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Der vorliegende Band behandelt im Sinne einer Zusammenschau drei wesentliche Teilbereiche, Struktur- und Ausdrucksebenen des Jazz: Harmonik, Melodik, Improvisation. Er bietet in Verbindung hiermit einen exemplarischen Einstieg in das Analysieren von Jazz, insbesondere der Improvisation.
Harmonik und Melodik gehören zu den sogenannten Parametern, den Strukturebenen der Musik, ebenso wie auch Rhythmik oder Form. Die Improvisation als das Hauptelement jazzmusikalischer Praxis basiert auf diesen Strukturebenen und setzt sie in vielfältigster Weise um.
Improvisation ist das hervorragende Praxismerkmal des Jazz, wenngleich es auch jazzspezifische Komposition, als schriftliche Konzeption für spätere Aufführungen, in künstlerisch hoher Qualität gibt. Indem die Improvisation Idee und deren klangliche Realisation in eins setzt (d. h. quasi als Spontankomposition mit unmittelbar, in Realzeit stattfindender Übertragung in Klang), definiert sie durch diesen Schwerpunkt die grundlegende Besonderheit der Jazzpraxis gegenüber jedem anderen abendländischen Musikgenre.
Auch die Aufführung von komponiertem Jazz bzw. den ausgeschriebenen Teilen eines Jazztitels geschieht fast immer unter Einbeziehung der Improvisation, und zwar vor allem in der sogenannten »Begleitung«, also den Parts von Klavier, Bass, Schlagzeug und anderen Instrumenten des – in Abschwächung seiner Funktion – »Rhythmusgruppe« genannten Ensembleteils.
Je kleiner das Ensemble, desto spärlicher ist in der Regel die schriftlich fixierte Grundlage des Geschehens. Interaktion, meist mit gemeinsamer Orientierung an einer metrisch und akkordisch vordefinierten Basisstruktur, ersetzt zumeist die explizite Notation. Voraussetzung hierbei ist die Beherrschung einer gemeinsamen musikalischen – oder stilistischen – Sprache und die Verständigung über sie sowie ein erhebliches theoretisches und handwerkliches Know-how.
Wenngleich im Jazz, zumindest den Spielarten des Modern Jazz, der Fokus zumeist auf der solistischen Improvisation liegt, darf das Ensemblespiel nicht außer Acht bleiben. Wie die solistische Improvisation im Jazz war auch die begleitende Improvisation der sogenannten Rhythmusgruppe einem Prozess steter Veränderung unterworfen, in ihrer Gesamtheit wie in den Rollen ihrer einzelnen Instrumente, also hauptsächlich von Klavier, Bass und Schlagzeug.
Der Versuch, die immens vielen verschiedenen Gruppenstile des Jazz, mit Schwerpunkt auf der Arbeit in der »Rhythm Section«, in einem Lehrwerk mit Notenbeispielen zu erfassen, wäre ein Mammutprojekt. Hier ist es daher nur sporadisch und andeutungsweise möglich, auf Facetten dieses Riesenkomplexes einzugehen. Umso dringlicher ist die Empfehlung, beim Hören von Jazz auch auf die Details und Besonderheiten des Ensemblespiels insgesamt zu achten statt nur auf die Highlights solistischer Performance.
Mit dem Ziel, Konzepte der Soloimprovisation vor allem des Modern-Jazz-Spektrums herauszuarbeiten, folgt dieser Band einer doppelten Systematik vom Generellen zum Individuellen und vom Elementaren zum Komplexen.
Im Überblick:
In Kapitel 2 werden die Grunddimensionen des Jazz wie der Musik überhaupt, die sogenannten Parameter, kurz dargestellt.
Die Kapitel 3 und 4 befassen sich mit harmonischen Gegebenheiten, beginnend bei den Elementarstrukturen bis hin zu deren spezifischer Verwendung in einzelnen Stilfacetten vom Bebop bis heute.
Kapitel 5 bringt exemplarisch einige Analysebeispiele von Akkordstrukturen des Modern-Jazz-Repertoires.
Kapitel 6 richtet den Blick auf Konzeptfragen der Jazzimprovisation, auch im Interesse der Klärung von Grundbegriffen.
Kapitel 7 zeigt Strukturmittel insbesondere der solistischen Improvisation, und zwar auf der Ebene des »Vokabulars« sowie der musikalischen »Grammatik« und Dramaturgie.
