög­lich. Ich streng­te mich an um et­was zu un­ter­schei­den und mein­te auch wirk­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­