Guido Kalberer
DIALEKTisch+
Was Dialekt ist
Herausgegeben von Guido Kalberer und Simone Meier
DÖRLEMANN
In Zusammenarbeit mit dem Tages-Anzeiger Zürich
eBook-Ausgabe 2019
Alle Rechte vorbehalten
© 2019 Dörlemann Verlag AG, Zürich
Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf
Satz und eBook-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-03820-970-6
www.doerlemann.com
In regelmässigen Abständen diskutiert die Schweiz über ihr Verhältnis zu den Deutschen. Sachbezogene Argumente und emotionale Urteile vermengen sich dabei. Alle Meinungen sind vertreten, nur eine nicht: dazu keine Meinung zu haben. Wie kann die deutschsprachige Schweiz, unbestritten Teil des alemannischen Sprachraums, kreativ auf die Wiederkehr dieser Debatte reagieren? Das fragten wir uns an einer Sitzung der Kulturredaktion des Tages-Anzeiger.
Schnell war klar, dass wir die Diskussion über die Kuhschweizer und Sauschwaben, so der Titel einer der vielen Publikationen zum Thema, nicht um einen weiteren Beitrag erweitern wollten. Da der »Narzissmus der kleinen Differenzen« (Sigmund Freud) am deutlichsten in der Sprache zum Ausdruck kommt, wollten wir einige Wörter und Begriffe unseres Dialektes in Kürzestform vorstellen. Und da die Schweiz, flächen- wie einwohnermässig kleiner als Baden-Württemberg, nicht nur politisch, sondern auch sprachlich ein Flickenteppich ist, eine Gemeinschaft ohne normierte Umgangssprache, fand die ganze Bandbreite unserer Alltagssprache Eingang ins Blatt: von Zeiningen über Luzern bis nach Schaffhausen, von Wangs über Winterthur bis nach Zürich. Und da es das Schweizerdeutsche nur in einem Wechselspiel mit dem Hochdeutschen gibt, lag der Titel der Kolumne auf der Hand: »Dialektisch«.
Die Sprachbetrachtungen sollten bewusst subjektiv sein, gefärbt von der Mentalität des jeweiligen Landesteils, aus dem der oder die Schreibende stammt. Wir strebten weder ein tägliches Idiotikon noch wissenschaftlich verbrämte Analysen an. Das »Dialektisch« war ein Versuch, der bei mangelndem Interesse jederzeit abgebrochen werden konnte. Was dann jedoch eintrat, hat uns überrascht: Die Leserinnen und Leser haben schon nach wenigen Tagen begeistert auf die neue Rubrik reagiert, und bis heute ist das so geblieben. Keine Kolumne hat bisher so viel Resonanz gefunden wie diese wenigen Sätze und Gedanken zu einem Dialektwort. Der Befund zeigt: Je näher die Dinge liegen, desto mehr Leute sehen sie.
Mit diesem dialektischen Umweg nahmen wir direkt Kurs aufs Ziel. Die eher humorlose Debatte über die Deutschen und die Schriftsprache (zwei voneinander nicht loslösbare Begriffe) wollten wir mit den wenigen Zeilen etwas aufheitern. In Kenntnis der (sprachlichen) Eigenheiten lässt sich auch das Andere, das doch so nahe liegt, entspannter betrachten. Indem wir für einmal nicht auf die deutsche Schriftsprache rekurrierten, sondern uns auf das Hier und Jetzt des gesprochenen Worts eingelassen haben, wurde eine neue Ebene ins Spiel gebracht: Das, was in Büchern und Zeitungen sonst nicht zum Zuge kommt, ja buchstäblich verdrängt wird, sollte eine Stimme bekommen. Auf die Thematisierung des sprachlichen Alltags reagierten die Leserinnen und Leser mit anhaltender Neugier und unzähligen Briefen und Mails.
Die Bereitschaft des Publikums, bei diesen Sprachspielen mitzumachen und Vorschläge zu unterbreiten, hat die Redaktion beflügelt. Je mehr Applaus uns entgegengebracht wurde, desto grösser wurde unsere Motivation, mit weiteren Begriffen die kleine Erfolgsgeschichte weiterzuschreiben. Es kam bei dieser Recherche auch häufig zu einer Begegnung mit der Kindheit, da wir merkten, dass wir einige Wörter aus der Vergangenheit kannten, die kaum noch gegenwärtig sind. Daher ist es auch kein Zufall, dass neben den Mails bemerkenswert viele handgeschriebene Briefe unsere Redaktion erreichten. Es entstand ein Austausch über die Generationen hinweg, häufig mit dem Leserwunsch verbunden, alle bisher erschienenen Beiträge zugeschickt zu bekommen. Mit diesem Büchlein wird nun die Sammlung der »Dialektisch« für alle erhältlich sein – und damit ein Dialog in einem anderen Medium weitergeführt.