Kapitel 8 zeichnet diese Komplexe, gewissermaßen in Umkehrung der Perspektive, durch Analyse verschiedener Meistersoli nach. Hierbei soll auch ein Ansatz ganzheitlicher, parameterbezogener Analyse von Jazzimprovisationen dargestellt werden.
Der anschließende Ausblick in Kapitel 9 behandelt neben allgemeinen Überlegungen insbesondere auch einige der Aspekte, die im vorliegenden Text aus Platzgründen nicht detailliert behandelt werden konnten.
Zur Vermittlung der Fähigkeit, Jazz zu spielen, gab es lange Zeit nicht viel mehr als die Spirale von Hören und Nachvollziehen, und zwar möglichst genau und immer wieder. Dieser Prozess ist nach wie vor unverzichtbar, ähnlich wie beim Erlernen der Muttersprache. Nachahmung war im Jazz, wie in nichtliteraten, ethnischen Musiktraditionen, obligatorisch – und ist es zum guten Teil bis heute. In den letzten Jahrzehnten hat sich ein gewaltiges Konvolut an Lehrmaterialien hinzugesellt, überwiegend mit dem Schwerpunkt beim Parameter Harmonik.
Diese Materialien sind oft hochkompetent, nützlich und – gefährlich. Sie können dazu verleiten, die Mühe des hörenden Nachvollzugs zu vernachlässigen. Und: Es kann die isolierte Behandlung einzelner Parameter dort irreführend sein, wo – wie meistens in der Musik – die konkreten Erscheinungen aus deren Verzahnungen untereinander bestehen. Die Fokussierung vieler Lehrwerke hauptsächlich auf Harmonik ist also defizitär, wenn es ums Ganze geht.
Man kann Jazz nicht nur lesen. Man muss ihn vor allem hören. Je mehr man von ihm weiß, umso mehr hört man. Möge dieser Text dabei behilflich sein.
Die rhythmischen Vorgänge im Jazz sind ebenso vielschichtig wie – auch bedingt durch die Stilentwicklung – vielgestaltig. Diese Vielfalt erschöpfend darzustellen kann nicht Aufgabe eines kurzen, einführenden Textabschnitts sein; doch soll versucht werden, einige Grundmerkmale zu beschreiben und etwas Ordnung in die zum Teil verwirrende Terminologie zu bringen. Da die rhythmischen Komponenten eine hierarchische Ordnung bilden, sei mit deren Basis begonnen. Die Feinstrukturen werden darauf aufbauend beschrieben.
Die allermeisten Spielarten des Jazz sind taktgebunden, d. h. sie haben ein meist konstant durchlaufendes Metrum. Lange Zeit war das fast ausschließlich der 4⁄4-Takt. Erst in den 1950er Jahren wurden häufiger Stücke in ungeraden Metren (zunächst Dreier-, dann, z. B. bei Dave Brubeck, auch Fünfer- und Siebener-Metren) gebräuchlich. Im Free Jazz seit den 1960er Jahren wurde häufig die metrische Bindung und auch die Bindung an Harmonie-Gerüste aufgegeben. Seit den 1980er Jahren schließlich hat sich die Tendenz verstärkt, metrisch komplexe Stücke mit ungeraden, oft auch wechselnden Taktarten zu komponieren.
Basis eines Metrums ist ein regelmäßiger Puls, im Jazz auch Beat genannt. Er ist Grundlage des rhythmisch genauen, im Timing präzisen Zusammenspiels in einem Ensemble (Tightness). Der Beat muss nicht ständig explizit gespielt werden, aber er ist stets fühlbar. Darum bedarf es im Jazz keines taktgebenden Dirigenten. Das gemeinsame Taktempfinden ist die wichtigste interaktive Basis in fast allen Jazz-Spielarten.
Von großer Bedeutung hierbei ist die Konstanz (Steadiness) des Tempos (Time). Beschleunigung (Accelerando) oder Verlangsamung (Ritardando, Rallentando) sind eher selten. Häufiger tritt die Abkehr von einem durchlaufenden Puls auf (als Tempo rubato), etwa bei »freien« Einleitungen von Stücken, die danach meistens metrisch klar definiert sind.
