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župan: bei den mittelalterlichen Süd- und Westslawen verbreiteter Honoratiorentitel unklarer Herkunft.
Im Jahr 2010 lancierte die damalige national-konservative Regierung der Republik Mazedonien ein ambitioniertes Neu- und Umbauprogramm für die Hauptstadt des Landes: »Skopje 2014«, so der Titel des Vorhabens, umfasst Dutzende neue Verwaltungs- und Kulturbauten sowie eine Vielzahl von Denkmälern, die einerseits dem Stadtzentrum Skopjes ein neo-klassizistisches Antlitz verleihen und andererseits den öffentlichen Raum mit Heldengestalten aus der mazedonischen Geschichte ver(un)zieren sollen. Hauptzweck von »Skopje 2014« ist es, der von mazedonischen Nationalisten vertretenen Ansicht, bei den heutigen Mazedoniern handele es sich um die Nachfahren von Alexander dem Großen, baulichen Ausdruck zu verleihen. Die pseudo-hellenischen Fassaden konstruieren eine Vergangenheit, die es in Skopje so niemals gab – und dienen dazu, das bis dato im Stadtbild dominante sozialistische sowie das osmanische Erbe zu verdrängen, denn beides möchte die Regierung am liebsten vergessen machen. Den Bewohnern Skopjes und seinen Gästen soll das Bild einer bis in die Antike zurückreichenden, heldenhaften Vergangenheit der Mazedonier vermittelt werden – »Skopje 2014« ist mithin steingewordene Nationalgeschichte. Das monumentale Projekt soll der krisengeplagten und verunsicherten Mehrheitsbevölkerung Mazedoniens einen stabilen Anker ihrer kollektiven Identität bieten und ihr das Gefühl des Stolzes über die eigene Geschichte geben; gleichzeitig sendet es an die große albanische Minderheit (rund ein Viertel der Bevölkerung des Landes) die überdeutliche Botschaft aus, dass die Hauptstadt Territorium der ethnischen Mazedonier sei.
»Skopje 2014« richtet sich aber nicht nur nach innen, sondern auch nach außen: Die Bauten und Denkmäler reklamieren für die Mazedonier eine Vergangenheit, die von den Nachbarstaaten für sich beansprucht wird. Insbesondere geht es um den Konflikt mit Griechenland, denn Griechenland akzeptiert den Staatsnamen »Republik Mazedonien« nicht, unter anderem mit dem Verweis darauf, dass das antike makedonische Erbe alleiniger Besitz Griechenlands sei. Dieser Konflikt schwelt nun schon seit einem Vierteljahrhundert, weshalb Mazedonien international unter dem seltsamen Staatsnamen »Ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien« (englisches Akronym FYROM) firmieren muss. Aufgrund der ungeklärten Namensfrage blockiert Griechenland seit Jahren die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit Makedonien. Ein weiterer externer Adressat von »Skopje 2014« ist Bulgarien, denn die vielen historischen Figuren aus dem Mittelalter und dem 19. Jahrhundert, denen nun kitschige Denkmäler in Skopje gewidmet werden, sind fester Bestandteil der bulgarischen Nationalgeschichte. Aus der Sicht der meisten Bulgaren handelt es sich bei den Mazedoniern um keine eigenständige Nation, sondern eigentlich einen Teil des bulgarischen Volkes; die Vergangenheit der Region sei daher Teil der bulgarischen Geschichte. Für die mazedonische Regierung (und Öffentlichkeit) ist aber klar, dass alles, was sich auf dem Gebiet Mazedoniens abgespielt hat, Teil der mazedonischen nationalen Tradition ist.
Auf den ersten Blick veranschaulicht »Skopje 2014« die Eigenartigkeit Südosteuropas, einer Region, in der grundlegende Fragen des Zusammenlebens – wie die realen und symbolischen Grenzen von Nationen – offensichtlich noch nicht geklärt sind und Regierungen sich zu nationalistischen Übersprungshandlungen hinreißen lassen. Spätestens mit dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er Jahren hat sich die Vorstellung verfestigt, dass das südöstliche Europa gewissermaßen aus der europäischen Norm herausfalle. Doch im Gegenteil bietet die Beschäftigung mit der Geschichte Südosteuropas die Möglichkeit, sich mit zentralen Themen der Entwicklung Europas auseinanderzusetzen und sich der regionalen Vielfalt dessen, was wir heute als Europa verstehen, bewusst zu werden. Die Geschichte der Region unterscheidet sich auch nicht stärker vom Rest Europas als die jeder anderen Region innerhalb Europas, denn nicht nur Europa, sondern auch seine Geschichte schöpft ihre Einheit aus der Vielfalt.
Vieles von dem, was wir in Südosteuropa beobachten können, hat sich in ähnlicher Form auch anderswo in Europa (oder der Welt) abgespielt, wenn auch manchmal zu anderen Zeiten und natürlich immer in unterschiedlichen konkreten Ausprägungen und Verlaufsformen. Als an der Universität Regensburg tätige Geschichtswissenschaftler empfinden wir neo-klassizistische Monumentalbauten zum Zwecke der nationalen Selbstvergewisserung keineswegs als fremd: Donauauf- und -abwärts von Regensburg stehen Gebäude, die einer ähnlichen Ästhetik und Motivation folgen wie »Skopje 2014« (die Befreiungshalle bei Kelheim und die Walhalla bei Donaustauf), nur dass sie aus dem 19. Jahrhundert und nicht dem 21. Jahrhundert stammen (und unbestritten von größerem architektonischen Wert und von stabilerer Bauweise sind). In tausend Jahren werden zukünftige Historiker all diese Bauten als Manifestationen eines gemeinsamen Prozesses, nämlich der Nationsbildung in Europa und des Versuches, historische Kontinuität zu suggerieren, interpretieren und inhaltlich keinen großen Unterschied in weniger als 200 Jahren zeitlicher Distanz sehen.
Natürlich weist die Geschichte Südosteuropas, wie jede Geschichte, viele Besonderheiten auf, die wir in den nun folgenden Kapiteln erläutern wollen. Aber sie ist nicht exotisch, sondern ein integraler Bestandteil der europäischen Geschichte. Diese muss auch von ihren jeweiligen Rändern her betrachtet werden, denn gerade dort sehen wir, wie wichtig die Beziehungen zu anderen Regionen für die spezifische Entwicklung Europas waren. Ist etwa die Geschichte der britischen Inseln nicht ohne deren koloniales Ausgreifen und die Interaktion mit Nordamerika verstehbar, oder jene Russlands nicht ohne den eurasischen Kontext, so muss Südosteuropa in seinem Bezug zu Asien und der Mittelmeerregion gedacht werden. Südosteuropa kann exemplarisch verdeutlichen, wie stark verflochten europäische Geschichten sind, und zwar schon lange, bevor das Wort Globalisierung in aller Munde war. Und schließlich werfen die zentralen Probleme der Geschichte Südosteuropas, die wir in diesem Buch diskutieren – wie nachholende wirtschaftliche Entwicklung, der Umgang mit Multikonfessionalität und -ethnizität, Staatsbildung und die Folgen von Nationalismus, das Verhältnis zwischen Eliten und ›einfacher‹ Bevölkerung, die Dynamiken von Konflikt und Krieg –, Fragen auf, über die wir nachdenken müssen, um heutige gesellschaftliche Herausforderungen in Europa meistern zu können. Unsere Darstellung fokussiert dabei vor allem die Zeit seit etwa 1800, aber auch die vormodernen Grundlagen der südosteuropäischen Geschichte werden dargestellt, denn diese hinterließen nicht nur bis heute weiterwirkende Erbschaften, sondern spielten auch in den kollektiven Erinnerungen und nationalen Selbstbildern eine große Rolle.
