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Carmen Gerstenberger

Erlösung

Das Buch:

 

Während ihrer Abwesenheit in New York ist es Alasar gelungen, das Sanctuarium und damit seine Macht zurückzuerobern. Als Darius, Solvin und Talin in ihre Welt zurückkehren, stehen sie vor einem neuen Krieg. Eine gnadenlose Jagd auf die verbliebenen Vampire hat begonnen. Ein letztes Mal begeben sie sich auf die Suche nach Unterstützung, um das Unmögliche zu wagen: Die endgültige Vernichtung Alasars. Während Talin gemeinsam mit Caris andere Clans ausfindig macht, muss er sich mit den Abgründen seiner Seele auseinandersetzen, die ihn zu brechen drohen. Konfrontiert mit seiner Vergangenheit, einem längst vergangenen Leben und fremden Empfindungen, muss er sich entscheiden.

 

Die Autorin:

 

Carmen Gerstenberger, 1977 in Esslingen am Neckar geboren, lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in einem kleinen Ort in der Nähe. Die Liebe zu Büchern und Fantasy hat Carmen schon immer begleitet, doch erst 2014 wagte sie sich an ihr erstes Manuskript. Seitdem schreibt sie romantische, lustige oder fantastische Geschichten und hofft, dass sie noch viele weitere erzählen darf.

 

www.carmen-gerstenberger.de

 

 

Carmen Gerstenberger

 

 

Roman

 

 

 

Erlösung – Schattenwelt 3

Carmen Gerstenberger

 

Copyright © 2017 at bookshouse Ltd.,

Ellados 3, 8549 Polemi, Cyprus

Umschlaggestaltung: © at bookshouse Ltd.

Coverfotos: www.shutterstock.com

Satz: at bookshouse Ltd.

Druck und Bindung: bookwire GmbH

Printed in Germany

 

ISBNs: 978-9963-53-810-2 (Paperback)

978-9963-53-811-9 (E-Book .pdf)

978-9963-53-812-6 (E-Book .epub)

978-9963-53-813-3 (E-Book Kindle)

 

 

www.bookshouse.de

 

 

 

Urheberrechtlich geschütztes Material

Für Simon

 

Weil ohne dich nichts möglich wäre

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

Epilog

Danksagung

 

 

 

Talin traute der Sache nicht. Seit zwei Tagen befanden sie sich bereits in dem Versteck dieser Caris. Eine Höhle inmitten der zugigen Berglandschaft, die ihrem Clan einst als Unterschlupf diente, wenn die Temperaturen in den eisigen Höhen zu tief sanken. Bevor sie alle auf Alasars Befehl hin abgeschlachtet worden waren. Dennoch stank es ihm, dass sie einer Fremden vorbehaltlos gefolgt waren. Seit seine Brüder derart widerlich verliebt waren, schienen ihre Gehirne ohnehin nicht mehr zu funktionieren. Darius hatte nach ihrer Ankunft kurzerhand beschlossen, dass sie bei ihr sicher wären, doch wie konnte er das wissen? Keiner von ihnen kannte sie, und niemand konnte sagen, ob sie nicht doch in eine Falle gelockt würden. Sol, die Nervensäge, hatte daraufhin argumentiert, dass sie sich in New York schließlich auch Emma angeschlossen hatten, ohne sie zu kennen. Also hatte Tal brummend nachgegeben. Was jedoch nicht hieß, dass er es gutheißen musste. Aber ihn fragte ja keiner.

Bei dem Gedanken an New York schüttelte es ihn. Er war noch nie in seinem langen Leben derart froh über etwas gewesen, wie aus diesem irren Moloch endlich wieder herauszukommen. All die verteufelte Technik, unglaublichen Menschenmassen und der schreckliche Lärm. Sobald sie wieder in ihrer Welt angelangt waren, hatte er seine Sinne durch die karge Ödnis streifen lassen, die so lange schon seine Heimat war. Die vollkommene Stille war Balsam für seine durch die Großstadt geschundene Seele gewesen. In vollen Zügen hatte er es genossen, wieder zu Hause zu sein. Für einen Augenblick jedenfalls. Bis diese Caris aufgetaucht war und ihnen jegliche Illusion darüber raubte, dass sie am Ende ihrer beschwerlichen Reise angekommen waren. Alasar war frei und hatte einen Feldzug der Vernichtung begonnen. Die Situation war schlimmer denn je, niemand war sich seines Lebens mehr sicher. Diesem Umstand hatte Talin es schließlich zu verdanken, dass er seit ihrer Heimkehr in diesem Loch festsaß. Mit zwei liebeskranken Trotteln, ihren geschwätzigen Gefährtinnen und einer Fremden. Die immerhin ebenfalls die Vorteile der Ruhe zu schätzen wusste, da sie nur sprach, wenn Darius ihr wieder eine seiner unzähligen Fragen stellte. Was zu Talins Leidwesen öfter geschah, als ihm lieb war.

Kopfschüttelnd lehnte er sich an das kalte Gestein der Höhlenwand zurück, an der er in ausreichender Entfernung zu dem Geschnatter saß. Seine Brüder und die Frauen verweilten an dem Lagerfeuer und stellten Theorien auf. Caris dagegen hatte sich ihr Nachtlager ebenfalls in genügendem Abstand zum Rest errichtet. Sie saß an der gegenüberliegenden Felswand ein Stück weiter vorn von ihm auf einer Felldecke und schliff mit einem Stein eines ihrer Messer scharf. Seit zwei Tagen tat sie das. Diese Frau besaß mehr Waffen an ihrem Gürtel als sie alle zusammen.

»Was starrst du mich so an?«

Talin zuckte innerlich zusammen. Es war ihm nicht aufgefallen, dass er sie beobachtet hatte, während er über ihre Situation nachgrübelte. Ihre hellen grünen Augen funkelten ihn vorwurfsvoll an.

»Was ist? Gefällt dir, was du siehst?« Sie legte das Messer in ihren Schoß und zog die Brauen nach oben.

Talin schnaubte und wandte seinen Blick von ihr ab.

»Haben sie dir die Zunge herausgeschnitten, oder weshalb sprichst du nie?«

Um dieser Diskussion zu entgehen, schloss er einfach die Augen. Sie würde schon aufhören, ihm Fragen zu stellen, wenn er sie nur lange genug ignorierte. Das taten sie alle. Außerdem war es nicht wahr, dass er nie sprach. Hin und wieder gab er etwas von sich. Wenn es wichtig war. Meistens war es das jedoch nicht. Er hatte nie verstanden, weshalb sich die anderen kein Beispiel an ihm nahmen. Solvin etwa. Dessen Mundwerk stand quasi nie still.