Mit dieser Konstanz ist nicht unbedingt die Notwendigkeit verbunden, dass alle Musiker zusammen »auf dem Beat« spielen. Wo Schlagzeug und besonders auch der Bass die Time präzise markieren, können Melodieinstrumente regelmäßig etwas vor oder, häufiger, etwas hinter dem Beat spielen (»laid back«). Diese auch Laid-Back-Phrasierung genannte Spielweise ist, wie z. B. bei Dexter Gordon, oft eine wichtige Variable des persönlichen Stils, wie überhaupt die Artikulation (im Jazz oft synonym mit Phrasierung) gleichsam der individuelle musikalische Fingerabdruck eines Spielers ist. Kleine Verzögerungen oder Beschleunigungen von wenigen Tönen einer Phrase sind, ohne die Stabilität des Tempos in Frage zu stellen, spannungsbildende, dem Ausdruck dienende Mittel des Mikro-Timings, der rhythmischen Agogik.
Abb. 2.1.a zeigt eine klare Visualisierung des Timings im Zusammenspiel eines Modern-Jazz-Ensembles, und zwar als Sonogramm einer Phrase aus Miles Davis’ Solo in Billie’s Bounce (Charlie Parker Quintet, 1945, ab ca. Min. 1:52 – 1:58; aus Franz Kerschbaumer, Miles Davis. Stilkritische Untersuchungen zur musikalischen Entwicklung seines Personalstils, Graz 1978).
Über dem (in Bb-Transposition für Trompete, also einen Ganzton höher als klingend notierten) Phrasenausschnitt zeigt das in Frequenzbänder gegliederte Sonogramm direkt über der durchlaufenden Linie (Grundgeräusch) die exakt auf dem Beat laufenden Walking-Viertelnoten des Kontrabasses und darüber die Töne der Trompete.
Bei diesen sticht ins Auge, dass erstens die On-Beat-Achtel überwiegend nach den Viertel-Impulsen des Basses, also nach dem Beat, erscheinen, zweitens die Off-Beat-Achtel meistens auf den nächsten Beat »überhängen« (wodurch die nächste On-Beat-Achtel zwangsläufig später kommen muss) und dass drittens die Intensität (Lautstärke, dargestellt durch die unterschiedlichen Ausschläge nach oben) zwischen On- und Off-Beat-Achteln variiert: Meistens werden die Off-Beats stärker betont, nur die Zielnoten auf Zählzeit (Zz.) 1 der beiden ersten Takte haben auch eine On-Beat-Betonung.
Bemerkenswert ist weiterhin, dass das Längenverhältnis zwischen On- und Off-Beat-Achteln nicht exakt 2:1 ist (ternär, im Triolenraster), sondern, vor allem in der zweiten Hälfte des Ausschnitts, mehrmals fast ausgeglichen ist – ein wichtiger, differenzierender Befund bezüglich der sogenannten ›Swing-Phrasierung‹.
Weiterhin ergibt sich ein interessanter Befund – und damit ein praktischer Hinweis – für die sogenannte Laid-Back-Phrasierung. Sie entsteht, wenn in durchlaufenden Achtel-Linien die On-Beat-Impulse verzögert gespielt werden, weil die jeweils vorausgehenden Off-Beat-Achtel quasi auf den nächsten Beat überhängen. Man sieht aber auch, dass, fast unabhängig von der jeweiligen Länge der Off-Beat-Achtel, diese meistens an derselben Stelle platziert sind. Dies lässt, da die On-Beat-Achtel stärker variieren, folgenden Schluss zu: Ein Ankerpunkt in Davis’ Achtel-Phrasierung liegt etwa an der Stelle der dritten Triolen-Achtel. Werden die Off-Beat-Achtel also etwas breiter gespielt, bedeutet dies »automatisch«: Laid Back!
Diese messtechnisch exakte Darstellung des Timings in Ensemble- und Solospiel offenbart also in exemplarischer Weise, wenn auch personalstil-spezifisch, einige wesentliche Komponenten der Jazz-Rhythmik, darunter einige wesentliche Feinheiten des sogenannten »Mikro-Timings«.
Notenbeispiel 2.1.a: Miles Davis, Solo-Ausschnitt von Billie’s Bounce
In der Hierarchie rhythmischer Ebenen bestimmt die regelmäßige Gliederung des Basispulses in betonte (schwere) und unbetonte (leichte) Beats, Schläge oder Zählzeiten den Takt (das Metrum). Die Zählzeiten werden üblicherweise in Viertelnoten notiert, ihre Unterteilungen in den nächstkleineren Werten (Achteln) oder anderen Teilungen (Achtel-Triolen, Sechzehnteln usw.). Die Grooves im Jazz und in jazzverwandter Musik (wie etwa Jazz Rock oder Latin Jazz) weisen typische Unterteilungen des durchlaufenden Beats auf. Diese werden vor allem durch Bass und Schlagzeug, gelegentlich wie im Salsa auch durch Figuren des Klaviers markiert (vgl. Notenbeispiel 2.1.d).