Der vorliegende Band ist das Werk von zwei Autoren, die ihre jeweils spezifischen Expertisen und methodischen Zugänge zusammengeführt haben. Darin sehen wir einen Vorteil, weil Geschichte immer in einem Diskussionsprozess unterschiedlicher Ansätze entsteht. Wie gut es uns gelungen ist, unsere Ansichten in eine kohärente Erzählung zu überführen, müssen die Leserinnen und Leser dieses Buches entscheiden. Jene, die uns bei der Abfassung und Revision des Manuskriptes zu Hilfe gekommen sind, haben jedenfalls getan, was sie konnten, um das Buch lesbar zu machen. Für Hinweise zu einzelnen Themen sowie die kritische Lektüre von Teilen des Manuskripts danken wir ganz herzlich Andreas Becker, Timo Brunnbauer, Marija Đokić, Luminiţa Gatejel, Nicole Immig, Heidrun Hamersky, Heike Karge, Peter Kreuter, Hans-Christian Maner, Stefano Petrungaro, Natali Stegmann und Ioannis Zelepos. Ermöglicht wurde dieses Werk auch durch das vorzügliche institutionelle Umfeld in Regensburg, dessen Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien sowie das Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS) nicht nur eine intellektuell anregende Atmosphäre schaffen, sondern auch durch die zahlreichen Gäste aus dem Aus- und Inland die Chance bieten, aktuelle Forschungstrends zu debattieren. Schließlich ist dem Verlag für die Betreuung des Bandes und die Nachsicht gegenüber den manchmal säumigen Autoren zu danken. Unterstützung gab es somit ausreichend für ein Buch, das hoffentlich nicht nur Interesse für die spannende und komplexe Geschichte Südosteuropas erweckt, sondern auch zum Nachdenken darüber einlädt, was Europa zu Europa macht.
Bevor wir zur Darstellung schreiten, noch eine technische Vorbemerkung zur Schreibweise: Die dynamische Geschichte Südosteuropas schlägt sich auch in den Ortsnamen nieder, die vielfach wechselten. Für viele Orte existierten auch parallele Namensformen, je nach Sprache: So kannten Deutschsprachige die heute rumänische Stadt Cluj-Napoca (bis 1974 einfach nur Cluj) als Klausenburg und Ungarn als Kolozsvár. Im Sinne der Lesefreundlichkeit verwenden wir in diesem Buch zumeist die heute gebräuchlichen Namensformen, auch wenn das für den Zeitraum, für den von einem Ort die Rede sein wird, nicht üblich war. So bezeichnen wir die Stadt Plovdiv in Bulgarien mit diesem Namen auch für die osmanische Periode, obwohl der offizielle Name der Stadt damals Filibe war und sie von der in ihr dominanten griechischen Kaufmannschaft Philippopolis genannt wurde. Nur wo die aktuell gebräuchliche Namensform arg irreführend wäre, verwenden wir die historische (etwa Fiume statt Rijeka, wobei im Italienischen die Stadt natürlich auch heute noch Fiume heißt). In der Transliteration von Namen aus den kyrillischen Alphabeten folgen wir im Übrigen der wissenschaftlichen Norm.
Was ist die Geschichte Südosteuropas? Diese Frage ist alles andere als banal und wurde in den letzten Jahrzehnten unterschiedlich beantwortet. Das Problem liegt in der Unklarheit des Begriffs »Südosteuropa«. Schon ein Blick auf den einschlägigen Wikipedia-Eintrag verdeutlicht die Schwierigkeiten, die Grenzen der Region abzustecken, denn – so Wikipedia – die »Abgrenzung ist je nach Kontext unterschiedlich«. Doch hindert diese Uneindeutigkeit wirklich daran, die Geschichte der Region zu schreiben? Oder ist sie nicht eher ein Vorteil, weil sich Geschichte nie in starren Grenzen abspielt? Nur scheinbar lässt sich die Vergangenheit eines Landes leichter fassen als jene einer Region, die nicht durch eine gemeinsame Staatsgrenze oder durch gemeinsame Institutionen zusammengehalten wird. Wer glaubt, die Geschichte eines bestimmten Staates im Rahmen dessen Grenzen schreiben zu können, geht letztlich einer nationalistischen Schimäre auf den Leim. Vielmehr ist die moderne Welt derart stark von Beziehungsgeflechten geprägt, die über Staatsgrenzen hinweggehen, dass der Historiker immer einen Blick auf das Ganze haben muss, um das Besondere zu verstehen. Südosteuropa ist ebenfalls ein Beziehungsraum, dessen Geschichte geschrieben werden kann, auch wenn die Region politisch niemals eine Einheit gebildet hat und das auch heute nicht tut.
Die Tatsache, dass es eigene Professuren für die Geschichte Südosteuropas ebenso wie den Fachverband der Südosteuropa-Gesellschaft gibt, deutet bereits auf die Existenz von Gemeinsamkeiten hin, welche die Länder und Kulturen der Region verbinden. Der 2015 verstorbene Südosteuropahistoriker Holm SundhaussenSundhaussen, Holm, zeit seines Lebens Doyen des Faches in Deutschland, sprach von Südosteuropa als Geschichtsregion. Was ist damit gemeint? Zum einen gibt es lange zurückreichende historische Prägungen, welche die Geschicke eines großen Teils der Region bestimmten. Weite Teile Südosteuropas gehörten zum oströmischen und dann byzantinischen Reich, weshalb sie eine teilweise andere Entwicklung als das durch Völkerwanderung und germanische Staatsgründungen gekennzeichnete westliche Europa nahmen. Mit dem Ausgreifen der islamischen Dynastie der Osmanen auf den Balkan seit dem 14. Jahrhundert wurde die Region – zeitweise bis nach Ungarn im Norden – in ein Imperium eingegliedert, das die heutige Türkei, die arabische Halbinsel und Nordafrika umfasste. Die Kerngebiete Südosteuropas befanden sich ein halbes Jahrtausend unter osmanischer Herrschaft, deren Spuren bis heute sichtbar sind, etwa in der Präsenz großer muslimischer Bevölkerungsgruppen. Wie prägend die osmanische Periode war, lässt sich auch daran bemessen, dass in Ländern wie Griechenland, Serbien und Bulgarien Korruption und bürokratische Ineffizienz heute noch gerne mit Verweis auf die osmanische Herrschaft erklärt (und entschuldigt) werden – obwohl diese nun schon eine geraume Zeit zurückliegt.