Wieder drangen diese widerwärtigen Schmatzgeräusche zu ihm vor. Seine Brüder knutschten ständig herum wie verliebte Teenager. Ein verbittertes Lächeln umspielte Talins Lippen. Auch er war einst so gewesen. Vor langer Zeit, in einem anderen Leben. Sein Geist drängte ihn dazu, freigelassen zu werden, und Tal erlaubte es ihm. Er zog sich in den Rest seiner selbst zurück, in dem seine Welt so war, wie sie hätte sein sollen. Wie er es immer tat, wenn die Einsamkeit und der Schmerz überhandnahmen. Dort erhellte Lahras Lachen die Finsternis, die ihn seit über zweitausend Jahren einhüllte.

Die Erinnerung an seine einzige Liebe war im Laufe der Zeit verblasst, doch Talin zehrte von dem Wenigen, das ihm noch geblieben war. Wie ihr volles, langes schwarzes Haar sein Gesicht kitzelte, wenn sie sich lachend über ihn beugte, während ihr zarter Duft ihn umschmiegte und ihm das Gefühl schenkte, der glücklichste Mann auf Erden zu sein. Nicht eine Falte war auf ihrem wunderschönen Gesicht auszumachen. Nein. Ihr war nicht gestattet worden, dieses Alter zu erreichen. Sie war ihm vor der Zeit geraubt worden. Verbittert rief er sein liebstes Bild auf. Wie Lahra und er gemeinsam zum ersten Mal Meron in den Armen hielten und glückselig auf das kleine Wunder hinabblickten, das sie erschaffen hatten. Erfüllt von so viel Liebe und Glück, dass es ihn überwältigte. Aber es war keine Erinnerung, denn das war in Wahrheit nie geschehen. Seine geliebte Lahra starb, ohne ihren Sohn auch nur einmal gesehen zu haben. Das winzige Wesen hatte nie die sanfte Umarmung seiner Mutter erfahren, nie die unendliche Liebe spüren dürfen, die sie während der Monate des Erwartens voller Vorfreude empfand. Nach all der Zeit brach es Talins Herz stets aufs Neue, wenn er an seine Familie dachte, die ihm genommen worden war. An sein Versagen, als er es nicht verhindern konnte, dass Lahras Eltern ihm Meron raubten. Sein Kind, in dem ein Teil von Lahra weiterlebte. Es hatte sich angefühlt, als wäre sie zweimal gestorben.

»Glaube nicht, dass ich Interesse daran hätte, mich mit dir zu unterhalten!«

Caris’ Worte drangen von weit fern zu ihm hindurch, doch er schob sie von sich. Sie würde ihm nicht seine Gedanken ruinieren. Diese gehörten nur ihm. Seit über zweitausend Jahren bereits.

»Ich bin es nur leid, mich hier zu verstecken. Deinen Freunden scheint es zu genügen, ihre Pläuschchen am Lagerfeuer zu halten. Deswegen bin ich jedoch nicht hierher zurückgekehrt. Wenn das euer Plan ist, verschwinde ich.«

Talin brummte genervt. Konnte sie nicht einfach still sein? Warum dachte sie, er wollte an ihren Gedanken teilhaben? Wie sollte er sich da auf Lahra konzentrieren. Immer, wenn diese Caris sprach, verlor er die Verbindung zu seiner geliebten Gefährtin, dabei hatte er es sonst immer geschafft, Solvins oder Darius’ Geplapper auszublenden.

»Du scheinst mir von allen der Vernünftigste und nicht von irgendwelchen dämlichen Gefühlen geblendet zu sein. Wenn du dich mir anschließen und Alasar den Arsch aufreißen möchtest, gestatte ich es dir.«

Nun öffnete Talin doch die Lider und sah sie skeptisch an. Die meisten Leute hatten nicht das Bedürfnis, ihn direkt anzusprechen, doch sie lud ihn sogar ein, zu zweit in die Schlacht zu ziehen. Sie war entweder ziemlich arrogant oder komplett verrückt. Letzteres gefiel ihm. »Du und welche Armee?«, fragte er daher, bereute es jedoch im selben Augenblick, sich überhaupt auf ein Gespräch eingelassen zu haben. Das war nicht seine Art. Der Wahnsinn hatte wohl bereits zu lange an ihm genagt.

»Es spricht. Sieh an.« Erneut funkelte sie ihn herausfordernd an. »Die Armee, die wir zusammenstellen werden. Die Männer und Frauen, die wir finden werden. Die Vampire, die bereit sind, ihr Leben zu geben, um diesen Tyrannen endgültig zu stürzen.«

Talin sah sie weiterhin ungerührt an. Der Plan hörte sich nicht so idiotisch an wie die seiner Brüder bisher.

»Alles ist besser, als wertvolle Zeit in dieser scheiß Höhle zu vergeuden.«

An ihrer Ausdrucksweise könnte sie etwas feilen, dennoch hatte sie recht. Was sie hier taten, war tatsächlich Zeit absitzen, die sie anderweitig besser nutzen konnten. »Und was schwebt dir vor?« Er hätte einfach nur wieder die Augen schließen müssen und sich seinen Gedanken erneut hingeben können. Stattdessen hörte er sich ihren Plan an. Und dieser klang tatsächlich brauchbar.

»Also, was denkst du?«, fragte sie einige Minuten später. »Nicht, dass mich deine Meinung in irgendeiner Form von meinem Vorhaben abhalten würde.«

Talin musterte sie, während er versuchte, nachzudenken. Es wollte ihm nicht gelingen, da Lahra nach wie vor seinen Kopf beherrschte. Wortlos stand er auf, schnappte sich Darius’ Armbrust, die an der Höhlenwand anlehnte, und stapfte an Caris vorbei.

»Wohin gehst du?«

Sie klang erstaunt. Fein. Er war niemandem Rechenschaft schuldig. »Jagen«, antwortete er dennoch. Tatsächlich war Solvin an der Reihe, ihnen Essen zu beschaffen, doch er musste nicht erst zum Feuer blicken, um zu sehen, womit die Nervensäge beschäftigt war. Oder mit wem. Talin musste wieder klar denken, und wo konnte er besser Ablenkung finden als in der rauen Natur, die ihm so ähnlich war. Sie hatte überlebt, doch zu welchem Preis?

»Gut, ich komme mit.« Ungefragt griff sich die Frau ihren Dolch, schob ihn rasch zu den anderen an ihren Gürtel, sprang auf und folgte ihm einfach.

Er verzog den Mund, ging jedoch ungerührt weiter. Vor zwei Tagen hatte er seine Brüder noch dafür belächelt, dass sie geschwätzige Begleiterinnen hatten. Nun hatte er selbst eine an den Fersen heften. Er sparte sich jegliche Antwort, da er sie als hartnäckig einschätzte. Und nervige Auseinandersetzungen waren momentan das Letzte, worauf er Lust hatte. Sollte sie ihm doch folgen, sie würde schon noch herausfinden, dass er keine gute Gesellschaft abgab.