Durch die Stilistik des Swing hat sich im Jazz über dem meist in Viertelnoten durchlaufenden Bass (Walking Bass) ein Beckenrhythmus etabliert, der den schwachen Zählzeiten 2 und 4 durch eine triolische Figur Gewicht und dem 4⁄4-Takt damit den typischen Drive verleiht. In der Swing-Ära der 1930er/40er Jahre oft auf den kleinen Becken der HiHat oder nur auf der Snare Drum gespielt, wird diese Swing-Rhythmusfigur im modernen Jazz auf das große Ride-Becken verlegt: Die HiHat erklingt auf 2 und 4, die zuvor auf dem Beat durchgetretene Bass Drum spielt einzelne Akzente, auch zwischen den Beats (Off-Beat), und die Snare Drum kommentiert und verstärkt das Geschehen durch kurze, variabel platzierte Fills.
Als am häufigsten verwendetes Akkordinstrument stellt das Klavier die Akkordwechsel in rhythmisierter Weise dar. Somit entsteht durch die Begleitweise dieser etwas verkürzend »Rhythmusgruppe« genannten drei Instrumente bereits eine sehr variable polyrhythmische Strukturebene, über der sich das melodische Geschehen entwickelt. Diese vielschichtige Art der Polyrhythmik ist ein essentielles Merkmal des Jazz, das ihn von jeder anderen Musikform unterscheidet.
Das Notenbeispiel 2.1.b zeigt die Takte 1–4 des Alt-Solos aus Au Privave (1951, Take 2) mit Charlie Parkers Solo-Eröffnung und den Begleitfiguren von Bass, Schlagzeug und Klavier. Die hinzugefügten Akzentzeichen sollen einen zusätzlichen Eindruck von der polyrhythmischen Vielgestaltigkeit des Ensemblespiels im Bebop vermitteln.
Notenbeispiel 2.1.b: Charlie Parker Ensemble. Ausschnitt aus Au Privave (Transkription: Thomas Owens)
Das vielbeschworene, aber letztlich nicht exakt definierbare Swing-Feeling impliziert eine nicht ganz gleiche Unterteilung des Beats. Diese sehr schwer zu notierende Ungleichheit der Achtelnoten wird zuweilen etwas ungenau auch als »Triolenfeeling« bezeichnet, obwohl (anders als beim überwiegend triolisch gespielten Ride-Becken-Rhythmus) in der Melodik auf Achtel-Basis das Verhältnis zwischen On-Beat- und Off-Beat-Achtel in einem Achtelnoten-Paar zwischen etwa 3:2, 4:3 oder 5:4 schwankt, statt in der Relation 2:1 (= triolisch) zu stehen. Dieses Verhältnis zeigt auch das Sonogramm des Ausschnittes von Miles Davis’ Solo.
Durch die Variabilität der rhythmischen Phrasierung entsteht bei Achtel-Paaren im Jazz oftmals sogar ein Verhältnis von 1:1, also ausgeglichen (even). In Rock Jazz und Latin Jazz sind gleich breite Achtel von vornherein die Regel.
Notenbeispiel 2.1.c: Groove-Konturen von Schlagzeug und Bass in Swing, Modern Jazz, Jazz Rock und Latin Jazz (jeweils eine von vielen möglichen Varianten)
Die »gerade« rhythmische Phrasierung im Latin Jazz erklärt sich in besonderer Weise aus dessen afrikanischem Erbe. In der tradierten Musik Zentralafrikas ist die Rhythmik und damit die Metrik nicht primär divisiv (unterteilt), wie in der europäischen Tradition, sondern in ihrer internen Struktur additiv (durch Binnenfiguren) organisiert. In dieser Rhythmik-Tradition denkt man nicht in Takten, die in gleiche metrische Einheiten unterteilt sind (z. B. 4⁄4), sondern primär in Patterns, die sich aus variabel gesetzten Impulsen auf einer konstant und ohne Schwerpunkt durchlaufenden Elementarpulsation zusammensetzen. Anstelle des Taktes steht die Formzahl, die angibt, nach wie viel Elementarpulsen das Pattern sich wiederholt. Da diese Formzahlen meistens durch zwei oder drei teilbar sind, können sie zwar taktähnlich aufgefasst werden, entstehen aber auf Pattern-Basis. Ein solches Pattern traditioneller Rhythmik ist die einst verbreitete westafrikanische »Yoruba-Gongformel« mit der Formzahl 12 (2 + 2 + 3 + 2 + 3):
x o x o x x o x o x x o
(x = gespielter Impuls, o = stumm)
Die additive Unterteilung der Formzahl setzt gleich breite Elementarimpulse voraus. Entsprechendes findet sich in einer ganzen Reihe lateinamerikanischer Grooves und Stile, wie z. B. Rumba, Mambo oder Salsa, dem populärsten Genre im Spektrum der afrokubanischen Musik, die für das Stilkonglomerat des Latin Jazz von grundlegender Bedeutung war und ist.