Nicht ganz Südosteuropa war Teil des Osmanischen Reiches, Ungarn ›nur‹ für etwas mehr als eineinhalb Jahrhunderte, die Gebiete des heutigen Rumäniens immer lediglich in einer mehr oder wenigen losen Verbindung mit dem Sultan, das Territorium des heutigen Sloweniens und IstriensIstrien sogar nie. Aber dennoch sollte eine umfassende Geschichte Südosteuropas auch diese Regionen und Länder inkludieren, auch weil es immer wieder längere und folgenschwere Perioden gab, in denen diese Gebiete zu Staatsgebilden gehörten, die in den Kern der Balkanhalbinsel hineinreichten. Man denke etwa daran, dass Slowenien und Kroatien im 20. Jahrhundert Teil Jugoslawiens waren, eines Staates, der auch einst osmanische Territorien umfasste. Das Königreich Ungarn – sowohl im Mittelalter als auch als Teil des Habsburgerreiches – bestimmte ganz wesentlich die Geschicke der Region; die südlichen Gebiete der Habsburgermonarchie waren in großem Ausmaß durch ihre Grenzlage zum Osmanischen Reich bestimmt, nicht zuletzt weil dort auch Bevölkerungsgruppen siedelten, welche die gleiche Sprache sprachen wie die Menschen jenseits der Grenze. Als Beispiel könnten die Serben und Rumänen genannt werden, die in beiden Reichen lebten, im 19. Jahrhundert aber nach und nach ein Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickelten. Zudem bezogen sich Habsburgermonarchie und Osmanisches Reich stark aufeinander, bei all den großen Unterschieden, die ihre innere Entwicklung auszeichnete. Beispielsweise stießen angesichts zahlreicher Kriege und Scharmützel ihre Herrscher Reformen an, um gegen das jeweils andere Reich militärisch bestehen zu können. Also haben Südösterreich und der südliche Balkan doch etwas miteinander zu tun: Ohne die osmanische Bedrohung wäre die steirische Landeshauptstadt GrazGraz jedenfalls um eine ihrer größten Attraktionen ärmer, nämlich das mit mehr als 30 000 Waffen gefüllte, in den 1640er Jahren im Zuge der Türkenabwehr erbaute Zeughaus.
Schließlich erlaubt der Blick auf die gesamte Region, die Entwicklung einzelner Staaten zu vergleichen, nachdem die Reiche untergegangen sind. Es zeigt sich dabei, dass etwa die Republik Türkei als ein osmanischer Nachfolgestaat nach 1918 vor ähnlichen Herausforderungen stand wie Griechenland ein knappes Jahrhundert zuvor. Auch die Entwicklung Ungarns nach dem Ende der Habsburgermonarchie ist nur zu verstehen, wenn sie mit jener in anderen ex-habsburgischen Gebieten verglichen und vor dem Hintergrund der Bedeutung der 1918/1919 verlorenen Gebiete dargestellt wird. Daher wird in diesem Buch die Geschichte der Türkei, als eines post-osmanischen Nationalstaats, als integraler Bestandteil der südosteuropäischen Geschichte behandelt, nicht zuletzt aufgrund ihrer weiterhin engen Beziehungen zu den anderen Balkanstaaten. Heute ist die Republik Türkei auf dem Balkan wieder stark präsent – politisch, ökonomisch, kulturell. Griechenland und die Türkei bilden beispielsweise eine echte Schicksalsgemeinschaft, wenn auch meistens, aber nicht immer, im Sinne eines Konfliktes – nicht nur aufgrund der Geografie, sondern auch wegen der gemeinsamen Vergangenheit. Ähnliches ließe sich für Ungarn und Rumänien behaupten.
Wie erwähnt gehörten die Länder und Regionen Südosteuropas in ihrer Geschichte niemals alle zum selben Staatswesen. Dennoch entwarfen regionale ebenso wie externe Akteure wiederholt Projekte der Vereinigung und regionalen Zusammenarbeit. Der griechische Aufklärer Rigas VelestinlisVelestinlis, Rigas (1757–1798) träumte von einem Bund aller Balkanvölker, nachdem sie sich einmal von osmanischer Herrschaft befreit hätten. Er entwarf sogar eine Flagge für die zukünftige Föderation. Diese Idee tauchte regelmäßig im 19. und 20. Jahrhundert auf, wobei zwar die Vorstellungen variierten, welche Regionen und Völker ihr angehören sollten, die Autoren dieser Programme aber davon ausgingen, dass es ausreichend kulturelle und politische Gemeinsamkeiten gäbe, um einen solchen Verbund zu bilden. Solche Vorhaben zielten letztlich darauf, Südosteuropa im Inneren zu einen, damit es kein Spielball äußerer Mächte bliebe. Einen letzten ernst gemeinten Versuch in diese Richtung machten die Anführer der kommunistischen Parteien Jugoslawiens und Bulgariens, Josip Broz TitoTito, Josip Broz und Georgi DimitrovDimitrov, Georgi, unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als in beiden Ländern die Kommunisten die Macht übernahmen. Tito visierte eine Föderation an, die von den Alpen im Norden bis an die ÄgäisÄgäis im Süden, von der AdriaAdria im Westen bis an das Schwarze Meer im Osten reichen sollte, also tatsächlich die gesamte Region des südöstlichen Europa umfasst hätte.
Wie wir wissen, ist es dazu nicht gekommen, aber selbst in jüngster Zeit gab es politische Versuche, die Kooperation innerhalb der Region zu stärken. Bedeutung erlangte dabei vor allem der nach dem Kosovokrieg 1999 von der internationalen Staatengemeinschaft aus der Taufe gehobene Stabilitätspakt für Südosteuropa, der die dauerhafte Befriedung Ex-Jugoslawiens sowie die Stabilisierung der Gesamtregion bezweckte. Darüber hinaus gibt es heute unterschiedliche Anlässe, zu denen sich die Staats- und Regierungschefs der Region regelmäßig treffen. Diese Formen der Zusammenarbeit sind zwar nicht besonderer gegenseitiger Sympathie geschuldet, aber zumindest der Einsicht, dass die Länder der Region vor ähnlichen Herausforderungen stehen, die sie gemeinsam besser bewältigen können als im Alleingang.
