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Der Schneider-Schock

Keine der Etikettierungen, mit denen man Helge Schneider bisher belegt hat – Clown, Quatschmacher, Unterhaltungskünstler, Komiker, Comedian, Kabarettist, Schriftsteller, Regisseur, Schauspieler, Zeichner, Schlagersänger, Multiinstrumentalist –, vermag ihn zu fassen. Bis heute geht von seinem Werk eine monumentale Unverständlichkeit aus, die fremdartig wirkt und sich allen rationalen Erklärungsversuchen zu widersetzen scheint. Nicht selten produziert Schneider ein Zuviel an Sinn, welches den gesunden Menschenverstand schlicht überfordert. Der namhafte Soziologe und Kulturwissenschaftler Dirk Baecker bemerkt dennoch fasziniert: »Wie kein zweiter bringt er den Ernst des Albernen auf den Punkt und den Begriff.«

Könnte es daran liegen, dass bei Schneider die Sprache selbst immer wieder aus dem Tritt und ins Stolpern gerät? Dass er uns immer wieder mit Versuchsanordnungen von gescheiterter Kommunikation konfrontiert, die beim Publikum in ein beipflichtendes, befreiendes Lachen münden – und eben nicht ins vielzitierte Lachen, das einem im Hals stecken bleibt? So verstanden zeigt Schneider uns die zumeist verborgene Schönheit des Unsinns und hat über die Jahre seine Rolle als unterhaltsamer Fehler im System kultiviert.

Als ich diesen Fehler erstmals 1990 in der TV-Sendung Queen’s Palace bemerkte, war ich regelrecht schockiert: Bis dato hatte ich noch nie jemanden gesehen, der sich so konsequent und gleichzeitig lustig allen Erwartungshaltungen verweigerte. Seine Heinrich-Heine-Lesung sprengte damals alles, was als Fernsehunterhaltung bezeichnet wurde. Allein schon ein schrill herausgeschriener Satz wie »Nein, diese Seite lese ich nicht. Ich schlage willkürlich eine andere Seite auf« brach mit allen Konventionen einer Literaturveranstaltung. Dazu noch diese überdrehte Fistelstimme, ein grotesk ausgestellter Überbiss der Zähne, sein aus der Zeit gefallener blauer Konfirmationsanzug, die rote Wuschelkopf-Perücke, ungelenke, bisweilen marionettenhaft wirkende Bewegungen – all das hatte etwas Clowneskes und verkörperte zugleich eine Art existentielle Schüchternheit, die sich so wohltuend vom oft aggressiven Schenkelklopfer-Humor der Comedy-Szene abhob.

Wer Schneider einmal live erlebt hat – nur seine Bühnenpräsenz zählt und macht alle bisweilen zähen TV-Talks schnell vergessen –, spürt schnell, dass sein offensiv zur Schau gestellter Dilettantismus alles andere als dilettantisch ist. Schneiders Genialität besteht eben darin, nicht genial zu sein – dies aber auf eine unverwechselbare und souveräne Art und Weise.

»Die meisten Kritiker meinen, ich mache Nonsens. Aber das ist genau das falsche Wort dafür. Wenn ich behaupte, Quatsch zu machen, dann meine ich Spaß, und Spaß bedeutet eben auch Ernst.«

(Schneider im Interview)

Auch wer einen Mangel an Pointen in seinen Liedern und Geschichten beklagt, liegt knapp daneben. Schon in seiner 1992 erschienenen Autobiographie, Teil I mit dem Leitspruch seiner Willkommenskultur Guten Tach. Auf Wiedersehn als Titel wird schnell deutlich, dass seine Pointen bewusst darin bestehen, keine zu haben. Deshalb bezeichnet er auch seine garantiert witzlosen Witze als »eine Philosophie, die nur wenige Menschen verstehen. Doch es werden immer mehr. Die lachen über etwas, was überhaupt nicht lustig ist.«

Ein Buch über Helge Schneider zu schreiben, könnte ebenfalls als Witz missverstanden werden. Wie sollten tote Buchstaben auf Papier auch nur eine Ahnung von seiner unberechenbaren Improvisations-Kunst vermitteln können? Doch Schneider weiß selbst am besten: »Ein Buch ist ein Hilfsmittel, um vielleicht dahinter zu kommen, was war.«

Dieses »was war« ist inzwischen auch schon fast 30 Jahre alt: Seitdem er mit seinem verstörenden »Helgeianismus« Anfang der 1990er Jahre poltergeistähnlich in die Kleinkunst-Szene der Republik stolperte, hat er ein erstaunlich breites und vielschichtiges Werk geschaffen. Wer ihn auf seinen Hit »Katzeklo« reduziert und nur seine Talkshow-Auftritte kennt, verpasst das Wichtigste: Schneider ist ein Tausendsassa – und dabei stets ein verblüffender Sprach- und Logikakrobat. Doch ob auf bundesweiten Tourneen mit wechselnden Bands, im Kino und in Büchern, auf CDs und DVDs, in zahllosen TV-Auftritten oder bei Theaterproduktionen: Schneiders enorme Produktivität konnte nicht dazu beitragen, das »Helge-Phänomen« zu enträtseln. Die Verunsicherung war und ist groß.