Ein im Salsa verbreitetes Pattern ist der Son-Clave, auch einfach »Clave« genannt. Es existiert in zwei Varianten, dem 2 + 3-Clave (Forward Clave) und dem 3 + 2-Clave (Inverted Clave):
Notenbeispiel 2.1.d: 2 + 3-Clave und 3 + 2-Clave
Die von einem Perkussionsinstrument gespielten Claves sind im Salsa und damit verwandten Genres in eng verzahnter Bindung zu Patterns der übrigen Instrumente der Rhythmusgruppe, wie dem Montuno, einer meist vom Klavier gespielten rhythmischen Figur, oder dem Tumbao, einer Bass-Figur mit auf den nächsten Takt übergebundenem Impuls auf dem vierten Beat.
Ausführlicher behandelt die Thematik des Salsa und Latin Jazz z. B. Mark Levine (1989, Kap. 20).
Harmonik ist die Verbindung von Tönen zu Akkorden und deren Gruppierung zu Progressionen, hat also eine vertikale und eine horizontale Dimension. Als System oft »Harmonielehre« genannt, bezieht sich Harmonik auf die Strukturprinzipien, die sowohl der vertikalen als auch der horizontalen Organisation von Klängen zugrunde liegen. Dabei dient das harmonische Regelwerk ebenso als Handwerkslehre wie auch als Theorie zur Erklärung gegebener Sachverhalte.
Mit den Kapiteln 3, 4 und 5 widmet sich ein wichtiger Teil dieses Buches im Sinne einer Einführung den harmonischen Konzepten, die seit dem Bebop bis in die 1960er Jahre im Modern-Jazz-Kontinuum entstanden sind. Deren immense Vielgestaltigkeit schließt eine vollständige Darstellung im vorliegenden Band aus. Darum geben zahlreiche Hinweise auf vertiefende Literatur die Möglichkeit, einzelnen Aspekten detailliert nachzugehen.
Der Begriff »Form« erweckt den Eindruck von Starrheit, Statik. Musik entsteht jedoch im Zeitablauf, und darum ist es sinnvoll, sich musikalische Form als Prozess vorzustellen. Die Gliederung dieses Prozesses ist die Summe aller formrelevanten Faktoren. Diese müssen (und können, gerade im Jazz) aber keineswegs komplett vorgeplant oder gar vorbestimmt sein.
Die jazztypische Wechselwirkung von Offenheit und Vorplanung formaler Abläufe legt es nahe, den Parameter Form einerseits hinsichtlich der im Voraus bestimmten, andererseits der sich im formalen Prozess ergebenden Faktoren zu betrachten. Da sich das Verhältnis beider in der historischen Entwicklung stetig verändert hat, muss schon aus diesem Grund die Darstellung formaler Prozesse im Jazz stilbezogen differenziert werden.
Bereits die beiden wichtigsten Vorformen des Jazz, Ragtime und Blues, unterscheiden sich in der Formbehandlung ganz erheblich: Der zunächst als komponierte Klaviermusik entstandene, dann für verschiedene Ensemble-Typen aufbereitete Ragtime besitzt ein vielgliedriges Formkonzept: Bis zu fünf verschiedene Themen werden in (meist 8-taktigen »Strains«) miteinander kombiniert.
Beim Blues findet sich ein schlichtes Aneinanderreihen des meist 12-taktigen Formschemas mit seinen drei Call-and-Response-Wechseln von jeweils 4 Takten. In der Frühzeit des Blues (Country-Blues) konnte dieses Formschema spontan verkürzt oder verlängert werden, ganz nach dem Empfinden des solistischen Sängers mit seiner Gitarre. Auch war die die Blues-Form bestimmende Behandlung der Stufen Tonika, Subdominante und Dominante zunächst nicht strikt geregelt. Je mehr der Blues jedoch zu einer urbanen Ensemblemusik mit größerer Besetzung wurde, umso festgelegter musste der Verlauf der Stücke sein. Während die 12-taktige Reihungsform zum Standardprinzip wurde, vollzog sich in der harmonischen Binnengliederung ein enormer Entwicklungsprozess, der allein hier, beim Blues, bereits die komplette Veränderung harmonischen Denkens im Jazz spiegelt (vgl. Kapitel 4.2).