In den letzten Jahren wurde eine intensive Debatte über die Grundlagen sowie den geografischen Rahmen der südosteuropäischen Geschichte geführt, die wir weder ignorieren wollen noch dürfen. Eine wichtige Erkenntnis dieser Diskussionen ist, dass die Region nicht als eine Art Container zu betrachten ist, in dem sich Geschichte unberührt von anderen Geschichten abspielt. Vielmehr ist es wichtig, die Beziehungen zwischen Regionen – von der lokalen bis zur globalen Ebene – und die mannigfaltigen Transfers zu berücksichtigen, welche die jeweils betrachteten historischen Phänomene beeinflussen. Südosteuropa, als Gebiet, das über Jahrhunderte eine Grenzregion von Imperien war, kann die Bedeutung von überregionalen Beziehungen, Verflechtungen und Transfers für die Geschichte einzelner Länder, Orte und Bevölkerungsgruppen versinnbildlichen.
Schon der oberflächliche Blick etwa auf die urbane Architektur oder die Dorfformen in Südosteuropa macht deutlich, dass die einzelnen Teile der Region von engen kulturellen Beziehungen mit jeweils anderen Regionen geprägt waren: Die Städte IstriensIstrien, DalmatiensDalmatien und Montenegros erinnern an Italien, die Altstadt von SkopjeSkopje könnte auch in AnatolienAnatolien liegen, die siebenbürgischenSiebenbürgen Städte wiederum gut und gerne in Mitteleuropa, die moldauischenMoldau in der Ukraine. Über weite Strecken seiner Geschichte seit der Antike war Südosteuropa Teil von großen Reichen, die über die Balkanhalbinsel hinausreichten. Natürlich hingen daher die Entwicklungen in Südosteuropa eng mit den anderen Reichsteilen zusammen. Die für die Region ausschlaggebenden politischen, aber auch kulturellen Zentren lagen bis in das 19., teilweise 20. Jahrhundert hinein außerhalb oder am Rande der Region: Konstantinopel/IstanbulKonstantinopel, WienWien und VenedigVenedig, im 19. Jahrhundert auch Sankt PetersburgSankt Petersburg und BudapestBudapest, in den Zeiten des Kalten Kriegs dann Moskau als Zentrum des Ostblocks. In Südosteuropa amalgamieren sich also unterschiedliche kulturelle Einflüsse, und zwar sowohl synchron als auch diachron: Hier treffen – in jeweils unterschiedlichen Mischungen – mediterrane, zentraleuropäische, osteuropäische und orientalische Muster genauso zusammen wie die Prägungen durch die byzantinische, osmanische, venezianische, habsburgische und sozialistische Epoche, von den seit dem Zweiten Weltkrieg so wichtigen US-amerikanischen Einflüssen einmal ganz zu schweigen.
Seit dem 19. Jahrhundert intensivierten sich zudem die internationalen Verflechtungen: Passenderweise ist eine der jüngsten wissenschaftlichen Darstellungen der Geschichte Südosteuropas (aus der Feder der Münchner Historikerin Marie-Janine CalicCalic, Marie-Janine) mit »Weltgeschichte einer Region« untertitelt. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde Südosteuropa in den Weltmarkt für Güter und Arbeitskräfte integriert, internationale Verträge sowie Großmachtpolitik schufen engere politische Verbindungen zwischen einzelnen Ländern, der Telegraf, die Eisenbahn und andere moderne Verkehrsmittel sorgten für einen viel dichteren Fluss von Informationen, Ideen und Menschen über Grenzen hinweg als jemals zuvor. Südosteuropa war von diesen Entwicklungen nicht weniger betroffen als andere Regionen Europas, aufgrund seiner politischen und ökonomischen Schwäche vielleicht sogar stärker, da die Region immer wieder in die Abhängigkeit von Großmächten geriet. Man denke etwa an die neuen Eliten der jungen Nationalstaaten, die ihre Ausbildung zum guten Teil in West- und Mitteleuropa oder auch in Russland erfahren hatten.
Schließlich geht es in jeder Geschichte um Menschen, denn diese machen die Geschichte (auch wenn sie sich dessen nicht immer bewusst sind, so das Bonmot von Karl MarxKarl Marx). Je nachdem, wo diese Menschen in Südosteuropa lebten, in welche Familien sie geboren wurden, und womit sie sich beschäftigten, waren sie in unterschiedliche Kommunikationsräume integriert, die für ihr Leben bedeutungsvoll waren. Für die Bewohner eines Dorfes in den Tiefen der HerzegowinaHerzegowina, aus dem viele Einwohner nach Amerika ausgewandert waren, waren um 1900 Ereignisse in den USA wahrscheinlich wichtiger als das, was einige Dutzend Kilometer weiter entfernt passierte. Für einen Beamten in der nächstgelegenen Stadt bildeten zur selben Zeit hingegen SarajevoSarajevo und WienWien – die Orte, aus denen er Anweisungen erhielt – die wichtigsten Bezugspunkte. Da die historischen Akteure, also die Menschen, mobil sind, verändern sich auch die Zusammenhänge, in denen sie ihr Leben gestalten. Heute kann man aufgrund der starken Auswanderung Südosteuropa überall in der Welt finden.
Südosteuropa hat nicht nur Geschichte – Winston Churchill sagte einst sogar, mehr als es verdauen kann –, die Region besitzt auch ein Image. Es gibt in und außerhalb der Region bestimmte Vorstellungen von ihrem Wesen, die sich in dem Begriff »Balkan«, der häufig synonym mit Südosteuropa verwendet wird, kristallisieren. Diese Bilder beruhen oftmals auf Stereotypen, welche eine verzerrte Sicht der Dinge wiedergeben, aber nichtsdestotrotz (oder gerade deswegen) weitverbreitet sind. So wird der Balkan seit dem 19. Jahrhundert immer wieder mit Gewalt, Chaos und Unkultiviertheit assoziiert. In den Forschungsdebatten über den Charakter Südosteuropas haben Autoren gerade solche klischeehaften Vorstellungen problematisiert, da sich falsche Wahrnehmungen zu irreführenden Ansichten verfestigen können, die wiederum zu uninformierten Entscheidungen führen. Manche gingen so weit zu sagen, es gebe eigentlich nur Bilder vom Balkan, nicht aber die Region selbst. Viel interessanter erscheint uns aber die Tatsache, dass in Beschreibungen des Balkans zwar immer wieder die Vorurteile der Autoren zum Vorschein kommen, gleichzeitig aber auch vielfach eine echte Neugierde auf eine Welt, die Reisenden, Journalisten, Wissenschaftlern und Diplomaten als fremd und andersartig vorkam. Darin spiegelt sich die fundamentale Tatsache wider, dass die historische Entwicklung der Region sich in vielerlei Hinsicht von jener des Westens – die den Referenzhintergrund dieser Beobachter darstellte – unterscheidet, was sie zum einen so interessant macht und womit zum anderen keinerlei Werturteil verbunden ist.