»Geb’n Se dem Mann am Klavier …«

Mit philosophischer Weitsicht hat Schneider schon früh seine prekäre Funktion als Clown analysiert: »Du wirst ja nicht ernst genommen. Du wirst belacht. Der Clown ist am Rande der Gesellschaft. Das ist so, ich bin auch so. Ich spiele keine Rolle und deshalb spiele ich auch keine Rolle.« Dass er dann doch eine bedeutende Rolle im bundesdeutschen Humor-Diskurs spielen sollte, konnte vor einem Vierteljahrhundert niemand ahnen: Schneiders Redensart »Das prangere ich an« gehört nicht nur in Jugendkulturen längst zur Alltagsfolklore. Schuld an diesem Erfolg, nicht zuletzt beim Massenpublikum, dürfte sein radikales Bekenntnis zur Improvisation sein, zur Spontaneität, zum Unfertigen und Unvollkommenen.

Schon in seiner ersten Autobiographie bekannte er, dass alles, was er macht, im Grunde Jazz sei. Fast könnte man sein Erfolgsgeheimnis allein durch diese »Methode Jazz« erklären, die Schneider eben nicht nur in seiner Musik verfolgt, sondern seiner ganzen Existenz unterlegt. Nicht selten korrespondiert dieser Improvisationslust eine permanente Zurschaustellung seines Ringens nach Worten, verbunden mit Plötzlichkeit und Sprunghaftigkeit – sei es sprachlich oder musikalisch.

Es gibt natürlich Menschen, die wollen nicht improvisieren und die kommen dann ein bisschen aus der Bahn, wenn es plötzlich heißt ›Ach Scheiße, keine Milch im Haus, jetzt muss ich improvisieren, jetzt nehm’ ich Schnaps oder was weiß ich.‹ Ist ein ziemlich blödes Beispiel, muss ich sagen.«

(Schneider im Interview)

Seit mehr als 25 Jahren verfolge ich jetzt die wechselvolle Karriere von Helge Schneider, habe ihn mehrmals getroffen, interviewt und so viele Konzerte wie möglich von ihm besucht. Und immer noch treiben mich die alten, unbeantworteten Fragen um, wenn ich ihn erlebe: Warum wird er auf der einen Seite als lustiges Genie vergöttert und auf der anderen Seite als alberner Blödmann geschmäht? Muss man einen speziellen Humor haben, um ihn zu verstehen? Worin genau unterscheidet sich sein Humor vom Fun-Versprechen der deutschen Comedy-Fraktion? Gibt es so etwas wie einen roten Faden, der sich durch sein unübersichtliches, vielschichtiges Werk zieht? Und wie lange kann er sich seine subversive Kraft noch bewahren?

Bei Helge Schneider kann alles danebengehen, Versagen ist für ihn kein Makel, sondern am spannendsten, weil am lebendigsten. Er will nicht funktionieren, und das gibt ihm eine Freiheit, die von vielen als aufrührerisch, ja geradezu anarchistisch verstanden wird. Die nachfolgenden Überlegungen sollen dazu dienen, im Durchgang durch Schneiders Gesamtwerk zum Kern seiner Komik-Revolte vorzustoßen.

Mülheim-Blues: Der jugendliche Dissident

Das vielleicht beliebteste Argument gegenüber allen Helge-Hassern, die mit seinem Humor so gar nichts anfangen können, lautet noch immer: »Ja, aber er ist ein begnadeter Musiker und beherrscht zig Instrumente!« Von allen zum Teil abstrusen Namen, mit denen man seine Kunst zu fassen sucht, lässt Schneider selbst in der Tat allein die Berufsbezeichnung Jazzmusiker gelten (vielleicht könnte er sich auch noch mit dem Begriff »Kauz gewordener Gegenschall« anfreunden, den ein Feuilletonist für ihn erfand). Denn Jazz verkörpert für Schneider nicht nur ein Stück unverzichtbare Freiheit, die gelebt wird, er signalisiert zugleich Abweichung von der Norm und Außenseitertum – gemessen am musikalischen Mainstream. Gleichwohl darf man im Falle Schneider Jazz nicht als kruden Gegensatz zu Pop und Popularität begreifen. Vielmehr gilt er ihm als ein Verfahren, das allein permanente Überraschung garantiert und eine bestimmte Form von Sauberkeit des Ausdrucks zu vermeiden hilft. In genau diesem Sinn kann Helges Jazz also auch Pop sein.