Jazz nähert sich in den 1920er Jahren dann dem Song-Idiom. Das gesamte Repertoire amerikanischer Popularmusik wird herangezogen, insbesondere auch die Hits des Broadway und der Tonfilme. Die Bearbeitung populärer Songs für Tanzorchester im Big-Band-Format wird zur Erfolgsbasis des Swing.
In den Musicals erhält eine ursprünglich europäische Form, das Couplet, zentrale Bedeutung, mit den einleitenden, mitunter im Sprechgesang vorgetragenen »Versen«. Auf diese folgen dann »Refrain« oder »Chorus« als gesungener Höhepunkt des Geschehens, bei dem sich vor allem ein Muster durchsetzte: das bezeichnenderweise »Standard«-Schema genannte Modell (AABA, 4 × 8 = 32 Takte).
Der Jazz greift diese Chorus-Form auf: »Standards«. Ihre Form tritt in den Mittelpunkt des Repertoires und wahrt diese Position bis in die 1950er Jahre, als die Starrheit des Modells mit seinen baukastenartigen Viertaktgruppen, seinen zur Schematik tendierenden Harmoniefolgen und den daraus sich ergebenden Zwängen für die Improvisation (»running the changes«) mehr und mehr Musikern als kreativer Hemmschuh erscheint.
Aber gerade das Repertoire der Bebop-Innovatoren in den 1940er Jahren fußt noch, neben dem Blues, zum größten Teil auf einer relativ kleinen Auswahl von Standards, die, oftmals harmonisch verdichtet und mit neuen Themen versehen, ein sicheres Fundament für ihr mitunter schier schwindelerregendes Virtuosentum bieten. So basiert rund ein Drittel der von Parker aufgenommenen Stücke auf den Akkord-Schemata nur des Blues, von I Got Rhythm und Honeysuckle Rose. Die Aufmerksamkeit der Bopper richtet sich auf Variabilität innerhalb und damit zum Teil Verschleierung der einfachen Formen. Die einfache Formel Thema – Soli – Thema (pointiert: das »Sandwich«-Schema als Grundlage der meisten Bebop-Stücke) genügt dem Primat der Improvisation und spiegelt die Entstehung des Bop in den Blowing Sessions der damaligen Szene-Clubs in Harlem.
Der etwas später entstandene sogenannte Cool Jazz (eigentlich ein Konglomerat aus sehr unterschiedlichen Gruppenstilen) geht auch im Formdenken andere, kompliziertere Wege.
Die Stücke der neunköpfigen Miles Davis Capitol Band, im Duktus dem Bebop nahestehend, sind mit ihren luftigen Klangfarben, ihren polyphonen Satztechniken und manchen formalen Verwirrspielen ( z. B. bei Israel, Jeru, Deception, alle auf der LP/CD Birth of the Cool) Demonstrationen quasi kammermusikalischer Raffinesse.
Diese in den Jazz zu übertragen ist geradezu das Leitmotiv des Modern Jazz Quartet, das mit Stücken wie Django, erst recht mit den vielzitierten »Fugen« (z. B. Concorde, Vendôme) Wege aus dem Einerlei der 32-Takte-Chorus-Form sucht.
Der Form-Innovator des Modern Jazz schlechthin ist Lennie Tristano. Mit seinen kollektiv improvisierten, atonalen Ensemblestücken Intuition (ausschnittweise analysiert in Kapitel 8) und Digression, besonders seiner freien, lautmalerischen Klavierimprovisation Descent Into the Maelstrom oder den Solo-Aufnahmen auf The New Tristano verwirklicht er ein ganz neues Denken in harmonischer und formaler Hinsicht, bei den drei erstgenannten Stücken sogar in Vorwegnahme von Prinzipien des Free Jazz um rund zehn Jahre.
Im Hard Bop der 1950er Jahre schält sich aus dem anfänglichen, um Blues- und Gospel-Elemente erweiterten Bebop-Kontinuum mit seiner feurigen Blowing-Session-Mentalität eine formal anspruchsvollere Nebenlinie heraus: Unregelmäßig lange Taktgruppen finden sich etwa in Benny Golsons Stablemates oder den Stücken auf Horace Silvers Further Explorations. Charles Mingus sucht mit Stücken wie Fables of Faubus oder, auch hier ausgehend von seinem Vorbild Duke Ellington, mit ganzen Suiten (z. B. Pithecanthropus erectus) nach Wegen zu größerer formaler Architektur.