»Es war mir ein wahres Vergnügen, mich wieder heimisch zu fühlen im Orient, in diesem Gegensatz des milden, ruhigen, gelehrigen Daseins des Hauswesens und der stürmischen Bewegung des Hofes und Feldlagers, in dieser bequemen und zierlichen Tracht, in diesen geschmackvollen Zimmern und behaglichen Divans, in diesem himmlischen Klima und dem in beständiger Gemeinschaft mit der Natur verbrachten Dasein. Welche Erholung überdies von europäischer Langweile, Politik, Theorien, Systemen, Beweisführungen und Gelehrsamkeit! Der Orient verdankt vieles von seinem Reiz den Gegensätzen, die verschwinden, wenn sie nicht mehr neu und ungewohnt sind. Aber er besitzt auch wirkliche Vorzüge, die mit Erfahrung und Gewohnheit immer mehr zunehmen und die in meinen Augen niemals so anziehend zu sein schienen wie gerade in diesem Augenblick. […] Ich kam geradewegs aus Europa, ich war im Süden Italiens durch Szenen beispiellosen Elends gekommen, ich hatte England unmittelbar nach dem wilden Tumult von Bristol verlassen, ich war auf meiner schnellen Reise der Erste gewesen, der in Lyon eintraf, nach dem mehr systematischen, aber auch blutigen Aufstand in dieser Stadt.« (Urquhart, David: Im Wilden Balkan. Vom Berg Olymp bis zur albanischen Adriaküste. Wiesbaden 2008. S. 257.)
So beschrieb der Schotte David UrquhartUrquhart, David seine Gefühle bei seiner zweiten Reise in die europäische Türkei, die er 1831 im Auftrag der britischen Regierung unternahm. UrquhartUrquhart, David sollte die Situation in den Gebieten der aufständischen Griechen untersuchen, als es darum ging, die Grenzen des neuen griechischen Staates festzulegen. Er war bereits 1827 in Griechenland gewesen und sollte 1836 Botschaftssekretär in KonstantinopelKonstantinopel werden. Im weiteren Verlauf seiner Laufbahn entwickelte er sich zum Fürsprecher des Osmanischen Reiches, unter anderem als Parlamentsabgeordneter in Westminster, und zum vehementen Gegner Russlands und dessen Ansprüchen am Balkan.
Einen etwas anderen ersten Eindruck vom »Orient« gewann ein Zeitgenosse Urquharts, der preußische Offizier Helmuth von Moltkevon Moltke, Helmut, der 1835 von König Friedrich Wilhelm III. als Militärberater zum osmanischen Sultan geschickt wurde. Er betrat osmanisches Territorium auf der Donauinsel Ada-KalehAda-Kaleh an der österreichischen-osmanischen Donaugrenze, östlich von Belgrad (die Insel versank 1972 in der DonauDonau, nachdem die Talsperre am Eisernen TorEisernes Tor fertiggestellt wurde). Dort wurden er und sein Mitreisender von dem auf der Insel residierenden osmanischen Gouverneur empfangen:
»Osman Pascha empfing mit viel Freundlichkeit zwei Fremde, die aus dem fernen Lande ›Trandenburg‹ [so des Paschas Bezeichnung für Brandenburg] kamen: Er ließ uns Kaffee reichen und Pfeifen und gestattete uns, seine Festung zu besehen. Der Pascha ist ein stattlicher Herr mit einem dicken roten Bart, aber so unbeschreiblich schlecht logiert wie bei uns ein Dorfschulze. Sein Palast ist ein Bretterschuppen, der an ein detachiertes Bastion angeklebt ist. Trotz der empfindlichsten Kälte saßen wir in einem halboffenen Gemach ohne Fensterscheiben. Sehr unnötigerweise hatten wir uns in Frack gesetzt, während Se. Excellenz in zwei bis drei Pelzen, einer größer und weiter, ganz à son aise erschienen. In der Stadt überraschte uns die Unreinlichkeit der engen Straßen. Die Anzüge der Menschen waren rot, gelb, blau, kurz von den schreiendsten Farben, aber alle zerlumpt. Alle Wohnungen trugen Spuren des Verfalls, und an der Festung ist, glaub’ ich, seit der Besitznahme kein Ziegel ausgebessert.« (Moltke, Helmuth von: Unter dem Halbmond. Erlebnisse in der alten Türkei. Wiesbaden 2008. S. 53.)
Bei beiden Autoren wird deutlich, dass sie die Einreise in das Osmanische Reich als Verlassen Europas empfinden. Sie beschreiben den Balkan als von Europa gänzlich unterschiedliche Kultur, wobei Motive auftauchen, die in den folgenden Jahrzehnten zu festen Vorstellungen über den Balkan gerannen: Der Balkan war bunt und ursprünglich, gastfreundlich, aber ungeordnet. Moltke betonte den Schmutz und die Armut, die ihm auf der weiteren Reise durch Südosteuropa gen KonstantinopelKonstantinopel ins Auge stachen – dies sollte ein festes Motiv in den Südosteuropaschilderungen von europäischen Reisenden im 19. und auch 20. Jahrhundert werden. Der Konservative UrquhartUrquhart, David hingegen entdeckte im Orient, zu dem er den Balkan zählte, noch jene Unverdorbenheit und Natürlichkeit sowie Freundlichkeit im Umgang miteinander, die er im vermeintlich zivilisierten, aber von Revolutionen erschütterten und durch enorme Klassengegensätze gekennzeichneten Europa seiner Zeit vermisste.
Im Laufe der Jahre sollte sich nicht das positive, von Urquhart gezeichnete Bild durchsetzen, sondern ein negatives, in dem der Balkan synonym wurde für Gewalt, Rohheit, Verlogenheit, Unvorhersehbarkeit, Fanatismus, Ignoranz, Schmutz und Verfall – mit einem Wort, für den Mangel an Zivilisation. Es ist bezeichnend für diesen Wandel, dass UrquhartUrquhart, David noch von der Badekultur der Osmanen begeistert war, die ihm als viel reinlicher erschienen als seine Landsleute, die zu jener Zeit das Wasser scheuten (UrquhartUrquhart, David richtete sogar in London ein türkisches Bad ein); bei Karl MayMay, Karl hingegen sind die Menschen des Balkans notorisch ungepflegt. In In den Schluchten des Balkan schreibt May:
»Mir wurde bereits jetzt übel. Der Orientale schläft in seinen Kleidern, die er also äußerst selten ablegt. Von einem regelmäßigen Wechsel der Leibwäsche hat er gar keine Ahnung; darum ist es kein Wunder, daß seine Nähe nicht nur durch das Auge, sondern auch durch die Nase bemerklich ist. Und nun diese fürchterlich zusammengedrängten Menschen! Der Dichter des Inferno hat eine wunderbare Phantasie entwickelt, aber eine der entsetzlichsten Strafen hat er doch übersehen – eine arme Seele, zwischen Orientalen eingepreßt, um ein chinesisches Schattenspiel zu erwarten, unfähig, die Arme zu rühren und sich die Nase zuzuhalten. Ein Glück, daß ich damals von dem Dasein des Komma-Bazillus und anderer ähnlicher Ungeheuer noch keine Ahnung hatte! Welch ein Weltmeer von Bazillen mußte uns hier umfluten!« (May, Karl: In den Schluchten des Balkan. Freiburg 1892. S. 353.)