»Der blonde Redselige nennt dich immer Sonnenschein. Mir scheint, er erlaubt sich einen Spaß?«

»Mhm.«

»Dachte ich mir.«

Auf der Ausgangsplattform der Höhle angekommen, fuhr ihnen der Wind so unbarmherzig ins Gesicht, dass Talins Haut umgehend zu prickeln begann. Der Schmerz war ein Geschenk, denn er erinnerte ihn daran, dass er noch am Leben war. Sein Blick glitt zu dem kargen Gestein hinunter, das den schmalen Pfad bildete, der von der Plattform abging. So weit oben war die Gefahr, von Alasars Wächtern gefunden zu werden zwar gering, doch gab es kaum Tiere, die in dieser unwirtschaftlichen Gegend heimisch waren. Talin hatte andere Probleme, als sich mit der Fremden zu unterhalten. Sie konnten sich nicht ewig hier verkriechen. Irgendwann würden sie nichts mehr zu essen haben, geschweige denn Blutnachschub. Zumindest Letzteres hatte noch etwas Zeit. Talin hasste diesen Teil seines Wesens, denn dafür musste er den Menschen näherkommen, als ihm lieb war.

Bedächtig sah er in den diesigen Himmel, der nahezu gänzlich von den grauen Wolken verschluckt wurde. Über ihnen erwartete sie das Ungewisse, aber vielleicht auch etwas Essbares. Die unteren Bereiche hatten sie in den letzten beiden Tagen zur Genüge abgesucht und so gut wie nichts gefunden. Allerdings gab es keinen Weg hinauf. Nur die schroffe Felswand, an deren winzigen Vorsprüngen er sich würde hinaufziehen müssen. Es war ein halsbrecherisches Vorhaben, man musste irre sein, um das zu wagen. Geradezu perfekt für ihn also.

»Wir werden nicht über den Plan sprechen, richtig?«

Talin sah sie nicht an, während sich seine Finger sicher in das Gestein gruben. »Ich bin für das Jagen zuständig, nicht fürs Reden.« Damit war die Sache für ihn erledigt. Geschmeidig stieß er sich von der Plattform ab und hangelte sich den Felsen hinauf.

»Schön. Dann jagen wir eben.«

Irritiert hielt er inne und sah über seine Schulter hinab. Diese Frau kletterte tatsächlich hinter ihm hoch. Der Wind fuhr ihm durch sämtliche Glieder, während er an Caris vorbei in den Abgrund sah. Sollten sie abstürzen, würden sie ins Bodenlose fallen. Sie waren so weit oben, dass selbst ein Vampir den Sturz nicht überstehen würde. Dennoch schien sie das nicht abzuhalten. Sie war definitiv verrückt.

 

 

 

Ihre Ausbeute war nicht überragend, doch immerhin hatten sie einige Hasen erwischt, die Talin, an den Hinterpfoten zusammengebunden, über der Schulter trug. Dass sie ausreichend Nahrung gefunden hatten, war jedoch nicht allein sein Verdienst gewesen, wie er sich zähneknirschend eingestand. Die Fremde hatte sich als größere Hilfe herausgestellt, als er angenommen hatte. Sie war es gewesen, die die winzigen Spuren der Pfoten im staubigen Boden fand, während er wie immer seinen Instinkten folgte. Am Ende hatte jeder von ihnen zwei Tiere erlegt. Zum ersten Mal seit zwei Tagen würden ihre Mägen keinen großen Hunger leiden müssen. Die Männer hatten bisher den Menschenfrauen den Vorzug gelassen. Und Caris. Diese schien im Gegensatz zu den meisten Frauen, die Tal kannte, nicht zimperlich zu sein. Eine Eigenschaft, die er an ihr schätzte.

Tal schüttelte den Kopf, während sie zurück in die Höhle gingen. Er kannte diese Frau nicht, weshalb hegte er derart merkwürdige Gedanken? Der Ausflug in windige Höhen hatte ihn trotz seiner Stärke etwas ausgekühlt. Sie würden sich ans Lagerfeuer setzen müssen, was jedoch auch bedeutete, in irgendwelche Gespräche involviert zu werden, an denen er ohnehin kein Interesse hatte. Der Tag konnte kaum besser werden.

»Häschen, da bist du ja! Wieso meldest du dich nie ab, wenn du einfach so verschwindest?« Vorwurfsvoll schauend kam Solvin ihm entgegengelaufen. Anschließend fiel sein Blick auf die toten Tiere und er riss die Augen auf. »Ausgerechnet!« Er seufzte, legte einen Arm um Talin und Caris und schob sie zu den anderen. »Nun kommt und wärmt euch auf, ihr seid ja völlig durchgefroren.«

Eine gute Stunde später saßen sie alle um das wärmende Feuer beisammen und aßen das gebratene Fleisch. Auch beim Zubereiten der Tiere hatte Talin ungefragt Hilfe von Caris bekommen, die ihm wortlos beim Ausweiden unter die Arme gegriffen hatte. Wobei sie keine Miene verzog. Talin wusste, dass es das Leben war, das sie abgehärtet hatte. Niemand, der behütet aufwuchs, kannte sich in der Kampfkunst, im Jagen und im Überleben derart aus. Nur wer gezwungen war, entschied sich für den steinigen Weg. Und in ihrer Welt war jeder Vampir, der sich vor Alasars Schergen versteckte, dazu gezwungen. Jeder weitere Atemzug war ein Triumph über das Böse. Nachdenklich sah er auf den Boden, während er aß und zwangsweise der Unterhaltung der anderen lauschte.

»Wir müssen einen Weg finden, Kontakt zu Ylaria und Teo zu bekommen«, sagte Darius.

»Ist es denn überhaupt sicher, dass sie festgehalten werden?«, warf Sasha ein.

»Ich traue diesem hinterlistigen Weibsbild nicht unbedingt, doch ich denke, dass sie nach allem, was war, niemals gemeinsame Sache mit Alasar machen würden«, sagte Solvin.

»Ist es in eurer Welt eigentlich überall so furchtbar kalt?« Emma rieb sich fröstelnd die Oberarme. Caris hatte ihnen alle Felle zur Verfügung gestellt, die sie aus ihrem alten Lager auftreiben konnte, dennoch zog es in diesem Loch furchtbar, sodass die Menschenfrauen ständig froren.

»Wir müssen uns irgendwie Zugang zum Sanctuarium beschaffen«, sagte Darius.

»Und dem Feind in die Arme laufen?« Solvin sah ihn bestürzt an.

»Hast du eine bessere Idee? In dieser Höhle Zeit absitzen, macht unsere Lage nicht besser.«

»Caris hat einen Plan«, sagte Talin, während er weiterhin ungerührt auf den kargen Boden blickte.

»Ihr habt euch unterhalten?«, fragte Solvin hörbar überrascht.

»Ist das verboten?«, erwiderte Talin mürrisch.