Mingus gehört Ende der 1950er Jahre auch zu den Vertretern des »Third Stream« um John Lewis und Gunther Schuller, die mit einer Verbindung von Elementen des Jazz und europäischer Konzertmusik besonders auch eine Erweiterung der formalen Mittel im Sinn haben.
Die Langspielplatten-Technik ermöglicht ab den 1950er Jahren die Präsentation größerer Formen auf Tonträger. Die Jazzaufnahme befreit sich damit von der Fessel des Drei-Minuten-Formats.
Endgültig obsolet ist das alte Denken in funktionsharmonischer, metrischer und damit auch formaler Hinsicht im Free Jazz, dessen Name geradezu als Imperativ der Befreiung vom Chorus-Schema gelten kann.
Während sich in den 1960er Jahren viele individuelle Wege zwischen Tradition und Avantgarde eröffnen, bringt erst die Jazz-Rock-Fusion der 1970er wieder einen generellen, partiell neuen Ansatz hervor. Das Prinzip besteht darin, auf der harmonischen Grundlage des Modalen Jazz verschiedene, oft unterschiedlich lange Themen oder Themenfragmente und Improvisationen zu verschachteln, nämlich zu tonal eher schlichten, aber infolge der zahlreichen verschiedenen Binnenformen mitunter fast ausufernd langen, im Ablauf nicht leicht durchschaubaren Stücken. Typisch wurden solche Formen für das Repertoire von Joe Zawinuls / Wayne Shorters Gruppe »Weather Report«, John McLaughlins »Mahavishnu-Orchestra« oder Chick Coreas »Return to Forever«.
Sollte man für die Gegenwart, die seit mehreren Jahrzehnten durch die eklektische Vielfalt der Postmoderne bestimmt wird, eine neue, formal hervorstechende Tendenz benennen, bietet sich, bei so viel frei Verfügbarem aus der Vergangenheit, eines besonders an: der Verweis auf die Neigung, mit im Stück wechselnden Metren, aber auch mit Hilfe variabler, mitunter ausgesprochen komplizierter innerer Taktgliederungen (wie etwa in der Mixtur von Viertel- und Achtel-Zählgruppen – Schlagwort: »krumme Metren«) den Zauber der Unvorhersagbarkeit im Jazz zu bewahren.
Warum sind eigentlich so viele herausragende, sogar stilprägende Musiker des Jazz Bläser, also Spieler eines Melodie-Instruments?
Von Armstrong über Coleman Hawkins, Lester Young, Dizzy Gillespie, Charlie Parker, Miles Davis, John Coltrane, Ornette Coleman, um nur einige besonders wichtige zu nennen, gibt es eine lange Reihe von Instrumentalisten, die durch melodische Mittel die Richtung eines kompletten Genres, des Jazz, neu definiert haben.
Nicht ohne Grund beschäftigt sich die praktische Erarbeitung von Jazzstücken, erst recht die Erarbeitung eines Repertoires in solch großem Umfang mit harmonischen Aspekten. Deren Komplexität in der improvisatorischen Praxis zu beherrschen ist ein langer Weg, zumal wenn zum Ziel von Schnelligkeit und Präzision beim Spielen auch noch die Herausforderungen rhythmischer Gestaltung und musikalischen Ausdrucks hinzukommen.
Macht man sich aber deutlich, dass in der Melodieführung alle diese Erfordernisse fokusartig zusammenlaufen, wird eine Antwort auf die eingangs gestellte Frage erkennbar: Melodik ist ein »Summen-Parameter«, der alle anderen erfasst. Und dies gilt für sich genommen weder für Harmonik, Rhythmik, Form noch Ausdruck.
Durch das mit der Akkordprogression mitfließende melodische Ansteuern harmonisch relevanter Töne ist die Akkordik linear auflösbar. Dabei entsteht durch die extreme Variabilität von Tondauern und Akzenten, zudem der Tonhöhen-Intervalle, wie sie beispielsweise die Melodiegestaltung im Bebop besitzt, eine ungeheure Vielfalt rhythmischer und tonaler Variationsmöglichkeiten.