Für das deutschsprachige Publikum hat wohl kaum ein Autor das Bild vom Balkan so geprägt wie ebendieser Karl MayMay, Karl, der die Region zwar nie bereist hatte, aber sie zum Schauplatz von zwei Büchern seines Orientalischen Zyklus machte (In den Schluchten des Balkan und Durch das Land der Skipetaren, beide 1892). Die Albaner (»Skipetaren« nach der albanischen Selbstbezeichnung) sind bei May hinterhältige, rachsüchtige Halunken in einem Land, in dem das Recht nichts gilt:
»Die türkische Rechtspflege hat bekanntlich ihre Eigentümlichkeiten, sagen wir geradezu ihre Schattenseiten, die um so deutlicher hervortreten, je entlegener die Gegend ist, um die es sich handelt. Unter den dortigen Verhältnissen ist es nicht zu verwundern, daß da, wo die verschiedenen zuchtlosen, sich ewig befehdenden Stämme der Arnauten ihre Wohnsitze haben, von einem wirklichen ›Rechte‹ fast gar nicht gesprochen werden kann. Bei Ostromdscha beginnt das Gebiet dieser Skipetaren, welche nur das eine Gesetz kennen, daß der Schwächere dem Stärkeren zu weichen hat.« (May, Karl: Durch das Land der Skipetaren. Freiburg 1892. S. 1.)
Das Motiv der Gewaltneigung und Rechtlosigkeit der Völker des Balkans erwies sich als besonders wirkmächtige Vorstellung. Die regelmäßigen Massaker der Osmanen bei der Niederschlagung von christlichen Aufständen im 19. Jahrhundert, die auch im 19. Jahrhundert noch verbreitete Praxis, abgeschlagene Köpfe von Feinden zur Schau zu stellen, die blutrünstige Ermordung des serbischen Königs und seiner Gattin 1903, die international untersuchten Brutalitäten der Balkankriege von 1912/13, das Attentat auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Erzherzog Franz FerdinandFranz Ferdinand (Erzherzog) in SarajevoSarajevo im Juni 1914 – alle diese Ereignisse verstärkten das Bild einer unzivilisierten und wilden Region (über die von ›zivilisierten‹ Europäern angestellten Brutalitäten, etwa in den Kolonialkriegen, sahen europäischer Beobachter zumeist ebenso großzügig hinweg wie über die Tatsache, dass die europäischen Mächte in vielerlei Hinsicht in die Ereignisse und damit auch Gewaltakte am Balkan involviert waren). In der Berichterstattung über die Jugoslawienkriege der 1990er Jahre fanden sich häufig Verweise auf die vermeintlich lange Tradition der besonders grausamen Kriegführung in Südosteuropa. Gleichzeitig verfestigten diese Kriege das Bild des Balkans als Pulverfass erneut, denn selbst in akademischen Publikationen über die Jugoslawienkriege findet sich die falsche Bezeichnung »Balkankriege«. Auch der Begriff »Balkanisierung«, mit dem die oftmals gewaltsame Auflösung einer größeren politischen Ordnung in kleinere, wenig überlebensfähige Bestandteile bezeichnet wird, enthält eine klar negative Konnotation (die durch das von Wikipedia vorgeschlagene Synonym »Libanonisierung« noch deutlicher wird).
Die in den USA lehrende Historikerin Maria TodorovaTodorova, Maria hat den Prozess der Ausbildung und Verfestigung solcher stereotyper Sichtweisen auf Südosteuropa als Erfindung des Balkans (so die deutsche Übersetzung ihres 1997 auf Englisch erschienenen Buches Imagining the Balkans) bezeichnet. Der »Balkanismus« diene als »Europas bequemes Vorurteil«, so der Untertitel ihres Werks: Dem Balkan wurden jene Eigenschaften zugeschrieben, von denen sich die aufgeklärten Europäer abgrenzen wollten, wenn nicht umgekehrt zivilisationsmüde Westeuropäer glaubten, am Balkan noch von der Moderne unverdorbene ›edle Wilde‹ vorfinden zu können. Ein besonders häufiges Motiv in diesen mentalen Landkarten war die Platzierung des Balkan als Übergangszone zwischen Europa und Asien; der Balkan gehörte in der Ansicht vieler Betrachter weder richtig zum Okzident noch zum Orient, sondern lag irgendwo dazwischen. In Reisebeschreibungen trat diese Ambivalenz häufig zum Vorschein, wenn etwa die als europäisch wahrgenommenen Repräsentationsbauten in den Zentren der südosteuropäischen Hauptstädte mit den im Schlamm versinkenden, von armseligen Häusern gesäumten chaotischen Straßen der Randbezirke kontrastiert wurden.
In diesen Bildern vom Balkan kamen alteingesessene Vorurteile zusammen mit Unwissen und geopolitischen Ambitionen, aber eben auch mit durchaus zutreffenden Beobachtungen – wie so oft enthielten Stereotype ein Körnchen Wahrheit. Für die reale (und auch imaginierte) Besonderheit des Balkans war im 19. Jahrhundert die noch immer gegebene Präsenz des Osmanischen Reiches zentral: Als islamisch geprägtes Staatswesen wurde es von den europäischen Zeitgenossen als Fremdkörper wahrgenommen, wobei sich die im 16. Jahrhundert noch festzustellende Ehrfurcht vor seiner militärischen Überlegenheit in das Bild des »kranken Manns am Bosporus« umgekehrt hatte. Die Darstellung der Massaker, die osmanische Truppen an christlichen Bevölkerungen im Zuge der nationalrevolutionären Aufstände im 19. Jahrhundert begingen, schloss an die während der Türkenkriege des 16. und 17. Jahrhunderts in Europa weitverbreiteten sogenannten Türkenbilder an. Beschrieb man Gesellschaften des Balkans als unzivilisiert, konnte man wiederum im 19. und 20. Jahrhundert europäische Eingriffe rechtfertigen – die Habsburger etwa gaben ihre Okkupation Bosnien-Herzegowinas im Jahr 1878 als Zivilisationsmission aus; Russland verstand sich als Schutzmacht der Orthodoxen im Osmanischen Reich, zu deren Wohle es ein Interventionsrecht beanspruchte.