»Selbstverständlich nicht, mein Häschen. Es ist nur so … gänzlich untypisch für dich.«

»Mhm.« Frustriert warf Talin seinen abgenagten Knochen zu den anderen auf den Haufen, den sie später entsorgen würden. Er bezweifelte zwar, dass es hier irgendwelche Schädlinge gab, die ihnen lästig werden konnten, dank des Virus wusste jedoch keiner, auf was für sonderbare Lebensformen sie als Nächstes treffen konnten. Sein Magen knurrte unangenehm. Tal hatte noch Hunger, das bisschen Fleisch war gerade für den hohlen Zahn gewesen. Definitiv mussten sie von hier fort.

»Nun denn, möchtest du uns nicht mitteilen, welchen Plan die wortkarge rothaarige Schönheit hat?« Dafür kassierte Solvin einen Seitenhieb von Sasha, die ihn grimmig ansah und dann zu Emma nickte. »Autsch, wofür war das denn nun schon wieder?« Er rieb sich den Oberarm und sah verlegen zu Emma. »Meine kleine Elfe, selbstverständlich bist du die Einzige für mich, bitte verzeih meine Gedankenlosigkeit.«

»Du bist so ein Spinner«, erwiderte Emma lachend. »Wenn eine Frau toll aussieht, darf man das doch sagen, ich sehe darin kein Problem. Solange deine Lippen nur für mich gedacht sind, kann ich mit allem leben.« Sie schmiegte sich an Solvin, und Talin verdrehte die Augen. Ging das schon wieder los.

»Sie kann selbst sprechen«, erwiderte er knapp, woraufhin sich die Köpfe sämtlicher Anwesenden neugierig zu Caris drehten.

»Wir verlassen diesen unsäglichen Ort und stellen unsere eigene Armee gegen Alasar auf«, sagte sie schließlich ohne Umschweife.

Es gefiel ihm, dass sie sich kurzfasste.

»Das klingt … dramatisch«, sagte Emma nach einer kurzen Pause, in der keiner etwas erwiderte.

»Das hört sich abenteuerlich an«, pflichtete Solvin ihr bei.

»Das ist idiotisch. Wie sollen wir das denn bewerkstelligen?« Darius schüttelte scheinbar genervt den Kopf. »Wir sechs gegen Alasars telepathische Übermacht?«

»Vielleicht lässt du Caris einfach ausreden, dann könnte sie ihre Idee erklären?« Sasha lächelte ihren Gefährten liebevoll an, während sie die Hände wohl unbewusst über ihren noch flachen Bauch legte.

Caris sah einen nach dem anderen ungerührt an, bis ihr Blick bei Talin hängen blieb. Sie musterte ihn, als wartete sie auf einen Einwand seinerseits. Er hatte jedoch keinen. Alles war besser als dieser nervige Stillstand. Tal hasste es, nichts zu tun. Wenn sein Geist Zeit zur Ruhe bekam, überflutete dieser seinen Verstand mit Erinnerungen, in denen er jedes Mal aufs Neue zu ertrinken drohte. »Hört sie euch an«, sagte er daher knapp und erntete dafür erstaunte Blicke seiner Brüder.

»Gut. So sprich, Caris vom Clan aus den Bergen. Wir werden dich anhören.« Darius verschränkte die Arme vor der Brust und hob das Kinn erwartungsvoll.

»Während eurer Abwesenheit hat Alasar eine beispiellose Jagd auf unsere Art eröffnet, wie ihr wisst. Was ich euch jedoch bisher nicht mitgeteilt habe, ist, dass es noch Hoffnung gibt. Trotz der Jahrhunderte, in denen wir uns verbergen mussten, in denen wir Tag für Tag erbarmungslos abgeschlachtet wurden und noch werden, gibt es einzelne Gruppierungen, die bereit sind, ihr Leben zu geben, um unsere Welt von diesem Tyrannen zu befreien.« Selbstsicher blickte sie jedem in die Augen, während sie sprach.

»Alasar zu vernichten, ist seit Hunderten von Jahren der Wunsch jedes Vampirs. Niemand hat es jedoch bisher geschafft, der Bastard ist zu mächtig.« Darius ballte die Hände zu Fäusten, und die Wut war deutlich aus seiner Stimme herauszuhören.

Talin wusste, dass sich sein Bruder wünschte, nicht an das Versprechen an Ylaria gebunden gewesen zu sein. Darius hätte Alasar in den Katakomben unter dem Schlachtfeld töten können.

»Nun haben wir aber eine reelle Chance.«

»Ich höre.«

»Soweit ich das mitbekommen habe, besitzt du eine Fähigkeit, die uns vor dem gefürchteten, unwürdigen Tod durch die Henker schützt. Ich habe aus euren Erzählungen der letzten Tage vernommen, dass ihr Wanderer seid wie einst unsere Vorfahren. Die Welt, aus der ihr zurückgekehrt seid, hat euch das Heilige Buch geschenkt, von dem unsere Art all die Zeit annahm, es wäre nur eine Legende. Ihr spracht von einer Lösung, einem Mittel, das es allen ermöglicht, die Immunität eures Anführers, also dir, zu erlangen.«

»Richtig. Dafür müssen wir jedoch in das Sanctuarium gelangen und ein weiteres Buch finden. Ohne das bleibt uns die Erschaffung des Wirkstoffes verwehrt.«

»Gut. Lasst uns bei Tagesanbruch aufbrechen.« Caris erhob sich, um zu ihrem Ruheplatz zu gehen.

»Augenblick.« Darius sah ihr irritiert hinterher. »Wie denkst du dir das?«

»Wie ich bereits sagte. Wir stellen uns eine Armee zusammen, die dir bei deinem Vorhaben helfen wird.«

»Selbst wenn ich auf die Telepathie der Wächter nicht reagiere, bedeutet das noch lange nicht, dass ich einfach zur Vordertür ins Sanctuarium hineinspazieren kann.«

»Natürlich nicht. Wir werden den Zugang nehmen, der von der Kanalisation aus ins Innere führt.«

»Wie kannst du wissen, wo er sich befindet, wenn es selbst mir trotz eingehender Suche nicht gelungen ist, den Geheimgang zu finden?« Darius stand nun ebenfalls auf und ging unstet im Kreis umher.

»Geschick und Können.« Herausfordernd funkelten ihre hellen Augen ihn an.

»Aber …«

»Nun, vielleicht könnten wir uns alle wieder setzen und in Ruhe an dem Ansatz weitermachen, den Caris uns gegeben hat. Wofür wir ihr überaus dankbar sind.« Solvin versuchte, Darius dazu zu bewegen, sich wieder hinzusetzen, doch die Nachricht, dass es den von ihm lang gesuchten unterirdischen Zugang zum Sanctuarium tatsächlich gab, schien den Großen ein wenig aufzuwühlen. »Bei den Heiligen, wie kann man nur so ein sturer Esel sein?« Mit vollem Körpereinsatz drückte sich Solvin gegen Darius, der sich jedoch keinen Millimeter bewegte.

