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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Vorwort

Die Flucht

Klinik-Behandlung

1. Station im Westen

2. Station im Westen

Die Geschwister in Masuren

Die ziemlich „spezielle“ Geschichte der Schwester

Nachwort, das auch Einleitung hätte sein können

Impressum

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

Für den Inhalt und die Korrektur zeichnet der Autor verantwortlich.

© 2017 united p. c. Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-7103-3331-6

ISBN e-book: 978-3-7103-3333-0

Umschlagfoto: Luisa Vogel

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: united p. c. Verlag

www.united-pc.eu

Vorwort

Die wenigen Namen in diesem Bericht sind Pseudonamen. Ähnlichkeiten der hier gezeichneten Menschen mit realen Personen und Ähnlichkeiten von Ereignissen haben damit zu tun, dass Menschliches eben menschlich ist und in vielfältigen Variationen beobachtet aber auch durchlitten wird.

Die vorliegende Geschichte wurde mir erzählt und in wesentlichen Inhalten in Tagebuchnotizen berichtet, und ich wurde autorisiert, sie wiederzugeben, unter strikter Beobachtung von Anonymität der Erzählerin und der vorkommenden Personen.

Die Flucht

1944 - Winter in Masuren, Weihnachten und bitterkalt. Der Weihnachtsbaum steht geschmückt im elterlichen Schlafzimmer, denn im kleinen Wohnzimmer, wo er in allen anderen Jahren stand, sind Soldaten einquartiert.

Die Kinder sehen den Soldaten beim Putzen und Ölen ihrer Gewehrläufe zu. Die öligen Lappen sind schwarz verschmiert, die Hände der Soldaten auch.

Sobald es dämmrig wird und das Licht eingeschaltet werden soll, wird die Verdunkelung herunter gerollt und durch einen Gang ums Haus herum überprüft, ob auch ja kein Licht herausdringen kann.

Noch im Sommer waren singend Soldatengruppen am Haus vorbei Richtung Osten marschiert, im Herbst dann gefolgt vom Volkssturm, von dem die Erwachsenen sagen, es seien jetzt die restlichen alten Männer und die Jungen von der Hitlerjugend, sie würden die Panzergräben graben.

Und noch später dann die Flüchtlingstrecks dichter und dichter in Gegenrichtung aus dem Osten westwärts.

Leiterwagengespanne, voller Hausrat, Geflügelkäfige, dahinter Kühe, Hunde, Kinder, armselige dunkle Menschengestalten.

Im Winter dann immer häufiger Fliegeralarm mit zunehmender Zeitdichte und –Dauer. Dennoch bleibt es Weihnachten friedlich, wenngleich die Stimmung auch für Kinder merkbar gedämpft und gedrückt ist.

Die Einquartierung wechselt, im kleinen Wohnzimmer ist die sogenannte Schreibstube eingerichtet, es wird telefoniert und gefunkt. Die Bewegungen werden merkbar hektischer, dann verschwinden die Soldaten.

Im obersten Stockwerk, dem Boden, auf dem im Winter die Wäsche trocknet, und wo der Trog für das wöchentliche Brotanteigen an die Wand gelehnt steht, ist eine Kiste mit Sand deponiert.

Sand sei gegen Brandbomben geeigneter als Wasser, heißt es.

Und es gibt Gasmasken, große für die Erwachsenen und auch kleinere für die Kinder. Mit Gummistrippen werden sie über den Kopf gezogen, es blubbert lustig, wenn man dadurch atmet.

Und dann „kam die Front“ – Fliegeralarm nahezu dauernd. Der Keller wurde aufgesucht und schon bald kaum noch verlassen. In der Luft ein ohrenbetäubendes Brausen, ohrenbetäubende Bombeneinschläge rings umher. Dicht auf einander folgende Fliegerangriffe, vorwiegend tags bei sonnigem Winterwetter, das für die Angreifer alles gut sichtbar machte, eine Gegenwehr wurde offenbar kaum erwartet.

Die Familie hielt sich im mittig gelegenen Kellergang auf. Bänke waren da aufgestellt, und es versammelten sich auch Leute aus der Nachbarschaft dort, weil nicht alle Häuser in der Siedlung genügend sichere Kellerräume hatten.

Der Kellergang deshalb, weil in den Räumen davor Einsturzgefahr bestand und Bedrohung durch Granaten und Bombensplitter.

Die Kinder wimmernd und betend sitzen auf der Bank, die Eltern vor ihnen stehend, sie schützend, über sie gebeugt.

In den kurzen ruhigen Pausen zwischen den Bombenangriffen der Tiefflieger der Gang „nach oben“ – die Welt veränderte sich von Mal zu Mal.

Im Wohnzimmer liegen handgroße Granat- und Bombensplitter, Löcher im Kachelofen.

Die Fensterscheiben zu Bruch gegangen, die Haustür lose in den Angeln.

Draußen der Schnee schwarz gefärbt von aufgewühlter Erde. Knäuel von Überlanddrähten und Telefonkabeln, das Telefon geht natürlich nicht, Chaos überall.

Das Haus schräg gegenüber bietet den Anblick einer Puppenstube.

Die Straßenfront des Hauses einfach weg, im unteren Bereich ein offenes Wohnzimmer, oben ein Bad und die Kinderzimmer - Anblicke, die sich eingraben in unauslöschliche innere Erinnerungsalben.