Das bis ins 19. Jahrhundert in Europa ausgesprochen geringe Wissen über den Balkan bot einen fruchtbaren Boden für Missverständnisse, die – wenn sie sich einmal zu wieder und wieder geäußerten Ansichten verfestigten – auch durch wissenschaftliche Erkenntnisse nur mehr schwer aus der Welt zu schaffen waren. Dieser geringe Kenntnisstand beruhte nicht nur auf Desinteresse, sondern auch den Schwierigkeiten, die Region zu bereisen. Im Osmanischen Reich durften sich bis zu dieser Zeit Fremde nicht frei bewegen, und die Quarantänevorschriften zur Pestprävention machten Grenzübertritt von Österreich-Ungarn ins Osmanische Reich zu einer zeitraubenden, unangenehmen Angelegenheit. Die Osmanen selbst produzierten wenig Wissen über das von ihnen in Europa beherrschte Gebiet, zumal die weitreichende Anarchie in der Europäischen Türkei im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert einer Beforschung entgegenstand; moderne Wissenschaften konnten sich im Osmanischen Reich erst im späten 19. Jahrhundert, und dann auch nur sporadisch, etablieren.
Viel besser Bescheid wusste man über die habsburgischen Gebiete, da dort der Staat für sein Verwaltungshandeln notwendige Informationen systematisch zusammentrug. Der erste regelrechte Zensus der WalacheiWalachei (im heutigen Rumänien) stammt beispielsweise aus der Zeit der kurzen österreichischen Kontrolle (1718–1739) über die Region, und auch in Albanien wurde die erste Volkszählung durch Österreich-Ungarn durchgeführt (während der Besetzung im Ersten Weltkrieg). Die habsburgischen Herrscher selbst trugen zur Wissensproduktion bei: Der österreichische Kaiser Franz I.Franz I. (Kaiser) (1804–1835) etwa informierte sich bei ausgedehnten Reisen in die Provinzen seines Reiches aus erster Hand und verfasste detaillierte Beschreibungen; Kronprinz RudolfRudolf (Kronprinz) initiierte 1883 eine umfangreiche Beschreibung der unterschiedlichen Reichsteile (das sogenannte Kronprinzenwerk). In WienWien tätige slawische Philologen wie der Slowene Jernej KopitarKopitar, Jernej und der Serbe Vuk Stefanović KaradžićKaradžić, Vuk Stefanović legten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Grundsteine für die wissenschaftliche Slawistik, beschäftigten sich aber auch mit der Volkskunde und Geschichte der slawischen Völker Südosteuropas.
Im Zuge des verstärkten politischen Interesses der europäischen Großmächte für die Region und der Öffnung des Osmanischen Reiches intensivierte sich in den 1830er Jahren die Reisetätigkeit in die osmanischen Gebiete. Diplomaten, Geschäftsleute, Journalisten, Wissenschaftler und Abenteurer erkundeten nicht nur die sie fremd anmutende Welt der europäischen Türkei, sondern verfassten teilweise vielgelesene Reisedarstellungen. Diese wiesen zwar viele Defizite und so manche irrige Annahme auf, aber sie enthielten auch nützliche und zutreffende Informationen, etwa über die natürlichen und verkehrsgeografischen Gegebenheiten. Reiseberichte wie jener des französischen Naturkundlers Ami BouéBoué, Ami (veröffentlicht in WienWien 1840 in vier Bänden) sind heute noch wichtige Quellen für die Rekonstruktion der damaligen Verhältnisse am Balkan.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts verwissenschaftlichte sich das Schrifttum über die geografischen, kulturellen und sprachlichen Verhältnisse sowie die Geschichte der Region mehr und mehr. So verfasste einer der Ahnherren der modernen Geschichtsschreibung, Leopold von RankeRanke, Leopold von, im Jahr 1829 auch eine Geschichte der serbischen Aufstände. In der Geografie wurde Ende des 19. Jahrhunderts eine Region in Südosteuropa sogar namensgebend für ein geologisches Phänomen: Der Begriff Karst für besonders verwitterte Kalksteinformationen leitet sich von dem slowenischen Landschaftsnamen Kras für das Hinterland von Triest ab. Die im 19. Jahrhundert entstehenden Nationalstaaten etablierten – allerdings mit einiger Zeitverzögerung – wissenschaftliche Einrichtungen, welche die Kenntnisse über die Länder der Region deutlich mehrten. Die Serbische Akademie der Wissenschaften und Künste wurde beispielsweise 1886 aus der Taufe gehoben. Wichtige Zentren der Erforschung Südosteuropas waren zudem WienWien und Sankt PetersburgSankt Petersburg – in beiden Fällen war die Beschäftigung mit Südosteuropa auch strategisch motiviert. So ist die Genese der Albanologie in Österreich-Ungarn am Ende des 19. Jahrhunderts nicht von den politischen Zielen der Doppelmonarchie zu trennen, welche die Albaner als Vertreter österreichisch-ungarischer Interessen am Balkan sah und als Gegengewicht zu den Serben unterstützte.
Wissen über Südosteuropa und (Geo-)Politik gehören also eng zusammen; Politik bediente sich gerne wissenschaftlicher Argumente zur Untermauerung ihrer Ansprüche, während wiederum Wissenschaftler mit dem Verweis auf die politische Bedeutung ihres Gegenstandes leichter an Geld für ihre Forschung gelangten. Der bekannte serbische Geograf Jovan CvijićCvijić, Jovan (1865–1927) lieferte beispielsweise bei den Versailler Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg wissenschaftliche Begründungen für die Grenzansprüche des neuen jugoslawischen Staates, gleichzeitig half ihm seine politische Bedeutung, umfangreiche Forschungsarbeiten finanziert zu bekommen.
Auch außerhalb der Region politisierte sich Forschung über Südosteuropa, wie am Beispiel der ältesten einschlägigen Forschungseinrichtung in Deutschland gezeigt werden kann: Das 1930 in MünchenMünchen gegründete Südost-Institut entstand im Kontext revisionistischer Bestrebungen Deutschlands. Als »Institut zur Erforschung des deutschen Volkstums im Süden und Südosten« beschäftigte es sich anfänglich vor allem mit den deutschen Minderheiten im »Südosten«, wozu man auch die Tschechoslowakei zählte. In der Zeit des Nationalsozialismus verschob sich der Fokus des Instituts auf die Länder Südosteuropas, verbunden mit dem Bekenntnis zu einer »kämpfenden Wissenschaft«, welche die politischen Ziele des Nationalsozialismus befördern sollte. Insgesamt diente die Südostforschung im Schatten des Dritten Reiches – so der Titel eines 2004 erschienenen Sammelbandes, der eine kritische Aufarbeitung der Geschichte der deutschen Südosteuropaforschung vornimmt – der Beförderung der Pläne NS-Deutschlands, die Region als »Ergänzungsraum Südosteuropa« zu beherrschen.