»Wenn die beiden Trottel ins Feuer fallen, müsst ihr sie auspusten. Es gibt weit und breit kein Löschwasser«, sagte Talin trocken zu Emma und Sasha. Anschließend stand er kopfschüttelnd auf, um sich ebenfalls an seinen Ruheplatz zu begeben, der sich weit weg von diesen Kindsköpfen befand. Leider nicht weit genug. Kurz lauschte er der hitzigen Diskussion, die zwischen Darius und Solvin entstanden war, in der es um Vernunft und Zurückhaltung ging. Tal atmete geräuschvoll aus und lehnte den Kopf an das raue Gestein hinter ihm. Er war erst in der zweiten Hälfte der Nacht als Wache eingeteilt, daher konnte er es sich gestatten, sich erneut seinen Gedanken hinzugeben.

»Und du bist ernsthaft seit über zweitausend Jahren mit dieser blonden Nervensäge befreundet?«

Matt sah er zu Caris hinüber. »Mit Unterbrechungen«, antwortete er schließlich brummend.

»Wie hältst du das nur aus?«

»Viele Unterbrechungen!«

»Verstehe.« Sie schwieg einige Sekunden. »Euer Anführer. Darius …«

»Was?« Ihr alles aus der Nase ziehen zu müssen, nervte. Vermutlich erging es seinen Brüdern mit ihm ähnlich. Zufrieden lächelte er.

»Er ist es, nicht wahr?«

»Kommt darauf an.«

»Er ist der Vampir, den die Statue im Park in Nikanor darstellt, richtig? Er ist der letzte große Kämpfer, der Held, den viele von uns seit Ende des Krieges verehren.«

»Ist das so?«

»Es hieß doch, er sei gefallen.«

»Ein Teil von ihm ist dort auf dem Schlachtfeld gestorben, ja. Aber Alasar hat ihn am Leben gelassen, um ihn zu quälen.«

»Das sieht diesem Schwein ähnlich.« Hörbar angewidert schnaubte Caris. »Es gibt nicht mehr viele lebende Vampire, die vom Virus selbst gewandelt wurden. Kaum jemand hat die Entstehung des neuen Zeitalters am eigenen Leib miterlebt. Oder es geschafft, über zweitausend Jahre am Leben zu bleiben.«

Talin verspürte bei der Erwähnung der Anfänge einen schmerzhaften Stich in der Brust. Dieses verfluchte Virus. Bei den Heiligen, wie oft hatte er sich in der Vergangenheit gewünscht, es wäre nie geschehen. Er wusste, dass er Lahra dennoch nicht hätte retten können, ihr Tod hatte nichts mit dem Virus zu tun gehabt. Sein ganzes Sein in den letzten Jahrtausenden bestand jedoch aus dem einen Gedanken, ob er Meron ein richtiger Vater hätte sein können. Wenn die Pandemie nie ausgebrochen wäre, wären Lahras Eltern mit seinem Sohn vermutlich niemals in die Sicherheit des Sanctuariums geflüchtet.

»Ihr seid also Gewandelte? Du und die Nervensäge?«

In den letzten beiden Tagen hatte sie kaum gesprochen, weshalb wurde sie ausgerechnet jetzt redselig? Brummend nickte er. Sie war ein geborener Vampir, wie die meisten, der heute noch lebenden. Irgendwann in den letzten Tagen hatte sie es erwähnt. Talin und seine Brüder bildeten die berühmte Ausnahme in dieser von Hass regierten Welt.

»Ich bin dankbar, dass ich den Krieg nicht am eigenen Leib miterleben musste. Die Erzählungen meiner Eltern waren grausam genug. Und doch habe ich durch ein Leben im Untergrund nie eine freie Welt kennenlernen dürfen.«

»Wie alt bist du?«, fragte er schließlich. Sie würde ohnehin nicht aufhören, zu reden.

»Dreihundertdrei«, erwiderte sie leise.

Er nickte. Für seine Verhältnisse war sie noch ein Baby. Wenngleich eines, das die volle Härte ihrer Welt zu spüren bekam. Wie sie alle. »Bist du in den Bergen aufgewachsen?«

»Dorthin sind meine Eltern mit einigen Freunden geflüchtet, ja. Dort bin ich geboren worden.«

Wieder nickte er. Talin wusste, dass sich die überlebenden Vampire nach Ende des Krieges in kleinen Clans überall verstreut hatten. Untergetaucht waren. Um irgendwie zu überleben. Und das hatten sie. Sie alle hatten überlebt – irgendwie.

»Häschen, könnten du und die weibliche Ausgabe von dir uns möglicherweise erneut mit eurer Anwesenheit beehren? Sasha hat etwas im Heiligen Buch gefunden, das es zu erörtern gilt.« Solvin rief nach ihnen und unterbrach Talins trübselige Gedanken.

»Ich bin ziemlich treffsicher mit der Steinschleuder. Nur ein Schuss und ich könnte ihn in den Tiefschlaf versetzen, dann hätten wir eine Weile Ruhe vor ihm«, sagte Caris, womit sie Tal zum Schmunzeln brachte.

Langsam rappelte er sich auf. »Komm. Sonst hört er nie auf«, sagte er und stapfte lustlos zu den anderen ans Feuer zurück.

»Nun schau mich nicht so griesgrämig an. Wenn wir Alasar vernichtet haben, bekommst du noch genügend Zeit, um deiner schlechten Laune zu frönen. Den Rest deines Lebens, um genau zu sein«, sagte Solvin, der Talins Gesichtsausdruck richtig deutete.

Anstatt einer Antwort brummte Tal lediglich und ließ sich an der Wand gegenüber den anderen nieder. Caris, die ihm wortlos gefolgt war, tat es ihm gleich. Seltsamerweise nahm er ihre Anwesenheit stärker wahr als die der anderen. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Irritiert darüber fragte er sich, ob die rothaarige Fremde nicht doch ein falsches Spiel mit ihnen spielte und seine Instinkte deshalb reagierten.

»Gut, nun, da wir vollzählig sind, lasst uns mehr über das Heilmittel herausfinden.« Solvin nickte Sasha zu, die angespannt das Buch in den Händen hielt.

»Ich habe eine Passage gefunden, die uns bei der Suche weiterhelfen könnte«, sagte sie und sah Talin unverwandt an.

Sie ängstigte sich nicht vor ihm, was ihn wahrhaftig freute, denn er hatte sie in der Kürze ihrer gemeinsamen Zeit lieb gewonnen.

Emmas Blicke dagegen sprachen deutlich von Furcht. Nun ja. Er war nicht gerade er selbst gewesen in New York.