Fast ebenso bedeutsam wie das Geschehen innerhalb der melodischen Phrasen ist jenes zwischen ihnen: Diese Reaktivität, dazu die variable Platzierung und Dauer von Phrasen in einzelnen Formsegmenten führen zu einer äußerst lebendigen Umsetzung der – im modernen Jazz ja oftmals recht schlichten – Formschemata.
Und, nochmals mit Blick auf die Anfangsfrage: Wo ist individueller Ausdruck eher möglich als auf Melodieinstrumenten, den Geschwistern des Gesangs?
In der europäischen Musiktheorie gilt der Parameter »Ausdruck« als von eher zweitrangiger Bedeutung. Dies mag damit zu erklären sein, dass das »Werk«, verkörpert durch die Partitur, alle anderen Parameter konkret, entsprechend dem kompositorischen Willen, enthält. Dagegen ist seine Realisation, also seine Übertragung in Klang und musikalischen Ausdruck, »nur« eine Interpretation. Anders im Jazz. Schon das Schlagwort »das Wie ist das Was« wirft ein Licht auf das Wesen dieser Musik, in der, zumindest bei der Improvisation, Kreation als quasi Spontan-Komposition und Interpretation nicht voneinander trennbar sind.
Was aber ist Ausdruck? So klar dies empfunden wird, so schwer ist es zu verbalisieren. Die Musikpsychologie hat zahlreiche Versuche unternommen, durch methodisch objektivierte Befragung, wie etwa in Form des mit gegensätzlichen Adjektiven arbeitenden Polaritätsprofils, den Ausdrucksgehalt von Musikstücken dingfest zu machen. Bei einem Begriffspaar wie »quirlig« auf der einen und »gemessen« auf der anderen Seite würden zum Beispiel die Pianisten Bud Powell und Dave Brubeck wahrscheinlich recht verschieden verortet. Doch sind komplexe Empfindungen musikalischer Art nur ansatzweise messbar und damit objektivierbar. Eine Vielzahl von Faktoren und Nuancen fließt ein, und die musikalische Wahrnehmung ist situativ alles andere als immer gleich.
Die Individualität eines Jazzmusikers ergibt sich, neben der stilistischen Ausrichtung oder dem musikalischen Vokabular, aus einem komplexen Koordinatengeflecht von Sound, Rhythmik, Artikulation, also aus dem Miteinander von Faktoren, die konstant, mitunter aber auch flüchtig und trotzdem äußerst wirkungsvoll sein können. Ein Beispiel: Die Sängerin Billie Holiday ist an ihrer absolut unverwechselbaren Stimme ohnehin sofort zu erkennen. Zugleich sind alle ihre Interpretationen von Song-Themen durch eine solche Vielfalt von rhythmischen, tonalen, klanglichen Nuancen angereichert, dass jede einzelne Phrase individuell, ein Unikat ist. In einem Chor oder Orchester kommt es auf Homogenität der Stimmen an. Anders bei Solisten, und zwar besonders im Jazz. Die Ausdrucksdetails der meisten Jazzmusiker sind in ihrem Zusammenwirken so individuell wie ihr Fingerabdruck.
Jazz zu erlernen bedeutet in der heutigen Praxis zu einem erheblichen Teil, das System der Beziehungen von Akkorden und Skalen zu verstehen, zu verinnerlichen und auf das eigene Spielen oder auch das Komponieren und Arrangieren zu übertragen:
»The sound of any given chord implies, directly or indirectly, the sound of a corresponding scale. Likewise, the sound of any given scale implies the sound of a corresponding chord. This is the underlying principle conveyed by the term ›chord-scale-relationship‹. There are, in fact, a number of possible scales which may be used to convey various individual aspects of the sound of any given chord« (Dobbins, 1984, S. 26).
Treffender kann man die Grundlage der Akkord-Skalen-Theorie, die als etabliertes Konzept mit zentralem Stellenwert für Jazz-Harmonielehre gilt, kaum zusammenfassen.
Die Akademisierung des Jazz ist vom Prozess der Verbreitung dieses Konzepts nicht trennbar, ja seit den Anfängen in den 1960er Jahren sogar großenteils mit ihm identisch. Während die Beherrschung der Improvisation in allen Jahrzehnten zuvor vor allem Verinnerlichung durch wiederholtes Hören und Nachspielen bedeutete, haben nicht wenige Studierende des Jazz an Hochschulen heute keine sehr prägende Hörerfahrung, dafür aber gute Kenntnisse der Theorie und ihrer Umsetzung auf dem Instrument.
So seien die folgenden Abschnitte auch in dem Sinn verstanden, dass die Theorie der Musik zu folgen hat und nicht umgekehrt.