Die Eltern bereiten die Flucht vor. In den kurzen Abständen zwischen den Tieffliegerangriffen nutzt die Mutter die Zeit, um in der Waschküche gerade mal je zwei Scheiben Brot zu schneiden für den Proviant. Sie nutzt die kurzen Pausen mehrfach bis eine ausreichende Anzahl an Stullen eingepackt werden kann.

Der Vater hatte zwei, für Kinderaugen riesig erscheinende Kisten anfertigen lassen, die jetzt im Elternschlafzimmer stehen. Und als in der Dunkelheit der Nacht der Krieg mal eine Pause zu machen scheint, werden die Kisten gepackt.

Die eine wird gefüllt mit den Dingen, die mehr den Vater betreffen. In die andere packen die Eltern Dinge des Haushalts, Sachen der Mutter und auch der Kinder, darunter auch die Puppe und den Teddy. Gepackt wird bei herunter gezogenen Rollos vor den inzwischen fensterlosen Fenstern und im gedämpften Licht von Kerzen, denn elektrisches Licht gibt es nicht mehr.

Die Kinder liegen in den Elternbetten und schauen zu. Alles ein angstgetöntes unheimliches Abenteuer. Wie es heißt, soll „der Russe“ die Stadt nahezu umzingelt haben, mit Beschuss ist ab sofort zu rechnen, Züge können den Bahnhof nicht mehr verlassen.

In der Abenddämmerung des 19. Januar hält ein Lastwagen vor dem Haus. Die Kisten und auch ein mit Federbetten gefüllter großer Wäschekorb und mehrere Koffer finden Platz auf der Ladefläche.

Die Familie nimmt ihren Weg Richtung Stadtmitte, vorbei an Trümmern, brennenden Ruinen.

Am dunklen Himmel wälzen sich riesige Feuerbälle über der Stadt, das Gaswerk in der Nähe brennt nach Bombeneinschlägen.

In der Stadtmitte das Postgebäude und das Telegrafenamt mit dem großen Hof dazwischen. Dort wird der Lastwagen, mit weiteren Kisten und Koffern beladen. Die Familie und auch die eines Kollegen des Vaters steigen auf, und die abendliche Fahrt geht in die etwa 60 km entfernte Hauptstadt des Regierungsbezirks.

Unterwegs in Dunkelheit und Kälte, und mit kindlichem Zeiterleben eine unheimliche Ewigkeit.

Es wird wenig und nur leise gesprochen.

Ein unvergessliches Bild als die Plane des Lasters kurz angehoben wird, Menschenmengen, dunkle Gestalten, schnell in nur eine Richtung strebend, ein Pferd am Straßenrand tot, die Beine steif von sich gestreckt.

Wenig später ist das vorläufige Ziel erreicht. In einem dunklen Gebäude gibt es Hochbetten, auf denen alle einige Stunden lagern können, dann wird auf dem nahe gelegenen Bahnhof ein Zug angekündigt, der alle aufnehmen und westwärts bringen soll.

Der Lastwagen mit seiner Kisten- und Kastenfracht wird erneut bestiegen.

Der Zug besteht aus Viehwaggons ohne Fenster. Hinein gelangt man von starken Armen hochgehoben oder mutig kletternd, heraus durch einen mutigen Sprung durch aufgeschobene, während des Fahrens meist verriegelte, Türen.

Es gibt keine Toiletten, keine Sitzbänke. Man sitzt und liegt auf seinem Gepäck. Neben der aufschiebbaren Tür ein Kübel für die Notdurft aller Männer wie Frauen, wie Kinder.

Männer allerdings gibt es hier nur wenige und nur ganz alte, die jüngeren sind an der Front oder im Lazarett oder in Gefangenschaft oder tot.

Der Vater mit seiner Kiste blieb zurück, er wurde dem Militär zugeteilt, seine Kompetenz im Bereich Telefonie und Telegrafie wurde für den militärischen Rückzug benötigt.

Mutter, Tochter und kleiner Bruder sitzen oder liegen auf ihrer Kiste und auf dem Wäschekorb. Es ist kalt, sehr kalt.

Die feuchte Atemluft schlägt sich an den Innenwänden des Waggons nieder und überzieht sie mit Raureif.

Man bleibt angezogen in Pullover- Jacken- und Mantelschichten. Auch die Schuhe werden nicht ausgezogen.

So bleibt man für fünf Tage und Nächte, in denen der Zug vor und zurück rangiert, kaum einmal zügig vorankommt, ein Manöver, um nicht zum Zielobjekt für feindliche Bomber zu werden, aber auch weil die Gefahr besteht, in Kontakt zu kommen mit der sich ständig verändernden und zunehmend westwärts gerichteten Front.

Keine rechte örtliche Orientierung, Rätselraten über die durchfahrenen Regionen. Eine Rote-Kreuz-Schwester im Waggon nutzt Haltepausen für Informationsgänge zum Zugpersonal.

Die Menschen teilen mit einander, was sie an Nahrung mitgebracht haben, es gibt Brot und Speck. Ein Säugling schreit lange, und als er aufhört wird gesagt, dass er gestorben sei.

Die Leiche eines größeren Kindes – es ist die Tochter der RoteKreuz-Schwester - wird in einer Haltepause aus dem Zug gehoben – wo wird ihr Grab sein?

Am fünften Tag fährt der Zug bei strahlendem Wintersonnenschein sehr langsam und bei geöffneter Tür durch die schneebedeckten Ruinen Berlins. Zerstörte Häuser, überschneite Ruinen, gestürzte Monumente, auch diese Bilder unauslöschlich in den inneren Erinnerungs-Alben gespeichert.