»Wanderer. Gesetzt des Falles einer geglückten Rückkehr in unser einst so gelobtes Land, werdet ihr für den Abschluss eurer Suche etwas wissen müssen. Tief in den Eingeweiden unseres einstigen Heims hat das Böse etwas versteckt, das Teil der Vollendung ist. Sie brachten das Ungemach über unsere Welt, die Vernichtung. Allein das Schwarze Buch ist Zeuge ihrer Taten.« Sasha hielt inne und suchte offenbar nach einer anderen Stelle.

»Das ist uns bereits bekannt.« Solvin sah sie fragend an.

»Kisha, das ist uns nicht neu, dieses Wissen fanden wir bereits in den Ruinen des Riverside.«

»Richtig.« Sasha nickte. »Teile der Geschichte wiederholen sich, da sie gegen Ende des Buches von vielen verschiedenen Zeugen und offenbar in großer Hast niedergeschrieben wurden. Dennoch gibt es auch neue Erkenntnisse.«

»Gut, fahre fort«, sagte Darius lächelnd.

»Ah, hier.« Sie holte noch einmal Luft. »Wir beten zu den Heiligen, dass es den Rückkehrern gelingen wird, das Mittel in der anderen Welt zu finden, das die Zukunft unserer eigenen zum Guten zu verändern vermag. Sollten jedoch jegliche unserer verzweifelten Bemühungen vergeblich gewesen und es euch nicht gelungen sein, so gibt es dennoch keinen Grund, zu verzagen. Noch ist nichts verloren. Es scheint unmöglich, doch dachten wir das einst auch über Weltenwechsel. Der Glaube und die Hoffnung an eine veränderte Zukunft haben die unseren so weit gebracht. Sie werden auch euch die Kraft geben, das Unmögliche zu vollbringen und zu vollenden, weshalb ihr einst aufbracht.

Das Ende eurer Reise wird euch in die Hallen der Macht führen. Das Sanctuarium birgt ein wichtiges Geheimnis. Die Oberen verbrachten ganze Dekaden mit ihren Versuchsreihen an den unseren. Findet einen unserer Art, der immun gegen die Henker ist, so rar sie auch sein mögen. Sein Blut ist der Schlüssel. Meine Gebete begleiten euch, dass es noch nicht zu spät ist. Das Blut der Immunen, übertragen auf den Rest unserer Brüder und Schwestern, ermöglicht uns nach all den Jahrhunderten eine wahrhaftige Chance, zu bestehen. Diesen sinnlosen Krieg zu beenden und eine neue, eine bessere Zukunft zu formen. Für uns. Für unsere Nachkommen, deren Sein nach Tausenden von Jahren von Hoffnung geprägt sein wird. Findet das Schwarze Buch der Oberen in den Tiefen des Sanctuariums und ihr werdet die Formel der wichtigsten aller Verbindungen finden. Sollte es keine Immunen mehr geben, dann, bei den Heiligen, sind wir dem Untergang geweiht.«

Der Schrieb endete offenbar, denn Sasha las nicht mehr. Allein das Prasseln des Feuers war zu vernehmen, während ein jeder seinen eigenen Gedanken nachhing.

»Nun, dank unseres mürrischen Anführers sind wir glücklicherweise nicht dem Untergang geweiht«, sagte Solvin schließlich.

»Wenn ich das richtig verstanden habe, sollen wir also ins Sanctuarium eindringen und dort nach einem geheimen Buch der Oberen suchen? Worin stehen soll, wie mein Blut als eine Art Wundermittel alle Vampire immun gegen Alasars Henker macht?«

»Diese Interpretation wäre auch die meine gewesen«, pflichtete Solvin Darius bei.

»Aber wie sollen wir ohne jeglichen Anhaltspunkt dieses zweite Buch finden?« Sasha sah ihren Gefährten besorgt an und blätterte anschließend hektisch die letzten verbliebenen Seiten durch.

»Kommen wir denn überhaupt in dieses Santadingsbums rein? Also bei uns hat nicht jeder mal eben schnell Zutritt zum Weißen Haus, das wird schwer bewacht«, warf Emma ein. Allerdings sahen sie nun alle irritiert an. »In meiner Welt spaziert man nicht durch die Vordertür zur Residenz des Präsidenten hinein, wenn man vorhat, ihn zu beklauen. Oder umzubringen. Ihr ähm, sagtet da vorhin etwas in die Richtung, seht mich nicht so komisch an«, erklärte sie seufzend.

»Nun, meine kleine Elfe, wir werden uns selbstverständlich im Verborgenen Zugang zum Sanctuarium beschaffen.« Sol deutete auf die Rothaarige. »Caris hat Kenntnis über den geheimen Eingang in der Kanalisation.«

»Gut, dann brechen wir im Morgengrauen in den Palast ein.« Darius warf Sasha einen aufmunternden Blick zu, doch diese schüttelte den Kopf.

»Und dann? Wo ist das Buch, Darius? Wenn wir dort sind, sollten wir genau wissen, wo wir suchen müssen. Sonst sind wir leichte Beute für die Wächter.« Ihr Blick flog regelrecht über die Seiten, als hoffte sie, den rettenden Hinweis zu finden.

»Allerdings. Wir benötigen Verstärkung. Und mehr Wissen.«

»Deswegen habe ich vor, eine Armee zusammenzustellen«, warf Caris ein.

»Nun, mit Verlaub, dieses Unterfangen wird kostbare Zeit benötigen, die wir vermutlich nicht haben werden«, sagte Solvin.

»Ohne erfahrene Kämpfer scheitert jedoch bereits der Versuch«, erwiderte sie.

»Wir könnten Licas und die Dreptate an unserer Seite gebrauchen«, überlegte Darius laut.

»Ihr wollt zurück nach New York?« Emma horchte auf.

»Dazu ist keine Zeit. Wir müssen uns eilen und willige Kämpfer finden, ehe Alasar seinen finalen Vernichtungsfeldzug anführt«, sagte Caris verbittert.

»Wenn Alasar erfährt, dass wir zurückgekehrt sind, zerstört er vermutlich das Buch, bevor wir es finden können, falls er denn weiß, dass es existiert.«

»Dann müssen wir ihm zuvorkommen, Kisha«, sagte Darius bestimmt.

»Wir können nicht erst nach diesem Buch suchen und anschließend in aller Ruhe damit beginnen, eine Armee aufzustellen. Die verbliebenen Clans sind im ganzen Land verstreut. Versteckt und im Untergrund. Es wird Tage, wenn nicht gar Wochen dauern.« Caris taxierte Darius’ Blick, ohne zurückzuzucken.

»Ohne das Buch war jedoch alles umsonst, Caris«, sagte Solvin.

»Mit Licas und seiner Einheit an unserer Seite hätten wir eine der am besten ausgebildeten Armeen und müssten nicht wochenlang durchs Land umherziehen«, sagte Darius, der offenbar nicht vorhatte, nachzugeben. »Das würde uns beträchtlich Zeit ersparen.«

»Das klingt in der Tat von Vorteil. Jedoch gibt es einige Krieger, die ich ebenfalls nicht an meiner Seite missen möchte, wenn ich dem Ende entgegensehe«, erwiderte Caris.