Zürich im April 2011
Guido Kalberer
Ist es nicht aamächelig, dass sich schon an zweiter Stelle in diesem Büchlein ein Ääli findet? Denn so ein Ääli führt doch meist zu einem Schmützli und dann ganz gleitig zu einem Gschleik. Und wenn man noch ein bisschen chüderlet und bittibätti macht, kommt dabei gelegentlich ein Bodesuri heraus, aus dem vielleicht einmal ein Schnügel, ein Löli, ein Tüpflischiisser, ein Schutzgatter oder gar ein Plagööri wird, man weiss es nie.
Wir von der Kultur- und Gesellschaftsredaktion des Tages-Anzeigers haben jedenfalls unter eifriger Mitarbeit unserer Leserschaft viele neue »Dialektisch«-Kolumnen geboren, die 112 besten davon finden sich in diesem Band, und wie schon bei den Kolumnen zum ersten Band, der vor einem Jahr erschien, waren wir dabei vor allem eins: total uneinig. Sie, liebe Leserinnen und Leser, können sich kaum vorstellen, wie das zu und her geht, wenn all unsere regionalen Dialekte aufeinandertreffen, wenn der Zürcher so gar nicht mit der Fricktalerin einig geht, und der Luzerner und die Schaffhauserin aus zwei verschiedenen Ländern zu kommen scheinen. Auch der Winterthurer ist oft ein Eigenbrötler, und erst der St. Galler – die Deutschen unter uns verstehen dann jeweils eh nur Chuchichäschtli. Hundert Stunden haben wir schon darüber diskutiert, ob ein Hackfleischtätschli und ein Hackfleischtötschli wirklich dasselbe sind (ja!), gefühlte tausend Leser hatten dazu auch noch eine Meinung, das gleiche gilt für den Schranz und den Schlanz (auch ja!).
Irgendwann haben sich diese Worte eben genauso unterschiedlich in unsere Münder geschlichen, meist war es in unserer jeweiligen Kindheit, als sie uns überliefert wurden von Eltern oder Grosseltern. Sie sind das Erbe, auf das wir uns ein Leben lang zurückbesinnen können, es ist allerdings nirgendwo testamentarisch festgehalten, es ist unsere mündliche Geschichte, die Oral History, die Mundart. Wahrscheinlich gibt es, genau betrachtet, so viele einzelne Mundarten, wie es Schweizerdeutsch sprechende Menschen gibt.
Es hat sich bei unseren impressionistischen Sprachbetrachtungen und -spielereien, die nichts mit der Arbeit unserer wissenschaftlichen Kollegen vom Schweizerischen Idiotikon zu tun haben, unweigerlich eine grosse Portion Nostalgie ergeben. Bis wir merkten, dass unsere Mundart nicht nur eine Vergangenheit hat, die immer ein bisschen nach alten Filmen von Kurt Früh und Chansons von Paul Burkhard oder Mani Matter klingt. Nein, sie hat definitiv auch eine Zukunft.
Das Schweizerdeutsche ist ein grosses, lautmalerisches, regional flexibles Wesen, das sich auch schon in seiner Vergangenheit kunstvoll und diskret an die internationale Verwandtschaft anzulehnen wusste: Oder haben das englische »anyway« und unser »einewäg« etwa nicht ganz klar die gleichen Wurzeln? Und dann sagt es auch noch die Silbe »art« in Mundart: Wie wir reden, hat unweigerlich mit Kreativität zu tun. Und Kreativität schafft Neues. Da ist zum Beispiel der kleine Sohn einer Kollegin, der für sich das Wort »chnüdele« erfunden hat, was null und nichts mit dem hochdeutschen »Knuddeln« zu tun hat. Und da sind unsere Teenager, die ganz ungeniert das »Bümsi« im Mund führen und damit eine bestimmte Gattung Frau meinen wie auch das, was sich am besten mit so einer Frau anstellen lässt.
So ein Bümsi entspricht in seiner Deutlichkeit und Knappheit ganz ideal einem nüchternen, schweizerischen Pragmatismus. Wer das jetzt kurlig oder gar schepps findet, der ist bigoscht ein Finöggeli. Und wir hoffen von Herzen, dass Sie sich mit unserem Büchlein gut amüsieren. Beziehungsweise vor Plausch fast vergitzle.
Zürich im Mai 2012
Simone Meier