Das hat biographische Wurzeln: Musik im Allgemeinen und Jazz im Besonderen wird für den jungen Helge bald zum unverzichtbaren Überlebensmittel. Den grauen Alltag in Mülheim an der Ruhr färbt er sich mit seiner Musik selbst bunt: Grau war die Siedlung im Stadtteil Dümpten, in die er am 30. August 1955 hineingeboren wird. Die Wohnung der Eltern (der Vater arbeitet als Fernmeldemonteur, die Mutter als Sekretärin im Finanzamt der Stadt) hat er als »klein und sehr niedrig« in Erinnerung. Seine ebenfalls zum Haushalt zählende Tante Erna nimmt er bald als Ersatzmutter wahr, zumal sie auch primär für die Erziehungsarbeit von Helge und seinen beiden Schwestern Kerstin und Marliese zuständig ist. Dennoch fühlt er sich als Kind in diesem intakten Familienverbund mit einer Verwandtschaft voller Originale wohl. Rückblickend macht Helge aus seiner Familie fast liebevoll ein Freak-Kabinett: »Mein Vater ist nur einen Meter fünfzig hoch, vielleicht ein bisschen höher, und genauso breit fast in seinem grauen Wintermantel. Er hat einen Buckel. Meine Mutter hinkt und Tante Erna watschelt wie eine Ente.«

Sein skandinavisch klingender Name Helge ist ihm von Anfang an peinlich. Auch mit seinem Aussehen (»ich hatte einen unsäglich tütenförmigen Kopf als Baby«), den roten Haaren und den spindeldürren Beinen ist der junge Schneider nicht einverstanden, zumal er von seinen Spielkameraden oft gehänselt wird. Das Klavier hingegen wird sein bester Freund. Oder wie er ein paar Jahre später zu Protokoll geben wird: »Ich bin mit meinen Instrumenten verheiratet.«

»Hefte raus, Klassenarbeit!«

Und obwohl er seinen Vater als vollkommen unmusikalisch in Erinnerung hat (»nur Radio, das kann er ein bisschen, aber nur Zimmerlautstärke«) wird Schneiders musikalisches Talent von seinen Eltern gefördert. Auf diese Weise gewinnt er ein bisschen von jenem heiß ersehnten Selbstvertrauen, über das seine Schulkameraden von Haus aus zu verfügen scheinen. Ihm fehlt nach eigener Einschätzung die selbstverständliche, joviale, selbstbewusste Ausstrahlung, sein kleinbürgerliches Elternhaus ist ihm ins Gesicht geschrieben.

Mit der Schule steht Schneider von Anfang an auf Kriegsfuß. In seiner Erinnerung musste er bereits am ersten Schultag »inner Ecke stehen«. Er gilt als aufsässig und frech: »Ich hatte einen unheimlichen Freiheitsdrang.« Trotzdem schafft er es aufs Gymnasium, wo er in den ersten beiden Jahren zu den Besten seiner Klasse zählt. Doch schon bald beginnt er sich beim Vokabellernen zu langweilen und fingert lieber auf seinem Cello und dem Klavier herum.

»Stundenlang entlockte ich dem Klavier eine eigentümliche, sich immer wiederholende Musik, ähnlich wie man es von Keith Jarrett kennt. Verzückt lächelnd verdrehte ich dabei die Augen und fand so zu mir selbst. Genau wie Keith.«

(Schneider in seiner Autobiographie Guten Tach. Auf Wiedersehn)

Nach eigener Aussage entdeckt er mit Zwölf im Sperrmüll seine erste Miles-Davis-Platte. Und seitdem ist es um die Seriosität des klassisch ausgebildeten Musikers Schneider geschehen. Der hatte schon im Alter von sechseinhalb Jahren Klavierunterricht erhalten. Nicht zufällig wies seine Tante Erna, wenn sie ihn als Säugling im Kinderwagen durch Mülheim schob, Freunde und Bekannte auf »seinen musikalischen Hinterkopf« hin. Und Helge beteuert noch heute: »Meine erste eigene Komposition machte ich mit vier Jahren: Texas. Die Idee dazu kam mir allerdings schon vorher, als ich in der Tragetasche lag.« Doch weist er in seiner Autobiographie wiederholt darauf hin, dass ihn das klassische Klavierspiel bald total genervt habe, nicht zuletzt weil er von dem geforderten mehrstündigen Übungspensum täglich höchstens zehn Minuten absolviert habe.