»Das Buch in unseren Besitz zu bringen und herauszufinden, wie wir unsere Art retten können, hat dennoch Priorität.« Solvin klang ein wenig tadelnd. »Nun, wie mir scheint, ist jedes unserer Vorhaben von äußerster Dringlichkeit. Welches wird also unser erstes Ziel?«

Langsam drehten sich alle Köpfe zu Darius um.

»Bei den Heiligen. Es rechtzeitig schaffen zu können, schwindet immer mehr.« Ihr Anführer atmete hörbar aus. »Ihr habt alle recht. Alles zählt. Und doch werden wir uns entscheiden müssen, was wir zuerst erledigen.«

»Nein«, sagte Talin schließlich und erntete überraschte Blicke dafür.

»Nein was?« Darius kniff die Augen zusammen, wie er es immer tat, wenn er genervt war. Also quasi ständig. Außer wenn er wieder an der Menschenfrau herumfummelte. Widerlich.

»Nein, wir müssen uns nicht entscheiden.«

»Sondern?«

»Wir teilen uns auf.«

»Wir … oh, in der Tat. Das ist eine brillante Möglichkeit, auf die ich leider nicht selbst gekommen bin.«

»Eure Gehirne haben den Denkprozess ausgeschaltet«, sagte Talin brummend. Seit seine Brüder ihre Gefährtinnen gefunden hatten, waren sie zu nichts mehr zu gebrauchen.

»Nun, was schlägst du vor, Häschen?«, fragte Solvin.

»Du und Emma geht zurück durch das Portal, um den Krieger der Dreptate zu holen. Ich werde diesen Moloch gewiss nie wieder betreten. Sasha und Darius können derweil nach ihrem Buch suchen und ich begleite Caris bei der Zusammenstellung ihrer Armee.«

»Jetzt sieh einer an. Mein Häschen wird erwachsen.« Solvin schluchzte und sprang auf, um ihn zu umarmen, doch Talin hob abwehrend die Arme vor sich.

»Danach sehen wir uns wieder und formieren uns zu unserem finalen Angriff.«

Darius musterte ihn eingehend, als müsse er abwägen. Dann nickte er jedoch. »Gut. So sei es. Vor dem Morgengrauen brechen wir auf und trennen uns, um unsere Missionen zu erfüllen.«

»Bei den Heiligen, ich hab es«, rief Sasha plötzlich aus.

»Pardon?« Nicht nur Solvin sah sie fragend an.

»Der Hinweis auf das Versteck des Schwarzen Buches. Hier steht:

 

»Unter dem wachsamen Blick der Heiligen einst,

wurde verborgen das prekäre Wissen des Feinds.«

 

»Noch ein Rätsel?«, stöhnte Solvin auf und fuhr sich durchs Haar.

»Ja, aber keines wie die anderen. Ein Hinweis eher«, überlegte Sasha.

»Und was will dieser Hinweis uns mitteilen?«

»Das weiß ich leider nicht«, erwiderte sie niedergeschlagen.

»Also euer Buch sagt, dass dieses andere Buch im Palast ist?«, fragte Emma.

»Richtig. Im Sanctuarium«, erwiderte Sasha.

»Dann muss sich dieser Zweizeiler auf einen Ort im Sanctuarium beziehen, oder nicht?«

»Natürlich, wie konnte ich das nur außer Acht lassen.«

»Sind eure Heiligen irgendwie etwas in der Art wie Könige? Präsidenten? Herrschen sie über den Palast? Dann könnten wir sie fragen?«

»O nein«, Sasha lächelte. »Die Heiligen sind nicht echt. Sie sind so was wie euer Gott. Man verehrt sie und erzählt sich Geschichten über sie, huldigt ihnen.«

»Wie können sie einen dann anschauen?«

»Ich verstehe nicht?«

»Na, der Vers. Unter dem wachsamen Blick der Heiligen. Wie ist das gemeint? Warte, hier kommt eine verrückte Idee. Hängen im Sanctuarium vielleicht Bilder von euren Göttern? Ist möglicherweise ein Gemälde gemeint?«

»Nein. Keine Bilder, Alasar duldet neben sich keine anderen Götter«, sagte Darius grimmig.

»Alasar ist ein Gott?« Entsetzt riss Emma die Augen auf.

»Nein. Er ist alles andere. Aber er stellt sich gern so dar.«

»Verstehe. Was haben wir außerdem für Möglichkeiten?« Nachdenklich nagte sie an ihrer Lippe, während sie sich von Solvin umarmen ließ.

Talin verzog den Mund.

»Bei den Heiligen«, rief Sasha erneut aus. »Ich selbst hatte noch nie die Ehre, das Sanctuarium betreten zu dürfen, doch lagen in der Bibliothek unzählige Schriften darüber aus, die ich neugierig verschlungen habe.« Wieder blätterte sie durch das Buch, während sie immerfort nickte. »Das ist es, das muss es sein.« Sie sah jedem hintereinander in die Augen. »Es gibt keinen Wandbehang, keine Bildnisse in der Residenz der Herrscher. Doch eines gibt es sehr wohl. Das Fresko unter der Kuppel des Hauptgebäudes«, sagte sie leise.

»Aber ja!« Solvin klatschte freudig in die Hände. »Natürlich, wie konnte uns das nur entfallen?«

»Du meinst, der Hinweis auf das Mittel ist in der Malerei versteckt?« Darius sah sie skeptisch an.

»Ich bin mir sehr sicher. Es stellt die Heiligen dar, wie sie die neue Zeitrechnung einleiten, den Kampf gegen das Virus und die Unterjochung. Den Aufstieg der Heiligen zu unseren Schutzpatronen, die fortan über die Menschen wachten, um sie vor dem Bösen zu beschützen, dass durch die Pandemie neu geformt worden war.« Schnell senkte sie den Kopf und sah ein wenig verlegen dabei aus. »Verzeih, es sind nicht meine eigenen Worte, die ich wiedergebe. Ich sehe euch natürlich nicht als die abartigen Kreaturen an, als die man euch verleugnend darstellt.«

»Das weiß ich doch, Kisha. Das wissen wir alle. Es gibt keinen Grund, dich zu entschuldigen. Vielmehr hast du uns erneut den richtigen Weg gewiesen. Ihr beide habt das.« Dankend nickte er Emma ebenfalls zu.

»Dann sind unsere Aufgaben also klar«, sagte Solvin.

»Das sind sie«, erwiderte Darius. »Später werde ich mich mit Caris besprechen, um die Koordinaten für den geheimen Zugang zu erhalten. Auch wir haben noch einiges zu bereden. Das wird eine kurze Nacht für uns alle. Gefährliche Aufgaben stehen uns bevor. Ein letztes Beisammensein ohne Hast haben wir uns redlich verdient.« Damit schien die Sache für ihn erledigt zu sein, denn er wandte sich wieder Sasha zu.