Die politische Instrumentalisierung der Forschung zu Südosteuropa (ebenso wie zu Osteuropa) setzte sich nach 1945 unter geänderten Vorzeichen fort: Im Kalten Krieg konnte sich das Südost-Institut als eine jener Einrichtungen etablieren, die Wissen über die Gesellschaften »jenseits« des Eisernen Vorhangs produzierten. Der Kalte Krieg war überhaupt der Rehabilitierung von NS-belasteten Ost- und Südosteuropaexperten sehr förderlich, die sich nun der Verteidigung der »freien Welt« verpflichten konnten. Diesem politisch motivierten Erkenntnisinteresse verdankte die Südosteuropaforschung in Deutschland eine leidlich gute Ausstattung, etwa mit Professuren für die Geschichte und die Sprachen der Region an einigen Universitäten sowie einem eigenen Fachverband (Südosteuropa-Gesellschaft, gegründet 1952). Gleichzeitig entstand aber auch unbestritten der Forschung dienendes Wissen über die Region, das sich politischer Indienstnahme entzog und heute noch wertvoll ist.
Es war unter anderem die enge Verbindung von Forschung und Politik, welche die massive Kritik an der Südosteuropaforschung in den 1990er Jahren provozierte. Viele warfen die Frage auf, ob es jenseits des politischen Begründungszusammenhanges, der mit dem Ende des Kalten Krieges und der europäischen Integration der Region wegfiel, überhaupt eine fachlich-inhaltliche Rechtfertigung für die Existenz einer eigenen Südosteuropakunde gebe. Wenn man all die Vorannahmen und Stereotypen über Südosteuropa abzieht, bleibt dann überhaupt noch ein Gegenstand, der untersucht werden kann? Diese Debatte führte in den 1990er und 2000er Jahren zu einer intensiven Reflexion über die Grundlagen der Südosteuropaforschung, die in deren Modernisierung und einem neuen Selbstbewusstsein mündete. Nicht zuletzt machten die Entwicklungen der letzten Jahre deutlich, dass auch ein Beitritt zur Europäischen Union nicht bedeutet, dass sich ein Land von seiner Geschichte und damit auch seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Region völlig befreien kann. Wer etwa die Besonderheiten des heutigen Bulgariens und seiner Probleme im Bereich der Rechtsstaatlichkeit verstehen will, wird nicht umhinkönnen, es im weiteren Kontext seiner Verankerung im südöstlichen Europa und seines spezifischen historischen Erbes zu betrachten.
Ein wichtiges Element der Debatten über die Grundlagen der Südosteuropaforschung war die Frage, wie die Region am besten bezeichnet werden sollte: als »Balkan« oder »Südosteuropa«? Der österreichische Südosteuropahistoriker Karl KaserKaser, Karl schlug die Bezeichnung »südöstliches Europa« vor, der die Unschärfe der geografischen Abgrenzung besser zum Ausdruck bringe. Historisch war »Balkan« der lange Zeit dominierende Name für die Halbinsel im Südosten des Kontinents. Das Wort balkan stammt aus dem Türkischen, wo es einen bewaldeten Berg bezeichnet. Als Bezeichnung für die Region wurde dieses Wort im Jahr 1808 vom deutschen Geografen August ZeuneZeune, August (1778–1853) in der irrigen Annahme vorgeschlagen, das im heutigen Bulgarien gelegene Balkangebirge (griechisch Haemus, bulgarisch Stara Planina) reiche vom Schwarzen Meer bis an die AdriaAdria. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass es kein die gesamte Halbinsel durchziehendes Zentralgebirge gab, wurden Namensalternativen wie »Südosteuropäische Halbinsel« (Johann Georg von Hahnvon Hahn, Johann Georg, 1811–1869) oder »Südosteuropa« (Theobald FischerFischer, Theobald, 1846–1910) formuliert. Am gebräuchlichsten waren bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts aber Bezeichnungen wie »europäische Türkei«, die auf die Zugehörigkeit des Balkans zum Osmanischen Reich abstellten.
Die Diskussion über die richtige Benennung der Region entzündete sich im 20. Jahrhundert an zwei Faktoren: Zum einen schlugen vor allem im deutschsprachigen Raum Autoren »Südosteuropa« als vermeintlich neutrale Alternative zu dem negativ konnotierten »Balkan« vor. Insbesondere das nach dem Ersten Weltkrieg geläufige Schlagwort der »Balkanisierung« schien das Wort »Balkan« als Bezeichnung für eine geografisch gefasste Region unbrauchbar zu machen. Allerdings wurde während des Nationalsozialismus dann auch der Begriff »Südosteuropa« desavouiert. In der englischsprachigen Forschung führten nach 1945 Überblicksdarstellungen der Geschichte der Region üblicherweise den Plural Balkans im Titel, wie Leften Stavrianos’ The Balkans since 1453 (veröffentlicht 1953) oder Barbara Jelavichs zweibändige History of the Balkans (1983), die jeweils sowohl die osmanischen als auch habsburgischen Gebiete behandelten. Mit der häufigen Bezeichnung der jugoslawischen Nachfolgekriege als Balkan Wars erhielt Balkan jedoch auch im angloamerikanischen Sprachraum einen so schlechten Beiklang, dass neuere Arbeiten ihn durch Southeastern Europe ersetzten. So nennt sich eine der aktuellsten englischsprachigen Gesamtdarstellungen der Geschichte der Region im 20. Jahrhundert, geschrieben vom US-amerikanischen Historiker John LampeLampe, John, Balkans into Southeastern Europe: Damit spielt der Autor auf den Weg der Region nach »Europa«, verstanden als die Europäische Union, an.
In Südosteuropa selbst pflegten die politischen Eliten seit dem Ende des Kommunismus ebenfalls eine Rhetorik der »Rückkehr nach Europa«, was mitunter mit vehementer Abwehr der Verortung ihrer Länder in »Südosteuropa« oder gar auf dem Balkan einherging, im Bewusstsein des negativen Beiklangs dieser Begriffe. Das unabhängige Kroatien weigerte sich etwa eine Zeit lang, sich an Initiativen mit der Bezeichnung »Südosteuropa« zu beteiligen, da es sich nun als Teil des Westens bzw. Mitteleuropas verstand. Insgesamt lässt sich in der Region ein analoger Prozess der »Balkanisierung« beobachten, bei dem die jeweils südlichen Nachbarn, auf die man herabblickt, als Teil des Orients dargestellt werden, während man sich selbst zu Europa zählt. Für die Kroaten sind die Serben Teil des Balkans, für die Rumänen die Bulgaren; in Serbien verläuft diese kulturelle Scheidelinie quer durch das Land, da viele Bewohner der Provinz VojvodinaVojvodina, die bis 1918DonauDonau