Obwohl er wohl ein guter klassischer Pianist geworden wäre, beschließt er ziemlich früh, seine eigene Musik zu machen, d. h. zu improvisieren. Bewusst sucht er die Herausforderung, denn »zum Improvisieren braucht man ungleich mehr Intelligenz als zum Notenlesen. Das forderte mich heraus.«

Noch bevor er eingeschult wird, nimmt Schneider an Klavierwettbewerben teil, beim Tag der Hausmusik oder bei einem Wettbewerb im Kaufhaus Cramer und Meermann in Essen, wo er als Preis eine Tafel Fruchtschokolade erhält. Und doch fühlt sich der Junge, in seinem Anzug mit Samtkragen und Schleife eingezwängt, unwohl. Nicht zuletzt die obligatorische Pomade im Haar ist Schuld daran, dass er auf öffentliche Auftritte erst einmal verzichtet. Auch mit dem Cello, das er mit elf Jahren zu spielen beginnt, kann er sich nicht so recht anfreunden.

»Ich hatte da was verwechselt: Ich wollte nämlich eigentlich einen Kontrabass haben, weil es mit Abstand eines der größten Instrumente in meinen Augen war. Damit hätte ich dann ganz tiefe männliche Töne spielen können. Ich hatte ja immer das Problem, dass viele Leute meinten, ich wäre ein Mädchen.«

(Schneider im Interview)

Obwohl er den sehnsüchtigen, immer ein bisschen melancholisch getönten Sound mag, ist ihm das Instrument bald peinlich: »Ich musste das Cello zwischen die Beine klemmen, und das sieht meines Erachtens total scheiße aus.« Erst auf seiner Solotournee Radio Pollepopp im Frühjahr 2017 sollte er sein Cello wieder auspacken, resignierte aber schnell, nachdem er es umständlich aus den Kulissen hervorgeholt und vor einem Mikro platziert hatte, und verkündete in bestem Ruhrpott-Deutsch: »Vom Cello kricht man dat arme Dier [Depressionen].« Da dies das traurigste Instrument der Welt sei und ihn nebenbei an seine vierte Frau erinnere, könne er es leider doch nicht spielen.

Als Schneider mit 13 Jahren von einem älteren Jungen zum Rauchen verführt wird, ist es auch bis zum ersten Joint nicht mehr weit. Je mehr Schneider kifft, umso weniger interessiert er sich für die Schule. Sein Zeugnis lässt keine Versetzung mehr zu. Als seine Eltern mitbekommen, dass er häufig den Unterricht schwänzt und stattdessen vormittags lieber an der Ruhr entlangwandert, bringt sein Vater ihn morgens eigenhändig mit dem Auto zur Schule und wartet, bis sein Sohn das Schulgebäude betreten hat. Doch der geht einfach vorn hinein und hinten wieder hinaus: »Ich konnte ohne rot zu werden von der Schule erzählen, obwohl ich überhaupt nicht da war.«

Die Verzweiflung seiner Eltern wird begreiflich, als ein Psychologe die niederschmetternde Diagnose »Wandertrieb« stellt. Zwar lässt sich Helge erst einmal für zwei Monate krankschreiben, doch am Ende des Schuljahres muss er das ungeliebte Gymnasium trotzdem verlassen. In dieser Zeit fühlt Helge sich komplett unverstanden und von der Welt verstoßen. Mit seinen roten Haaren und der spindeldürren Figur ist er zum Außenseiter prädestiniert, entwickelt aber gerade deshalb schon früh einen Selbsterhaltungstrieb, der ihn zu aberwitzigen Aktionen treibt: Mit 15 kann man ihn in knallgrünem Anzug gitarrespielend auf den Straßen Mülheims erleben. Und doch eröffnet sich für Schneider noch einmal die Möglichkeit, einen bürgerlichen Lebensweg einzuschlagen.

Trotz seiner Vergehen auf dem Staatlichen Gymnasium darf er auf die Mittelschule wechseln. Doch noch immer völlig unmotiviert, verspielt er hier seine letzte Chance, einen Schulabschluss zu machen.

(Schneider in seiner Autobiographie Guten Tach. Auf Wiedersehn)