»Ziemlich bestimmend, euer Anführer«, sagte Caris neben ihm.

Talin erschrak beinahe. Er hatte ihre Anwesenheit gänzlich ausgeblendet.

»Mhm«, brummte er lediglich, um nicht wieder in ein Gespräch verstrickt zu werden. Das war es nun also. Ihre letzte Nacht, bevor sich die Dinge grundlegend ändern würden. In welche Richtung lag nun in ihrer Hand.

Auch Solvin und Emma schienen die neue Wendung gut aufzunehmen, niemand beschwerte sich, im Gegenteil. Emma zählte auf, was sie zuerst machen wollte, wenn sie wieder in ihrer alten Heimat war. Duschen stand an erster Stelle, danach kam dieses ekelhafte, klebrige Gebäck, das sie Donut nannte.

Nur Talin hatte offenbar ein ungutes Gefühl dabei. Wenn sie sich trennten, waren sie angreifbarer. Aber auch schneller. Und Zeit war ein überlebenswichtiger Faktor in Alasars Welt des Wahnsinns. Niemand wusste, wie viel davon sie noch hatten, bis sie die nächsten leblosen Körper auf dem riesigen Leichenberg waren, den der irre Obere um sich türmte. Ihre einzige Chance war es, zuerst zuzuschlagen, den Moment der Überraschung auf ihrer Seite zu wissen.

Und dann war da noch die Fremde. Caris. Die er nun am Hals hatte. Es passte ihm überhaupt nicht, dass er diese Suche nicht allein bestreiten konnte, aber sie kannte sich in der Welt des Untergrundes besser aus, wusste, wohin sie mussten. Sie war unerlässlich für ihr Weiterkommen. Irgendwie würde er sie schon ertragen. Wenn es ihnen gelänge, Alasar zu vernichten, hatte er noch den Rest seines langen Lebens Zeit, vor sich hinzugrübeln. Und wenn nicht, würde er bald mit Lahra vereint sein. Ein Lächeln umspielte seine Lippen beim Gedanken an seine ehemalige Gefährtin. Den Kopf an die schroffe Höhlenwand gelehnt, fing er mit geschlossenen Augen die nächstbeste Erinnerung auf, die durch seinen Verstand geisterte. Talin wusste, dass seine Brüder ihn sicherlich wieder beobachteten, das taten sie immer, wenn er sich in sein Innerstes zurückzog, er spürte ihre spüren. Es war ihm gleich. Lahra war da, und sie war alles, was er benötigte. Tal hieß den süßen Schmerz willkommen, der ihn seit Jahrhunderten am Leben hielt und von dem er sich nur allzu gern gefangen nehmen ließ.

 

 

 

Der Morgen graute und das erste Sonnenlicht bahnte sich verheißungsvoll einen Weg durch die Dunkelheit. Als wollte es ihnen Mut machen im Kampf gegen den Irrsinn ihrer Welt. Sie waren früh aufgebrochen, und nun war die Zeit der Trennung gekommen. Darius und Sasha würden sich nach Arkyn aufmachen, um einen Weg in das Sanctuarium zu finden, den Caris ihnen am Abend zuvor beschrieben hatte. Solvin indessen musste nach Nikanor, um gemeinsam mit Emma durch das Portal zurück nach New York zu gehen. Sie alle hatten darüber spekuliert, ob die Runensteine noch vor Ort waren, oder ob Alasar sie seit seiner Freilassung konfisziert hatte. In diesem Fall würde es ihnen nicht möglich sein, Licas zur Unterstützung zu holen. Ganz Solvin, vertraute dieser auf sein Glück und darauf, dass Alasar so sehr mit seinem Feldzug gegen die Vampire beschäftigt war, dass er die Steine kurzerhand vergessen hatte.

Talin dagegen würde die vier nicht weiter in die Ebene hinausbegleiten. Er und Caris blieben in der felsigen Region, um sich auf die Suche nach einem überlebenden Bergvolk zu machen, den Ewansiha, so hatte die Rothaarige sie jedenfalls vorhin genannt.

Die anderen lagen sich bereits in den Armen und gaben bedeutungsvolle Worte von sich. Talin wusste, dass ihre Sorge umeinander groß sein musste. Auch ihm bedeuteten seine Brüder viel. Nicht jedoch sein eigenes Leben, daher nahm er Aufgaben wie diese seit jeher gelassener, als der Rest es tat. Die Frauen begannen sogar, zu weinen, und Talin wandte sich respektvoll ab. Was könnte er schon machen? Ihnen sagen, dass alles gut werden würde? Das entsprach nicht der Wahrheit, denn niemand von ihnen wusste, wie ihre Mission ausgehen würde. Wieder taten sie ihm alle leid, weil sie von ihren Gefühlen geleitet wurden. Jede noch so kleine Ablenkung konnte sie das Leben kosten. Seine Freunde hingen an ihrem Leben.

»Wie lange kann eine Verabschiedung denn dauern, bei den Heiligen.«

Caris schnaubte, während sie unruhig von einem Fuß auf den anderen trat. Sie war so jung, so voller Tatendrang, und tatsächlich erkannte Talin einen Teil seiner selbst in ihr. Auch er war einst so gewesen.

»Das wird ein langer Fußmarsch, und wenn wir vor dem Sonnenuntergang unser Ziel erreichen wollen, sollten wir keine wertvolle Zeit mehr vergeuden«, sagte sie.

Wortlos und doch mit einem kleinen Lächeln wartete Talin geduldig, bis er an der Reihe war. Mit einem Handschlag und dem üblichen Versprechen, sich nicht vorsätzlich umbringen zu lassen, verabschiedete er sich schließlich von seinen Brüdern. Das war genug der Zuneigungsbekundungen. Anschließend wandte er sich vom Rest ab und stapfte ohne weitere Umschweife davon. Fast freute er sich auf die Aussicht, einige ruhige Tage ohne ständige Diskussionen vor sich zu haben. Fast.

»Reden ist nicht so deine Stärke, oder? Ein »Lass uns gehen« wäre natürlich zu viel des Guten gewesen?« Caris schloss rasch zu ihm auf.

Vielleicht würde sie ja wieder weniger reden, wenn er ihr keine Antworten mehr gab. Einen Versuch war es auf jeden Fall wert.

 

Immer wieder sah Talin in den Horizont hinauf, der zunehmend dunkler wurde. Nun würde es nicht mehr lange dauern, bis es Abend wurde. Sie waren den ganzen Tag unablässig gelaufen. Die letzten beiden Stunden hatten sie sich durch das unwegsame Gelände des Zielgebietes gehangelt. Das hier war kein Ort, an dem das Leben einfach war. Unbarmherzig biss die Kälte zu, fraß sich durch seine Haut und setzte sich in den Knochen fest, um ihn von innen heraus auszukühlen.